Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Die steigende Zahl von Selbständigen vor allem im unteren Einkommensbereich ohne Beitragszahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung lässt Altersarmut befürchten. Die Einführung einer Pflichtversicherung für diese Gruppe würde aber Anpassungsreaktionen auslösen, die letztendlich zu noch größeren Problemen führen könnten. Demgegenüber schlägt Heinrich Jess eine Lockerung der Teilhabeäquivalenz vor. Diese könnte so ausgestaltet werden, dass sich die Beitragszahlung aus der Sicht des relevanten Personenkreises lohnt und negative Verhaltensreaktionen ausbleiben.

Ist es gut hundert Jahre nach Einführung der staatlichen Alterssicherung für Arbeitnehmer an der Zeit für eine Erwerbstätigenversicherung, die, in ihrer weiten Konzeption alle Erwerbstätigen, in der engeren Ausgestaltung lediglich die bisher nicht obligatorisch gesicherten und selbständig tätigen Personen in die Pflichtversicherung einbezieht? In der öffentlichen Diskussion stehen insbesondere die verteilungs- und sozialpolitischen Aspekte einer Erwerbstätigenversicherung im Vordergrund. Dieser Beitrag betrachtet darüber hinaus die möglichen Reaktionen beim Arbeitsangebot insbesondere der als schutzbedürftig identifizierten Personen. Soll die mit der Ausweitung der Versicherungspflicht angestrebte Zielsetzung, eine Vermeidung von Altersarmut, erreicht werden, so erfordert dieses unter Berücksichtigung der allokativen Effekte eine Lockerung des Prinzips der Teilhabeäquivalenz in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die in den vergangenen Jahren zu beobachtende Abnahme der Normalarbeitsverhältnisse hat die Bemessungsgrundlage der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) erodieren lassen. So ist der Bereich der geringfügigen Beschäftigung kräftig gewachsen, und zugleich hat die Anzahl der Selbständigen innerhalb kurzer Zeit relativ stark zugenommen. Diese Entwicklungen haben sich negativ auf die Einnahmen der GRV ausgewirkt. Eine Ausweitung des Versichertenkreises könnte diesen Entwicklungen entgegenwirken, würde allerdings langfristig das Budget nicht entlasten, da sich aus den zusätzlichen Beiträgen dieser Personen zusätzliche Rentenansprüche ergeben. Insofern ergibt sich aus der Einführung einer Erwerbstätigenversicherung nur temporär eine finanzielle Entlastung für die GRV.

Verteilungs- und beschäftigungspolitische Argumente sprechen dagegen eher für eine Ausweitung des Versichertenkreises. So kommt es aufgrund der derzeitigen Ausgestaltung zu einer Verzerrung bei der Wahl der Erwerbsform. Selbständige sind, bis auf einige Ausnahmen, von Beiträgen an die GRV befreit, und deshalb bei der Belastung mit Abgaben tendenziell begünstigt. Daher könnte sich ein ehemals Versicherter nach z.B. einer Zeit der Arbeitslosigkeit zukünftig für eine Tätigkeit als Selbständiger entscheiden. Eine Pflichtversicherung dieser Personen würde diese Verzerrung beseitigen und zugleich die Finanzierungslast der Renten auf eine größere Anzahl an Personen verteilen. Unterbleibt eine Ausweitung des Versichertenkreises, so bestünde die Gefahr, dass die Wahl der Erwerbsform bei in der Zukunft steigenden Beitragssätzen und sinkenden Leistungen weiter verzerrt und die Belastung der verbleibenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erhöht würde – ein dynamischer Prozess, der langfristig die im Umlageverfahren finanzierte GRV ruinieren würde, da zur Begrenzung der notwendigen Beitragserhöhungen weitere Leistungseinschränkungen erforderlich wären und somit die geschilderte Verzerrung bei der Erwerbsform weiter verstärkt würde.

Das in jüngster Zeit am häufigsten genannte sozialpolitische Argument ist allerdings die Vermeidung von Altersarmut bei den nicht obligatorisch gesicherten Personen. Aufgrund der abnehmenden Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses in Verbindung mit einem zunehmenden Wechsel der Erwerbsformen über den Lebenszyklus (geringfügige Beschäftigung, Phasen der Selbständigkeit) könnte es aufgrund der dadurch entstehenden Versicherungslücken zu einer zunehmenden Armut im Alter kommen. Der wohlmeinende Staat, so die Ansicht vieler Befürworter der Pflichtversicherung, sollte die Bürger vor den Auswirkungen eigenen Fehlverhaltens schützen.

Die Anreizstrukturen des geltenden Rechts

Das angeführte Argument des Schutzes vor Altersarmut kann aus ökonomischer Sicht nicht überzeugen. Es ist, wie dargelegt, sozialpolitisch und nicht ökonomisch motiviert. Ökonomisches Handeln lässt sich charakterisieren als ein Wählen zwischen Alternativen unter Berücksichtigung der jeweils individuell bewerteten Kosten und Nutzen. Eine staatliche Pflichtversicherung schränkt die ökonomischen Handlungsspielräume in Bezug auf die Altersvorsorge deutlich ein. Da für die Zielgruppe bereits heute die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung in der GRV besteht, ist aus ökonomischer Sicht zu fragen, warum der als schutzbedürftig definierte Personenkreis den Schutz der GRV mit ihrem umfangreichen Leistungsangebot (Alters- und Hinterbliebenenversicherung, Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos und Rehabilitation) nicht aus eigenem Antrieb nutzt und stattdessen (unzureichend) privat oder überhaupt nicht vorsorgt.

Aus ökonomischer Sicht ist zunächst das Argument der Geringschätzung zukünftiger Bedürfnisse zu nennen. Dieses Argument bezieht sich auf die Tatsache, dass Personen zukünftige Bedürfnisse umso geringer bewerten, je weiter sie in der Zukunft liegen. Die (potentiellen) Einkommen, die in der Gegenwart zur Verfügung stehen, werden daher gerne für gegenwärtige Ausgaben verwendet. Diese Tendenz ist umso stärker, je größer die Gegenwartspräferenz der jeweiligen Personen ist.

