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Im Stabilitäts- und Wachstumspakt konzentriert sich die Europäische Union auf die Einhaltung des Kriteriums „übermäßiges Staatsdefizit“. Die Probleme in der Währungsunion sind jedoch in erster Linie durch die Divergenzen in den Preisniveaus der Mitgliedsländer, der auseinanderklaffenden Wettbewerbsfähigkeit und der externen Verschuldung des Privatsektors in den südlichen EWU-Ländern entstanden – die daraus resultierende Auslandsverschuldung kann sowohl als Symptom als auch als Mitverursacher der Krise angesehen werden.

In den vergangenen Wochen stellten selbst verursachte Probleme und spekulative Attacken der Finanzmärkte die Fortexistenz der Europäischen Währungsunion (EWU) und damit die gesamte europäische Integration auf eine harte Probe. Die Bürgschaften und Kredite, mit denen ein Rettungsschirm für die von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Länder aufgespannt wurde, sowie die Entscheidung der Europäischen Zentralbank, Staatsanleihen am Sekundärmarkt anzukaufen, waren ein wichtiger, längst überfälliger Schritt, um kurzfristig eine Stabilisierung der Europäischen Währungsunion zu erreichen.

Gleichwohl ist allen Beobachtern klar, dass die ergriffenen Maßnahmen keine endgültige Lösung der Probleme des Euroraumes bedeuten. Man hat allenfalls Zeit gewonnen, um die grundlegenden Probleme anzugehen; nun kommt es darauf an, die Gründe, die zur Krise führten, richtig zu analysieren und die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Über die zentralen Ursachen der Euro-Krise herrschen aber unterschiedliche Ansichten vor. Betrachtet man die öffentliche Diskussion in den Medien und verfolgt die Äußerungen führender Politiker, scheint die Sache klar zu sein: Hier dominiert die Sichtweise, dass die wachsenden Defizite der öffentlichen Haushalte in den EWU-Ländern die Krise verursacht hätten. Die Ansicht impliziert, dass es mehr oder weniger ausreichend sei, eine rasche Konsolidierung der Staatsfinanzen in den betroffenen Ländern durchzuführen und in Zukunft den Stabilitäts- und Wachstumspakt konsequenter als bisher einzuhalten, damit die Stabilität in die Eurozone zurückkehrt.1

Dieser Ansicht wird hier widersprochen. Selbst wenn die angestrebten Budgetkonsolidierungen gelingen sollten, kann man nicht davon ausgehen, dass die Probleme der Eurozone damit gelöst wären.2 Hohe Defizite, die in den öffentlichen Haushalten einiger Euro-Staaten existieren, sind allenfalls ein Teilproblem, aber nicht die eigentliche Ursache der Euro-Krise. Nicht die Verschuldung des Staates (d.h. der öffentlichen Haushalte), sondern die aggregierte Verschuldung aller Sektoren eines ganzen Landes gegenüber dem Rest der Welt (Auslandsverschuldung) stellt die eigentliche Ursache dar, die hinter der gegenwärtigen Eurokrise steckt. Dass die Auslandsverschuldung insbesondere in den Süd-Ländern in der vergangenen Dekade so stark angewachsen ist, hat auch mit einigen Fehlentwicklungen und -konzeptionen in der EWU zu tun.

Zunehmende private Verschuldung

Die Auslandsverschuldung der in die Schuldenkrise geratenen EWU-Länder hat sich bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise weniger im öffentlichen Sektor als vielmehr im privaten Sektor (private Haushalte und Unternehmen) dieser Länder niedergeschlagen. Die Tabelle 1 gibt verschiedene Finanzierungssalden von Ländergruppen innerhalb der EWU an. In der Periode vor dem Eintritt in die Währungsunion (1992-98) wies die hier als Süd-Länder bezeichnete Gruppe (Griechenland, Spanien, Portugal, Irland) einen geringfügig negativen Leistungsbilanzsaldo (0,7% vom BIP) gegenüber dem Rest der Welt auf. Dieser weitete sich nach Beginn der Währungsunion im Durchschnitt des Zeitraumes 1999-2007 auf fast 7% aus. Wie weiter zu sehen ist, hat sich das Finanzierungsdefizit des öffentlichen Sektors in den Süd-Ländern (wie in den Nord-Ländern3 auch) seit 1999 deutlich verringert. Betrug das Defizit im Süden in der Zeitperiode vor dem Start der EWU im Durchschnitt noch 5,7% vom BIP, so schrumpfte es im Zeitraum 1999-2007 auf 2,1%. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat hier also durchaus eine Wirkung ausgeübt. Die zunehmenden Leistungsbilanzdefizite, die sich seit dem EWU-Start in den Süd-Ländern aufgetan haben, schlugen sich dementsprechend in einem wachsenden Finanzierungsdefizit des privaten Sektors (Unternehmen und Haushalte) nieder. Im Zeitraum 1992-98 existierte in den Süd-Ländern noch ein durchschnittlicher Finanzierungsüberschuss des privaten Sektors von 5,0%. Nach EWU-Beginn wandelte sich dieser in ein Finanzierungsdefizit um, das im Durchschnitt der Periode 4,7% betrug. Damit war der Finanzierungssaldo des privaten Sektors doppelt so groß wie der des öffentlichen Sektors. Dieser Fall spielt im Stabilitätspakt jedoch keine Rolle.

