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Es existieren unterschiedliche Definitionen von Armut und zahlreiche Maßstäbe, um das Armutsrisiko zu messen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ergebnisse des Armutsatlas kritisch zu hinterfragen. Dieser Beitrag zeigt definitorische Schwächen und Probleme bei der Berechnung der Armutsrisikoquote auf.

Ende Mai letzten Jahres geisterte der Armutsatlas des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes durch die Medien. Ein (kurzer) Aufschrei ging durch das Land. In diesem Atlas wurden nämlich Armutsrisikoquoten bzw. Armutsgefährdungsquoten für Deutschland im Jahr 2007 auf Bundes-, Länder- und Kreisebene berechnet. Die Datenbasis war der Mikrozensus. Die Untersuchung ergab, dass in Ostdeutschland jeder fünfte, in Westdeutschland hingegen nur jeder achte von Armut bedroht sei. Aus dem Zahlen- und Bilderwerk wurde ein dringender Handlungsbedarf abgeleitet. Insbesondere die Anhebung des Harz-IV-Regelsatzes wurde gefordert.1 Kritiker werfen dem Paritätischen Wohlfahrtsverband hingegen Effekthascherei2 vor, weil Armutsrisikoquoten nur bedingt aussagekräftig seien. Da das Thema emotional aufgeladen ist, können die Ergebnisse der Armutsforschung in der Öffentlichkeit nur schwer sachlich und neutral diskutiert werden. Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff der Armut alles andere als eindeutig ist. Hinter den Aussagen von Wissenschaftlern, Politikern und interessierten Laien können sich komplett unterschiedliche Definitionen von Armut verbergen.

Es existieren zahlreiche Maßstäbe, um Armut zu untersuchen. Folglich ist das Ergebnis einer Armutsmessung immer von der verwendeten Definition sowie der angewandten Methodik abhängig. Dieser Beitrag soll daher auf einige Probleme und Schwächen der Armutsrisikoquote als eine der bekanntesten Maßzahlen der Armutsmessung hinweisen. Im Folgenden werden die in der Europäischen Union (EU) üblichen Definitionen von Armutsrisikogrenze und Armutsrisikoquote sowie die mit der Messung verbundenen Probleme erläutert. Des Weiteren werden die vom Statistischen Bundesamt berechneten Armutsrisikoquoten auf Basis des Mikrozensus präsentiert. Anschließend werden alternative Quotenberechnungen vorgestellt und ihre Ergebnisse miteinander verglichen. Ziel ist es aufzuzeigen, wie sehr sowohl der Umfang als auch die Struktur der von Armut bedrohten Haushalte bei alternativen Berechnungsmethoden schwanken.

Definition und Berechnung

Gemäß der Definition des Statistischen Bundesamtes „bezeichnet Armut eine Situation wirtschaftlichen Mangels, die verhindert, ein angemessenes Leben zu führen“3. In der Armutsforschung wird beim Armutsbegriff zwischen absoluter und relativer Armut unterschieden. So gilt jemand als absolut arm, wenn die physische Existenz bedroht ist, weil das Einkommen nicht für Nahrung, Kleidung und Unterkunft ausreicht. Relative Armut liegt hingegen vor, wenn das Einkommen nicht ausreicht, um einen in der Gesellschaft als annehmbar geltenden Lebensstandard zu erreichen. In der Regel gilt jemand als arm oder zumindest als von Armut bedroht, wenn sein Einkommen eine bestimmte Grenze unterschreitet. Im Falle der absoluten Armut kann diese Grenze beispielweise auf 1,25 US-$ pro Tag4 festgelegt werden. Das Konzept der absoluten Armut kommt allerdings nur bei der Armutsmessung in Entwicklungsländern zur Anwendung. In Industrieländern mit ihren ausgeprägten Sozialstaaten hingegen ist die physische Existenz in der Regel nicht gefährdet. Daher wird in Industrieländern die Armutsrisikoschwelle relativ definiert. Sie hängt von der Einkommensverteilung in der beobachteten Region ab. Der Maßstab des Armutsatlas ist beispielsweise die in der EU gängige Definition der Armutsrisikoquote: Von Armut bedroht ist, wem weniger als 60% des Medianeinkommens zur Verfügung stehen. Die Armutsrisikoquote ist folglich der Anteil der von Armut bedrohten an der gesamten Bevölkerung. Zu beachten ist hierbei, dass allzu oft eine Verwässerung der Begriffe betrieben wird, insbesondere in der medialen Berichterstattung, aber auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen5: Aus der „Armutsrisikoquote“ wird „Armutsquote“ aus „von Armut gefährdeten“ Haushalten werden „arme“ Haushalte. Dies mag sprachlich eleganter klingen, lässt allerdings außer Acht, dass Armut viele nicht-monetäre Aspekte umfasst, die von Einkommensdaten zwangsläufig nicht abgedeckt werden. Die 60%-Marke des Medians ist allenfalls ein Indikator für Armut. Aus diesem Grund spricht das Statistische Bundesamt auch nicht von Armut, sondern von Armutsrisiko bzw. von Armutsgefährdung.

