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Die Diskussion über die im Euroraum ungleiche Verteilung der Target2-Salden dauert nun schon fast ein Jahr an. Der Autor gibt hier einen Überblick über die einzelnen Argumentationslinien und kommt zu dem Ergebnis, dass die Probleme im Euroraum nicht durch Target2-Salden, sondern durch die übermäßige Staatsverschuldung einiger Euroländer verursacht wurden.

Gegenstand dieses Aufsatzes ist die seit Februar 2011 von Hans-Werner Sinn vertretene These, dass durch das Interbanken-Überweisungssystem der Europäischen Zentralbank (EZB) Target2 (Trans-European Automated Real-time Gross-settlement Express Transfer, seit Frühjahr 2008 zweite Version)1 „die Deutsche Bundesbank … Target-Kredite in einem Umfang an die Länder der Peripherie des Euroraums [hat] geben müssen, die die deutsche Beteiligung an den offiziellen Rettungspaketen in den Schatten stellt. Diese Kredite hatten in den Jahren 2008 bis 2010 ein Volumen von mehr als 300 Mrd. Euro.“2 „Es handelt sich dabei … um einen echten gemeinschaftlich besicherten Kredit der Bundesrepublik Deutschland an die GIPS-Länder [Griechenland, Irland, Portugal, Spanien], der sie wie jeder andere Kredit in die Lage versetzt, sich mehr Güter und Vermögensobjekte im Ausland zu kaufen, als es sonst möglich gewesen wäre.“3 Das Geld sei über das Überweisungssystem der EZB geflossen. Nachdem die Zentralbank ihre Geldpolitik im Zuge der Finanzkrise 2008 gelockert hat, entstand, von der Öffentlichkeit unbemerkt, auf diesem Weg eine beträchtliche Asymmetrie, die nicht geld-, sondern fiskalpolitischer Art sei und deshalb demokratisch hätte legitimiert werden müssen.

Die oben genannte (Haupt-)These wird durch weitere umlagert, die ebenfalls heftig diskutiert werden, aber inzwischen zum Teil als geklärt betrachtet werden können, wie beispielsweise die Kreditverdrängungshypothese. Das nach Deutschland geflossene Geld habe die Kreditvergabe der Bundesbank verdrängt, weil die deutsche Nachfrage nach Liquidität begrenzt war. Die Banken wollten nicht mehr Liquidität, als sie durch die Zahlungsvorgänge ihrer Kunden bereits gewannen, und reduzierten ihre Teilnahme an den Refinanzierungsoperationen der Bundesbank entsprechend. Zunehmend verliehen sie Geld zurück an die Bundesbank.“4

In Kurzfassung (und möglicherweise unvollständig) geht es um folgenden Hypothesenkomplex:5 (1) Das Leistungsbilanzdefizit der GIPS-Staaten wird über das Target2-System kreditiert. (2) Die Bundesbank ist gezwungen, diese Kredite auszureichen. (3) Es findet eine Kreditverlagerung von Deutschland in die GIPS-Länder statt. (4) Die EZB hätte die Geldzuteilung inzwischen wieder straffen müssen. (5) Die Kreditierung der Leistungsbilanzdefizite hatte fiskalpolitischen Charakter und hätte demokratisch legitimiert werden müssen. (6) Asymmetrien in Target2 bergen ein zusätzliches Risiko für Deutschland. (7) Die Möglichkeit, Geld über das Target2-System zu überweisen, muss beschränkt werden.

Um die Logik der Thesen (1) bis (3) zu überprüfen, wird im Folgenden ein einfaches Modell analysiert, das in ähnlicher Weise von Sinn6, Homburg7, Buiter, Rhabari und Michels8 verwendet wird. Mit den Thesen (3) bis (7) beschäftigen sich zutreffend Bindseil, Cour-Thimann und König9.

Finanzierung eines innereuropäischen Leistungsbilanzdefizits

Abbildung 1 präzisiert die genannten Modelle oder Beispiele für die Finanzierung eines innereuropäischen Leistungsbilanzdefizits durch das EZB-System. Eine Übersicht bieten Tabelle 1 und Kasten 1. Die von den Autoren explizierten Vereinfachungen (Abstraktion von anderen Akteuren, von Eigenkapitalausstattungen und Transaktionskosten der Banken etc.) werden hier, wenn nicht anders vermerkt, übernommen. Das folgende Modell ist möglichst realitätsnah ausgestaltet, d.h., es berücksichtigt wichtige Fakten. Andererseits geht es über die tatsächlichen Vorgänge hinaus, wenn das zur Klärung der Zusammenhänge erforderlich ist. Die dabei behaupteten Sachverhalte sind im Prinzip realisierbar und insofern plausibel.

Abbildung 1
Transaktionsmodell
Quaas Abb-1.ai

Ein Lkw-Hersteller aus dem Überschussland B (man stelle sich darunter zweckmäßigerweise Deutschland vor) exportiere fünf Lkw im Werte von 1 Mio. Euro nach A (z.B. nach Griechenland).10 Nehmen wir an, Importeur A finanziert seinen Kauf über einen Kredit bei seiner Hausbank, der A-Bank. Dafür muss er Sicherheiten hinterlegen, die den Standards der A-Bank entsprechen, da sie das Ausfallrisiko trägt.

 
 

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie der griechische Importeur A seine Schuld gegenüber dem deutschen Exporteur B begleichen kann: (1) über Target2, (2) in bar (wobei Zentralbankgeld unterstellt wird), (3) mit Forderungstiteln jeglicher Art (Aktien, Schuldverschreibungen, Wechsel, Geschäftsbankengeld etc.) oder (4) durch Lieferung von Waren und Dienstleistungen.

Da im Fall (4) keine Asymmetrie der Leistungsbilanz auftritt und bei (3) das Defizit über einen Kapitalimport finanziert wird, der keine Überweisungen von Zentralbankgeld erforderlich macht, werden diese Fälle hier ausgeschlossen. Aus Gründen der geringen empirischen Bedeutung schließen Sinn und Wollmershäuser weiterhin den Fall (2) aus ihren Überlegungen aus.11 Da es sich hier aber zum großen Teil um „kein empirisches Thema, sondern ein Thema der ökonomischen Theorie und Logik“12 handelt, muss diese Möglichkeit dennoch in Betracht gezogen werden. Im Fall (1) lautet die leitende Frage: Wie erfolgt die Finanzierung eines Leistungsbilanzdefizits über das Target2-System?