Tabelle 1
Finanzierungssalden in der EWU

in % des jeweiligen BIP

  Süd-Länder Nord-Länder
  1992-1998 1999-2007 1992-1998 1999-2007
Ausland 0,7 6,8 -0,9 -4,6
Öffentlicher Sektor -5,7 -2,1 -3,3 -0,2
Privater Sektor 5,0 -4,7 4,2 4,8

Süd-Länder: Griechenland, Spanien, Portugal, Irland. Nord-Länder: Deutschland, Finnland, Niederlande, Österreich. Ungewichtete Durchschnitte.

Quelle: N. Holinski, C. Kool, J. Muysken: Origins of persistent macroeconomic imbalances in the Euro area, Utrecht School of Economics, Tjalling C. Koopmans Research Institute, Discussion Paper Series Nr. 10-12, Mai 2010, S. 4.

Der aggregierte Finanzierungssaldo von öffentlichem und privatem Sektor stellt das Spiegelbild des Finanzierungssaldos gegenüber dem Ausland dar. Ein negativer Wert des erstgenannten Saldos bedeutet, dass weitere Netto-Verbindlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt aufgebaut werden. Da der Finanzierungssaldo der gesamten EWU gegenüber dem Rest der Welt ungefähr ausgeglichen ist, kann weiterhin festgehalten werden, dass die Auslandsverschuldung der Süd-Länder direkt oder indirekt bei den Nord-Ländern entstanden ist.4

Das Problem der Auslandsverschuldung

Grundsätzlich entsteht eine Auslandsverschuldung, wenn ein Land über einen längeren Zeitraum hinweg für seine Güterkäufe mehr ausgibt, als es selbst an Werten schafft. Wenn also der Privatsektor (Unternehmen und private Haushalte) und der öffentliche Sektor eines Landes zusammen mehr ausgeben, als sie an Einnahmen erzielen, sind sie auf Kapitalzuflüsse aus dem Ausland angewiesen. Dann muss sich das Land im Ausland verschulden, um diese Ausgabendifferenz zu finanzieren. Ein verschuldetes Land muss langfristig in der Lage sein, durch Güterverkäufe mehr Einnahmen zu erzielen als im Inland ausgegeben wird, wenn es seine Schulden an das Ausland zurückzahlen will. Auslandsverschuldung beruht im Wesentlichen auf der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Dieses ist auch die zentrale Ursache dafür, dass ein Land in Konkurs gehen kann.

Eine Verschuldung gegenüber dem Ausland kann solange bestehen und sogar weiter ausgebaut werden, wie der Rest der Welt bereit ist, im Saldo weiter Kapital ins Inland zu transferieren. Sobald jedoch allgemeine Zweifel an der Kreditwürdigkeit des Landes aufkommen und damit dessen Fähigkeiten angezweifelt werden, Zinsen zu bezahlen und Kredite zu tilgen, kann der Kapitalzufluss aus dem Ausland rasch ins Stocken geraten. Abrupt steigende Zinsen, wie jüngst im Fall Griechenlands geschehen, und eine Zahlungsbilanzkrise können die Folge sein. Die Abhängigkeit eines Landes von den internationalen Kapitalmärkten ist der Preis dafür, dass ein Land „über seine Verhältnisse“ gelebt hat.