Äquivalenzeinkommen

Für die Ermittlung des Medianeinkommens werden zumeist Haushaltsdaten herangezogen. Ein erstes Problem bei der Berechnung der Haushaltseinkommen sowie der Armutsrisikogrenzen sind unterschiedlich große Haushalte. Daher wird das sogenannte Äquivalenzeinkommen gebildet: Ist der Lebensstandard eines Singlehaushalts und eines Mehrpersonenhaushalts gleich, müssen sie auch über das gleiche Äquivalenzeinkommen verfügen. Folglich muss das Haushaltseinkommen mit einem geeigneten Faktor gewichtet werden. Jedoch darf es nicht einfach durch die Zahl der Mitglieder geteilt werden. Der Bedarf eines Haushalts wächst zwar mit der Zahl seiner Mitglieder, allerdings nicht proportional. Zum einen bestehen zunehmende Skalenerträge: Ein Mehrpersonenhaushalt kann beispielsweise im Vergleich zu einem Einpersonenhaushalt Kosten bei der Miete, Energieversorgung oder Wohnungseinrichtung sparen. So sollte ein Ehepaar mit einem verfügbaren Einkommen von 4000 Euro einen höheren Lebensstandard aufweisen als ein Singlehaushalt mit einem Einkommen von 2000 Euro, obgleich das Paar pro Kopf auch nur über 2000 Euro verfügt. Zum anderen hängt der Bedarf auch vom Alter der einzelnen Haushaltsmitglieder ab. Daher ist es notwendig das Einkommen der Haushalte zu gewichten, um die Einkommenssituation von Haushalten vergleichbar zu machen. Dies geschieht mit Hilfe von Äquivalenzskalen. Dort werden die Gewichte für einzelne Haushaltsmitglieder zumeist in Abhängigkeit vom Alter der Personen festgelegt. Die drei gebräuchlichsten Äquivalenzskalen sind die „alte“ und „neue“ bzw. modifizierte OECD-Skala sowie die Quadratwurzel-Skala. Die Gewichte der einzelnen Haushaltsmitglieder der OECD-Skalen sind in Tabelle 1 abgebildet. Bei der Quadratwurzel-Skala wird das Haushaltseinkommen durch die Quadratwurzel der Anzahl der Mitglieder geteilt, um das Äquivalenzeinkommen zu erhalten.

Tabelle 1
Gewichte der OECD-Skalen
  Gewichtalte OECD-Skala Gewicht neue/­modifizierte OECD-Skala
Haushaltsvorstand 1,0 1,0
Weitere Haushaltmitglieder über 14 Jahre 0,7 0,5
Weitere Haushaltmitglieder bis zu 14 Jahre 0,5 0,3

Quelle: OECD (2005).

Das gewichtete Einkommen heißt Äquivalenzeinkommen. In Deutschland und in der EU wird zur Berechnung üblicherweise die modifizierte OECD-Skala herangezogen. So ist beispielsweise das Äquivalenzeinkommen eines Ehepaares mit zwei Kindern, acht und sechzehn Jahre, und einem verfügbaren Nettoeinkommen von 2668 Euro nach der modifizierten OECD-Skala:

Nach der alten OECD-Skala ist es

und nach der Quadratwurzel-Skala ergibt sich

Das Pro-Kopf Einkommen dieses Beispielhaushaltes wäre nur

Eine solche Gewichtung ist in Bezug auf die Vergleichbarkeit einerseits erforderlich, kann aber andererseits zu bemerkenswerten Effekten führen, wenn die Entwicklung des Armutsrisikos über längere Zeiträume beobachtet wird. Teilen sich nämlich Haushalte, z.B. aufgrund einer Trennung von (Ehe)Partnern, sinkt das Äquivalenzeinkommen der ehemaligen Haushaltsmitglieder, ohne dass sich an den realen Einkommen irgendetwas geändert hätte. So hat in Deutschland allein der Trend zum Singlehaushalt bereits zu einem Anstieg der statistisch gemessenen Einkommensungleichheit geführt.6 Darüber hinaus zeigt die Existenz von unterschiedlichen Äquivalenzskalen, dass es schwierig ist, die „richtigen“ Gewichte zu schätzen, zu errechnen und letztlich auszuwählen. Je nach Wahl der Skalen folgen unterschiedliche Ergebnisse – und zwar nicht nur in Bezug auf die Höhe von Armutsrisikogrenzen sondern auch in Bezug auf die Struktur der von Armut gefährdeten Haushalte. Ferner kann ein Wechsel der Skala dazu führen, dass ein statistisch gemessener armer Haushalt nicht mehr als arm gilt und umgekehrt.7

(Un)Sinn von Armutsrisikoquoten

Armutsrisikoquoten stellen griffige Maßzahlen dar, unter denen auch der Laie sich etwas vorstellen kann. Sie leiden aber unter einem Makel: Einkommensänderungen beispielsweise als Folge wirtschaftlichen Wachstums wirken sich unter bestimmten Bedingungen gar nicht auf die relative Armut aus. Verdoppeln sich z.B. alle Einkommen, hat dies keinerlei Effekt auf das Armutsrisiko. Lediglich die Armutsrisikogrenze verdoppelt sich, die relativen Einkommenspositionen bleiben allerdings unverändert. Steigt das Einkommen aller „Armen“ bis knapp unter die Armutsrisikogrenze hat dies ebenfalls keinerlei Wirkung. Genauso bleibt die Quote gleich, wenn die Einkommen aller von Armut gefährdeten Haushalte auf null absinken. Des Weiteren können Maßnahmen, die sozialpolitisch durchaus unerwünscht sind, die Armutsquote reduzieren: Durch eine Steuer kann das Einkommen eines „Armen“ gesenkt werden, um mit diesem Betrag einen anderen „Armen“, dessen Einkommen nur knapp unterhalb der Armutsrisikogrenze liegt, über diese Schwelle zu hieven.8

Berechnung der Armutsrisikoquoten

Ungeachtet dieser definitorischen Kritikpunkte kann auch über unterschiedliche Bemessungsgrundlagen und Raumeinheiten das Ergebnis einer Armutsmessung variieren. So wurde für den Armutsatlas aus den nominalen Haushaltseinkommen für das Jahr 2007 das Äquivalenzeinkommen berechnet und anschließend der gesamtdeutsche Median gebildet (Bundesmedian). Die Armutsrisikogrenze ist 60% des Bundesmedians und folglich für alle Bundesländer gleich hoch. Wird eine heterogene Gruppe oder Raumeinheit betrachtet, ist unklar, ob eine einheitliche Armutsrisikogrenze angenommen werden sollte. Variieren die als annehmbar geltenden Lebensstandards, sollten auch regional unterschiedliche Armutsrisikoschwellen gelten. Außerdem werden bei einheitlichen Armutsrisikogrenzen keine Unterschiede im Preisniveau bzw. der Kaufkraft berücksichtigt. So stellt sich bezogen auf Deutschland und den Vergleich der Bundesländer die Frage, ob das nominale Einkommen eines Bayern mit dem eines Brandenburgers verglichen werden sollte. Folglich kann aus den Äquivalenzeinkommen für jedes einzelne Bundesland das Medianeinkommen gebildet und die jeweilige Armutsrisikoschwelle anhand des Landesmedians berechnet werden. Beide Szenarien wurden vom Statistischen Bundesamt auf Basis des Mikrozensus durchgerechnet, im Armutsatlas sind allerdings nur die Ergebnisse aus ersterer Vorgehensweise zu finden. Ein Vergleich der Armutsrisikoquote von Bundes- und Landesmedian ist in Tabelle 2 abgebildet.