Dem entgegen wirkt der bei einer Bildung von Ersparnissen erzielbare Zins. Gegenwartspräferenz und Zinssatz beeinflussen das Verhalten somit in entgegengesetzte Richtungen. Welcher Einfluss dominiert, hängt bei gegebenem Zins von den persönlichen Präferenzen der jeweiligen Person ab. Wird auf die Bildung von Ersparnissen verzichtet, so fallen Opportunitätskosten in Höhe des entgangenen Zinses an. So kostet z.B. die gegenwärtige Ausgabe von 100 Euro bei einem Zinssatz von 4% nach 30 Jahren rund 212 Euro an entgangenem Zins. Denn dieser Betrag stünde in 30 Jahren zusätzlich für Ausgaben zur Verfügung, wenn auf die Ausgabe von 100 Euro in der Gegenwart verzichtet würde. Vor dem Hintergrund eines konstanten Zeithorizontes lässt sich somit sagen: Je höher der Zins, desto größer die Opportunitätskosten des gegenwärtigen Konsums, gemessen in Größen des zukünftigen Konsums.

Was hat dieser Sachverhalt mit der GRV zu tun? Die Anwartschaften bzw. die „Ersparnisse“, die durch die Beitragszahlungen an die GRV gebildet werden, erbringen ebenfalls einen „Zinsertrag“, nämlich in Form der jährlichen Anpassungen der Renten bzw. des aktuellen Rentenwertes. Allerdings ist dieser Ertrag, der sich grundsätzlich an den Lohnsteigerungen orientiert,1 geringer als der Zinsertrag, der aus Sicht des Beitragszahlers bei einer Anlage der Beiträge am Geld- und Kapitalmarkt unter Umständen zu erzielen wäre. Dabei spielt es für die individuelle Entscheidung des potentiellen Beitragszahlers zunächst keine Rolle, ob für ihn eine Renditedifferenz tatsächlich besteht, denn er handelt nicht aufgrund von Tatsachen, sondern in Abhängigkeit von Überzeugungen und Meinungen bezüglich dieses Sachverhalts und unter Unsicherheit.2 Erscheint ihm der Ertrag bei einem Verzicht auf gegenwärtigen Konsum, gemessen in Einheiten zukünftiger Konsumausgaben, bei einem Erwerb von Rentenanwartschaften geringer, so wird auf eine Beitragszahlung an die GRV verzichtet und auf die höhere Prämie am Geld- und Kapitalmarkt ausgewichen. Diese Renditedifferenz, die von Ökonomen auch als implizite Steuer bezeichnet wird, steigt für zukünftige Geburtsjahrgänge aller Voraussicht nach an.3

So erklärt sich ökonomisch der Sachverhalt, dass die Selbständigen kaum die Möglichkeit der freiwilligen Beitragszahlung nutzen und stattdessen auf die Bildung von privaten Altersrückstellungen setzen. Bei Personen mit einer hohen Gegenwartspräferenz und häufig zugleich geringem Einkommen wird unter Umständen vollständig auf die Bildung privater Altersrückstellungen verzichtet.

Diese in Bezug auf die GRV negativen Anreize haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht unerheblich auf die Struktur der Erwerbstätigen ausgewirkt. Um dem Schicksal der Langzeitarbeitslosigkeit zu entgehen, haben sich viele ehemals sozialversicherungspflichtig Beschäftigte offensichtlich für die Erwerbsform der Selbständigkeit entschieden und auf die Entrichtung freiwilliger Beiträge verzichtet. Bei dieser Entscheidung könnte unter anderem die für die Zukunft erwartete sinkende Rendite der Anwartschaften bei einer (angenommenen) konstanten Rendite am Kapitalmarkt eine Rolle gespielt haben. Waren im Jahr 1991 noch 3,5 Mio. Personen selbständig, so stieg die Zahl dieser Personengruppe im Jahr 2008 um 1 Mio. auf 4,5 Mio. Personen.4 Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der pflichtversicherten Beschäftigten von 27,1 Mio. auf 26,1 Mio. Personen.5 Die Anzahl der Selbständigen ohne obligatorische Alterssicherung wird auf 2-3 Mio. Personen geschätzt.6 Offensichtlich kommt es durch die nicht vorhandene Versicherungspflicht der Selbständigen aufgrund der oben beschriebenen Zusammenhänge zu Fehlanreizen bezüglich der Erwerbsform. Hier ist exakt das Verhalten zu beobachten, dass die ökonomische Theorie als Problem der Besteuerung beschreibt: Die betroffenen Personen versuchen, durch eine Veränderung ihres Verhaltens der nicht unerheblichen (impliziten) Steuer auszuweichen.

Mögliche Auswirkungen einer Einbeziehung der Selbständigen

Für die Versicherung des relevanten Personenkreises in der GRV bieten sich grundsätzlich zwei Lösungsansätze an. So besteht, wie von vielen befürwortet, die Möglichkeit, im Rahmen des staatlichen Paternalismus die nicht obligatorisch gesicherten Personen zu zwingen, Beiträge an die GRV zu zahlen.7 Diese Vorgehensweise ist aus ökonomischer Sicht nicht sehr befriedigend, da präferenzorientiertes ökonomisches Handeln durch Zwang verzerrt wird und somit zu individuell bewerteten Wohlfahrtsverlusten führt. Die Anwendung von Zwang schränkt die negative Freiheit ein und bedarf damit der besonderen Begründung. Insbesondere vor dem Hintergrund der letzten Reformen in der staatlichen Alterssicherung, die auch mit einer Stärkung des Prinzips der Eigenverantwortung begründet wurden, ist eine solche Vorgehensweise nicht unproblematisch.

Besser wäre es, die betroffenen Personen dazu anzuregen, freiwillig Mitglied in der GRV zu werden oder den Widerstand gegen die Beitragsentrichtung im Rahmen einer Pflichtversicherung zu mindern. Hierzu müssten die zurzeit vorhandenen negativen Anreize beseitigt und die Anreizstrukturen so ausgestaltet werden, dass sich eine Beitragszahlung aus der Sicht des relevanten Personenkreises lohnt.