Die Auslandsverschuldung stellt auch dann ein Problem dar, wenn die Verschuldung gegenüber dem Ausland in eigener Währung erfolgt (wie innerhalb der Eurozone).5 Für den öffentlichen Sektor ist dies ganz offenkundig: Ist der Staat vorwiegend bei seinen eigenen Bürgern verschuldet, sind seine Refinanzierungsmöglichkeiten sehr viel umfassender und ein Staatsbankrott praktisch ausgeschlossen. Sind die Gläubiger der öffentlichen Hand dagegen im Ausland (mit derselben Währung) angesiedelt, hat der Staat keine hoheitlichen Zugriffsrechte auf die Einkommen der ausländischen Vermögenstitelbesitzer.6

Aber auch wenn die Auslandsverschuldung eines Landes überwiegend auf dem kumulierten Finanzierungsdefizit seines privaten Sektors beruht, werden sich auf Dauer substantielle Probleme ergeben.7 Schuldentilgung und Zinsen müssen aus dem laufenden Einkommen des Inlandes erwirtschaftet werden. Gelingt es langfristig nicht, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu erhöhen und kommt es daher zu keiner Verringerung des Defizits in der Handelsbilanz, so fließt ein immer größer werdender Anteil der inländischen Bruttowertschöpfung ins Ausland ab. Dies schlägt sich in einer Ausweitung des Leistungsbilanzdefizits nieder – was wiederum gleichbedeutend mit einer Vergrößerung der Auslandsschulden ist. Dass dieser Prozess nicht nachhaltig ist und langfristig zu einer Schuldenexplosion führen muss, ist offensichtlich.

Nach Angaben von Holinski et al. kennzeichnet genau dies die aktuelle Situation innerhalb der EWU.8 Die Einkommenszuflüsse, die die Nord-Länder aufgrund ihrer Netto-Forderungen gegenüber den Süd-Ländern empfangen haben, führten nicht zu einer erhöhten Nachfrage nach Gütern aus dem Süden. Das Defizit der Handelsbilanz der Süd-Länder hat sich nicht verringert, es ist vielmehr seit mehreren Jahren relativ unverändert geblieben. Dagegen haben sich der Saldo der laufenden Übertragungen und der Saldo der Erwerbs- und Vermögenseinkommen deutlich zuungunsten der Süd-Länder ausgeweitet. Diese Entwicklungen haben den wesentlichen Anteil an den wachsenden Leistungsbilanzdefiziten der Süd-Länder ausgemacht.9

Fließt über einen längeren Zeitraum hin mehr Kapital vom Ausland ins Inland als umgekehrt, wird irgendwann das Netto-Auslandsvermögen (die Differenz zwischen den inländischen Forderungen und den Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland) negativ. Dies ist in den Süd-Ländern deutlich der Fall, wie die Abbildung verdeutlicht. Portugal weist mit 96% die höchste Netto-Auslandsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf. Auch Spanien, Griechenland und Irland zeichnen sich mit Werten von jeweils über 50% zum BIP durch eine vergleichsweise hohe Auslandsverschuldung aus; Italien liegt trotz seiner hohen Staatsschulden mit einem Wert von unter 25% ein ganzes Stück darunter. Nach Angaben des IMF geht in Portugal etwa die Hälfte der Netto-Auslandsverschuldung auf die Staatsschuld zurück, der Rest der Schuld entfällt dementsprechend auf den privaten Sektor. Auch in den anderen Krisenländern trägt die Verschuldung des Privatsektors mit einem wesentlichen Teil zu den gesamten Auslandsschulden bei.

Netto-Auslandsvermögen ausgewählter EWU-Länder

in % des BIP 2008 – in Klammern: Staatsschulden in % des BIP 2009

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Quelle: International Monetary Fund: World Economic Outlook, Rebalancing Growth, Washington, April 2010.

Dass das zentrale Problem in der gesamten Auslands- und nicht in der Staatsverschuldung liegt, illustrieren auch die jüngsten Entwicklungen in Spanien und Irland. In beiden Ländern war die Staatsverschuldung bis 2007 vergleichsweise gering, und es bestanden auch keine größeren Probleme bei der Finanzierung des laufenden Haushalts. Nach gängiger Lesart war damit die zentrale Voraussetzung für innereuropäische Stabilität erfüllt. Dennoch waren beide Länder netto im Ausland verschuldet, was gleichsam die jeweiligen Leistungsbilanzdefizite widerspiegelten. Diese Auslandsverschuldung betraf jedoch wesentlich den privaten Sektor. Als die Kreditblasen in diesen Ländern platzten, musste der Staat die betroffenen Finanzinstitutionen alimentieren und zur Bekämpfung der Konjunkturkrise Defizite zulassen, wodurch sich die privaten Auslandsschulden in Staatsverschuldung verwandelten.10 Erst hierdurch wurde das Schuldenproblem virulent.