Tabelle 2
Armutsrisikoquote 2007: Bundesmedian versus Landesmedian (modifizierte OECD-Skala)
(in %)
Region Armutsrisikoquote Bundesmedian (Armutsatlas) Armutsrisikoquote Landesmedian Differenz
Baden-Württemberg
Bayern
Bremen
Hamburg
Hessen
Niedersachsen
Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Schleswig-Holstein
10,0
11,0
19,1
14,1
12,0
15,5
14,6
13,5
16,8
12,5
13,0
13,6
15,2
16,8
14,9
14,7
14,5
14,7
14,0
13,9
+3,0
+2,6
-3,9
-2,7
+2,9
-0,8
-0,1
+1,2
-2,8
+1,4
Berlin
Brandenburg
Mecklenburg-Vorpommern
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
17,5
17,5
24,3
19,6
21,5
18,9
13,9
13,7
13,6
13,6
13,9
12,9
-3,6
-3,8
-10,7
-6,5
-7,6
-6,0
Deutschland (gesamt)
Ost (+Berlin)
West
Differenz (Ost-West)
14,3
19,5
12,9
6,6
14,3
13,5
14,3
-0,8
0,0
-6,0
+1,4

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Es zeigt sich, dass Armutsrisikoquoten in einer Region mit überdurchschnittlichem Einkommen zumeist höher sind, wenn sie auf Basis des Landesmedians statt des Bundesmedians ermittelt werden. Für die Regionen mit unterdurchschnittlichem Einkommen sind sie hingegen kleiner, im Falle von Mecklenburg-Vorpommern um über zehn Prozentpunkte. Außerdem geht aus der Tabelle 2 hervor, dass die Armutsrisikoquote in Ostdeutschland um 6,6 Prozentpunkte höher ist als in Westdeutschland, wenn der Bundesmedian zugrunde gelegt wird. Werden hingegen die Landesmediane verwendet, ist im Westen das Armutsrisiko um 0,8 Prozentpunkte höher als im Osten.

Verschiedene Szenarien auf Basis des SOEP

Die Frage, welche der beiden Methoden die „bessere“ sei, ist nicht leicht zu beantworten. Unter der Annahme gleicher Lebensverhältnisse muss der Bundesmedian verwendet werden. Allerdings bleibt nach wie vor das Problem unterschiedlicher regionaler Preisniveaus. Daher muss das Haushaltseinkommen bzw. das Äquivalenzeinkommen mit einem regionalen Preisindex deflationiert werden. Das Statistische Bundesamt ermittelt solche Kaufkraftparitäten auf Bundesländerebene leider nicht.

Um dennoch eine weitere alternative Quotenberechnung aufzeigen zu können, wird für diesen Beitrag ein einfacher regionaler Preisindex konstruiert, welcher sich ausschließlich auf regional unterschiedliche Mietkosten stützt. Der Preisindex Pi für jedes Bundesland i entspricht dem gewichteten Mietindex9 PiMiet, welcher dem Mietspiegel 200710 entnommen wurde:

wobei der Gewichtungsfaktor q dem Anteil der Ausgaben für Wohnungsmiete und Nebenkosten an den gesamten Konsumausgaben der privaten Haushalte entspricht, welcher im Jahr 2007 bei etwa 23,25% lag. Mithilfe dieses Preisindexes können nun die Nettohaushaltseinkommen deflationiert werden, ehe der Bundesmedian berechnet wird. Das Resultat sind wiederum neue Armutsrisikoquoten, die von den Werten in Tabelle 2 erwartungsgemäß abweichen.

Bisher wurden nun drei Methoden vorgestellt, die Armutsrisikogrenzen zu ermitteln. Berücksichtigt man allerdings bei der Berechnung der Äquivalenzeinkommen noch die drei verschiedenen oben genannten Äquivalenzskalen, ergeben sich neun Arten, das Armutsrisiko zu messen. In Tabelle 3 sind die Ergebnisse für alle neun Konfigurationen abgebildet. Die Datengrundlage bildet hierbei allerdings nicht der Mikrozensus sondern das SOEP11. Die ersten beiden Spalten sind methodisch mit Tabelle 2 vergleichbar. In der letzten Spalte ist die Differenz zwischen höchstem und niedrigstem Wert der neun Konfigurationen zu finden.

