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Der Begriff „Mittelschicht“ ist nicht leicht zu definieren. Die entsprechenden Einkommensgrenzen werden von den untersuchenden Institutionen unterschiedlich gesetzt. Ob allerdings das Einkommen als charakteristisches Unterscheidungsmerkmal ausreicht, ist fraglich. Einigkeit besteht unter den Autoren, dass es der Mittelschicht, einmal abgesehen von deren steuerlicher Belastung, nicht so schlecht geht, wie häufig in der Öffentlichkeit angenommen wird.

Mittelschicht im Wohlstandskonflikt

Die Mitte der Gesellschaft ist wieder ins tagespolitische und soziologische Gespräch gekommen. Das war lange Zeit nicht so. Denn seit den 1990er Jahren drehten sich die Debatten eher um Ausschluss und Ausgrenzung, Integration und Teilhabe oder Armut und Reichtum. Das waren klare begriffliche Orientierungspunkte. Hier wurden markante gesellschaftliche Trennlinien gezogen. Die soziale Welt unterscheidet sich in dieser Terminologie durch ihre Spaltungen. Sie zerfällt in ein Oben und Unten, in ein Innen und Außen. Das verspricht Übersicht und klare Thesen. Wer über die Mitte redet, der handelt sich dagegen immer eine Reihe von Problemen ein. Denn gerade die Mittelschicht präsentiert sich seit jeher als ein Ort der Unschärfen und Übergänge. Das macht sie interessant, aber eben auch kompliziert und in aller Regel unübersichtlich. Im Zentrum der Gesellschaft treffen Ingenieure auf kaufmännische Angestellte und Abteilungsleiter, hier sind Assistenzärzte und Lehrkräfte um Unterscheidungen bemüht, hier konkurrieren Berater, Projektentwickler und Therapeuten um Status und Position. Hier kreuzen sich die Wege der Emporkömmlinge und derjenigen, die den erworbenen Status nicht sichern können. Das soziologische Denken der Gesellschaft von ihrer Mitte her erfordert die Bereitschaft, Prozesse und Übergänge ins Zentrum der Überlegungen zu stellen. Wer zur Mitte gehört, der steht stets dazwischen, der ist eingebunden in soziale Abwärts- und Aufstiegsbewegungen.

Die Ambivalenz der Lage ist Programm und Habitus. Die Mittelschicht hat Sparrücklagen und ist verschuldungsbereit; sie ist konkurrenz-, aber auch solidaritätsorientiert; wer zur Mitte gehört, bevorzugt Familienwerte, ohne selbst unbedingt Familie zu haben; die Mitte lebt von öffentlichen Ausgaben und Investitionen und klagt über den Steuerstaat. Die Mitte vertraut auf sich selbst, aber fordert rasch die Hilfe von außen. Hier findet das Leistungsprinzip seine größten Anhänger, aber auch die Sicherheitsbedürfnisse scheinen unstillbar zu sein. Die Mitte, das sind nicht wenige. Rund zwei Drittel der Bevölkerung (65%) rechnen sich zur Mittelschicht. Selbst nach den strengen Kriterien des Statistischen Bundesamtes sind es 60%, die nach Einkommen, Bildung und beruflicher Position zur Mitte der Gesellschaft gerechnet werden.1 Mit Ralf Dahrendorf könnten wir es auf die soziologische Formel bringen: Mitte ist dort, wo es „Optionen und Ligaturen“ gibt, wo Auswahlmöglichkeiten bestehen und verbindende soziale Beziehungen existieren.2 Wer in der Mitte steht, der verfügt über hinreichenden Wohlstand, der eine eigenständige, von Zufälligkeiten weitgehend befreite Lebensführung ermöglicht. Armut und knappe soziale Ressourcen sind an diesen Orten des Sozialen unbekannt, aber zugleich bedeutet hinreichender Wohlstand nicht Freiheit von materiellen und sozialen Sorgen. Der Wohlstand der Mitte verdankt sich permanenter Anstrengung und Anspannung. Das unterscheidet ihn deutlich von dem in jeder Hinsicht unhinterfragten und selbstverständlichen Wohlstand, den wir in den oberen Lagen der Gesellschaft antreffen.

Gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen als Ursache der Sorgen

Zugleich ist die Mittelschicht immer in Bewegung. Während die Unterschichten in der Gegenwart gefangen sind und die Oberschicht von den erworbenen Vermögen ihrer Vergangenheit lebt, lebt die soziale Mitte von der Zukunft und von den Veränderungen, die noch kommen werden. Sie ist aufstiegsorientiert und zugleich abstiegsbesorgt. Ein Gutteil der heutigen Mitte sind Aufsteiger. Durch ihre starken Mittelschichten geprägte Gesellschaften sind Aufsteigergesellschaften. Berufliches Weiterkommen, Einkommenszuwächse und Statusgewinne sind ihr Lebenselixier. Auf diese Weise entsteht ein besonderes soziales Klima. Aufsteiger sind ungleichheitssensibel, sie formulieren unermüdlich neue Sicherheitsbedürfnisse und machen sich ständig Statussorgen, gerade mit Blick auf die eigenen Nachkommen. Und hier berühren wir einen ersten Kernpunkt aktueller Probleme: Die Mittelschichten im Wohlstandskonflikt repräsentieren und symbolisieren den Abschied von einer Gesellschaft, die sich wesentlich über den Traum vom immerwährend möglichen Aufstieg definierte. Gesellschaftswissenschaftlich sensible Beobachter der Zeitläufte teilen mehr die vage Ahnung als die klare Gewissheit, dass sich in der aktuellen Diskussion zum Zustand und zu den Befindlichkeiten der Mitte ein gesellschaftspolitischer Kipppunkt andeutet. Jedenfalls zeigen sich in der Mitte der Gesellschaft feine Risse im Wohlstandsgefüge. Keine starken Brüche, kein Zerfall. Keine dramatischen Abstürze in Hartz IV oder ähnliches. Aber Deklassierungsgefühle und Abstiegssorgen erhalten Raum und Nahrung. Der erworbene Wohlstand verliert an Selbstverständlichkeit.3

Die Ursachen der Besorgnis und der unguten sozialen Gefühle in der Mitte der Gesellschaft sind klar. Sie liegen erstens in der Formveränderung und in der veränderten Qualität der Erwerbsarbeit: Die Sphäre korporativ und tariflich regulierter sowie arbeitsrechtlich umhegter bzw. strukturierter Arbeitswelten der „Normalbeschäftigung“ schwindet. Die Zahl der niedrig entlohnten Jobs wächst. Unsichere und unverbindliche Beschäftigungsformen boomen. Hierzu zählt der Verleih von Arbeitskräften, der Bedeutungszuwachs der Minijobs, die gängige Praxis der Befristung. Verbindlichkeitsverweigerung scheint das Gebot der Stunde im Betrieb und auf den Arbeitsmärkten zu sein. Das Potential an auskömmlicher, dauerhafter und karrieresicherer Arbeit schrumpft rasch. Der für die mittleren Lagen der Gesellschaft interessante Punkt ist, dass dieses Potential keineswegs nur in den Randlagen der Arbeitswelt schwindet. Vielmehr schwindet es mehr und mehr dort, wo es noch vor Jahren keiner vermutet hätte: in den Kernsektoren der industriellen Arbeit, zum Beispiel im Automobil- oder Maschinenbau, und in der vielgestaltigen Wirklichkeit der öffentlichen Dienste, kurz im Staatssektor. Also überall, wo gut qualifizierte, beruflich patente und vorwärtsstrebende Menschen arbeiten.