Eine Beseitigung der oben genannten impliziten Steuer ist ausgeschlossen, da sie sich aus den Bedingungen des Kapital- und Arbeitsmarktes ergibt und letztendlich aus der Begünstigung der ersten Generation bei Einführung des Umlageverfahrens resultiert. Diese Generation hat Renten erhalten, ohne dafür Beiträge zu zahlen. Diese „Schuld“ verteilt sich über die implizite Steuer auf alle nachfolgenden Generationen.8

Nun manifestiert sich durch eine Pflichtversicherung zunächst immer staatlicher Zwang, dem die Personen legal nicht direkt ausweichen können. Die formelle ist aber nicht gleichbedeutend mit einer materiellen Pflichtversicherung. Da sich der Beitrag auf das Einkommen bezieht, das der Versicherte über die Erwerbstätigkeit erwirbt, kann er der Pflichtversicherung (teilweise) ausweichen, indem er seinen Arbeitseinsatz reduziert und in größerem Umfang Freizeit statt Güter konsumiert. Die Attraktivität eines derartigen Verhaltens steigt, wenn ergänzend zur beitragsfinanzierten Alterssicherung eine staatliche Grundsicherung existiert, die unabhängig von Beitrags- und Steuerzahlungen eine Absicherung im Alter in Höhe des Existenzminimus bietet. Insbesondere gering qualifizierten Personen erscheint sie als attraktives Substitut für die Sicherung des Einkommens im Alter.9

Um die Auswirkungen dieses Fehlanreizes zu verdeutlichen, wurden im Rahmen von zwei Simulationsexperimenten sowohl die Auswirkungen des Status quo, einer Pflichtmitgliedschaft bei strikter Teilhabeäquivalenz in der GRV und ergänzender Grundsicherung im Alter, als auch die möglichen Reaktionen bei einer Lockerung der Teilhabeäquivalenz und fehlender staatlicher Grundsicherung in Bezug auf das Arbeitsangebot untersucht.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass das Verhalten der betroffenen Personen modellendogen, d.h. in Abhängigkeit von den formulierten individuellen Präferenzen innerhalb des Modells abgebildet wird. Willkürliche Ad-hoc-Setzungen möglicher Verhaltensänderungen werden so vermieden. Zugleich sollte berücksichtigt werden, dass die betroffenen Personen zum Zeitpunkt der Reform unterschiedlich alt und somit in unterschiedlichem Umfang von der Reform betroffen sind. Die sogenannten Modelle überlappender Generationen erfüllen beide Anforderungen. Die Tabelle 1 gibt die Ergebnisse der beiden Simualtionsexperimente mit Hilfe eines Modells überlappender Generationen an.10

Einbeziehung der Selbständigen bei Teilhabeäquivalenz und ergänzender Grundsicherung

Ausgangspunkt der Betrachtung ist eine fiktive Referenzsimulation, in der die Personen bei strikter Teilhabeäquivalenz pflichtversichert sind, allerdings ohne dass eine ergänzende Grundsicherung im Alter in Höhe des Existenzminimums, finanziert über Steuern, existiert. Wird nun, analog zum geltenden Recht, ergänzend eine Grundsicherung im Alter eingeführt, so zeigt sich, dass insbesondere die unteren Einkommen mit einer erheblichen Reduzierung ihres Arbeitsangebotes reagieren (Tabelle 1, 1. Spalte). Im Experiment wird die Reform im Jahr 2007 angekündigt und tritt im Jahr 2012 in Kraft. Der Geburtsjahrgang 1950, der zum Zeitpunkt der Reform kurz vor bzw. bereits im Ruhestand ist, variiert sein (kompensiertes) Arbeitsangebot kaum. Besonders stark reagieren die Geburtsjahrgänge, die zum Zeitpunkt der Reform noch erwerbstätig sind. Bei diesen ergibt sich ein Rückgang des (unkompensierten) Arbeitsangebotes über die verbleibende Erwerbsphase im Maximum von rund 10%. Es ist nicht verwunderlich, dass die mittleren und oberen Einkommen im Gegensatz zu den unteren Einkommen kaum ihr Arbeitsangebot ändern. Letztere liegen mit ihren Rentenansprüchen unter dem Existenzminimum, die mittleren und oberen Einkommen akkumulieren dagegen deutlich höhere Anwartschaften, so dass ein Ausweichen auf die Grundsicherung für sie unter Wohlfahrtsgesichtspunkten keine Alternative darstellt.

Tabelle 1
Simulationsexperiment1
Geburtsjahr GRV kombiniert mit Grundsicherung (geltendes Recht) Intragenerative Umverteilung innerhalb der GRV
Untere Einkommensklasse
1950 -2,56 (-0,48) -0,19 (0,00)
1960 -10,50 (-5,42) 0,14 (1,98)
1970 -9,54 (-4,11) -0,67 (1,32)
1980 -9,35 (-7,20) -1,27 (0,32)
1990 -2,86 (-1,79) -0,58 (0,64)
2000 -4,06 (-3,25) -2,03 (-0,75)
Mittlere Einkommensklasse
1950 0,31 (-0,32) -0,17 (0,00)
1960 -0,22 (-0,59) -0,51 (-0,02)
1970 0,16 (-0,18) -0,01 (-0,03)
1980 0,10 (-0,19) -0,02 (-0,02)
1990 0,09 (-0,22) -0,02 (-0,03)
2000 -0,57 (-0,61) -0,71 (-0,44)
Obere Einkommensklasse
1950 0,70 (-0,51) -0,22 (-0,02)
1960 0,33 (-0,14) 0,65 (-0,35)
1970 0,15 (-0,13) 1,22 (-0,05)
1980 0,07 (-0,17) 1,05 (-0,21)
1990 -0,08 (-0,32) 0,79 (-0,30)
2000 -0,22 (-0,40) -0,38 (-0,37)

1 Simulationsexperiment zur Veränderung des unkompensierten (kompensierten) Arbeitsangebotes der Erwerbstätigen bei einer unterschiedlichen Ausgestaltung des Alterssicherungssystems: Prozentuale Veränderungen des Arbeitsangebotes über den Lebenszyklus im Vergleich zur Referenzlösung (Pflichtversicherung ohne staatliche Grundsicherung). In Klammern sind die Veränderungen des Arbeitsangebotes bei kompensierten Einkommenseffekten angegeben. Zur Methodik der Kompensation der Einkommenseffekte vgl. H. Jess: Vermeidung von Armut im Alter, Eine dynamische Gleichgewichtsanalyse ausgewählter Reformansätze: Unveröffentlichtes Manuskript, 2009.