Tabelle 1
Diskutierte Szenarien
Szenario T2-Salden-Effekt Belastender Effekt
Finanzierung eines LB-Defizits über Target2 asymmetrisch Verschuldung des Defizitlandes gegenüber EZB
Finanzierung eines LB-Defizits mittels Geldkoffer/-transport ausgeglichen Verschuldung des Defizitlandes gegenüber EZB
Finanzierung eines LB-Defizits mittels Kredit im Überschussland ausgeglichen Verschuldung des Defizitlandes gegenüber EZB
Stopp der Notenbank­finanzierung des LB-Defizits ausgeglichen Geldverknappung im Defizitland
Zusammenbruch des EZB-Systems irrelevant Inflation und Währungsrisiko in Europa
Schuldenschnitt für Staats­papiere eines Defizitlandes asymmetrisch Verlustaufteilung im EZB-System
Austritt eines leistungsschwachen Staates aus der EWU irrelevant Totalverlust, Aufteilung im EZB-System
Austritt Deutschlands aus der EWU irrelevant D-Mark eventuell inflationsbehaftet, LB-Defizit
Kasten 1
Targetsaldo, Leistungs-, Kapital- und Zahlungsbilanz

(1) Leistungsbilanz: LB = NEx + YPAS + LTAS

(2) Kapitalbilanz: KB = KIm - KEx

(3) Zahlungsbilanz: LB + VÜB + SD + KB = 0

(4) Zahlungsbilanz, Devisenbilanz und Targetsaldo:

LB + VÜB + SD + KB* = DB = TS + BT

LB Leistungsbilanz

NEx Nettoexporte

YPAS Primäreinkommen, Auslandssaldo

LTAS Laufende Transfers, Auslandssaldo

KB Kapitalbilanz

KIm Kapitalimporte

KEx Kapitalexporte

VÜB Vermögensübertragungsbilanz

SD Statistische Differenz

KB* Kapitalbilanz ohne Devisen

DB Devisenbilanz1

TS Targetsaldo

BT Bargeldtransporte

Gleichung (4) zeigt, dass das Targetsaldo unter anderem auch die Leistungsbilanz widerspiegelt, aber leider nicht unzweideutig. Daneben spielen noch andere Größen eine Rolle, darunter die Kapitalbilanz (einschließlich Kapital- und Kontenflucht).2

1 Um die Saldenmechanik auf innereuropäische Verhältnisse anzuwenden, müssen grenzüberschreitende Zahlungen als Devisen betrachtet werden, auch wenn sie in Euro erfolgen.

2 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2011/12, Wiesbaden 2011, S. 83 f.

Finanzierung eines Leistungsbilanzdefizits über das Target2-System

Der Kredit zum Ankauf der fünf Lkw sei – wiederum vereinfachend angenommen – dem Akteur A in voller Höhe auf seinem Konto bei der A-Bank gutgeschrieben worden. Zwar ist damit nicht die Menge des Zentralbankgeldes (M0), wohl aber die Geldmenge M1 (durch die Sichteinlage) vergrößert worden. Eine realitätsnahe Ausgestaltung des Modells erfordert, zu unterstellen, dass die A-Bank ein Akteur ist, der den von der EZB gesetzten Finanzierungsbedingungen unterliegt. Sie operiert außerdem unter Marktbedingungen, nimmt also einen Kreditzins, der den vom Importeur A angebotenen Sicherheiten und den sonstigen Bedingungen des Geld- und Kreditmarktes in Griechenland, dem Land A im Modell, entspricht.

Akteur A weist nun, nachdem er die Lkw erhalten hat, die A-Bank an, 1 Mio. Euro nach Deutschland auf das Konto seines Lieferanten zu überweisen. Nach Sinn und Wollmershäuser läuft jetzt Folgendes ab: „Durch die Überweisung fließt das Geld an die griechische Notenbank und wird in Griechenland vernichtet. Umgekehrt muss die Bundesbank [nationale Notenbank B] die Überweisung ausführen und schöpft dafür neues Geld, das dem Hersteller [von Lkw] auf dem Weg über dessen Geschäftsbank zufließt. Der griechischen Notenbank wird eine Target-Schuld in Höhe des Überweisungsauftrags gegenüber der EZB zugewiesen, und die Bundesbank erhält umgekehrt eine Target-Forderung gegen die EZB.“13

Zahlungsströme zwischen Geschäftsbank und Notenbank in A

Auch wenn die Darstellung hier etwas verkürzt ist, dürfte schon an dieser Stelle klar sein, dass eine Asymmetrie auf der Ebene des Überweisungssystems auch ohne Leistungsbilanzdefizit zustande kommen könnte, z.B., wenn ein anderer Akteur, der ein Konto bei der A-Bank hat, dieses auflöst, indem er sein Geld auf ein Konto bei der deutschen Geschäftsbank B überweist (Kontenflucht nach Buiter et al.)14. In diesem Beitrag wird der Weg des Geldes im Fall der Finanzierung eines Leistungsbilanzdefizits verfolgt, und das sozusagen „idealtypisch“, um zu sehen, wo das Target2-Problem lokalisiert werden könnte.

Nachdem die A-Bank den Überweisungsauftrag bekommen hat, weist sie ihrerseits die A-Notenbank an, die Überweisung innerhalb des europäischen Zentralbankensystems vorzunehmen. Voraussetzung dafür ist, dass sie bei der Notenbank ein Guthaben hat, das belastet werden kann. Der Einfachheit halber sei angenommen, das Konto der A-Bank sei zunächst leer. Erforderlich ist aber „ein ausreichendes Guthaben an Zentralbankgeld der sendenden Bank.“15 Die A-Bank ist also gezwungen, Zentralbankgeld in Höhe von 1 Mio. Euro bei der A-Notenbank einzuzahlen, damit diese die Überweisung vornehmen kann. Zwar hat die A-Bank dieses Zentralbankgeld ursprünglich von der A-Notenbank gegen Vorlage von Sicherheiten erhalten, aber damit hat die aktuelle Transaktion nichts zu tun: Die damals hinterlegten Sicherheiten verbleiben bei der A-Notenbank, die Kreditbeziehung zwischen A-Notenbank und A-Bank ist durch die Einzahlung in keiner Weise affiziert. Die Einzahlung hat nicht den Zweck, die hinterlegten Sicherheiten auszulösen, sondern ein Guthaben zu schaffen, das bei der angewiesenen Überweisung belastet werden kann. Resultat der Einzahlung ist eine Verringerung der Geldmenge M0 im Land A, allein dadurch, dass der Betrag von 1 Mio. Euro der Zirkulation entzogen worden ist. Insofern kann man mit Sinn und Wollmershäuser sagen, dass im Land A Zentralbankgeld „vernichtet“ worden ist.