Der Aufbau der hohen Verschuldung der betroffenen EWU-Länder gegenüber dem Ausland hat eine Reihe von Ursachen. Klar dürfte dabei sein, dass die seit mehreren Jahren bestehenden Defizite in den Leistungsbilanzen der Süd-Länder in der EWU eine wesentliche Rolle spielen. Diese gehen nicht zuletzt auf die sich kontinuierlich verschlechternde preisliche Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zurück. Deren wichtigste Determinante stellen die nominalen Lohnstückkosten dar. Diese haben sich vor allem in den südeuropäischen Ländern seit ihrem Eintritt in die Währungsunion deutlich stärker entwickelt als beispielsweise in Deutschland. Da die Veränderungen bei den nominalen Lohnstückkosten wiederum die Preissteigerungsraten entscheidend beeinflussen, führte dies in diesen Ländern zu höheren gesamtwirtschaftlichen Inflationsraten im Vergleich zu den meisten mittel- und nordeuropäischen EWU-Ländern.11 Eine auf diese Weise hervorgerufene Verringerung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit löst üblicherweise über einen Rückgang der Exporte und einen Anstieg der Importe einen Abwertungsdruck auf die einheimische Währung aus, wodurch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit tendenziell wieder hergestellt wird. In einer Währungsunion ist ein Ausgleich unterschiedlicher Preissteigerungsraten durch eine nominale Anpassung der Währungsrelationen jedoch nicht möglich. Aus diesem Grund ist eine wesentliche Bedingung für eine dauerhafte und spannungsfreie Existenz einer Währungsunion, dass es zumindest mittelfristig zu einer Konvergenz der Preisentwicklung seiner Mitgliedsländer kommt.12

Konvergenzkriterien nach dem EWU-Beitritt

Diese Zusammenhänge drücken sich in den Voraussetzungen aus, die ein Land erfüllen muss, um Mitglied der EWU zu werden. Potentielle Mitgliedsländer der EU müssen gemäß Artikel 140(1) des Lissabon-Vertrages einen „hohen Grad an dauerhafter Konvergenz“ erreicht haben, damit sie der EWU beitreten können. Maßstab hierfür ist, ob die einzelnen Mitgliedstaaten die Kriterien Preisstabilität, eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, Stabilität des Wechselkurses gegenüber dem Euro und Konvergenz der langfristigen Zinssätze erfüllen.13

Alle zwei Jahre prüfen die Europäische Zentralbank und die Europäische Kommission in zwei getrennten Berichten, ob diejenigen EU-Länder, die noch nicht Mitglieder der EWU sind, die Konvergenzkriterien erfüllen.14 Während potentielle EWU-Länder vor ihrem Beitritt anhand der Kriterien ausführlich evaluiert werden, existiert ein ähnlicher Prüfungsauftrag für die bereits in die EWU aufgenommenen Länder nur hinsichtlich des Kriteriums „übermäßige Defizite“. Dies hat sich insofern als problematisch erwiesen, als auf verschiedenen anderen Feldern divergierende Entwicklungen zwischen den Mitgliedsländern der Eurozone aufgetreten sind, die für eine Währungsunion von essentieller Bedeutung sind – und das obwohl alle aktuellen Mitgliedsländer die genannten Konvergenzkriterien ex ante erfüllen mussten und ihnen im Rahmen der Prüfung „dauerhafte Konvergenz“ attestiert wurde. Damit ist insbesondere eine Divergenz der Inflationsraten gemeint, die sich vor allem zwischen den Nord-Ländern und den Süd-Ländern der EWU ergeben hat. Das Kernproblem der Eurozone besteht seit ihrer Gründung im Jahr 1999 daher vor allem im Auseinanderdriften der Preisentwicklung zwischen den Mitgliedsländern bzw. einzelnen Gruppen, worauf bereits vielfach hingewiesen wurde.15