Von den unteren Einkommen wird der Beitrag zur GRV als zusätzliche Steuer interpretiert, wenn sie aufgrund ihrer Qualifikation und ihres Einkommens nicht auf ein Anwartschaftsvolumen kommen, dass für eine Rente deutlich über dem Niveau der Grundsicherung reicht. Die Ergebnisse des Experiments beschreiben damit tendenziell die möglichen Verhaltensreaktionen der nicht obligatorisch gesicherten Selbständigen bei einer Pflichtversicherung im Rahmen des geltenden Rechts.

Wenn bei der derzeitigen Ausgestaltung der Teilhabeäquivalenz, gepaart mit einer möglichen Inanspruchnahme der staatlichen Grundsicherung im Alter, ein großer Teil der gering verdienenden Selbständigen vermutlich keine Chance hat, über die geleisteten Beitragszahlungen eine Rente im Alter zu erhalten, die wesentlich das Grundsicherungsniveau übersteigt, interpretieren sie den zu zahlenden Beitrag von rund 20% als zusätzliche Belastung, da sie die Grundsicherung auch ohne die Beitragszahlungen erhalten würden. Die Beitragszahlung treibt somit einen weiteren Keil zwischen Brutto- und Nettoeinkommen, dem aus der Sicht der gering verdienenden Selbständigen kein zukünftiger Nutzen gegenübersteht. Das Simulationsexperiment verdeutlicht die Gefahr, dass ein erheblicher Teil dieser gering verdienenden Selbständigen sich aus der Selbständigkeit verabschiedet und mangels Alternativen bereits in der Erwerbsphase die Grundsicherung bezieht, anstatt den eigenen Lebensunterhalt über eine selbständige Tätigkeit zu finanzieren.

Dadurch würden die öffentlichen Ausgaben nicht nur in der Zukunft, sondern zusätzlich in der Gegenwart steigen und die Belastung der öffentlichen Haushalte weiter erhöhen. Die bis zur Einführung der Zwangsmitgliedschaft gering verdienenden, aber noch eigenverantwortlich tätigen Selbständigen würden somit durch den staatlichen Paternalismus bereits in der Erwerbsphase in die Armutsfalle geraten. Die eigentlichen Ziele der Zwangsmitgliedschaft, Vermeidung von Armut im Alter und die Reduzierung der Ausgaben für die Grundsicherung in der Zukunft könnten sich in ihr Gegenteil verkehren und zusätzliche fiskalische Lasten und Armut in der Gegenwart erzeugen.

Dabei stellt die in der 1. Spalte der Tabelle 1 ausgewiesene Reaktion lediglich die untere Grenze der Verzerrung des Arbeitsangebotes dar, weil die Möglichkeit einer Inanspruchnahme der Grundsicherung während der Erwerbsphase in den Simulationsexperimenten nicht berücksichtigt wurde. Die Abbildung dieses zusätzlichen Elements der sozialen Sicherung würden das Arbeitsangebot über den Lebenszyklus noch weiter reduzieren und die Belastung der öffentlichen Haushalte in der Gegenwart noch weiter erhöhen.

Substitution der Grundsicherung durch Lockerung der Teilhabeäquivalenz

Wenn gleichwohl eine Mitgliedschaft der obligatorisch nicht gesicherten Selbständigen in der GRV zur Vermeidung von Armut im Alter angestrebt wird, so sollte überlegt werden, inwieweit die Anreize für den interessierenden Personenkreis attraktiv ausgestaltet werden können. Eine Möglichkeit wäre eine Lockerung des Prinzips der Teilhabeäquivalenz durch eine verstärkte Umverteilung innerhalb einer Beitragszahlergeneration. Diese Lockerung wäre auch mit dem veränderten Selbstverständnis der GRV vereinbar. Hatte bis in die neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Rente noch den Anspruch, als Lohnersatz zu dienen, und somit über ein konstantes relatives Sicherungsniveau das Ziel, einen adäquaten Lebensstandard im Alter zu sichern, so gewährleistet sie in Zukunft lediglich eine Basissicherung, und die Lebensstandardsicherung bedarf einer verstärkten privaten Eigenvorsorge.

Vor dem Hintergrund dieses Paradigmenwechsels scheint es möglich, die sozialpolitische Funktion der GRV zukünftig zu stärken. Da es insbesondere die (selbständigen) Personen mit geringem Einkommen sind, die der sozialen Sicherung bedürfen, scheint es durchaus vertretbar, das Prinzip der Teilhabeäquivalenz zugunsten dieser Personen zu lockern und innerhalb der Versichertenpopulation umzuverteilen.11 Welche technische Ausgestaltung dabei zu wählen ist, z.B. die Ausweitung der Rente nach Mindesteinkommen, die Einführung des Modells „Flexibler Anwartschaften“12 oder eine gänzlich neue Konstruktion, wäre zu prüfen. Aus ökonomischer Sicht ist es lediglich relevant, dass der Anreiz, Beiträge zu entrichten, erhöht wird. In diesem Kontext könnte grundsätzlich die steuerfinanzierte Grundsicherung im Alter entfallen. Sie wäre lediglich für den Personenkreis relevant, der aufgrund von körperlicher oder geistiger Behinderung nicht in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.

Wird statt der ergänzenden Grundsicherung im Alter eine Umverteilung von Rentenanwartschaften derart vorgenommen, dass auch die unteren Einkommen Anwartschaften mindestens in Höhe der Grundsicherung erhalten, so kommt es zu gravierenden Verhaltensänderungen bei diesen Personen, wie das zweite Simulationsexperiment zeigt. Dabei wird die Hälfte der erworbenen Anwartschaften umverteilt.13 Jeder Versicherte bekommt, soweit er einen Beitrag zahlt, mindestens einen halben Entgeltpunkt angerechnet und zusätzlich die Hälfte der indviduell über den gezahlten Beitrag erworbenen Anwartschaften. Im Vergleich zur strikten Teilhabeäquivalenz gewinnen somit die unteren Einkommen zu Lasten der oberen Einkommen. Erwirbt z.B. ein Versicherter aufgrund eigener Beitragsleistung lediglich einen halben Entgeltpunkt, so erhält er im Rahmen dieses Experiments zunächst unabhängig von der Höhe des eigenen Einkommens einen halben Punkt, und von den selbst erworbenen Ansprüchen die Hälfte, so dass er mit 0,75 Entgeltpunkten deutlich besser dasteht als bei strikter Teilhabeäquivalenz. Die oberen Einkommen büßen Anwartschaften ein. Ein Versicherter mit einem Einkommen in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze erhält nicht mehr rund 2 Entgeltpunkte, sondern lediglich 1,5 Entgeltpunkte. Seine Anwartschaften werden um 25% reduziert, die des Geringverdieners in dem genannten Beispiel um 50% erhöht.