Diese Qualitätsveränderung der Erwerbsarbeit hat nichts damit zu tun, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Im Gegenteil: Noch nie zuvor waren so viele Menschen erwerbstätig. Doch dieser Zuwachs hat brüchige Grundlagen. Er ruht auf der Expansion prekärer und niedrig entlohnter Beschäftigung. Es mag sein, dass wir uns quantitativ allmählich wieder auf eine „Vollbeschäftigungsgesellschaft“ zu bewegen – doch der Charakter und die qualitative Tragfähigkeit dieser „Vollbeschäftigung“ hat sich dramatisch verändert. Ständig beschäftigt zu sein, über gute berufliche Qualifikationen zu verfügen, soziale Beweglichkeiten zu zeigen – diese Merkmale und Eigenschaften sind immer weniger ein Garant für eine solide, mittelständische Lebensführung.

Zentrale Bedeutung des Staates

Insbesondere der öffentliche Beschäftigungssektor ist ein exemplarisches Feld, das uns zahlreiche Hinweise auf veränderte Arbeitswelten der Mittelschicht bietet. Der öffentliche Sektor war über Jahrzehnte eine zentrale Aufstiegsleiter, die gerade den mittleren Lagen der Arbeitswelt gesicherte und auskömmliche Beschäftigungsperspektiven bot.4 Nicht übermäßig entlohnt, aber solide vergütet. Es war kein sorgenfreier, aber ein hinreichender Wohlstand möglich. Keine großen Sprünge, aber eine sichere Zukunft war garantiert. Die Beschäftigung bei Staat und Kommune, in öffentlichen Verbänden und Einrichtungen bildete den arbeits- und sozialrechtlich stilbildenden Kern der Arbeitsgesellschaft. Die Vorstellung eines Normalarbeitsverhältnisses oder einer gelungenen Erwerbslaufbahn waren seit vielen Jahrzehnten eher staatswirtschaftlich und weniger industriewirtschaftlich geprägt. Doch das hat sich in den vergangenen Jahren eher unbemerkt von wissenschaftlichen und publizistischen Debatten grundsätzlich verändert. Der öffentliche Sektor hat sich in weiten Teilen von einem Stabilitätszentrum moderner, sozialstaatlich geprägter Marktgesellschaften in ein nervöses Reformfeld prekärer Beschäftigung verwandelt.5 Das gilt in nahezu allen europäischen Gesellschaften gleichermaßen und wird durch die akute Krise der öffentlichen Finanzen verstärkt. Ob hierzulande oder in Frankreich, ob in Spanien oder Dänemark: Wenn wir in die Bildungseinrichtungen, die Verwaltungen oder in den Gesundheits- und Pflegebereich schauen, dann stellen wir fest, dass sich dort unsichere und wenig aussichtsreiche Beschäftigungsverhältnisse normalisieren. Der strukturelle Verminijobbung und Projektförmigkeit öffentlicher Beschäftigung findet mehr und mehr auch auf den mittleren und höheren Funktionsebenen statt.

Diese Entwicklung ist unmittelbar mit einem zweiten Prozess verknüpft, der die Mittelschicht in Wohlstandskonflikte bringt – die grundlegende Neuorientierung staatlichen Handelns. Der Wohlfahrtsstaat ist keineswegs der Gewinner der Krise. Er hat sich vielmehr in der Bearbeitung der Finanzkrise völlig überanstrengt. Die fiskalische Erschöpfung ist unübersehbar und scheint irreversibel. Sie beginnt in den Kommunen und trifft mehr und mehr auch die Länder- und Bundeshaushalte. Der kurzfristige Aufschwung der Staatsfinanzen kann über das pikante Stück der jüngsten steuerstaatlichen Vergangenheit nicht hinweg täuschen. Die europäischen Staaten haben in der Bankenkrise kurzfristig eine Depression abgewehrt und sich langfristig ihrer Handlungsgrundlagen beraubt. Das hat Folgen für die ganze Gesellschaft. Das Versprechen auf Statussicherheit und soziale Sicherung ist vor diesem Hintergrund nicht mehr zu halten. Weder mit Blick auf die Altersversorgung, die Gesundheitsleistungen noch die Berufswelt. Das trifft diejenigen besonders hart, deren Wohlstand einerseits auf Bildungsabschluss und Berufsrolle beruht, andererseits auf der Gewährleistung öffentlicher Leistungen und der Kontinuität staatlicher Zuwendungen, eben die Mitte. Deren steuerliche, berufliche und familiäre Leistungskraft kann nicht unabhängig von der Entwicklung des staatlichen Gefüges gedacht werden.

Die Mittelschicht – so das Resümee dieser knappen Überlegungen – ist als soziale und wirtschaftliche Existenzform nicht zuletzt ein Produkt moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit. Sie ist staatsbedürftig, umgekehrt ist das moderne Staatswesen aber auch auf eine vitale und leistungsfähige Mittelschicht angewiesen. Es ist ja gerade die Mittelschicht, die in besonderer Weise staatlicherseits in Anspruch genommen wird – als Steuerzahler, als Ort bürgerschaftlichen Engagements und familiärer Verantwortung. Doch die zentralen Stützen der Mittelschicht – eine qualifizierte, auskömmliche und dauerhafte Arbeit und ein steuerstarker wie auch soziale und berufliche Statuslagen sichernder Wohlfahrtsstaat – verlieren substantiell an Tragfähigkeit.

Neuorientierung erforderlich

Welche Schlussfolgerungen können wir ziehen? Beide Prozesse weisen gleichermaßen darauf hin, dass Fragen des öffentlichen Wohls und der persönlichen Verantwortung im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Neuordnung neu gestellt werden müssen. Die Politik tut sich damit schwer. Das verwundert nicht, nachdem in den vergangenen Jahrzehnten jede Krise und jeder Konflikt von allen politischen Parteien und Gruppen mit dem Angebot von „Mehr“ beantwortet wurde. Doch wie löst man gesellschaftliche Konflikte, wenn die Antwort möglicherweise (und auch sinnvoller Weise) „Weniger“ heißen muss. Das Vertrauen in staatliche Statuszusagen schwindet jedenfalls dramatisch. Sozialpolitik ist in weiten Teilen nur noch Auffangnetz, aber kein Stabilisator erworbener sozialer und beruflicher Positionen mehr. Der Mitte der Gesellschaft geht es an die Substanz. Sie finanziert weiterhin und sogar in wachsendem Maß den Wohlfahrtsstaat, aber sie hat immer weniger Ertrag aus diesen Investitionen. Soziale Sicherheit wird mehr und mehr zu einer Aufgabe privater Zahlungsbereitschaft. Insofern sagen auch die immer wieder vorgebrachten Hinweise auf die stabilen Einkommenslagen in der Mitte der Gesellschaft nur wenig aus. Was hilft die einkommensstatistisch nachweisbare Stabilität der monatlichen Einkünfte, wenn Altersvorsorge, Gesundheitsdienste und Bildungsleistungen immer mehr Mittel der Haushalte verzehren. Der Hinweis, in der Mitte der Gesellschaft ließen sich keine relevanten Einkommensverluste nachweisen, bleibt unerheblich, wenn nicht zugleich die steigenden Belastungen insbesondere in den Familienhaushalten der Mittelschicht mit in Rechnung gestellt werden.