Zunächst noch eine Überlegung zur Geldmenge M1: Da M0 Bestandteil von M1 ist, hat sich diese Geldmenge ebenfalls verringert. Bedenkt man, dass die Geschäftsbanken auf der Grundlage von 1 Mio. Euro Zentralbankgeld über die Kreditvergabe eine Summe von 50 Mio. Euro schöpfen können (bei einem Reservesatz von 2%), so muss sich die Geldmenge M1 um eben diesen Betrag – zumindest tendenziell – verringern. Dem widerspricht aber die empirische Beobachtung, dass sich die „Geldbasis der GIPS-Länder seit Beginn der Krise und während des Aufbaus der Target-Salden nicht nennenswert verändert“ hat.16

Um diesen Sachverhalt entsprechend zu würdigen, können und müssen wir annehmen, dass die A-Bank über die Einschränkung ihrer Möglichkeit, Kredite zu vergeben, nicht besonders glücklich ist. Um die Geldbasis konstant zu halten, hinterlegt sie nach der Einzahlung der 1 Mio. Euro erneut Sicherheiten in Höhe von (mindestens) 1 Mio. Euro und erhält dafür von der A-Notenbank „frisches“ Geld im Umfang von 1 Mio. Euro.17 Physisch könnten das die gleichen Geldscheine sein, die soeben eingezahlt worden sind. Nur um den Überlegungen von Sinn und Wollmershäuser möglichst nahe zu kommen, unterstellen wir frisch gedrucktes Zentralbankgeld. Als neue Sicherheiten habe die A-Bank die Wertpapiere, die sie vom Importeur A erhalten hat, an die A-Notenbank weitergereicht.18

Was geschieht mit dem Betrag von 1 Mio. Euro, der eingezahlt worden ist? Theoretisch könnte er mit Hilfe eines Geldtransporters zur B-Notenbank gebracht werden. Aber das würde wahrscheinlich höhere Kosten verursachen, als die Banknoten zu schreddern und neu drucken zu lassen.19 Dabei handelt es sich um einen rein technischen Vorgang, der weder etwas mit der Geldvernichtung in Griechenland noch mit der Geldschöpfung in Deutschland zu tun hat. Die Geldvernichtung erfolgte durch die Einzahlung des Zentralbankgeldes bei der A-Notenbank. Dem entsprechend erfolgt die Geldschöpfung in B dadurch, dass sich die B-Geschäftsbank in Besitz der Geldscheine, die die B-Notenbank gerade frisch gedruckt hat, setzt. Dies kann erst geschehen, nachdem die B-Notenbank die 1 Mio. Euro dem bei ihr befindlichen Konto der B-Bank gutgeschrieben hat.

Zahlungsströme zwischen Geschäftsbanken, Notenbanken und der EZB

Rein buchungstechnisch gesehen erlischt also das Guthaben der A-Bank bei der A-Notenbank, dafür erscheinen die 1 Mio. Euro jetzt als Guthaben der B-Bank bei der B-Notenbank. EZB-intern wird nun die A-Notenbank mit einer Schuld von 1 Mio. Euro belastet, der eine Forderung der B-Notenbank von 1 Mio. Euro gegenübersteht. Schon an dieser Stelle könnte man sich fragen, wie ein physischer Transport der 1 Mio. Euro von der A-Notenbank zur B-Notenbank verbucht worden wäre. Jedenfalls nicht als Target2-Forderung der B-Notenbank an die A-Notenbank oder abstrakt an das EZB-Bankensystem, denn die Mitarbeiter der B-Notenbank halten nach dem Transport diese Forderung in Form von Banknoten bereits in Händen. Diese Situation müsste sich, hätten Sinn und Wollmershäuser mit ihrer ökonomischen Interpretation der Target2-Asymmetrien recht, total ändern, wenn der Transport unterbleibt und durch die kostengünstigere Variante des Schredderns und Neudruckens ersetzt wird.

Die B-Bank wird im nächsten Schritt die 1 Mio. Euro, die sie von der B-Notenbank bekommen hat, ihrem Kunden, dem Lkw-Exporteur, gutschreiben. Da sie damit rechnen muss, dass sich dieser das Geld auszahlen lässt, tut sie gut daran, sich das Geld von der B-Notenbank in bar zustellen zu lassen. Nach der physischen Übergabe des Zentralbankgeldes wird das entsprechende Guthaben der B-Bank bei der B-Notenbank gelöscht. Klarerweise erhöht sich mit diesem Akt die Geldmenge M0 (und somit auch M1) im B-Land.

Die empirisch zu beobachtende Tatsache, dass sich die Geldmenge in Deutschland wie die in Griechenland in den letzten drei Jahren nicht nennenswert verändert hat, jedenfalls nicht in dem Umfang der Target2-Forderungen, erklären Sinn und Wollmershäuer damit, dass eine Kreditverdrängung vom B-Land ins A-Land stattgefunden hat.20 Um diesen Fakt in das Modell zu integrieren, müssen wir annehmen, dass der Akteur B nun, da er im Besitz der 1 Mio. Euro ist, keinen weiteren Kredit mehr braucht. Er könnte sich die 1 Mio. Euro auszahlen lassen und auf dem Devisenmarkt in chinesische Yuan umtauschen. In diesem Fall hätte sich aber die Geldbasis im B-Land verringert – was im großen Ganzen der empirischen Sachlage widerspricht. Man kann und muss also annehmen, dass der B-Akteur großes Vertrauen in die Stabilität des Euro hat und seine 1 Mio. bei der B-Bank belässt. Damit könnte diese weitere Kredite ausgeben, wofür aber, wenn der empirische Fakt richtig dargestellt ist, kein Bedarf besteht. Also hinterlegt die B-Bank die 1 Mio. Euro bei der B-Notenbank, die dafür auch noch Zinsen zahlt.21

Das Resultat der hier dargestellten Schritte besteht darin, dass das zirkulierende Zentralbankgeld volumenmäßig konstant geblieben ist, das Konto des Importeurs um 1 Mio. Euro belastet worden ist und diese Summe auf dem Konto des Exporteurs erscheint; außerdem werden die Konten der Geschäfts- und Notenbanken in A mit 1 Mio. Euro belastet, während dessen dieser Betrag den Konten der entsprechenden Banken in B gutgeschrieben wird. Die ganze Transaktion lässt sich auch ohne physische Veränderungen rein elektronisch und automatisiert durchführen: eben das tut Target2.