Die Umverteilung im Simulationsexperiment wurde belastungsneutral vorgenommen, d.h. die Beitragssatzentwicklung unterscheidet sich kaum von der der Referenzsimulation. Die 2. Spalte der Tabelle 1 verdeutlicht die Reaktion insbesondere der unteren Einkommen in Bezug auf ihre Erwerbsbeteiligung. Die Begünstigung durch die intragenerative Umverteilung aktiviert diese Personengruppe, so dass die Verminderung des Arbeitsangebotes deutlich reduziert wird und sich im Bereich der Verhaltensänderungen der anderen Einkommensklassen bewegt. Bei den oberen Einkommen, die zumindest einige Jahre ihres Erwerbslebens Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze beziehen, kommt es nicht, wie man vielleicht erwarten würde, zu einer drastischen Reduzierung des Arbeitsangebotes. Stattdessen erhöht sich das (unkompensierte) Arbeitsangebot leicht, um den gemessen am Lebenszykluseinkommen relativ geringen Einkommensausfall im Alter mittels zusätzlicher privater Ersparnis auszugleichen.14

Die beiden Simulationsexperimente legen die Vermutung nahe, dass eine im Vergleich zum geltenden Recht anreizorientierte Ausgestaltung der Erwerbstätigenversicherung insgesamt positive Effekte beim Arbeitsangebot auslösen könnte. Staatlicher Paternalismus im Rahmen des geltenden Rentenrechts, wohlmeinend begründet über die Schutzbedürftigkeit des unter Zwang einzubeziehenden Personenkreises, läuft aus ökonomischer Sicht Gefahr, das Gegenteil von dem zu erreichen, was intendiert wird. Diese Überlegungen gelten ebenso für die bereits pflichtversicherten Arbeitnehmer mit geringem Einkommen. Auch sie würden deutlich profitieren und der Anreiz, im Erwerbsalter den Lebensunterhalt über die staatliche Grundsicherung zu finanzieren oder auf eine nicht versicherungspflichtige selbständige Tätigkeit oder Schwarzarbeit auszuweichen, wäre deutlich reduziert. Die Rendite ihrer Beiträge würde sich durch die intragenerative Umverteilung deutlich erhöhen.

Versicherungspflicht der Selbständigen als Alternative?

Eine Alternative zur Pflichtversicherung stellt die Versicherungspflicht dar. In diesem Fall hätten die betroffenen Personen eine Wahlmöglichkeit bei der Vorsorgeform. Zudem gäbe es keine Probleme bei denjenigen Selbständigen, die bereits privat fürs Alter vorsorgen.

Gegen diese Form der Durchführung spricht, dass die Selbständigkeit häufig nicht von Dauer ist, sondern nur temporär ausgeübt wird und die betroffenen Personen häufig eine erhebliche Zeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt bzw. arbeitslos waren.15 Eine Pflichtversicherung würde die im Rahmen einer Versicherungspflicht entstehenden Abstimmungsprobleme bei einem Wechsel der Erwerbsform und bei Arbeitslosigkeit vermeiden. Zudem würden im Rahmen der Pflichtversicherung insbesondere die (temporär) gering verdienenden Selbständigen bei Einkommensminderungen durch die einkommensabhängigen Beiträge „automatisch“ entlastet werden. Bei einer Versicherungspflicht hätten sie auch bei Einkommensrückgängen immer den konstanten Beitrag zu zahlen. Neben dem Langlebigkeitsrisiko wären im Rahmen der Pflichtversicherung über den einheitlichen Beitragssatz zugleich das Erwerbsminderungsrisiko, die Rehabilitation und die Hinterbliebenenversorgung versichert.

Auch in Bezug auf die intergenerativen Verteilungseffekte unterscheiden sich die Pflichtversicherung und die Versicherungspflicht. Bei einer Versicherungspflicht gewinnen die zukünftigen Steuerzahler, da die Ausgaben für die Grundsicherung abnehmen, bei einer Pflichtversicherung kommt es dagegen zu einer Entlastung der gegenwärtigen Beitrags- und Steuerzahler, da sie ihre Anwartschaften zu einem geringeren Beitragssatz erwerben. Dieser Aspekt soll als Nächstes näher betrachtet werden.

Intergenerative Umverteilung bei einer Einbeziehung der Selbständigen in die Pflichtversicherung

Im Rahmen des geltenden Rechts, also ohne intragenerative Umverteilung, wurden mit Hilfe eines geeigneten Kohortenmodells bereits in einer früheren Arbeit16 unterschiedliche Alternativen einer Einbeziehung der Selbständigen in Bezug auf die intergenerativen Verteilungswirkungen untersucht. Um die Auswirkungen der unterschiedlichen technischen Ausgestaltungsmöglichkeiten herauszuarbeiten, wurde bei diesen Simulationsrechnungen auf die Berücksichtigung von möglichen Verhaltensänderungen verzichtet.