Es gibt ein soziologisches Grundgesetz, das die Gesellschaftsgeschichte moderner Demokratien in den vergangenen Jahrzehnten prägte: Der expansive, investitionsbereite und steuerkräftige Wohlfahrtsstaat ist die Grundlage einer breiten und wohlhabenden Mittelschicht. Das gilt in Europa, aber auch anderen Orts. Der Wohlfahrtsstaat ist ja nicht nur Sicherungsagentur, sondern immer auch Tätigkeitsfeld und Arbeitsort. Mit dem Ausbau sozialer, wirtschaftlicher und technischer Infrastrukturen entstehen neue Beschäftigungsfelder, Professionen und Karrieren. Müssen wir in Zeiten unsicherer Beschäftigungsformen und veränderter Staatlichkeit nun Abschied nehmen von der Mitte, die wir kannten? Wahrscheinlich ja. In dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass wir heute und erst recht in Zukunft auf andere Weise über die Mitte der Gesellschaft sprechen müssen; in anderer Weise über die Strukturen der Arbeit, die Bedürfnisse der Erwerbstätigen, die wohlfahrtsstaatliche Gestaltung, die Herstellung öffentlicher Güter. Das können und sollten wir freilich ohne jede Melancholie tun. Denn in ihrer Wachstumsfixierung und ihrer Orientierung auf das Mehr ist die Mitte, die wir kannten, ohnehin nicht mehr zukunftsfähig. Nicht zufällig stößt ein bestimmtes Wohlstands- und Wachstumsmodell an seine Grenzen. Das gilt in sozialer, in fiskalischer, aber sicher auch in ökologischer Hinsicht. Wir benötigen daher aus der Mitte der Gesellschaft heraus andere Maßstäbe für die „rechte Ordnung“, andere Mechanismen gesellschaftlicher Steuerung, andere Orientierungspunkte für wirtschaftliche Entwicklung. Die Antwort auf die Lösung sozialer Probleme war in der Vergangenheit stets „Mehr“. Heute muss die Antwort aber heißen: „Anders“.6

Worauf müssen wir uns einstellen? Dieser Abschied von einem spezifischen Wohlfahrts- und Aufstiegsmodell wird nicht ohne Konflikte verlaufen, Konflikte um die Verteilung des Wohlstands heute, aber auch Konflikte um den Wohlstand von morgen. Diese Konflikte kommen aus der Mitte der Gesellschaft.7 Dort gibt es nach wie vor einiges zu gewinnen, aber noch viel mehr zu verlieren. Umso mehr bedürfen wir daher neuer Trägergruppen der gesellschaftlichen Mitte, die nach anderen Maßstäben des Wohlstands suchen; Trägergruppen, die auf Staatsfreundschaft bedacht sind, ohne staatsfixiert zu sein; die die Bedeutung des Kommunalen und Regionalen schätzen, ohne provinziell zu sein; die eigene Interessen formulieren können, ohne die Prinzipien von wechselseitiger Hilfsbereitschaft zu vernachlässigen; die den Gemeinsinn pflegen, obgleich ihnen das eigene Fortkommen wichtig ist. Aus dieser Mitte der Gesellschaft heraus sind die normativen Fragen zu beantworten, welcher Art der künftige Wohlstand sein soll und wie wir künftig zu welchem Preis Wohlstand organisieren und herstellen wollen. Welche Bedingungen sind erforderlich, um bestimmte Wohlstandsleistungen herzustellen? An welchen politischen, sozialen, ökonomischen Zielen bemessen wir Wohlstand? Was ist uns die Herstellung öffentlicher Güter wert? Wir bedürfen einer neuen – nennen wir es bürgerlichen – Wohlfahrtsverantwortung derer, die in der Vergangenheit vom Wohlfahrtsstaat stark gemacht wurden.

  • 1 Statistisches Bundesamt u.a. (Hrsg.): Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008.
  • 2 R. Dahrendorf: Lebenschancen, Frankfurt am Main 1979.
  • 3 W. Heitmeyer: Deutsche Zustände, Folge 8, Frankfurt am Main 2010.
  • 4 T. Judt: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2005.
  • 5 E. Czerwick: Die Ökonomisierung des öffentlichen Dienstes, Wiesbaden 2007; B. Vogel: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009.
  • 6 T. Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt, Berlin 2011.
  • 7 B. Vogel, a.a.O.

Die „Mittelschicht“ dominiert weiter: Die mittleren Erwerbseinkommen schwächeln zwar, die anderen aber auch

Der Begriff „Mittelschicht“ geistert seit dem Sommer 2010 mit beachtlicher Intensität und anhaltender Unschärfe durch Medien und die öffentliche Diskussion. In diesem Beitrag werden aus der persönlichen Sicht des Autors einige Fragen diskutiert, die dabei zu oft unbeachtet bleiben: Was genau verbirgt sich hinter dem schillernden Begriff? Wer gehört in Deutschland zur Mittelschicht? Und: Hat sie sich verändert? Dabei wird eine Analyse der Einkommensentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der mittleren Einkommensschichten eine besondere Rolle spielen.

Definition der „Mittelschicht“

Der Begriff der „Mittelschicht“ ist populär, aber undefiniert. Jeder darf sich darunter vorstellen, was er will. Die in den Lexika oder gelehrten Werken der Soziologie nachzulesenden Definitionen kennen die wenigsten Personen, die öffentlich oder an Stammtischen über die Mittelschicht reden. Sie orientieren sich – wenn überhaupt – eher an Internetnachschlagewerken, die für öffentliche Diskurse zunehmende Definitionsmacht erlangen.

Bei Wikipedia heißt es zum Stichwort Mittelschicht:1 „Unter dem Sammelbegriff ... werden in der Soziologie diejenigen Bevölkerungsgruppen bezeichnet, die sich in Bezug auf ihr Einkommen bzw. ihren Besitz weder der vermögenden Oberschicht noch der besitzlosen und einkommensschwachen Unterschicht zuordnen lassen.“2 Sehr trennscharf ist diese Definition nicht.3 Was auch nicht notwendig ist, denn die eigentliche ideengeschichtliche Funktion des Mittelschicht-Begriffes ergibt sich durch die dadurch erfolgte Ablehnung der Marxschen Klassentheorie: „Entstanden ist das Schichtenmodell ursprünglich in Abgrenzung zur Theorie der Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es sollte hervorgehoben werden, dass es fein gestufte Bevölkerungsschichten gibt, die weder den Kapitalisten noch dem Proletariat zuzurechnen sind.“

Das heutige Interesse an der Mittelschicht ergibt sich, so wiederum treffend Wikipedia, dann dadurch, dass „die Mittelschicht ... in Politik und Wirtschaft als tragende und stabilisierende gesellschaftliche Kraft angesehen“ wird. Dies ist offenbar die entscheidende Rolle, die der Begriff spielt: Er soll die tragenden und stabilisierenden gesellschaftlichen Kräfte, die jedoch nicht zur Oberschicht („Elite“) gehören, abgrenzen und identifizieren. Diese Abgrenzung empirisch zu definieren ist aber alles andere als einfach und unstrittig.

Verwirrend wird die Diskussion über die Mittelschicht, weil seit einiger Zeit in der Forschung, aber auch in der Politik, auf komplizierte Antworten auf die Frage, wer zur „tragenden und stabilisierenden gesellschaftlichen Kraft“ gehört, vielfach verzichtet und die Mittelschicht nur über die Einkommen abgegrenzt wird. Zur Mittelschicht gehören dann alle die, deren Einkommen weder am oberen noch am unteren Ende des Verteilungsspektrums liegen. So geschieht dies nicht nur im Statistik-Teil des Wikipedia-Eintrags zur Mittelschicht,4 sondern ganz offiziell auch auf der Homepage des Bundesministeriums der Finanzen,5 wo die Frage „Wer gehört zur Mittelschicht?“ mit einem „Blick auf die Verteilung der Einkommen“ beantwortet wird:6 Die Mittelschicht besteht demnach aus Privathaushalten, deren Einkommen „zwischen 70% bis 150% des Medianeinkommens“ liegt. Es wird also das einfacher messbare Medianeinkommen (das die Einkommensverteilung in zwei Hälften zerlegt) benutzt und nicht das für Messfehler anfälligere arithmetische Mittel. Aber das ist nur nebensächlich.