Tabelle 3
Armutsrisikoquoten 2007 auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)
(in %)
  modifizierte OECD-Skala alte OECD-Skala Quadratwurzel-Skala  
  Bundes­median Landes­median Preis­index Bundes­median Landes­median Preis­index Bundes­median Landes­median Preis­index Differenz
Baden-Württemberg 9,9 12,3 11,5 11,0 14,8 12,1 10,9 13,2 11,7 4,9
Bayern 12,5 14,5 15,0 12,1 13,6 14,4 13,9 16,1 16,0 4,1
Bremen 5,1 10,9 4,4 5,1 9,2 5,1 7,5 11,1 7,5 6,7
Hamburg 4,9 14,7 5,6 7,7 14,6 8,7 5,5 11,3 7,6 9,7
Hessen 13,9 16,3 14,8 14,5 19,1 16,0 14,8 16,8 16,8 5,2
Niedersachsen 13,3 15,3 12,9 13,8 16,1 13,8 14,4 14,7 14,4 3,2
Nordrhein-Westfalen 10,6 12,3 10,0 11,7 14,3 11,1 10,7 13,0 9,9 4,4
Rheinland-Pfalz 18,4 12,0 18,4 17,0 14,9 17,8 15,5 13,7 18,5 6,5
Saarland 14,8 17,7 14,8 11,4 15,1 11,4 17,9 17,9 17,9 6,5
Schleswig-Holstein 13,7 14,2 13,3 16,1 16,1 13,5 15,2 13,9 15,2 2,8
                     
Berlin 22,4 18,3 21,8 20,7 19,1 20,4 22,0 17,8 19,3 4,6
Brandenburg 19,2 17,7 18,0 18,3 18,2 17,9 20,6 18,1 19,8 2,9
Mecklenburg-Vorpommern 22,9 12,0 22,3 24,4 15,3 22,0 23,4 12,9 23,3 12,3
Sachsen 20,5 13,4 19,2 21,1 11,0 19,9 21,4 13,9 18,8 10,3
Sachsen-Anhalt 18,6 13,3 17,4 17,5 12,1 17,1 20,5 16,7 18,8 8,4
Thüringen 18,7 8,1 17,3 18,4 10,0 17,4 18,5 8,8 17,3 10,6
                     
Deutschland (gesamt) 13,7 13,8 13,9 14,0 14,8 14,3 14,3 14,4 14,5 1,2
Ost (+ Berlin) 20,4 14,2 19,3 20,0 14,2 19,2 21,1 15,0 19,3 6,9
West 12,0 13,7 12,6 12,5 15,0 13,1 12,6 14,3 13,3 3,0
Differenz (Ost-West) 8,4 0,5 6,8 7,5 -0,8 6,1 8,5 0,7 6,0  

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Es zeigt sich, dass die Unterschiede zwischen dem geringsten und dem höchsten Wert der Armutsrisikoquoten bis zu 12,3 Prozentpunkte (Mecklenburg-Vorpommern) betragen kann. Auf Bundesebene (viertletzte Zeile) ist die Quote am geringsten, wenn die modifizierte OECD-Skala sowie der Bundesmedian verwendet werden. Am höchsten ist sie, wenn der Landesmedian sowie die alte OECD-Skala herangezogen werden. Für die neuen Bundesländer (drittletzte Zeile) sind die Werte extrem bei den Konfigurationen modifizierte bzw. alte OECD-Skala/Landesmedian (jeweils 14,2%) sowie Quadratwurzelskala/Bundesmedian (21,1%). In den alten Bundesländern (vorletzte Zeile) verhält es sich wie folgt: die Armutsrisikoquote ist bei der alten OECD-Skala und dem Landesmedian am größten und beim Bundesmedian der modifizierten OECD-Skala ist sie am kleinsten.