Untersucht wurden insgesamt sechs Alternativen, bei denen die Rechengrößen der GRV mehr oder weniger durch die Erweiterung des Versichertenkreises beeinflusst werden. In der Tabelle 2 sind die Differenzen der internen Renditen für einzelne Geburtsjahrgänge ausgewiesen, die sich im Vergleich zum geltenden Recht (Referenzsimulation) bei einer Einbeziehung der nicht obligatorisch gesicherten Selbständigen ergeben.17

Tabelle 2
Differenzen der internen Renditen gegenüber dem geltenden Recht (in Prozentpunkten)
Geburtsjahrgang SIM1 SIM2 SIM3 SIM4 SIM5 SIM6
1942 0,07 -0,01 0,00 0,08 0,04 0,00
1945 0,08 -0,01 0,00 0,09 0,04 -0,01
1950 0,11 0,00 0,03 0,11 0,06 0,02
1955 0,14 0,03 0,07 0,13 0,09 0,05
1960 0,15 0,06 0,10 0,13 0,10 0,07
1965 0,17 0,10 0,12 0,13 0,11 0,09
1970 0,17 0,13 0,13 0,13 0,11 0,10
1975 0,17 0,16 0,14 0,12 0,11 0,10
1980 0,16 0,18 0,14 0,11 0,11 0,10
1985 0,15 0,19 0,13 0,11 0,10 0,10
1990 0,14 0,19 0,12 0,09 0,09 0,09
1995 0,11 0,19 0,10 0,07 0,07 0,07
2000 0,08 0,18 0,07 0,05 0,05 0,05
2005 0,06 0,16 0,05 0,04 0,04 0,04
2010 0,05 0,14 0,03 0,02 0,02 0,02
2015 0,03 0,12 0,02 0,01 0,01 0,01
2020 0,02 0,10 0,01 0,01 0,01 0,01
2025 0,01 0,08 0,00 0,00 0,00 0,00
2030 0,01 0,05 -0,01 -0,01 -0,01 -0,01
2035 0,00 0,04 -0,01 -0,01 -0,01 -0,01
2039 0,00 0,02 -0,01 -0,01 -0,01 -0,01

Anmerkung: Details zu den Simulationen SIM1 bis SIM6 finden sich im Text.

Im Rahmen der ersten Simulation (SIM1) wurde unterstellt, dass alle nicht obligatorisch gesicherten Personen zum 1. Januar 2011 versicherungspflichtig werden und einkommensabhängige Beiträge zahlen. Die zweite Simulation (SIM2) macht dagegen die intergenerativen Verteilungseffekte deutlich, die sich bei einer ausschließlichen Einbeziehung der neuen Selbständigen ergeben können.

Eine weitere Simulation (SIM3) geht wiederum von einer Einbeziehung aller nicht abgesicherten Selbständigen aus, unterstellt allerdings im Gegensatz zur ersten Simulation, dass dieser Personenkreis nur den Regelbeitrag entrichtet und lediglich von denjenigen ein einkommensabhängiger Beitrag gezahlt wird, deren Einkommen unterhalb der Bezugsgröße liegt. Dadurch wird das durchschnittliche Versichertenentgelt im Jahr 2011 negativ beeinflusst, so dass im Vergleich zum geltenden Recht im Jahr 2012 die Rentenanpassung deutlich gedämpft wird.

Dieser Effekt wird in der vierten Simulation (SIM4) ausgeblendet. Ein Vergleich mit der dritten Simulation verdeutlicht die Auswirkungen: Die rentennahen Jahrgänge profitieren, die internen Renditen bis zum Geburtsjahrgang 1965 verbessern sich etwas, die Differenzen bei den jüngeren Kohorten fallen dagegen etwas geringer aus. Die von den Reformen der letzten 15 Jahre besonders betroffenen Jahrgänge erhalten durch die Einbeziehung der Selbständigen somit eine kleine Kompensation.

Durch die Einbeziehung der Selbständigen ändert sich allerdings nicht nur das durchschnittliche Versichertenentgelt, sondern auch der Beitragssatz und der Nachhaltigkeitsfaktor. Die zusätzlichen Beiträge gestatten eine temporäre Senkung des Beitragssatzes und die zusätzlichen Beitragszahler reduzieren den Rentnerquotienten und verbessern den Nachhaltigkeitsfaktor. Beide Effekte wirken sich positiv auf die Rentenanpassungen der Jahre 2012 und 2013 aus. Wird der positive Einfluss des geringeren Beitragsatzes auf die Rentenanpassung ausgeblendet (SIM5), so vermindert sich wiederum die Besserstellung der rentennahen Jahrgänge, so dass sich insgesamt die intergenerative Umverteilung etwas reduziert. Bleibt auch die Veränderung des Nachhaltigkeitsfaktors unberücksichtigt (SIM6), so ergibt sich eine weitere Abschwächung der Umverteilung zwischen den Generationen. In dieser Simulation heben sich die Entlastungen (geringere Beiträge) und die Belastungen (geringere Rentenanpassungen) fast auf, so dass sich die internen Renditen der Jahrgänge am geringsten von denen bei geltendem Recht unterscheiden.

Die Modellsimulationen verdeutlichen somit die Kohorteneffekte bei einer Einbeziehung der Selbständigen. Welche der untersuchten Ausgestaltungsalternativen zur Anwendung kommen sollte, ist eine normative Entscheidung. Wird eine Entlastung der gegenwärtigen Versicherten angestrebt, so sollte die Variante 1 (SIM1) gewählt werden. Weitgehende Neutralität in Bezug auf die intergenerative Umverteilung gewährleistet dagegen die Variante 6 (SIM6).

Nur der Ordnung halber sei abschließend erwähnt, dass es sich bei den dargestellten Effekten um Simualtionsergebnisse handelt, die nicht als Prognosen interpretiert werden sollten. Sie verdeutlichen lediglich die jeweiligen Tendenzen und erlauben bei einer gegebenen verteilungspolitischen Zielsetzung die Formulierung einer Rangordnung der unterschiedlichen Ausgestaltungsalternativen.

Schlussbetrachtung

Wird das Projekt „Erwerbstätigenversicherung“ lediglich im Kontext des Haushaltes der GRV betrachtet, so werden wesentliche Sachverhalte nicht berücksichtigt. Haushaltstechnisch ergibt sich unter sonst gleichen Bedingungen durch die Einbeziehung der Selbständigen ein vorübergehend niedriger Beitragssatz, der sich langfristig seinem alten Niveau wieder annähert – ein Nullsummenspiel.