Zentral ist: Wenn man die „tragende und stabilisierende gesellschaftliche Kraft“ einer Gesellschaft, also die „Mittelschicht“, mit der Besetzung einer bestimmten Einkommensklasse (hier: alle Privathaushalte mit einem Einkommen zwischen 70% und 150% des Durchschnitts) gleichsetzt, bedeutet das, dass dann die „tragende und stabilisierende gesellschaftliche Kraft“ der Gesellschaft ständig schwankt, denn in modernen Gesellschaften sind die Einkommen nicht in Stein gemeißelt. Und an einer solchen Definition der Mittelschicht sind zumindest zweierlei Implikationen nicht unmittelbar einleuchtend: nach dieser Definition haben kleinste Änderungen im Steuerrecht und in Tarifverträgen direkten Einfluss darauf, ob Privathaushalte zur Mittelschicht gehören oder nicht. Minimale Einkommensänderungen geben also den Ausschlag, ob jemand zur „tragenden und stabilisierenden Kraft“ der Gesellschaft gehört oder aber nicht.7 Ebenso unplausibel ist: Wenn die obere Einkommensgrenze für die Mittelschicht bei 150% des Durchschnitts liegt, dann gehören in Deutschland fast 20% der Privathaushalte zur Elite des Landes, zur sogenannten Oberschicht.8

Wie auch immer man die Oberschicht abgrenzt, ob als einflussreich oder ökonomisch sorglos, kaum jemand wird es für überzeugend halten, dass ihr etwa ein Fünftel der Bevölkerung angehören soll. Auf eine aussagekräftigere Abgrenzung der Oberschicht wird gleich eingegangen. Zuvor noch ein Wort zur Relevanz der Einkommensverteilung. Es ist gesellschaftspolitisch und ökonomisch höchst relevant, wie sich Einkommen auf untere, mittlere und obere Schichten verteilen. Man kann daran z.B. die Wirkung von Tarifverträgen, von Sozialversicherungs-Regelungen und der Besteuerung ablesen und gegebenenfalls auch bei kleinen Veränderungen, die gesellschaftspolitisch nicht erwünscht sind, gegensteuern. Zum Beispiel – um ein paar Elemente willkürlich zu nennen – durch eine Änderung des Einkommensteuertarifs oder durch die Abschaffung der 400-Euro-Jobs und die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne. Aber mit der Veränderung der Größe der soziologisch und gesellschaftlich relevanten Mittelschicht, der „tragenden und stabilisierenden gesellschaftlichen Kraft“ einer Gesellschaft, hat das im Allgemeinen nichts zu tun.9 An dieser Stelle stellt sich nun aber die Frage: Wie groß ist die Mittelschicht in Deutschland denn tatsächlich, und schrumpft sie bedrohlich?

Größe und Entwicklung der Mittel- bzw. Oberschicht in Deutschland

Richtig ist: in Deutschland haben die mittleren Einkommen in den letzten zehn Jahren an Bedeutung verloren, da die Ungleichheit der Einkommen zugenommen hat.10 Aber deswegen ist die Mittelschicht als wichtige soziale Kategorie noch lange nicht gefährdet. Die Mittelschicht ist nach wie vor riesengroß, und deswegen haben kleine Veränderungen sozialstrukturell keine Relevanz.

Am besten kann man die Mittelschicht bestimmen, wenn man sich überlegt, wer nicht dazu gehören kann. Nach unten dürften das diejenigen sein, die selbst und auch deren Kinder kaum eine Chance haben, in die Mitte der Gesellschaft aufzusteigen. Das sind viele Hartz-IV-Empfänger und ganz generell Un- und Angelernte. Man kann diese Gruppe unterschiedlich statistisch definieren. Aber zur Zeit umfasst sie deutlich mehr als 20%. Benutzt man hilfsweise die Einkommen als Abgrenzung (etwa wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung: unterhalb von 70% des Durchschnittseinkommens gehört man nicht mehr zur Mittelschicht), dann umfasste die untere Schicht 2009 etwa 22% aller Privathaushalte.11

Wer gehört zur Oberschicht? Wer ragt also aus der „tragenden Mitte der Gesellschaft“ heraus? Dies müssen offenkundig Personen sein, die entweder gesellschaftlich-ökonomisch einflussreich (und weitgehend persönlich unabhängig) sind oder die sich zumindest ökonomisch keine Sorgen machen müssen. Nur ein überdurchschnittliches Einkommen oder Vermögen zu haben, das mit ständigen Sorgen und/oder mit keinerlei gesellschaftlichem Einfluss verbunden ist,12 dürfte in der Einschätzung der meisten Menschen nicht ausreichen, um zur Oberschicht und Elite zu gehören.

Der Kreis gesellschaftlich und ökonomisch einflussreicher Menschen ist sicherlich (in allen Gesellschaften) sehr klein. Mit dem Begriff der „oberen Zehntausend“ ist die Größenordnung wahrscheinlich gut geschätzt. Will man sich damit nicht zufrieden geben, kann man z.B. auf die Zahl derer schauen, die – etwa in der bevölkerungsrepräsentativen SOEP-Erhebung (2009)13 – angeben, sie seien im Topmanagement tätig. Dann kommt man auf etwa 2% der Erwerbstätigen. Dies entspricht auch ungefähr dem Anteil, der sich zusammen für Freiberufler und Selbständige mit mindetens zehn Mitarbeitern, Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben ergibt.14 Nimmt man an, dass unter den Rentnern und Pensionären der Anteil der ehemaligen Führungskräfte ebenso hoch ist, ergibt sich für die Gesamtbevölkerung eine sozialstrukturell abgeleitete Größenordnung von 2% für die „Oberschicht“.

Von Olaf Groh-Samberg wurde ökonomische Sorglosigkeit als eine soziologisch einleuchtende Abgrenzung der Oberschicht in die empirische Diskussion eingeführt.15 Er nimmt an, dass jemand zur Oberschicht gehört, der mindestens fünf Jahre lang a) mindestens das Doppelte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hatte (was keinesfalls sagenhaften Reichtum impliziert) und b) sich keine ökonomischen Sorgen gemacht hat. Entsprechend ist seit Ende der 80er Jahre (als mit dieser Art der Messung begonnen wurde) nur etwa 1% der Bevölkerung der Oberschicht zuzurechnen. Dass die Gruppe der gutsituierten, ökonomisch Sorglosen so klein ist, macht auch ein Blick auf die Vermögensverteilung plausibel.16 Das Netto-Vermögen, das das oberste Prozent der Vermögenden von den darunterliegenden 99% trennt, liegt bei 772 000 Euro (im Jahr 2007 hatten etwa 700 000 Erwachsene mindestens dieses Vermögen). Die obersten 2,5% werden durch ein Mindest-Vermögen von 492 500 Euro charakterisiert. Dies sind Vermögen, die einerseits beachtlich sind, die aber auch von einer Generation zur nächsten schnell aufgezehrt sein können.

Addiert man die etwa 20% Einkommensschwachen, die als untere Schicht definiert wurden, zu dem 1% für die sorgenlose Oberschicht, dann verbleiben für die Mittelschicht noch fast 80% der Menschen in Deutschland. Selbst wenn man den für die sozialstrukturell abgegrenzte Oberschicht ermittelten Anteil von 2% nimmt, verbleiben für die Mittelschicht noch mehr als 75%. Und diese Gruppe ist in den letzten Jahren nicht geschrumpft, weil von 1999 bis 2008 2% der Bevölkerung in die Einkommensschicht mit mehr als dem Doppelten des Durchschnittseinkommens aufgerückt sind. Insgesamt befanden sich dort nach den neusten Zahlen des SOEP im Jahr 2009 7,8% der Bevölkerung in Privathaushalten (wobei von 2008 bis 2009 ein Rückgang um 0,5 Prozentpunkte zu beobachten war). Aber nur wenige davon gehören zur Oberschicht im soziologischen oder alltagssprachlichen Sinne.