Diese Entwicklungen vollzogen sich jedoch weitgehend außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Ganz im Gegensatz zu den Verfehlungen bei einem anderen Konvergenzkriterium: Die Überschreitung der 3%-Grenze bei der staatlichen Neuverschuldung stellt als hinreichend beklagte Verletzung der „Maastricht-Kriterien“ seit 1999 ein permanentes Politikum dar. Wie konnte es zu dieser eingeschränkten Sichtweise kommen? Als sich Mitte der 1990er Jahre abzeichnete, dass der Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Wirklichkeit werden würde, versuchte die Bundesregierung die Bedenken in der deutschen Bevölkerung hinsichtlich der zukünftigen Stabilität der neuen Gemeinschaftswährung zu zerstreuen, indem sie auf die dauerhafte Einhaltung allerdings nur eines der vier Konvergenzkriterien bestand. Insbesondere der damalige Finanzminister Theo Waigel drängte auf die Ergänzung des Maastricht-Vertrages durch einen sogenannten Stabilitätspakt,16 mit dem sichergestellt werden sollte, dass ein Mitgliedsland auch nach seinem Eintritt in die EWU kein „übermäßiges Defizit“ in seinen öffentlichen Haushalten aufweisen würde. Offenbar war man der Ansicht, dass Staatsverschuldung die wesentliche Quelle für Inflation darstellt. Zumindest war dieser scheinbar direkt wirkende Zusammenhang in der politischen Öffentlichkeit gut zu vermitteln. Es stellt sich jedoch die Frage, warum nur dieses und nicht auch die anderen Kriterien, die im Vorfeld des Beitritts eines Landes erreicht sein müssen, auf Dauer zu erfüllen sind?17 Möglicherweise liegt dem die Annahme zugrunde, dass sich die von einem Beitrittskandidaten geforderte dauerhafte Konvergenz quasi automatisch einstellt, sofern zum einen vor dem Eintritt Preisstabilität festgestellt wurde und sofern zum zweiten nach dem Eintritt fiskalische Disziplin eingehalten wird, die mithilfe des Stabilitäts- und Wachstumspaktes dauerhaft zu überprüfen und reglementieren sei. Andere Gründe, die zu Inflationsdivergenzen in einem gemeinsamen Währungsraum führen können, wurden offenbar ignoriert, bzw. es wurde ihnen eine wesentlich unbedeutendere Rolle zuerkannt.

Konvergenzkriterium „Preisstabilität“ verfehlt

Man kann verschiedener Auffassung darüber sein, ob die vier Konvergenzkriterien eine unterschiedliche Wichtigkeit haben. Es ließe sich mit der EZB die Auffassung vertreten, dass alle Kriterien gleichwertig zu beurteilen seien, da sich aus dem Vertragstext keine Reihung ihrer Bedeutung ergibt.18 Dennoch sprechen gewichtige Argumente dafür, dass das im Vertragstext zuerst genannte Kriterium – die Preisstabilität bzw. die Preiskonvergenz – eine hervorgehobene ökonomische Bedeutung hat.

Die oben erwähnte Auseinanderentwicklung der Inflationsraten im Euroraum legt nahe zu überprüfen, wie es seit 1999 um den „hohen Grad an Preisstabilität“ in der Eurozone bestellt war – und zwar mit demselben Maßstab, den die EZB und die EU-Kommission in ihrer Konvergenzberichten an die potenziellen EWU-Beitrittskandidaten anlegen. Ist das erste Konvergenzkriterium seit 1999 innerhalb der EWU erfüllt worden? Für die Beitrittskandidaten ist in einem Protokoll zu den Verträgen festgelegt, dass Preisstabilität besteht, wenn die Inflationsrate eines betreffenden Landes nicht mehr als 1,5% über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Länder liegt.19 Wendet man diese Formulierung auch auf die aktuellen EWU-Länder an, wird klar, dass eine der wesentlichen Bedingungen für das Funktionieren einer Währungsunion von Beginn an nur recht eingeschränkt gegeben war. Wie Tabelle 2 zeigt, wurde das so bestimmte Kriterium der Preisstabilität bisher nur in einem Jahr (2007) von allen EWU-12-Ländern erfüllt. Griechenland hat dieses Ziel seit seinem Beitritt 2001 praktisch in jedem Jahr verfehlt – wie übrigens Spanien auch! Bezieht man die seit 2007 aufgenommenen EWU-Länder Malta, Slowenien, die Slowakei und Zypern sowie den aktuellen Kandidaten Estland rückwirkend in die Untersuchung mit ein, so ist festzustellen, dass das Kriterium seit 1999 in keinem Jahr erfüllt wurde. Im Durchschnitt verletzten es seit der EWU-Gründung jedes Jahr sechs Länder. Estland, dem in den Konvergenzberichten von EZB und EU-Kommission im Mai 2010 „dauerhafte Stabilität“ bescheinigt wurde, verfehlte das Preiskriterium nach der hier gewählten Berechnungsweise in neun von elf Jahren.20 Der zentrale Konstruktionsfehler des Stabilitäts- und Wachstumspaktes liegt daher vor allem darin, die relative Preisentwicklung innerhalb des EWU-Raumes nicht mit einzuschließen. Mit einer Fokussierung auf das Problem der öffentlichen Defizite ist dem Konvergenzproblem nicht beizukommen.