Bezieht man dagegen die ökonomischen Aspekte mit ein, so können sich im Rahmen dieses Projektes Mehrbelastungen für die öffentlichen Haushalte ergeben, die im schlimmsten Fall zu einer Situation führen, die die ursprünglich beabsichtigten Wirkungen in ihr Gegenteil verkehrt. Zentral für das Ergebnis sind die Verhaltensänderungen der Zielgruppe in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung. Im Rahmen des geltenden Rechts kann davon ausgegangen werden, dass von diesen Personen eine Einbeziehung in die Pflichtversicherung negativ beurteilt wird, da sie ansonsten bereits heute die Möglichkeit der freiwilligen Beitragszahlung nutzen würden.

Eine Pflichtversicherung wird aller Voraussicht nach bei Personen mit geringem Einkommen Verhaltensänderungen induzieren, die zu einer Verringerung der selbständigen Erwerbstätigkeit und einer verstärkten Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen bereits während der Erwerbsphase führen könnten. Insofern käme es bei diesen Personen zu einer Verschlechterung der Einkommenssituation und, bei Inanspruchnahme staatlicher Transfers, zu einer zusätzlichen Belastung der öffentlichen Haushalte in der Gegenwart. Zugleich würde die zukünftige Minderung der Ausgaben für die Grundsicherung entfallen, da die Zielgruppe sich dem Projekt verweigert, indem sie ihre selbständige Erwerbstätigkeit aufgibt, ihren Lebensunterhalt aus der Grundsicherung bestreitet und somit nur marginal zusätzliche Rentenanwartschaften erwirbt.

Um die skizzierten möglichen Verhaltensänderungen zu vermeiden, sollten aus ökonomischer Sicht attraktive Anreize für die Beitragsentrichtung geboten werden. Dieses könnte, wie dargestellt, durch eine intragenerative Umverteilung zugunsten der unteren und zulasten der oberen Einkommen geschehen. Eine derartige progressive Ausgestaltung der GRV würde auch die Arbeitsanreize für die gering qualifizierten Personen unter den bereits pflichtversicherten Arbeitnehmern erhöhen. Bei den im Rahmen einer progressiven Ausgestaltung schlechter gestellten oberen Einkommen dürften die negativen Effekte auf das Arbeitsangebot eher gering sein, da, bezogen auf das Lebenseinkommen dieser Personengruppe, die Einbußen relativ unbedeutend sind und vermutlich ebenso bewertet werden.

Aus der Perspektive eines Berufsanfängers bietet eine progressive Ausgestaltung der GRV zugleich eine Versicherung gegen Einkommensunsicherheit über den Lebenszyklus.18 Die verstärkte intragenerative Umverteilung innerhalb der Versichertenpopulation führt dazu, dass die Auswirkungen möglicher Einkommensschwankungen während der Erwerbsphase auf das Altersruhegeld gedämpft werden.

Aus ökonomischer Sicht spricht somit einiges dafür, das Projekt „Erwerbstätigenversicherung“ mit einer Lockerung der Teilhabeäquivalenz durch intragenerative Umverteilung zu verbinden und so das soziale Element im gewandelten Selbstverständnis der GRV (Basis- statt Lebensstandardsicherung) im Rahmen des 3-Säulen-Konzepts zu stärken. Letztendlich handelt es sich bei der Einbeziehung der Selbständigen allerdings um eine normative Entscheidung, die aber die möglichen ökonomischen Folgen einer Zwangsmitgliedschaft berücksichtigen sollte, um die Zielsetzung des Projekts nicht zu gefährden.

* Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich ausschließlich um die persönliche Ansicht des Autors.