Struktur der Armut

Je nach verwendeter Äquivalenzskala ändert sich nicht nur die Armutsrisikogrenze, sondern auch die Struktur der von Armut gefährdeten Haushalte. Ist beispielsweise die Armutsrisikoschwelle als 60% des Bundesmedians definiert, ist im Jahr 2007 das Armutsrisiko auf Bundesebene am kleinsten, wenn die modifizierte OECD-Skala verwendet wird. Es könnte der Eindruck entstehen, dass zumindest alle Haushalte, die gemäß der modifizierten OECD-Skala als von Armut bedroht gelten, auch bei den anderen Äquivalenzskalen „arm“ sind und lediglich „neue arme“ Haushalte hinzukommen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wie in Tabelle 4 zu sehen ist, ändert sich mit der Äquivalenzskala auch die Struktur der von Armut gefährdeten Haushalte. Eine Umstellung von der modifizierten OECD-Skala auf eine der anderen beiden Äquivalenzskalen bewirkt einerseits, dass nunmehr Haushalte als von Armut bedroht gelten, welche es zuvor nicht waren („neue Arme“). So sind bei einer Umstellung auf die alte OECD-Skala 6,7% der armen Haushalte „neue Arme“, bei einer Umstellung auf die Quadratwurzel-Skala sind es 17,8%. Andererseits fallen nun einige Haushalte nicht mehr unter die Armutsrisikoschwelle („neue Reiche“), welche bei der neuen OECD-Skala noch von Armut gefährdet sind. Etwa 18,2% der armen Haushalte (nach modifizierter OECD-Skala) sind nach Umstellung auf die alte OECD-Skala nicht mehr von Armut bedroht, bezogen auf die Quadratwurzel-Skala sind es 4,4%.

Tabelle 4
Änderung der Struktur der von Armut bedrohten Haushalte 2007
(Referenz: modifizierte OECD-Skala, in %)
  Anteil „neue arme“ Haushalte Anteil „neue reiche“ Haushalte
Umstellung auf alte OECD-Skala 6,7 18,2
Umstellung auf Quadrat­wurzel-Skala 17,8 4,4

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Untersucht man die Struktur der von Armut gefährdeten Haushalte auch auf weitere Eigenschaften wie Anzahl der Erwachsenen und Anzahl der minderjährigen Personen, ergibt sich je nach verwendeter Äquivalenzskala ebenfalls ein unterschiedliches Bild der Armut in Deutschland. Im Folgenden werden vier Haushaltstypen unterschieden: Singlehaushalt, Paar (zwei Erwachsene), Alleinerziehende (Haushaltsvorstand und Personen unter 18 Jahren), Mehrpersonenhaushalt (mindestens drei Personen, davon mindestens zwei Erwachsene). Die Armutsrisikoquoten für diese vier Typen sowie die Differenz zwischen höchstem und niedrigstem Wert einer Zeile sind in Tabelle 5 zu finden. Alleinerziehende tragen das größte Armutsrisiko. Bei modifizierter OECD-Skala und Quadratwurzel-Skala folgen die Singlehaushalte. Das geringste Risiko tragen die Paare. Insbesondere die Armutsrisikoquote von Singlehaushalten hängt stark von der zugrunde liegenden Skala ab, die Unterschiede betragen hier bis zu 11,4 Prozentpunkte.

Tabelle 5
Armutsrisiko nach Haushaltstypen 2007
(in %)
  modifizierte OECD Skala alte OECD-Skala Quadrat­wurzel-Skala Differenz
Single­haushalt 19,8 13,4 24,8 11,4
Paar 7,0 6,8 8,9 2,1
Allein­erziehende 45,5 49,1 56,5 11,0
Mehr­personen­haushalt 12,4 15,1 10,4 2,0

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Die Zusammensetzung der von Armut bedrohten Haushalte ist in Tabelle 6 abgebildet. Die größte Gruppe sind hier die Singlehaushalte. Ihr Anteil schwankt zwischen 41,4% und 57,9% je nach verwendeter Skala. Die kleinste Gruppe sind die Alleinerziehenden, da sie trotz eines hohen Armutsrisikos nur einen vergleichsweise geringen Anteil an den Gesamthaushalten stellen. Auch hier ist der Einfluss der Äquivalenzskalen unverkennbar. In diesem Fall verdoppelt sich der Anteil der Mehrpersonenhaushalte nahezu, wenn statt der Quadratwurzelskala die alte OECD-Skala herangezogen wird.