Allenfalls wurde die sozialstrukturell abgegrenzte Mittelschicht durch eine geringe Ausweitung der unteren Schicht tatsächlich etwas kleiner. Wobei die umstrittene Hartz-IV-Reform nur zu wenigen tatsächlichen Abstiegen geführt hat. Gravierend an Hartz IV ist hingegen, dass die Angst vor einem Abstieg größere Teile der Mittelschicht erfasst hat. Abstiegsangst gehörte aber – wenn man ehrlich ist – schon immer zur Mittelschicht dazu. Oberschicht definiert sich ja geradezu darüber, dass ihre Angehörigen sich sicher fühlen. Wobei auch Zukunftsängste von Mittelschicht-Eltern um den sozialen Status ihrer Kinder in einer offenen Gesellschaft unvermeidbar sind: Demokratische Gesellschaften kennen Auf- und Abstiege. Und damit unvermeidbar Zukunftsängste um die eigenen Kinder.

Insgesamt muss man sich um die Dominanz der Mittelschicht in Deutschland sicherlich keine Sorgen machen. Die sozialstrukturellen Probleme sind im unteren Bereich der Gesellschaft zu finden. Die Aufstiegsmobilität von unten in die Mitte ist in den letzten Jahren kleiner geworden17 – gerade auch die Aufstiegschancen der Kinder. Das steigert die Abstiegsängste der Mitte, denn der Wiederaufstieg wird schwieriger; das Gleiche gilt für Einkommensfallen, z.B. in Form von 400-Euro-Jobs.18 An der Einkommensmobilität lässt sich unmittelbar beobachten, wie die Aufstiegsmoblität in den letzten zehn Jahren zurückging.19 Und aufgrund der noch lange nicht überwundenen Schul- und Ausbildungsprobleme vieler Kinder werden viele junge Erwachsene in die unteren Schichten „nachrücken“. Im Querschnitt betrachtet wird dadurch die Mittelschicht kleiner werden. Aber nicht weil es massenhaft zu Abstiegen käme, sondern weil die – im wahrsten Sinne des Wortes – alte Mittelschicht stirbt. Kurzfristig aber hat die Mittelschicht kein Stabilitätsproblem. Eher ist die Stabilität zu groß: Die Schichtenmobilität nach unten wie nach oben ist in Deutschland inzwischen gering.20

Zur Entwicklung der Einkommensverteilung

Auch wenn die Dominanz der Mittelschicht auch in den nächsten Jahren nicht gefährdet ist, so lohnt sich doch ein abschließender Blick auf die Entwicklung und Verteilung der Einkommen. Und dabei zeigt sich, dass für die „mittleren Schichten“ die inflationsbereinigten Realeinkommen und die realen Stundenlöhne seit zehn Jahren praktisch nicht gestiegen sind (vgl. Tabelle 1). Aber das ist keineswegs eine Sonderentwicklung in der Mitte: Die Reallöhne stagnieren seit etwa zehn Jahren in praktisch allen Schichten.21 Auch die Arbeitnehmer mit überdurchschnittlichen Einkommen haben bei Berücksichtigung der Preissteigerungen Lohneinbußen hinnehmen müssen. Bei den Geringverdienern setzte diese Entwicklung schon ab dem Jahr 2000 ein, bei den übrigen Arbeitnehmern einige Jahre später.22 Daran hat der Aufschwung 2010 auch nichts geändert: Die Arbeitsentgelte bleiben nicht nur hinter dem Anstieg der Wirtschaftsleistung zurück, die ausgezahlten Löhne sanken sogar. Im ersten Quartal 2011 – neuere Zahlen gibt es Ende Juli 2011 noch nicht – hatten die Arbeitnehmer pro Kopf real 0,5% weniger Einkommen in der Tasche als ein Jahr zuvor, bei den Netto-Stundenlöhnen betrug das Minus sogar 2,2%.

Tabelle 1
Löhne und kaufkraftbereinigte Netto-Stundenlöhne nach Arbeitnehmergruppen
Arbeitnehmer, die mit ihrem Lohn zu den ... zählen Kaufkraftbereinigte1 Netto-Stundenlöhne der Arbeitnehmer2 in der jeweiligen Gruppe in Euro Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate in %
2000 2005 2010 2000 bis 2010 2000 bis 2005 2005 bis 2010
unteren (ersten) 10% 4,06 3,91 3,86 -0,5 -1,0 -0,3
zweiten 10% 5,55 5,56 5,48 -0,1 -0,2 -0,3
dritten 10% 6,56 6,49 6,36 -0,3 -0,6 -0,4
vierten 10% 7,22 7,42 7,27 0,1 0,1 -0,4
fünften 10% 8,12 8,24 8,07 -0,1 -0,1 -0,4
sechsten 10% 8,87 9,07 8,91 0,0 0,1 -0,4
siebten 10% 9,85 10,12 9,92 0,1 0,1 -0,4
achten 10% 11,00 11,36 11,11 0,1 0,2 -0,4
neunten 10% 13,13 13,23 12,96 -0,1 -0,3 -0,4
oberen (zehnten) 10% 17,31 17,62 17,6 0,2 0,3 0,0

1 Kaufkraft in Preisen von 2005.
2 Arbeitnehmer ohne Auszubildende, Praktikanten, Ein-Euro-Jobber und ABM-Kräfte.

Quellen: Sozio-oekonomisches Panel; Statistisches Bundesamt; Berechnungen des DIW Berlin.

Die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen Mitte 2011 damit, dass die Löhne steigen werden. Die in der ersten Jahreshälfte 2011 abgeschlossenen Tarifverträge enthalten meist spürbare Lohnsteigerungen. Aber nicht in allen Branchen werden die vereinbarten Lohnsteigerungen die Teuerung auffangen. So sind in Teilen des öffentlichen Dienstes schon Reallohnverluste programmiert. Für das kommende Jahr zeichnen sich bisher keine höheren Lohnzuwächse ab. In einigen der bereits gültigen Tarifverträge sind sogar geringere Erhöhungen als in diesem Jahr vorgesehen. Und im wachsenden Teil der Wirtschaft, der keiner Tarifbindung unterliegt, kommt es wahrscheinlich auch nur zu spärlichen Lohnanhebungen.

Selbst dann, wenn die Prognosen der Forschungsinstitute eintreffen, werden die Löhne wohl längst nicht so stark wachsen wie die Vermögenseinkünfte. Der unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder begonnene und durch die jüngste Krise nur kurz unterbrochene Trend der Einkommensumverteilung zulasten der Arbeitnehmer setzt sich fort. Dies verletzt nicht nur die Gerechtigkeitsvorstellungen in breiten Teilen der Bevölkerung, sondern bremst auch das nationale Wirtschaftswachstum.23 Um die ökonomischen Ungleichgewichte in Europa nicht noch weiter wachsen zu lassen, und um die deutsche Wirtschaft auf einen höheren Wachstumspfad zu bringen, muss in Deutschland stärker auf die Binnennachfrage gesetzt werden. Das geht nur durch die Abkehr von der häufig beschönigend als „moderat“ bezeichneten Lohnpolitik, die tatsächlich aber ebenso makroökonomisch restriktiv wie verteilungspolitisch fragwürdig ist.

Man müsste die funktionale Verteilung der Einkommen nicht einmal umkehren; hilfreich wäre es schon, wenn die Löhne in gleichem Maße wie die Vermögenseinkommen stiegen. Die Wettbewerbsposition der deutschen Exportunternehmen würde sich dadurch zwar nicht weiter verbessern, aber auch nicht verschlechtern. Überdies hängt ein großer Teil der Arbeitsplätze in Deutschland gar nicht oder nur mittelbar vom Export ab, so dass sich hier die Frage nach der internationalen Wettbewerbsfähigkeit überhaupt nicht stellt. Bei der Lohnfindung muss allerdings berücksichtigt werden, dass ein großer Teil der Arbeitslosen wegen unzureichender Qualifikationen nur schwer in eine Beschäftigung zu bringen ist. Hier wird seit Jahren auf spezielle Programme gesetzt. Vergessen wird, dass sich bei einer stärker expandierenden Binnennachfrage die Beschäftigungschancen von Geringqualifizierten von selbst verbessern.