Tabelle 2
EWU-12-Länder mit einer Inflationsrate1 von mehr als 1,5 Prozentpunkten über dem Referenzwert2
Abweichungen vom Referenzwert (in %) in Prozentpunkten
  Land und Ausmaß der Abweichung Referenzwert
Jahr 1 2 3 4 5  
1999 IRL 1,9 ESP 1,7 POR 1,6 (GR 1,6) - 0,6
2000 IRL 3,5 LUX 2,1 ESP 1,8 - - 1,7
2001 NL 3,1 POR 2,4 IRL 2,0 GR 1,7   2,0
2002 IRL 3,2 GR 2,4 NL 2,3 POR 2,1 ESP 2,1 1,5
2003 IRL 2,8 GR 2,2 POR 2,0 ESP 1,9 I 1,6 1,2
2004 LUX 2,1 ESP 2,0 GR 1,9 - - 1,1
2005 LUX 2,4 GR 2,1 ESP 2,0 - - 1,4
2006 ESP 2,0 GR 1,8 - - - 1,5
2007 - - - - - 1,6
2008 BEL 2,0 GR 1,7 ESP 1,6 LUX 1,6 - 2,5
2009 FIN 2,6 GR 2,3 NL 1,9 I 1,7 - -1,0

1 Veränderung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex gegenüber dem Vorjahr.
2 Ungewichtetes arithmetisches Mittel der drei preisstabilsten Länder.

Quelle: AMECO-Datenbank, eigene Berechnungen.

Für den Fortbestand der Europäischen Währungsunion ist es daher unabdingbar, dass bestimmte, in der Vergangenheit nicht erfüllte Voraussetzungen in Zukunft eingehalten werden. Hierzu gehört vor allem, dass es wieder zu einer Preiskonvergenz in der Eurozone kommen muss. Da die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und die hieraus resultierende Auslandsverschuldung für das Auseinanderentwickeln der Preisniveaus im Euroraum eine maßgebliche Rolle gespielt haben, sind Vorkehrungen zu treffen, dass die Konvergenzvoraussetzungen auch bei den aktuellen Mitgliedstaaten der EWU auf Dauer gegeben sind.21 Eine alleinige Berücksichtigung der Finanzlage der öffentlichen Haushalte wie im gegenwärtig existierenden Stabilitäts- und Wachstumspakt ist dabei nicht zielführend. So wäre es sinnvoll, in einem reformierten Pakt die Vermeidung von übermäßigen innereuropäischen Leistungsbilanzungleichgewichten zu berücksichtigen.22 Auch die Konvergenzkriterien „Preisstabilität“ und „Zinssätze“ müssen ex post weiterhin erfüllt und mit in einen Kontrollprozess einbezogen werden. Zu bedenken wäre ferner auch, dass das Kriterium der „Preisstabilität“ bislang asymmetrisch formuliert ist, d.h. ausschließlich eine bestimmte Überschreitung des Referenzwertes als Nicht-Erfüllung des Kriteriums gilt. Sinnvoll erscheint zudem, wenn auch eine größere Unterschreitung des EZB-Inflationsziels als Zielverletzung angesehen würde.23