  • 1 Aufgrund der in der Rentenanpassungsformel berücksichtigten Dämpfungsfaktoren kann die Rentenanpassung auch deutlich unter der Lohnsteigerung liegen, vgl. SGB VI, § 68.
  • 2 So kann sich später durchaus herausstellen, dass im Einzelfall die Rendite aus der GRV höher gewesen wäre. Generell gilt dieses allerdings nicht. Zu den zahlreichen Gründen vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1996/97, Bundestagsdrucksache 13/6200, S. 236 f.
  • 3 Die implizite Steuer sollte nicht mit der impliziten Rendite der GRV verwechselt werden. Die implizite Rendite ist der Zinssatz, der die Barwerte der Beitragszahlungen und der Rentenausgaben zum Ausgleich bringt. Vgl. S. Ohsmann, U. Stolz: Entwicklung der Rendite in der gesetzlichen Rentenversicherung – Betrachtungen zur Rendite der aktuellen und künftigen Altersrenten, in: Die Angestelltenversicherung, 2/2004, S. 56-62. Die implizite Steuer ist dagegen die Differenz zwischen dem Barwert der Beitragszahlungen und dem Barwert der bezogenen Rentenleistungen, bei einem exogen vorgegebenen Diskontierungssatz. Dabei sollte streng genommen nicht der Kaptialmarktzins Verwendung finden, sondern der Zinssatz einer alternativen privaten Rentenversicherung. Der implizite Steueranteil (die implizite Steuer) ergibt sich, indem man die mit Hilfe des exogen vorgegebenen Zinssatzes ermittelte Differenz der Barwerte von Beiträgen und Renten auf den Barwert der Beiträge (oder des Einkommens) bezieht. Nach den Berechnungen des Sachverständigenrates (Diskontierungssatz 4%) beträgt der Anteil der impliziten Steuer am Barwert der Beiträge beim männlichen Beitragszahlerjahrgang 1960 45%. Damit hat fast die Hälfte der Beiträge dieser Kohorte Steuercharakter. Beträgt, bezogen auf das Einkommen, der implizite Steuersatz bei den Männern des Geburtsjahrganges 1940 noch 4,7%, so steigt er für die Männer des Geburtsjahrganges 1960 auf 8,6% und 2010 auf 10,2% an. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2006/07: Widerstreitende Interessen – ungenutzte Chancen, S. 272 f.
  • 4 Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2009, S. 81.
  • 5 DRV-Schriften: Rentenversicherung in Zeitreihen, 22/2009, S. 30.
  • 6 Vgl. U. Fachinger, A. Ölschläger, W. Schmähl: Alterssicherung von Selbständigen, Bestandsaufnahme und Reformoptionen, Münster 2004, S. 231.
  • 7 Der Sozialbeirat weist in seinem aktuellen Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2009 darauf hin, „dass es das verfassungsrechtlich abgesicherte Recht eines Staates ist, zur Vermeidung einer Inanspruchnahme von Sozialhilfe eine Versicherungspflicht einzuführen.“ Vgl. Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2009, S. 20. Aus ökonomischer Perspektive ist allerdings zu fragen, ob es bei einer gesetzlichen Versicherungspflicht auch tatsächlich zu einer Versicherung des relevanten Personenkreises kommt. Nur in diesem Fall wird die intendierte Zielsetzung auch erfüllt. Verhaltensänderungen der betroffenen Personen, ausgelöst durch die Versicherungspflicht, können diese Zielsetzung erheblich gefährden.
  • 8 Der implizite Steuersatz der Einführungsgeneration ist, da sie keine oder nur geringe Beiträge gezahlt hat, aufgrund der geschenkten Rentenleistungen negativ. Es lässt sich zeigen, dass der Barwert der impliziten Steuer aller nachfolgenden Generationen dem Barwert der geschenkten Rentenleistungen für die Einführungsgeneration entspricht. Vgl. H. W. Sinn: Why a Funded Pension System is Useful and Why it is not Useful, in: International Tax and Public Finance, 7/2000, S. 389-410.
  • 9 Vgl. D. Döring: Wege zur armutsfesten Alterssicherung, in: Deutsche Rentenversicherung, 4/2008, S. 401-413.
  • 10 Zur detaillierten Beschreibung des Modells vgl. H. Jess: Vermeidung von Armut im Alter, Eine dynamische Gleichgewichtsanalyse ausgewählter Reformansätze: Unveröffentlichtes Manuskript, 2009. Zu einer im Zusammenhang mit der diskutierten Thematik früheren Version des Modells vgl. H. Jess: Selbständige in die gesetzliche Rentenversicherung?, Wohlfahrtseffekte einer Ausweitung der Versicherungspflicht, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 224 (2004), Heft 3, S. 292-316. Gänzlich ungeeignet für die Untersuchung des diskutierten Problems sind makroökonometrische Modelle. Ökonomisches Handeln wählt unter Berücksichtigung des Kosten-Nutzen-Kalküls zwischen Alternativen. Insoweit makroökonometrische Modelle das Nutzenkalkül und die Kosten der alternativen Verwendung, d.h. die relativen Preise, nicht explizit berücksichtigen und sich ausschließlich auf die „Saldenmechanik“ der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen stützen, erklären sie nichts und blenden das eigentliche ökonomische Problem der untersuchten Politikreform, nämlich die möglichen Reaktionen der Wirtschaftssubjekte auf die durch die Reform veränderten Rahmenbedingungen, aus.
  • 11 Mittlerweile belegt eine ganze Reihe von Studien für Großbritannien, die USA und auch für Deutschland, dass die Lebenserwartung positiv mit dem Einkommen korreliert ist. Einen Überblick bieten D. Cutler, A. Deaton, A. Lleras-Muney: The Determinants of Mortality, in: Journal of Economic Perspectives, 20/2006, S. 97-120. Für Deutschland vgl. A. Reil-Held: Einkommen und Sterblichkeit in Deutschland: Leben Reiche länger?, in: Beiträge zur angewandten Wirtschaftsforschung, 580-00 (2000) Universität Mannheim; H.-M. Gaudecker, R. D. Scholz: Differential Mortality by Lifetime Earnings in Germany, in: Demographic Research, 17/2007, S. 83-108. Vor diesem Hintergrund scheint eine Umverteilung zugunsten der unteren Einkommen auch unter Verteilungsgesichtspunkten durchaus vertretbar, da das Verhältnis von Rentenleistungen zu Beitragsleistungen mit steigender Lebenserwartung steigt. Soll diese Benachteiligung der unteren Einkommen mit geringer Lebenserwartung beseitigt werden, so erfordert dies eine stärkere intragenerative Umverteilung. Dieses könnte auch über eine Modifikation der Rentenformel in einer Form erfolgen, die das Verhältnis von Rentenleistungen und Beiträgen von der Lebenserwartung bzw. der Höhe des Einkommens entkoppelt und somit Verteilungsneutralität herstellt und zugleich der Altersarmut der unteren Einkommen entgegenwirkt. Vgl. F. Breyer, S. Hupfeld: Fairness of Public Pensions and Old-Age Poverty, in: Finanzarchiv, Vol. 65 (2009), Nr. 3, S. 358-359.
  • 12 Vgl. K. Michaelis, R. Thiede: Flexible Anwartschaften bei unstetigen Versicherungsverläufen, in: Deutsche Rentenversicherung, 8-9/1999, S. 521-528.
  • 13 Das erhebliche Ausmaß der intragenerativen Umverteilung wurde lediglich gewählt, um die möglichen Verhaltensänderungen deutlich herauszuarbeiten. Es sollte nicht als Reformvorschlag interpretiert werden.
  • 14 Im Modell sind die langfristigen (unkompensierten) Arbeitsangebotselastizitäten negativ, da der Einkommenseffekt dominiert.
  • 15 Vgl. J. Ehler, D. Frommert: Für eine Pflichtversicherung bei Selbständigkeit ohne obligatorische Alterssicherung, in: Deutsche Rentenversicherung, 1/2009, S. 51.
  • 16 Unterstellt wurde, dass rund 50% der Selbständigen nicht obligatorisch gesichert sind. Zudem wurde zwischen drei Einkommensklassen differenziert. Vgl. H. Jess, D. Ujhelyiova: Ausgestaltungsalternativen einer Einbeziehung der Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung – Auswirkungen auf die zentralen Rechengrößen der Rentenversicherung und die intergenerative Verteilung, in: Deutsche Rentenversicherung 1/2009, S. 23-35.
  • 17 Die Auswirkungen einer Einbeziehung der Selbständigen auf die intergenerative Veteilung lässt sich alternativ auch mit Hilfe der impliziten Steuer bzw. des impliziten Steuersatzes angeben. Vgl. Sachverständigenrat, a.a.O., S. 273.
  • 18 Vgl. H. Fehr, C. Habermann: Risk Sharing and Efficiency Implications of Progressive Pension Arrangements, in: Scandinavian Journal of Economics, Vol. 110 (2008), S. 419-443.

Beitrag als PDF


DOI: 10.1007/s10273-010-1077-6