Ökonomische Interpretation

Bei der ökonomischen Interpretation der Target2-Salden, um die sich die Debatte dreht, muss man zwischen der Vermögensverteilung innerhalb des europäischen Zentralbankensystems und den volkswirtschaftlichen Effekten unterscheiden. Von Hans-Werner Sinn und seinen Mitstreitern wird behauptet, dass es sich bei dem positiven Target-Saldo der Bundesbank um eine echte Forderung der B-Notenbank handelt, die sie „bei einem möglichen Ende des Euro“ höchstwahrscheinlich abschreiben müsste.22 Da es sich nach ihren Angaben bereits Ende 2010 um die beträchtliche Summe von 326 Mrd. Euro handelte – neben Griechenland haben auch andere Länder das Target2-System genutzt, um Geld nach Deutschland und in die anderen leistungsstarken Länder zu überweisen – liegt die Bedeutung jener EZB-internen „Verschuldung“ der GIPS-Staaten und ihrer „erzwungenen Kreditierung“23 durch die GNLF-Länder (Germany, Netherlands, Luxembourg, Finland) auf der Hand.

Die Target-Salden haben zunächst den Effekt, die Verteilung der Anteile der nationalen Notenbanken an der EZB zu verändern. So wird die Target-Forderung der Bundesbank am Ende eines Jahres in eine Vermögensbeteiligung an der EZB umgewandelt.24 Damit hat sie einen Ersatz für die Wertpapiere bekommen, die ihr bei der Ausgabe des überwiesenen Zentralbankgeldes entgangen sind.

Zweifel daran, dass es sich volkswirtschaftlich gesehen um eine echte Verschuldung bzw. Kreditierung zwischen den beteiligten Ländern handelt, könnte die Tatsache erregen, dass die Forderung, die der deutsche Exporteur B gegenüber dem griechischen Importeur A erwarb, indem er Lkw im Werte von 1 Mio. Euro lieferte, inzwischen beglichen ist. Auf der Ebene der realwirtschaftlichen Akteure ist die anfängliche Schuld Griechenlands durch die Überweisung des Geldes von A nach B gelöscht worden. Zwar besteht nach wie vor ein Leistungsbilanzdefizit des Landes A in Höhe von 1 Mio. Euro, aber die Zahlungsbilanz zwischen den Ländern A und B ist ausgeglichen.25 Wenn aber die Wirtschaftsakteure sich nichts mehr schuldig sind, warum soll die A-Notenbank dann bei der B-Notenbank noch in der Kreide stehen?

Anders gefragt: Welche Leistung in Höhe von 1 Mio. Euro hat die Bundesbank erbracht, dass sie eine solche Forderung gegen die griechische Notenbank erheben könnte? Das Drucken der 1 Mio. Euro dürfte kaum ausreichen, um diese Forderung zu begründen, zumal es bei einer konstanten Zentralbankmenge in Wirklichkeit gar nicht stattfindet. Kann man sagen, dass die Bundesbank dem Akteur A Zahlungsvermögen in dieser Höhe zur Verfügung gestellt hat, also eine Leistung, von der nun die A-Notenbank befreit ist? Das ist aber nicht der Fall: Geschäftsbank A steht nach wie vor bei der A-Notenbank in der Kreide, und Akteur A bei seiner A-Bank. Darum ist es nicht ganz korrekt, wenn behauptet wird, dass das Target2-System „die Forderung der Zentralbank des Defizitlandes in eine Forderung der Zentralbank des Überschusslandes“ schleust.26 Es ist keineswegs so, dass die entsprechenden Bankleistungen von der B-Notenbank übernommen worden sind. Man kann auch nicht behaupten, dass die B-Notenbank das Leistungsbilanzdefizit des A-Landes kreditiert hätte. Zwar hat eine Kreditverlagerung stattgefunden, aber nur in dem Sinne, dass die A-Notenbank vergleichsweise mehr und die B-Notenbank vergleichsweise weniger Kredite ausreicht als vor 2008. „Anstelle der Bundesbank gewähren die Notenbanken der GIPS-Länder zusätzliche Refinanzierungskredite…“27 Nebenbei bemerkt ist es ein logischer Widerspruch, eine Kreditverlagerung von B nach A zu behaupten, und gleichzeitig der B-Notenbank eine Kreditierung des A-Landes zu bescheinigen.

Richtig ist, dass die Target-Forderungen der Bundesbank nicht nur ein statistischer Posten, sondern „ein wichtiger Teil des Auslandsvermögens der Bundesrepublik“ sind.28 Dieses Vermögen gehört den Unternehmen und Haushalten, die es erworben haben und in Gestalt von Forderungen gegenüber der EZB in Händen oder auf ihren Konten halten. Der Lkw-Exporteur in unserem Beispiel besitzt solche Forderungen in Höhe von 1 Mio. Euro, die er im gemeinsamen Währungsraum, d.h. auch im Ausland, jederzeit durch Kauf von Gütern „vollstrecken“ kann. In diesem Sinne sind die 1 Mio. Euro „Devisen“ und der Halter dieser „Devisen“ kreditiert insoweit das Ausland. Das wird in der Zahlungsbilanzrechnung üblicherweise als Auslandsvermögen bezeichnet. Eine gewisse Konfusion kommt hier dadurch zustande, dass der Exporteur mit seinen Euro auch in Deutschland kaufen kann, und er sie in der Regel wohl nicht als Währung des Auslandes (Devise) ansieht.

Analoges spielt sich im Innern der Bundesbank ab. Das in A neu geschöpfte und überwiesene Geld stellt Forderungen an die Bundesbank (als Teil des EZB-Systems) dar, die bei ihr als Passiva verbucht werden. Auf der Aktivseite stehen ihre Forderungen an die EZB bzw. nach Jahresende ein höherer Anteil am Vermögen der EZB. Vom Standpunkt der Bundesbank ist dies ebenfalls Auslandsvermögen.29

Finanzierung eines Leistungsbilanzdefizits mittels Geldkoffer30

Akteur A könnte sich, wenn er ausreichende Sicherheiten hinterlegt hat, seinen Kredit auch in bar auszahlen lassen. Ausgerüstet mit einem vollen Geldkoffer, den Sinn und Wollmershäuser nicht erwägen wollen,31 bezahlt er die Lkw am Produktionsort.

In diesem Fall ist wiederum Zentralbankgeld betroffen, das zunächst zur Geldbasis Griechenlands gehört. Durch die Auszahlung hat sich die Reserve der A-Bank verringert und müsste wie oben beschrieben aufgefüllt werden, wenn M0 und M1 annähernd konstant bleiben sollen. Da das Zentralbankgeld definitiv aus dem Lande gebracht worden ist und die A-Bank wahrscheinlich nicht warten kann, bis der griechische Importeur seinen Kredit zurückzahlt, sieht sie sich gezwungen, ihre Geldreserve in alter Höhe wieder herzustellen. Dazu muss die A-Bank Sicherheiten in Höhe von 1 Mio. Euro an die A-Notenbank weiterreichen, um zum Hauptrefinanzierungssatz frisches Zentralbankgeld zu bekommen, das dann von der A-Notenbank gedruckt wird. Eine Erhöhung der Geldmenge ist mit diesem Vorgang letztlich nicht verbunden, sie ist lediglich konstant gehalten worden. Allerdings hat die A-Bank jetzt neben den schon vorher vorhandenen Zinskosten zusätzliche Zahlungen an ihre Notenbank zu leisten. Dafür entschädigt sie sich durch wesentlich höhere Zinsforderungen an ihren Kunden, den Unternehmer A.