Die in der Vergangenheit aufgetretene Preisdivergenz basiert im Wesentlichen auf den unterschiedlichen Entwicklungen der nominalen Lohnstückkosten, die sich in Deutschland zu langsam und in den Krisenstaaten zu schnell erhöht haben. An der resultierenden Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in den Süd-Ländern der Eurozone und der dort zunehmenden Auslandsverschuldung (Verschuldung des ganzen Landes, nicht nur des Staates!) ist Deutschland nicht ganz unschuldig. Denn hierzulande sind die nominalen Lohnstückkosten relativ zu den meisten anderen Euroländern gefallen, was von der Politik begrüßt und mit herbeigeführt wurde.24 Dieser reale Abwertungsprozess war zweifelsohne von Vorteil für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft, aber eben auch von Nachteil für die Exportwirtschaft unserer Partnerländer in Europa. Deutschland hat mit seinem schwachen Binnenkonsum und seinen zu geringen Importen mit dazu beigetragen, dass sich die Situation aktuell so dramatisch zugespitzt hat. Deutschland, aber auch andere Länder mit einem strukturellen Leistungsbilanzüberschuss wie Belgien, die Niederlande und Finnland, müssen dringend Maßnahmen ergreifen, mit denen die Inlandsnachfrage gestärkt wird und die Importe dieser Länder erhöht werden. Solange dies nicht erfolgt und sofern es außer der Geldpolitik nicht auch auf anderen Feldern zu einer koordinierten europäischen Wirtschaftspolitik kommt, die die Konvergenz befördert, wird die EWU vor weiteren Zerreißproben nicht gefeit sein.