Die Durchsetzung flächendeckend höherer Löhne ist Aufgabe der Gewerkschaften. Deren Position wurde ohne Zweifel durch den wirtschaftlichen Wandel – also der wachsenden Bedeutung des Dienstleistungssektors mit dessen eher kleinbetrieblicher Struktur – geschwächt. Dieser Wandel ist in allen entwickelten Gesellschaften zu beobachten, und kann daher nicht die Ursache dafür sein, dass Deutschland im internationalen Vergleich bei der Lohnentwicklung das Schlusslicht bildet. Wie das Beispiel der skandinavischen Länder zeigt, sind bei starken Gewerkschaften auch Mindestlöhne überflüssig. In Deutschland scheint dagegen bei manchen Gewerkschaften die Lohnpolitik gegenüber anderen Themen zu sehr in den Hintergrund gerückt zu sein. Und das ist nicht nur ein Problem der und für die Mittelschicht.

Schlussfolgerungen

Die Diskussion des Mittelschichtbegriffes und die vorliegende Empirie haben gezeigt, dass die „Mittelschicht“ in Deutschland so groß und in sich so differenziert ist, dass es kaum lohnt, sich über „die“ Mittelschicht insgesamt Gedanken zu machen. Von der schieren Größe her ist die Mittelschicht in den nächsten Jahren nicht bedroht. Sie macht mindestens drei Viertel der Gesellschaft aus. Und es gehört zur Definition der Mittelschicht hinzu, dass sie sich immer wieder um ihren Status ängstigt. Das ist weder neu noch überraschend.

Gesellschaftspolitisch produktiver als ein Mittelschichts-Lamento24 sind differenzierte Analysen der Mittelschicht selbst. Zu diesen Analysen muss ohne Zweifel auch die Entwicklung der Einkommensverteilung gehören. Die Analysen müssen aber immer wieder ins Detail gehen. Einige Beispiele: 400-Euro-Jobs spielen je nach individueller Situation eine ganz unterschiedliche Rolle (willkommener Hinzuverdienst versus Niedriglohnfalle); entsprechend ambivalent muss deren Bewertung ausfallen. Ein völlig anderer Detailbereich sind z.B. die Bemühungen der besser gebildeten Mittelschicht, ihren Kindern Startvorteile zu sichern, indem die verbindlichen Schulempfehlungen durch Grundschullehrer bekämpft werden, um minder leistungsfähigen Mittelschichtkindern den Besuch staatlicher Gymnasien zu ermöglichen.25 Dies ist ein Beispiel für einen Problembereich, der dafür verantwortlich ist, dass die „unteren Schichten“ Probleme haben, in die Mittelschicht aufzusteigen. Aufgrund der demographischen Entwicklung (höhere Anteile von Schulabbrechern) werden die Aufstiegs-Probleme zunehmen. Schließlich gilt es für alle abhängig Beschäftigten – ob mit niedrigen, mittleren oder höheren Arbeitseinkommen – die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung bzw. die funktionale Einkommensverteilung kritisch in den Blick zu nehmen.

  • 1 Der Begriff der Mittelschicht ist in das soziologische Konzept der „Sozialstruktur“ eingebunden, das „die Gruppierung des sozialen Beziehungsgefüges einer Gesamtgesellschaft nach Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten in mehreren Dimensionen“ beschreibt, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialstruktur, Stand: 2.8.2011.
  • 2 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Mittelschicht, Stand: 2.8.2011.
  • 3 Klar ist auf jeden Fall, dass der „Mittelstand“ ganz etwas anderes ist als die „Mittelschicht“. Laut Wikipedia umfasst er die „kleinen und mittleren Unternehmen“ bzw. Familienunternehmen, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Mittelstand.
  • 4 Es heißt: „Bezogen auf einen Einpersonenhaushalt definiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) statistisch als „Mittelschicht“ die Bevölkerungsgruppe mit einem Nettoäquivalenzeinkommen zwischen 70% und 150% des Medians der privaten Haushaltsrealeinkommen. Im Jahre 2006 lag dieser Einkommensmedian in Deutschland knapp über 16 000 Euro. (...) Haushalte mit einem Einkommen zwischen 90% und 110% des Medians werden als „Durchschnittsverdiener“ bezeichnet“, Stand: 2.8.2011. Wikipedia fügt an: „Verwirrung entsteht dadurch, dass die Grenzen nach oben und unten von verschiedenen Institutionen unterschiedlich definiert werden. Die Europäische Union nennt als untere Grenze 60%, die WHO sogar 50% des Durchschnittsmedians des Heimatlandes.
  • 5 Vgl. http://www.bundesfinanzministerium.de/DE/Buergerinnen__und__Buerger/Gesellschaft__und__Zukunft/120__Definition__Mitte.htm, Stand: 2.8.2011.
  • 6 Zuvor heißt es: „Wie sieht sie aus, die Mitte in Deutschland? Wenn von hohen Steuerbelastungen für die Mitte oder sogar einem Bröckeln der Mittelschicht zu lesen ist, stellt sich die Frage: Wie wird sie überhaupt definiert?“, vgl. ebenda.
  • 7 Vgl. auch J. Kaube: Die inszenierte Mittelschichtspanik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.6.2010.
  • 8 Vgl. M. M. Grabka: Probleme und Herausforderungen des „Modells Deutschland“ am Beispiel der Mittelschicht, in: Der Deutsche Weg aus der Krise. Wirtschaftskraft und Strukturschwächen des „Modells Deutschland“, KAS Publikation, Deutsch-Französischer Dialog, Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Frankreich, H. 6, 2011, Paris, S. 76-93, hier S. 79 ff.
  • 9 Wiederum eine ganz andere Frage ist z.B., ob die Größe des mittleren Einkommensblocks konjunkturelle Wirkungen hat oder haben soll.
  • 10 Vgl. z.B. M. M. Grabka, a.a.O., S. 79 ff.
  • 11 Vgl. z.B. M. M. Grabka, a.a.O., S. 80.
  • 12 Dies umfasst so unterschiedliche Gruppen wie die Lehrerschaft oder auch die allermeisten Profisportler (einschließlich Gurus und – nach Rudi Völler – Ex-Gurus) und Schlagersänger.
  • 13 Vgl. zum SOEP M. M. Grabka, a.a.O.
  • 14 Die „höheren Beamten“ machen weitere knapp 2% der Erwerbstätigen aus. Aber nur wenige in dieser Gruppe üben wirklich gesellschaftlich einflussreiche Führungspositionen aus.
  • 15 Vgl. O. Groh-Samberg: Sorgenfreier Reichtum: Jenseits von Konjunktur und Krise lebt nur ein Prozent der Bevölkerung, in: Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. 35, 2009.
  • 16 Vgl. S. Bach, M. Beznoska, V. Steiner: A Wealth Tax on the Rich to Bring Down Public Debt? Revenue and Distributional Effects of a Capital Levy, DIW Discussion Paper, Nr. 1137, Berlin 2011, hier Tabelle 1.
  • 17 Vgl. z.B. M. M. Grabka, a.a.O., S. 80.
  • 18 Die Nebenwirkungen der abgabenmäßig begünstigten 400-Euro-Jobs sind in jedem Supermarkt zu beobachten, wo die Servicequalität unter den vielen Kurzzeit-Jobbern leidet und Arbeitsuchende, die das Geld nötig hätten, von Schülern und Studierenden verdrängt werden. Oder noch schlimmer: im Pflegesektor grassieren Hungerlöhne. Darunter leiden nicht nur die pflegenden Lohnempfänger, sondern auch die Pflegebedürftigen. Starke Gewerkschaften wären hier nötig. Wenn es diese nicht gibt, helfen nur die Abschaffung der 400-Euro-Jobs und die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne in Verbindung mit strikter staatlicher Aufsicht.
  • 19 Vgl. z.B. M. M. Grabka, a.a.O., S. 82 ff.
  • 20 Vgl. z.B. auch J. Schupp: Aspekte sozialer Ungleichheit in Deutschland, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 59. Jg. (2010), H. 1, S. 6-22, hier S. 16 ff.
  • 21 Gekürzte Fassung des Beitrags von K. Brenke, G. G. Wagner: Nötig sind kräftige Lohnerhöhungen, in: Die Berliner Zeitung, Nr. 178, vom 2.8.2011, S. 10.
  • 22 Am Rande: Die Lage vieler Niedriglöhner ist nicht so düster, wie sie mitunter gezeichnet wird. Viele leben in Haushalten mit weiteren Erwerbstätigen und steuern etwa mit einem Minijob zum Haushaltsbudget bei. Und nicht wenige stocken ihre Sozialleistungen als Rentner, Studenten oder Hartz-IV-Bezieher mit einem Hinzuverdienst auf. Die eigentliche Problemgruppe sind jene Arbeitnehmer, die trotz einer Vollzeitstelle kaum über die Runden kommen und deshalb auf zusätzliche Sozialleistungen angewiesen sind. Deren Zahl liegt unter einer halben Million und ist in den letzten Jahren nicht gewachsen. Trotzdem ist die soziale Lage dieser Gruppe höchst problematisch.
  • 23 Wie sich an den dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschüssen ablesen lässt, fließt ein großer Teil der in Deutschland erwirtschafteten Einkommen nicht in die Inlandsnachfrage, sondern ins Ausland ab. Wenn permanent viel Kapital im Ausland angelegt wird, bleiben hierzulande Konsum und Investitionen zurück. Die stark auf Exportüberschüsse ausgerichtete deutsche Wirtschaft kann daher nicht die Konjunkturlokomotive in Europa sein. Vielmehr ist sie ein Trittbrettfahrer, der darauf hofft, dass andere Länder kräftig konsumieren und investieren – auch wenn sie dabei über ihre Verhältnisse leben. Insofern ist es gar nicht mehr absurd, dass die Bundesrepublik nun mit Steuermitteln einigen dieser Staaten zur Seite springen muss.
  • 24 Vgl. auch J. Kaube, a.a.O.
  • 25 Vgl. Jörg Dollmann: Verbindliche und unverbindliche Grundschulempfehlungen und soziale Ungleichheiten am ersten Bildungsübergang, erscheint in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , 63. Jg. (2011), H. 4.