Wir gehen wie oben davon aus, dass der Lkw-Hersteller das erhaltene Bare auf sein Geschäftskonto bei der B-Bank einzahlt. Diese hat jetzt mehr Zentralbankgeld zur Verfügung, für das nur geringe Zinskosten anfallen, und damit einen klaren Wettbewerbsvorteil gegenüber der Geschäftsbank im A-Land. Mit der Schöpfung weiteren Kreditgeldes würde sich die Geldbasis im B-Land vergrößern. Bedingt durch den Fakt, dass sich die Geldmenge in den letzten drei Jahren weder in Deutschland noch in Griechenland nennenswert verändert hat, ist die Entscheidung der B-Bank in unseren Modellüberlegungen vorherbestimmt: Sie vergibt aufgrund fehlender Nachfrage keine weiteren Kredite, sondern „kauft“ hinterlegte Sicherheiten von der B-Notenbank „zurück“ und verringert damit den Kreditumfang der Bundesbank in entsprechender Höhe. Letztere erhält physisch 1 Mio. Euro Zentralbankgeld, die sie nun als überflüssig ansieht und unter Umständen schreddern wird. Die B-Bank hat schließlich geringere Zinskosten gegenüber der Bundesbank, und diese einen entgangenen Gewinn in gleicher Höhe. Reeh moniert diese Ungerechtigkeit.32 Im EZB-System erfolgt jedoch ein Ausgleich von Gewinnen und Verlusten.

Abgesehen von den eher kleinteiligen Asymmetrien sollte uns das Wesentliche dieses Szenarios nicht entgehen: Es ist beim Ausgleich der Zahlungsbilanz keine Asymmetrie auf der Ebene des Target2-Systems entstanden, obwohl das Resultat für die realwirtschaftlichen Akteure und für die Geschäftsbanken im Wesentlichen dasselbe ist.33 Der Geldkoffer-Fall belegt eindeutig, dass Target2-Schulden und -Forderungen in dem Sinne fiktiv sind, dass sie keine reale Verschuldung des A-Landes an das B-Land darstellen.

Ulbrich und Lipponer zeigen eine weitere Möglichkeit auf, ein Leistungsbilanzdefizit neutral für den Target-Saldo zu finanzieren: Die ausländische Geschäftsbank A nimmt über ihre Filiale in B Zentralbankgeld auf und überweist es über das Target2-System, um zu Hause den Kredit des Importeurs A zu finanzieren.34 Dadurch würde bei der Bundesbank eine Target-Schuld aufgebaut. Durch Rücküberweisung des Geldes nach Deutschland zur Bezahlung der fünf Lkw wird die Target-Schuld bei der Bundesbank annulliert. Analoges passiert bei der A-Notenbank, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Voilà: Die Target-Salden sind ausgeglichen, und das Defizit trotzdem finanziert.

Probleme im Umfeld

Die volkswirtschaftliche Irrelevanz des von Hans-Werner Sinn aufgeworfenen Target2-Problems bedeutet nicht, dass es keine anderen Probleme in diesem Zusammenhang gibt, die durchaus ernster Natur sind. Dabei muss eine sorgfältige Trennung von Scheinproblemen erfolgen.

Das Leistungsbilanzdefizit des Landes A wird durch die EZB bzw. ihre Filiale finanziert. Das Target2-System hat mit der Kreditvergabe nichts zu tun. Es ist daher irreführend, von einem „Target2-Kredit“ zu sprechen. Es findet auch kein unfreiwilliger Kapitalexport von den GNLF- in die GIPS-Staaten statt. Dieser ist vielmehr automatisch mit dem freiwilligen Export der fünf Lkw im Modell gegeben. Durch die Bezahlung verwandelt sich die deutsche Forderung an den griechischen Importeur in eine Forderung an die EZB. Das entsprechende Kollateral besteht aus den Sicherheiten, die die Geschäftsbank A bei der Notenbank A hinterlegt hat und über die nach Übertragung von Target-Verbindlichkeiten und -Forderungen am Ende des Jahres die EZB verfügt. Dass diese Sicherheiten möglicherweise von geringerem Wert sind, ist ein Sachverhalt, der mit dem Target-System nicht das Geringste zu tun hat.

Die Asymmetrie in den Target-Salden der Notenbanken ist demnach nur der Spiegel eines tiefer liegenden Problems, nicht aber die Ursache.35 Durch das Überweisungs-System kann definitiv kein neuer Kredit geschöpft, sondern nur bereits vorhandenes Zentralbankgeld transferiert werden.36 Neumann belegt mittels einer Granger-Analyse, dass eher ein kausaler Zusammenhang von der Bankenrefinanzierung (Ursache) zum Target-Saldo (Wirkung) anzunehmen ist, als umgekehrt.37 Dasselbe zeigt eine auf Plausibilität und Logik abstellende Modellanalyse. In praktischer Hinsicht könnte die Auffassung, das Target2-System sei ein „institutioneller Konstruktionsfehler der EWU“,38 verheerend wirken. Die Salden dienen buchungstechnisch dem Ausgleich der nationalen Notenbankbilanzen,39 begründen aber über die Verteilung der Anteile an der EZB hinaus keine weiteren Forderungen.

Sinn und Wollmershäuser nehmen an, dass die Geschäftsbanken der GIPS-Länder im Prozess der Geldschöpfung schlechte Sicherheiten bei ihren Notenbanken hinterlegen und außerdem publikumsseitig Kredite an Unternehmen und an einen fast zahlungsunfähigen Staat vergeben, indem sie (problematische) Staatspapiere als Sicherheiten annehmen.40 Die zinsgünstige Kreditierung ist allerdings ein Effekt, der im Wesen einer Währungsunion liegt, und zwar den nationalen Notenbanken Zentralbankgeld zur Verfügung zu stellen, und das bei einem im gesamten Währungsraum einheitlichen Zinssatz und bei einheitlichen Sicherheitsstandards.41 Die Kritik an der Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits der GIPS-Länder richtet sich somit gegen das europäische Zentralbankensystem als Ganzes.