  • 1 Eine Konsolidierung der Staatshaushalte stellt in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation nicht nur ein ehrgeiziges, sondern auch ein sehr riskantes Vorhaben dar. Eine gleichzeitige drastische Reduzierung der öffentlichen Ausgaben in mehreren Ländern könnte eine erneute Rezession in Europa auslösen („double-dip-recession“). Davor wird auch für die USA gewarnt. Vgl. P. Krugman: The Pain Caucus, in: The New York Times vom 31.5.2010, S. A19.
  • 2 Das erklärte Ziel der EU-Kommission, in den Mitgliedsländern gleichzeitig die Staatshaushalte zu konsolidieren, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu beseitigen und die Beschäftigung zu erhöhen, kommt einer „Quadratur des Kreises“ gleich. Vgl. M. Brecht, S. Tober, T. v. Treeck, A. Truger: Squaring the circle in Euroland? Some remarks on the Stability and Convergence Programmes 2010-2013, IMK Working Paper 3/2010, Düsseldorf 2010.
  • 3 Als Nord-Länder wurden Deutschland, Finnland, die Niederlande und Österreich definiert. Die Autoren betonen, dass die Berücksichtigung der fehlenden EWU-Länder an den Ergebnissen nichts grundsätzlich ändere. Vgl. N. Holinski, C. Kool, J. Muysken: Origins of persistent macroeconomic imbalances in the Euro area, Utrecht School of Economics, Tjalling C. Koopmans Research Institute, Discussion Paper Series 10-12, Mai 2010, S. 3 f.
  • 4 Vgl. N. Holinski, C. Kool, J. Muysken, a.a.O., S. 5.
  • 5 Vgl. H. Flassbeck, F. Spiecker: Lohnpolitische Konvergenz und Solidarität oder offener Bruch: Eine große Krise der EWU ist nahezu unvermeidlich, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 3, S. 180 f.
  • 6 Es spricht einiges für die Vermutung, dass die EWU-Krise sich in der erlebten Form nicht ereignet hätte, wenn der griechische Staat mehrheitlich bei seinen eigenen Banken und Bürgern und nicht im Ausland verschuldet wäre. In Japan liegt die Staatsschuld mit rund 200% des BIP deutlich höher als in Griechenland; die Schuldtitel werden aber im Wesentlichen von Inländern gehalten.
  • 7 In Griechenland war 2007 der größte Teil des negativen Finanzierungssaldos des Landes gegenüber dem Ausland in Höhe von 14,7% des BIP auf den privaten Sektor zurückzuführen. So betrug der (ne-gative) Finanzierungssaldo des privaten Sektors rund 9,6% vom BIP, während der des öffentlichen Sektors mit ca. 5,1% vom BIP vergleichsweise klein ausfiel. Vgl. M. Brecht, S. Tober, T. v. Treeck, A. Truger, a.a.O., S. 24 (aktualisierte Werte gemäß AMECO-Datenbank).
  • 8 Vgl. N. Holinski, C. Kool, J. Muysken, a.a.O., S. 9 ff.
  • 9 Vgl. ebenda.
  • 10 Vgl. M. Brecht, S. Tober, T. v. Treeck, A. Truger, a.a.O., S. 8.
  • 11 Dabei hat sich die Wettbewerbsfähigkeit in einem kumulativen Prozess verschlechtert: Überdurchschnittliche Inflationsraten haben in den Süd-Ländern zu niedrigeren Realzinsen geführt, was ausländische Kapitalzuflüsse induziert hat. Diese haben dort zu einem Aufschwung und damit zu höheren Lohnsteigerungen geführt, die wiederum die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder verringert haben.
  • 12 Der Konvergenzbegriff des EG-Vertrages bezieht sich allerdings nicht nur auf die Preisentwicklung, sondern wird auch in einem umfassenderen Sinne als eine Entwicklung hin zu einer gleichartigen makroökonomischen Performanz und ökonomischen Struktur der Mitgliedsländer verstanden.
  • 13 Vgl. Artikel 140 (1) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Lissabon-Vertrag), konsolidierte Fassung, veröffentlicht in: Amtsblatt der Europäischen Union, 53. Jg, 2010/C 83/01 vom 30. März 2010, S. 47 ff.
  • 14 In den jüngsten Konvergenzberichten vom Mai 2010 wurden von elf der 27 EU-Länder, die nicht der Eurozone angehören, neun evaluiert (für Großbritannien und Dänemark existiert eine „Opt-out-Klausel“). Dabei wurde Estland attestiert, dass es alle Konvergenzkriterien vollständig erfüllt und somit als 17. EWU-Mitglied zum 1.1.2010 aufgenommen werden könnte. Vgl. Europäische Zentralbank: Konvergenzbericht Mai 2010, Frankfurt am Main 2010 und European Commission, Directorate-General for Economic and Financial Affairs: Convergence Report 2010, European Economy, Nr. 3/2010 (provisional version), Brüssel 2010.
  • 15 Vgl. beispielsweise H. Flassbeck, F. Spiecker, a.a.O., S. 178-184.
  • 16 Im politischen Verhandlungsprozess wurde – im Wesentlichen auf Drängen der französischen Regierung – aus dem „Stabilitätspakt“ ein „Stabilitäts- und Wachstumspakt“.
  • 17 Das Kriterium der Währungsstabilität gegenüber dem Euro kann selbstredend nur im Vorfeld eines Eintritts herangezogen werden.
  • 18 Vgl. EZB, a.a.O., S. 7. Wenn alle Kriterien gleich wichtig sind, stellt sich aber erst recht die Frage, warum nur das Kriterium der „übermäßigen Defizite der öffentlichen Hand“ auf Dauer kontrolliert wird.
  • 19 Dabei geht aus dem Vertrag nicht hervor, auf Grundlage welcher Ländergruppe der Referenzwert gebildet wird (EWU- oder EU-Länder?). Während die beiden Konvergenzberichte von EZB und EU-KOM alle EU-Länder als Bezugsgruppe wählen, macht es bei einer Betrachtung der Konvergenz innerhalb der Eurozone Sinn, nur EWU-Länder einzubeziehen, wie dies in der Tabelle 2 vorgenommen wurde.
  • 20 Ich danke Frau B.B.A., M. Sc. cand. Kerstin Heinemann für die Aufbereitung der Werte für die EWU-Neumitglieder.
  • 21 Gelegentlich werden die Leistungsbilanzungleichgewichte und die Preisdivergenzen im Euroraum als Indizien für einen ablaufenden Konvergenzprozess angesehen. Vgl. z.B. M. Arghyrou, G. Chortareas: Current Account Imbalances and Real Exchange Rates in the Euro Area, in: Review of International Economics, Vol. 16, (2008), Nr. 4, S. 747-764. Angesichts bestehender Realeinkommensunterschiede zwischen Nord- und Süd-Ländern spricht jedoch nicht viel für diese Konvergenzhypothese.
  • 22 Ein Vorschlag lautet, dass ein Ungleichgewicht in der Leistungsbilanz maximal +/- 3% des BIP eines jeweiligen Landes ausmachen sollte. Vgl. S. Dullien, S. Schwarzer: Die Eurozone braucht einen außenwirtschaftlichen Stabilitätspakt, SWP-Aktuell 27, Berlin 2009.
  • 23 Im Jahr 2009 hatten die „drei Mitgliedsstaaten, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben“ allesamt einen Rückgang das Preisniveaus zu verzeichnen. Dies kann wohl kaum als Preisstabilität angesehen werden. Jedoch wurde allein Irland von der EZB als „Ausnahmeland“ klassifiziert und aus der Berechnung des Referenzwertes für 2009 ausgeschlossen. Vgl. EZB, a.a.O., S. 9 f.
  • 24 Vgl. G.A. Horn, T. van Treeck, S. Sturn: Die Debatte um die deutsche Exportorientierung, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 1, S. 22-28.


DOI: 10.1007/s10273-010-1085-6

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