Tabelle 6
Struktur der von Armut bedrohten Haushalte 2007
(in %)
  modifizierte OECD Skala alte OECD-Skala Quadrat­wurzel-Skala Differenz
Single­haushalt 53,9 41,4 57,9 16,5
Paar 15,1 16,6 16,5 1,5
Allein­erziehende 9,2 11,3 9,8 2,1
Mehr­personen­haushalt 21,9 30,7 15,8 14,9

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Fazit

Die Bekämpfung von Armut ist eine zentrale Aufgabe des Sozialstaats. Der erste Schritt, um diesen Auftrag zu bewältigen, ist es, Klarheit über Ausmaß und Struktur der Armut zu erlangen. Daher kommt der Armutsmessung eine wichtige Bedeutung zu, da auf ihr Ursachenanalyse und Lösungsvorschläge aufbauen. Leider erweist sich bereits die Armutsmessung als schwierig. Erstens ist die Festlegung der Armutsrisikogrenze auf 60% des Medianeinkommens eine statistische Konvention, welche sich empirisch nur schwer begründen lässt. Zweitens bestehen verschiedene Möglichkeiten das Medianeinkommen zu berechnen. Im Falle Deutschlands ist ein Median für das gesamte Bundesgebiet, einer für jedes einzelne Bundesland oder ein Median auf Basis regional deflationierter Einkommen denkbar. Darüber hinaus stehen verschiedene Gewichte und Äquivalenzskalen zur Auswahl, um ein Äquivalenzeinkommen zu bilden. Je nachdem welche Berechnungsmethode verwendet wird, ergeben sich unterschiedliche Armutsrisikoquoten und unterschiedliche Zusammensetzungen der Haushaltstypen, welche von Armut gefährdet sind. So kann beispielsweise die Frage, ob die Armut in Ostdeutschland größer oder kleiner sei als in den alten Bundesgebieten, nicht eindeutig beantwortet werden (vgl. Tabelle 2). Diese Probleme machen die Armutsmessung nicht bedeutungslos. Jedoch sollten sie jedem bewusst sein, der sich mit dem Thema Armut auseinandersetzt und seine Argumente auf Maßzahlen wie Armutsrisikoquoten stützt. Andernfalls verkommt jegliche Diskussion zur Polemik.

  • 1 T. Waleczek: Deutschland droht auseinanderzubrechen, in: Spiegel Online vom 18.5.2009.
  • 2 T. Apolte: Armutsatlas: Effekthascherei ist der Sache nicht dienlich, in: wirtschaftlichefreiheit.de vom 21.5.2009.
  • 3 3 Statistisches Bundesamt: Armut und Lebensbedingungen, Ergebnisse aus Leben in Europa für Deutschland 2005, Wiesbaden 2006, S. 49.
  • 4 M. Ravallion, S. Chen, P. Sangraula: Dollar a day revisited, Policy Research Working Paper Series 4620, The World Bank, 2008.
  • 5 H.-W. Sinn: Der bedarfsgewichtete Käse, in: ifo Schnelldienst, 61. Jg. (2008), Nr. 10, S. 14-16.
  • 6 OECD: Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries, 2008.
  • 7 K. De Vos, M. A. Zaidi: Equivalence Scale Sensitivity of Poverty Statistics for the Member States of the European Community, in: Review of Income and Wealth, Vol. 43 (1997), S. 322-326.
  • 8 A. Deaton: The Analysis of Household Surveys – A Microeconometric Approach to Development Policy, 3. Aufl., 2000, S. 145 f.
  • 9 Ein Indexwert von 100 entspricht dem bundesweiten Durchschnitt.
  • 10 F + B: Mieten in Deutschland 2007 – F+B-Mietspiegelindex, 2007.
  • 11 Die Verwendung des SOEP zu Armutsmessung ist umstritten. Es wurde hier dennoch verwendet, da der Schwerpunkt dieses Beitrags nicht darauf liegt, Armutsrisikoquoten exakt zu messen, sondern die Komplexität der Armutsmessung anhand von Risikoquoten aufzuzeigen. Zur Diskussion um die Eignung des SOEP vgl. W. Strengmann-Kuhn: Analysen mit dem Mikrozensus?, in: ZUMA-Nachrichten Spezial, Band 6: Sozialstrukturanalysen mit dem Mikrozensus, 1999, S. 376-402.


DOI: 10.1007/s10273-010-1022-8