Allerdings sollte dabei nicht suggeriert werden, dass A-Staat und A-Unternehmen in den Genuss dieser komfortablen Bedingungen kommen. Da sie sich nicht direkt bei der nationalen Notenbank bedienen können, werden die Zinsen, die sie für Kredite zahlen müssen, von den A-Geschäftsbanken vorgegeben. Die de facto Zahlungsunfähigkeit Griechenlands seit 2010 schränkt die Gültigkeit der These, dass sich die Länder vom Typ A durch das europäische Zentralbankensystem billig verschulden konnten, auf die Zeit vor der Eurokrise ein. Sollten die Sicherheiten, die bei den griechischen Notenbanken seitdem hinterlegt worden sind, schlecht sein, so ist anzunehmen, dass auch die Kollaterale bei den anderen Notenbanken davon angesteckt sind: die Standards werden einheitlich von der EZB vorgegeben. Jedermann weiß inzwischen, dass sich griechische Staatsanleihen nicht nur in den Tresoren griechischer Banken befinden.

Widersprechen muss man der Behauptung, dass „an keiner Stelle ein Anpassungsmechanismus zur Korrektur der Stromgrößenungleichgewichte“ vorhanden ist.42 Eine Korrektur kann erfolgen: (a) automatisch durch Anpassung der Kreditzinssätze an die nationalen Bedingungen durch die Geschäftsbanken und (b) kontrolliert durch die Festlegung der qualitativen Anforderungen an Sicherheiten durch die Geschäfts- und letztlich die Notenbanken, also die EZB. Aus Rücksicht auf die Solvenz der GIPS-Staaten hat sich letztere dafür entschieden, die Anforderungen an Kredite zu senken. Damit hat sie auch den Marktmechanismus außer Kraft gesetzt, der die griechischen Unternehmen gezwungen hätte, „härtere“ Sicherheiten vorzulegen. Zu (a) ist noch zu sagen: Prinzipiell muss es nicht das Ziel einer gemeinsamen europäischen Währungspolitik sein, einheitliche Zinssätze herzustellen – wie Abad, Löffler und Zemanek meinen.43

Sauer weist richtig darauf hin, dass das Target2-Problem zu dem Verschuldungsproblem der Staaten hinzutritt.44 Genauer gesagt haben wir es mit einem Problem der übermäßigen Verschuldung der öffentlichen Haushalte einiger Staaten und dem Problem eines Leistungsbilanzdefizits ihrer Volkswirtschaften zu tun, wobei das erste das zweite bislang überlagert hat – und nicht umgekehrt wie Kohler meint.45 Es kann kaum bestritten werden, dass das Leistungsbilanzdefizit der GIPS-Staaten durch die Billiggeld-Politik der EZB begünstigt wurde. Diese Politik war eine begründete Reaktion auf die Krise 2008 ff., um eine Kreditklemme zu verhindern. Das Problem besteht nicht im Target2-System, sondern in der Frage, wie die niedrig verzinsten Kredite in den GIPS-Staaten verwendet wurden. Lag es an der Kreditpolitik der Geschäftsbanken, die angesichts der unsicheren Lage nach wie vor hohe Zinssätze forderten, die von einer Realwirtschaft in der Krise kaum bezahlt werden konnten? Oder lag es (nur) an einer verfehlten Wirtschaftspolitik, die die konsumtiven Staatsausgaben stärkte und dadurch für ein Crowding out der Investitionen sorgte? Hierauf müssen die GIPS-Staaten selber eine Antwort finden, wenn sie ihr Leistungsbilanzdefizit und ihre Verschuldung abbauen wollen.

Zusammenbruchs-Szenarien

Vorschläge zur Rettung des Euro haben Konjunktur, selbst Krugman skizziert vier (schmerzhafte) Wege aus der Krise: Gesundschrumpfen, Schuldenschnitt, Abwertung (setzt eine eigene Währung voraus) und eine Transferunion.46 Für die Beurteilung eines eventuell durch Target2 verbundenen Risikos ist jedoch eher das von Sinn und Wollmershäuser erwogene „Ende des Euro“ interessant. Aus der Sicht des obigen Modells, und wohlgemerkt nur aus dieser Sicht, ergeben sich u.a. folgende Möglichkeiten:

  1. Die Geldkoffermethode bekäme Relevanz, wenn sich der Vorschlag, die „Überziehungskredite“ des Target2-Systems zu begrenzen, durchsetzen sollte. Jedoch könnte uns die obige Analyse darüber belehren, dass die Finanzierung griechischer Banken nicht einfach gestoppt werden kann, da sie in kürzester Zeit ausbluten würden – von anderen Konsequenzen ganz zu schweigen.47 Bindseil, Cour-Thimann und König weisen auf die alte Einsicht hin, dass sich Zentralbanken in Krisen durch Geldvermehrung vor größerem Schaden bewahren wollen.48
  2. Sinn und Wollmershäuser befürchten,49 dass die Bundesbank bei einem Ende des Euro auf ihren Target-Forderungen sitzen bliebe. Dabei wird ignoriert, dass es sich um Forderungen an die EZB bzw. an ihr Vermögen handelt und diese durch international gültige Verträge abgesichert sind. Doch sehen wir einmal von der EZB ab! Was sollte der Bundesbankpräsident den anderen Notenbankchefs sagen? „Gebt mir die 450 Mrd. Euro zurück,50 die ich in eurem Namen ausgegeben habe!“ Völlig korrekt könnten jene antworten: „Hol’ sie dir von deinen Kunden, die diese Euro bekommen haben. Sie alle haben direkt und indirekt ein Konto bei deiner Bank.“51 Doch ernsthaft: Betriebswirtschaftlich gesehen wären nicht nur die Target-Forderungen, sondern alle in Euro notierten Wertpapiere der Bundesbank in diesem Extremfall wertlos. Wertlos wären aber auch die entsprechenden Forderungen, die an die Bundesbank gerichtet sind.
  3. Ein „Schuldenschnitt“ für griechische Staatspapiere bedeutet, dass das Kapital derjenigen, die sie halten, entsprechend reduziert wird. Durch den Austausch mit werthaltigeren Papieren erfolgt im Grunde nichts anderes als eine (approximative) Anerkennung und Realisierung des Marktwerts der Staatspapiere. Für die restlichen 50% des von der Bank of Greece ausgegebenen Geldes fehlt das entsprechende Kollateral im europäischen Währungsraum, und das wird sich als Inflation und Verringerung des Außenwertes des Euro bemerkbar machen. „…deutsche Sparer, Riester-Rentner und Lebensversicherte [werden] alsbald erkennen müssen, dass Teile ihres Vermögens auf purer Illusion beruhen.“52 Nimmt man grob geschätzt an, dass 200 Mrd. von ca. 10 Billionen Euro inflationsrelevanter Geldmenge (M3) nicht solide besichert sind, ist bei einer 50%igen Abschreibung mit einer Entwertung der Geldmenge von 1% zu rechnen, die sich in den folgenden Jahren durch eine erhöhte Inflation bemerkbar machen wird. Der Ausfall eines „Geschäftspartners“ im Eurosystem ist übrigens der einzige „Verlustfall“, der von der Bundesbank öffentlich erwogen wird.53
  4. Fahrholz und Freytag befürworten einen Austritt leistungsschwacher Staaten aus der EWU – mit dem üblichen Argument, dass eine Abwertung der eigenen, nationalen Währung zu einer Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führt.54 Kohler55 und Zeitler56 weisen darauf hin, dass dies nur kurzfristig Vorteile bringt und längerfristig zu Problemen, z.B. Inflation, führt. Die Konsequenzen für die Rest-EWU wären mit dem Szenario (3) vergleichbar. Die Höhe des Schadens hängt davon ab, inwieweit der von der Politik befürchtete Dominoeffekt verhindert werden kann.
  5. Homburg erwägt außerdem den Austritt Deutschlands aus der EWU und meint, dass dann die Bundesbank ebenfalls auf ihren Forderungen sitzen bliebe.57 Aber warum sollten ihr ausgerecht diejenigen Vermögensanteile an der EZB verweigert werden, die durch Target-Forderungen zustande kamen? Nehmen wir also an, die Deutsche Bundesbank erhält das übertragene Vermögen abzüglich der anteiligen Verluste zurück. Das wäre das Kollateral für die neu zu schaffende D-Mark. Aus politischen Gründen müssten die Konten in Deutschland (oder nur die der Deutschen) auf D-Mark umgestellt werden, sagen wir, Eins zu Eins. Allen Kontenbesitzern wird freigestellt, sich entweder Euro (das sind jetzt Devisen) oder D-Mark auszahlen zu lassen. Vermutlich werden sie sich für D-Mark entscheiden, so dass von einem Tag zum anderen eine ungedeckte D-Mark-Geldmenge maximal in Höhe der akkumulierten Target-Forderungen zirkuliert – eine offensichtlich stark inflationäre Schubkraft. Es ist aber als wahrscheinlich anzunehmen, dass der Rest-Euro gegenüber der D-Mark in kürzester Zeit abwertet, so dass sich das ausländische Kapital auf den Konten deutscher Banken mit Gewinn auf den Weg in die Heimat macht. Außerdem hätten „Butterfahrten“ Hochkonjunktur, weil viele Deutsche es vorzögen, in den Nachbarländern billig einzukaufen. Die deutsche Volkswirtschaft ginge abermals in die Knie,58 würde aber nicht zusammenbrechen.

Es liegt auf der Hand, dass zumindest aus der Sicht der deutschen Politik keine dieser Möglichkeiten besonders attraktiv ist, obwohl der wirtschaftliche Schaden, den sie anrichten, unterschiedlich groß ist.

Schlussfolgerung

Das Leistungsbilanzdefizit der GIPS-Länder wird nicht durch das Target2-System, sondern seit 2008 zunehmend durch die EZB finanziert. Der private Kapitalexport und die Kreditbeziehungen zwischen den Banken verschiedener Länder trocknete aus. Die EZB handelt ihrer Aufgabe entsprechend, wenn sie die Geldversorgung in der gesamten Europäischen Währungsunion sicherstellt. Im Gegenzug zur Kreditvergabe eignet sie sich Vermögenswerte der GIPS-Länder an. Um den Bankrott ganzer Staaten zu verhindern, sah sich die EZB gezwungen, auch Wertpapiere geringerer Qualität zu akzeptieren. Eine Änderung dieser Politik wird erst möglich sein, wenn die Schuldenkrise überwunden ist. Dann rücken die Aufgaben, eventuelle Verluste im Kollateral auszugleichen, um den Wert des Euro stabil zu halten, und die Geldpolitik so auszurichten, dass Leistungsbilanzdefizite zurückgeführt werden können, in den Vordergrund. Letzteres kann die EZB nicht allein erreichen, dazu müssen die Wirtschaftspolitiken der Staaten neu justiert werden.

Anmerkung: Der Autor dankt den Mitgliedern des Forschungsseminars „Politik und Wirtschaft“ Felix Arglist, Lars Bräutigam, Mark Kirstein, Mathias Klein, Robert Pratersch, Friedrun Quaas, Richard Scholz und Sebastian Thieme für die Diskussionen und Hinweise. Für die hier vertretene Position ist er allein verantwortlich.