Mittelschicht: Sind die gefühlten Bedrohungen messbar?

Befunde, die auf wachsende Abstiegsängste oder eine zahlenmäßige Schrumpfung der Mittelschicht deuten, sind immer für eine Schlagzeile gut. Mit schöner Regelmäßigkeit gelangen sie daher in die Öffentlichkeit. Wer bei diesen Themen abwiegelt, findet dagegen wenig Gehör. Dabei ist es äußerst schwierig, Aussagen über Lage und Entwicklung der Mittelschicht zu machen, die empirisch belastbar und aussagekräftig sind – also wirklich das bedeuten, was ihnen beigelegt wird. Die Gründe dafür liegen tief: Einerseits lässt sich an empirischen Daten zumeist nicht direkt ablesen, wer nach dem traditionellen (Selbst-)Verständnis zur Mittelschicht gehört. Andererseits engen empirisch operable Definitionen das Phänomen Mittelschicht oft unzulässig ein und sind wenig geeignet, es auch in all seinen möglichen Wandlungen zu erfassen.

Viele Meldungen über gefühlte Bedrohungen der Mittelschicht, aber auch statistische Daten, mit denen beunruhigende Trends messbar werden sollen, sind vor diesem Hintergrund kritisch zu hinterfragen. Allerdings macht auch die Forschung, die hinsichtlich solcher Definitionsfragen problembewusster ist, einige bedenkenswerte Beobachtungen: Der Weg in die Mitte der Gesellschaft ist in Deutschland in den letzten zehn bis zwanzig Jahren offenbar zusehends schwieriger geworden; gleichzeitig hat die Zugehörigkeit zur Mitte wohl an Attraktivität verloren. Die zuletzt wiedergewonnene Dynamik des deutschen Arbeitsmarktes wird daran voraussichtlich so schnell nichts ändern.

Traditionelles (Selbst-)Verständnis der Mittelschicht

Fragt man einen repräsentativen Ausschnitt der Bevölkerung ganz direkt „Welcher sozialen Schicht rechnen Sie sich selbst eher zu?“, so zählen sich in Westdeutschland zuletzt 58% der Befragten zur Mittelschicht. Dieser Anteil ist seit 1980, bei leichten zwischenzeitlichen Schwankungen, praktisch unverändert geblieben. Der Vergleichswert für Ostdeutschland liegt mit zuletzt 46% erkennbar niedriger, er hat seit 1991 allerdings um knapp zehn Prozentpunkte zugelegt.1 Dabei ist jedoch nicht klar, was diese subjektiven Selbsteinschätzungen objektiv besagen, speziell inwieweit sie eher Wunsch oder Wirklichkeit widerspiegeln.

Möglicherweise lebt in diesen Zahlen vor allem die Anziehungskraft fort, die die gesellschaftliche Mitte in einem groben Oben-Unten-Schema der Sozialstruktur in der westdeutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit entfaltete. Helmut Schelsky charakterisierte diese bereits Anfang der 1950er Jahre in einem durchaus positiven Sinn als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“.2 Zentrale Integrationsfaktoren dieser Gesellschaft waren – nach den gemeinsamen Erfahrungen von Krieg und Zerstörung und der zunächst mehr verdrängten als bewältigten Nazi-Vergangenheit – vor allem die wirtschaftliche Dynamik und die damit verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten in der jungen Bundesrepublik. Interessant wäre daran, dass das (Selbst-)Verständnis der Mittelschicht, das sich in dieser Phase herausgebildet hat, Jahrzehnte später, als diese Dynamik längst erlahmt war, immer noch eine gewisse Integrationskraft für Teile der ostdeutschen Bevölkerung entfaltete.

In der breiten „Mittelschicht“ der Nachkriegszeit sind allerdings gesellschaftliche Kräfte aufgegangen, die historisch noch weiter zurückreichen und das Bild der Mittelschicht, wohl auch ihre anhaltende Anziehungskraft, bis heute mitprägen. Entscheidend ist dabei der Beitrag des „Bürgertums“ des 18. und 19. Jahrhunderts und seiner Werte, die in der Mittelschicht des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise universalisiert worden sind.3 Wer zur Mittelschicht gehört oder gehören möchte, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und in welchem Maße die betreffenden Personen eine ganze Reihe typischer Einstellungen teilen: Wertschätzung von Bildung und Arbeitsethos, Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit und politischem Engagement, Aufgeklärtheit und Toleranz, die insgesamt zu einer recht spannungsvollen Position zwischen Eigenverantwortung und Gemeinschaftsorientierung führen.

In der öffentlichen Besorgnis über Lage und Zukunft der Mittelschicht schwingt stets die Befürchtung mit, dass solche Einstellungen und entsprechende Verhaltensweisen immer weiter zurücktreten, mit nachteiligen Folgen für die ganze Gesellschaft. Es ist wahrscheinlich, dass bereits die Universalisierung diese Werthaltungen verwässert hat. Es ist möglich, dass die nachlassende wirtschaftliche Dynamik sie weiter geschwächt hat, weil die Erwartung immer öfter enttäuscht wurde, Erfolg zu haben, wenn man ihnen folgt. Es ist auch möglich, dass die weitere Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Untergruppen und „Milieus“, die nicht mehr in ein einfaches Oben-Unten-Schema passen,4 den schwierigen Zusammenhang der verschiedenen Werte aufgelöst hat:5 dass manche Gruppen Bildung ohne starke Erwerbsorientierung hoch halten, während andere Erfolg in der Arbeit mit zielgerichteter Schmalspur-Qualifikation suchen; dass manche die Bedeutung von wirtschaftlicher Unabhängigkeit und Eigenverantwortung einseitig betonen, andere die Bedeutung von politischem Handeln und kollektiven Interventionen.