  • 1 Eine Beschreibung liefert die Europäische Zentralbank: Monatsbericht Oktober 2011, S. 36-41.
  • 2 H.-W. Sinn: Die europäische Zahlungsbilanzkrise, in: H.-W. Sinn: Die europäische Zahlungsbilanzkrise, in: ifo-Schnelldienst, 64. Jg. (2011), Nr. 16, S. 3; dieser Sammelband wird im Folgenden zitiert als Sinn: Zahlungsbilanzkrise.
  • 3 Ebenda, S. 7.
  • 4 Ebenda, S. 4.
  • 5 Vgl. H.-W. Sinn: Tickende Zeitbombe, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.4.2011, http://www.sueddeutsche.de/geld/rettungsschirm-fuer-den-euro-tickende-zeitbombe-1.1080370-2.
  • 6 Vgl. H.-W. Sinn: Die europäische Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 7.
  • 7 Vgl. S. Homburg: Anmerkungen zum Target2-Streit, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 47; sowie in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 8, S. 527.
  • 8 Vgl. W. Buiter, E. Rahbari, J. Michels: Targeting the wrong villain: Target2 and the intra-Eurosystem imbalances in credit flows, in: citi Global Economics, 9.6.2011, S. 7.
  • 9 Vgl. U. Bindseil, P. Cour-Thimann, P. König: Weitere Anmerkungen zur Debatte zum Target2 während der Finanzkrise, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 79-86.
  • 10 Bei W. Buiter et al. handelt es sich um einen Traktor, der nach Irland verkauft wird.
  • 11 H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser: Target-Kredite, Leistungsbilanzsalden und Kapitalverkehr: der Rettungsschirm der EZB, in: ifo-Schnelldienst, Sonderausgabe vom 24.6.2011, S. 6.
  • 12 Ebenda, S. 28.
  • 13 Ebenda, S. 7.
  • 14 Vgl. W. Buiter et al., a.a.O., S. 17.
  • 15 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht März 2011, S. 34.
  • 16 H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser, a.a.O., S. 8.
  • 17 Damit stimmt die Beobachtung Neumanns überein, dass die Refinanzierungsverschuldung der griechischen Banken fast perfekt mit der Target-Verschuldung der Bank of Greece korreliert. Vgl. M. J. M. Neumann: Refinanzierung der Banken treibt Target-Verschuldung, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 27.
  • 18 Vgl. T. Mayer, J. Möbert, C. Weistroffer: Makroökonomische Ungleichgewichte in der EWU und das Eurosystem, in: H.-W. Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 33.
  • 19 An dieser Stelle spielen ausnahmsweise die Transaktionskosten eine Rolle.
  • 20 Vgl. H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser, a.a.O., S. 8 ff.
  • 21 Nach Sauer unterscheidet sich unter anderem darin die Praxis der EZB von der des US-amerikanischen Zentralbanksystems, der Federal Reserve. Vgl. I. Sauer: Die sich auflösende Eigentumsbesicherung des Euro, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 58, Fn. 1.
  • 22 Vgl. H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser, a.a.O., S. 5.
  • 23 Vgl. H.-W. Sinn: Die europäische Zahlungsbilanzkrise, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 6.
  • 24 Vgl. Deutsche Bundesbank: Geschäftsbericht 2010, S. 175 f.
  • 25 Die Zahlungsbilanz setzt sich im Wesentlichen aus der Leistungsbilanz und der Kapitalbilanz zusammen und ist – von statistischen Fehlern abgesehen – immer Null. Vgl. P. Krugman, M. Obstfeld: Internationale Wirtschaft, München 2008, S. 381 ff.
  • 26 W. Kohler: Zahlungsbilanzkrisen im Eurosystem: Griechenland in der Rolle des Reservewährungslandes?, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 15.
  • 27 H. Schlesinger: Die Zahlungsbilanz sagt es uns, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 11.
  • 28 Vgl. ebenda, S. 10.
  • 29 Die EZB gilt in diesem Zusammenhang als „Ausland“ und entsprechende Zahlungen als „grenzüberschreitend“. Vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsbericht März 2011, S. 34.
  • 30 In dem Beispiel von W. Buiter et al. (a.a.O., S. 7) wird nicht problematisiert, wie das Geld nach Deutschland kommt, d.h. sie unterstellen implizit die Geldkoffer-Variante.
  • 31 Vgl. H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser, a. a. O., S. 6.
  • 32 Vgl. K. Reeh: Zahlungsbilanzausgleich in der Währungsunion: Eine alte Frage erscheint aus aktuellem Anlass in neuem Licht. Bemerkungen zum Umgang mit Target-Salden, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 92, Fn. 5.
  • 33 Ohne detaillierte Erläuterung und auf das Resultat der Transaktion konzentriert wird dasselbe Argument von O. Storbeck vorgetragen: „GIPS Euros“ vs. „German Euros“ – Debunking Hans-Werner Sinn, Vol. II, in: Economics Intelligence, 6.10.2011. H.-W. Sinns weitgehende Kritikresistenz verleitet Storbeck zu solchen Wertungen wie: „This is utter nonsense.“
  • 34 Vgl. J. Ulbrich, A. Lipponer: Salden im Zahlungsverkehrssystem – ein Problem?, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 70.
  • 35 Vgl. F.-C. Zeitler: Wege aus der europäischen Staatsschuldenkrise nach den Beschlüssen des Gipfels vom Juli 2011, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 87; vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2011/2012, Wiesbaden 2011, S. 83 f.
  • 36 Vgl. J. Ulbrich, A. Lipponer, a.a.O., S. 69.
  • 37 Vgl. M. J. M. Neumann, a.a.O., S. 27.
  • 38 Vgl. C. Fahrholz, A. Freytag: Ein Lösungsweg für die europäische Zahlungsbilanzkrise? Mehr Markt wagen!, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 75.
  • 39 Vgl. U. Bindseil, P. Cour-Thimann, P. König, a.a.O., S. 81.
  • 40 Vgl. H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser, a.a.O., S. 5 und S. 14.
  • 41 Sinn und Wollmershäuser geben zu: „Zwar entstehen die Target-Salden im Wesentlichen durch normale Refinanzierungskredite des Eurosystems… Sie messen aber eine Zusatzkreditvergabe, die in exorbitantem Umfang über die normale Geldversorgung eines Staates hinausgeht…“ Ebenda, S. 5.
  • 42 W. Kohler, a.a.O., S. 18.
  • 43 Vgl. J. Abad, A. Löffler, H. Zemanek: Target2 Unlimited, in: Ökonomenstimme 2011, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2011/07/target2-unlimited/.
  • 44 Vgl. I. Sauer, a.a.O., S. 67.
  • 45 Vgl. W. Kohler, a.a.O., S. 12.
  • 46 Vgl. P. Krugman: Can Europe be saved? New York Times vom 6.1.2011, http://www.nytimes.com/2011/01/16/magazine/16Europe-t.html?pagewanted=all.
  • 47 Vgl. T. Mayer, J. Möbert, C. Weistroffer, a.a.O., S. 38.
  • 48 Vgl. U. Bindseil, P. Cour-Thimann, P. König, a.a.O., S. 84 f.
  • 49 Vgl. H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser, a.a.O., S. 5.
  • 50 Die Zahl stammt aus H.-W. Sinn: Neues zu den Target-Salden: Jetzt auch noch Italien. E-Mail an Kollegen vom 26.10.2011.
  • 51 Auf die Frage: „Is the Bundesbank Lending to Peripheral Central Banks?“ antwortet Karl Whelan, Professor am University College Dublin, kurz und knapp: „It’s not.“ Und auf die Forderung nach einem Clearing zwischen den Notenbanken: „This is nonsense.“ Vgl. K. Whelan: Professor Sinn misses the target. The Institut of International and European Affairs, Blogs, 7.6.2011.
  • 52 S. Homburg: Anmerkungen zum Target2-Streit, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 50; sowie in: Wirtschaftsdienst, a.a.O., S. 530.
  • 53 Vgl. Deutsche Bundesbank: Target2-Salden der Bundesbank, Pressenotiz vom 22.2.2011.
  • 54 Vgl. C. Fahrholz, A. Freytag, a.a.O., S. 75.
  • 55 Vgl. W. Kohler, a.a.O., S. 12.
  • 56 Vgl. F.-C. Zeitler, a.a.O., S. 87.
  • 57 Vgl. S. Homburg: Anmerkungen zum Target2-Streit, in: Sinn: Zahlungsbilanzkrise, a.a.O., S. 49 sowie in: Wirtschaftsdienst, a.a.O., S. 529.
  • 58 Vgl. G. Quaas, M. Klein: Struktureller Wandel und Krisenbewältigung der deutschen Volkswirtschaft, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 3, S. 186-193.

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DOI: 10.1007/s10273-011-1309-4

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