Veränderungen solcher Art, falls es sie denn gibt, werden von Vertretern einschlägig interessierter Disziplinen wie der Soziologie, Politologie oder Zeitgeschichte kaum empirisch untersucht. Ein Untersuchungsdesign, das den qualitativen Aspekten solcher durchaus spannenden Fragestellungen nach Veränderungen (in) der Mittelschicht Rechnung trägt und zugleich verlässliche Aussagen über ihre quantitative Bedeutung erlaubt, ist wahrscheinlich schwer zu entwickeln. Mit rein quantitativen Methoden, wie Ökonomen sie weit überwiegend bevorzugen, lässt sich diese Thematik jedoch überhaupt nicht in den Griff bekommen. Repräsentative Individual- und Haushaltsdaten – dafür typischerweise herangezogen – werden erst in jüngerer Zeit vermehrt um genauere Angaben zu subjektiven Einstellungen ergänzt und erlauben daher auch in Zukunft keine in die Vergangenheit zurückreichenden Verlaufsanalysen. Datensätze, die sich einer differenzierten Erhebung von Werthaltungen widmen, umfassen dagegen meist viel zu wenig Angaben zu harten, sozio-ökonomischen Gegebenheiten, die den Zusammenhang zu gesellschaftlicher Position und wirtschaftlicher Lage der Befragten erkennen lassen, und es fehlt ihnen oft auch an Repräsentativität.

Veränderungen der Einkommensverteilung

Was quantitative Forschung an messbaren Veränderungen zu Tage fördert, die in der Öffentlichkeit rasch als Anzeichen einer Schwächung der Mittelschicht gedeutet werden, ignoriert das Problem einer inhaltlichen Identifikation dieser Schicht oft vollständig. Stattdessen wird in den am meisten beachteten Arbeiten allein auf mittelfristige Änderungen der Einkommensverteilung abgestellt, die zuvor auf stark stilisierte Weise aufbereitet wird.6 Kritik ist an diesen Beiträgen schon wegen ihres rein technischen Zugangs zu üben: Zumindest sollten sie in Titel und Text den Begriff der „Mittelschicht“ vermeiden, den sie mit seinen starken Konnotationen auch nicht ansatzweise einlösen können.

Hinzu kommt, dass die messbaren Verschiebungen der Einkommensverteilung in Deutschland längerfristig bei weitem nicht so dramatisch sind, wie in den hier angesprochenen Beiträgen aufgrund von Daten für kürzere Zeiträume betont wird. Betrachtet wird jeweils der Anteil der Haushalte, deren verfügbares „Äquivalenzeinkommen“ zwischen 70% und 150% des entsprechenden Medianeinkommens liegt. Zuletzt lag dieser Anteil bei knapp 65%, die Anteile der Haushalte mit niedrigeren oder höheren Einkommen bei gut 20% bzw. gut 15%. Bei gewissen, aber nicht allzu massiven zwischenzeitlichen Schwankungen ergeben sich fast dieselben Anteile für alle drei Einkommensgruppen in den Jahren 1993 oder 1986, bis zu denen sich die Entwicklungen jeweils zurückverfolgen lassen.7

Zu beachten ist außerdem, dass die Art und Weise der Berechnung der zugrunde liegenden Einkommensverteilungen für fachlich nicht vorgebildete Rezipienten kaum durchschaubar ist, aber seinerseits eine ganze Reihe potenzieller Probleme birgt. Unter „Äquivalenzeinkommen“ wird ein gewichtetes Haushaltseinkommen verstanden, bei dem die Größe und Struktur des jeweiligen Haushalts berücksichtigt wird, um z.B. Einkommen von Singles mit denen einer mehrköpfigen Familie vergleichbar zu machen. So offenkundig der Korrekturbedarf für aussagekräftige Vergleiche ist, so unklar ist das dafür angemessene Gewichtungsschema. Unter mehreren in der Literatur gängigen Verfahren8 wählen die Autoren der hier angesprochenen Studien eines aus (die so genannte „modifizierte OECD-Skala“), das rein auf Expertenurteilen beruht und keine echte empirische Fundierung im Sinne datengestützter Bedarfsgewichte einzelner Haushaltsmitglieder hat. Es ist daher unbekannt, ob das Gewichtungsverfahren im Zeitablauf unverändert beibehalten werden kann. Es ist unwahrscheinlich, dass sich das Verfahren einheitlich für Haushalte an verschiedenen Enden der Einkommensverteilung verwenden lässt. Es ist schließlich offenkundig, dass auf dieser Basis gemessene Änderungen der Einkommensverteilung auch durch Änderungen der Haushaltsstruktur beeinflusst und sogar hervorgerufen werden können.

Mittlerweile ist gezeigt worden, dass die zwischenzeitlich – etwa während der vergangenen zehn Jahre – zu beobachtenden Schwankungen im Anteil der Haushalte mit „mittleren Einkommen“ in der Tat überwiegend durch Änderungen der Haushaltsstruktur (mit immer weniger großen Haushalten und immer mehr alleinlebenden Personen) sowie durch teilweise damit verbundene Änderungen des Erwerbsverhaltens (sinkende Zahl von Alleinverdiener-Paaren) verursacht worden sind.9 Änderungen der Löhne und Gehälter auf Stundenbasis, Änderungen in der Verteilung anderer Einkommensarten oder auch Änderungen in der Belastung von Bruttoeinkommen mit Steuern oder Sozialbeiträgen spielen daneben nur eine eher untergeordnete Rolle. Selbst wenn man die Mittelschicht also vereinfachend im mittleren Bereich der Einkommensverteilung suchen will, sagen die hier diskutierten Befunde nichts aus, was auf eine nennenswerte Schrumpfung oder auf wachsende, individuelle Risiken des sozialen Abstiegs hindeutet.

Gibt es messbare Probleme der Mittelschicht?

Die wichtigsten Charakteristika der Mittelschicht, wegen der es sich lohnen könnte, um ihren Fortbestand zu fürchten, sind stark qualitativer Art und empirisch nur schwer zu erfassen. Was sich im Rahmen quantitativ ausgerichteter Sozialforschung auf relativ einfache Weise erfassen lässt, lässt sich hingegen nicht ohne weiteres der Mittelschicht zurechnen, falls es sie denn noch unverändert gibt. Ist das alles, was sich bei etwas mehr Bemühen um eine sachgemäße Herangehensweise an dieses Feld über die Mittelschicht, ihre derzeitige Lage und ihre Perspektiven sagen lässt?

Eine wichtige Lektion für Vertreter quantitativ-empirischer Forschung ist in diesem Feld Bescheidenheit bezüglich der Reichweite ihrer gängigen Daten und Methoden. Will man die zuvor angesprochenen Merkmale der „Mittelschicht“ operationalisieren, stellen existierende Datenbasen durchaus eine Reihe wichtiger Informationen zur Verfügung. Nur sind die vom Bürgertum übernommene Wertschätzung von Bildung, die ein Historiker der Mittelschicht attestiert, oder die Arbeitsorientierung, die ein Soziologe hervorhebt, eben nie ganz dasselbe wie die höchsterreichte, beruflich verwertbare Qualifikation oder die beobachtete Erwerbsbeteiligung, die in den etwa von Ökonomen bevorzugten Datensätzen recht gut nachgewiesen sind. Allzu starke Aussagen darüber, ob mit Definitionen auf solcher Basis das Phänomen „Mittelschicht“ wirklich in seiner ganzen sozialen, politischen und kulturellen Bedeutung erfasst wird, sollte man daher besser unterlassen.

Trotzdem lassen sich mit einiger Vorsicht belastbare Aussagen über Tendenzen der sozio-ökonomischen Situation einer Personengruppe in der gesellschaftlichen Mitte gewinnen, die über eine Kombination von Merkmalen aus den Bereichen Bildung, Stellung im Erwerbsleben und Art der ausgeübten Tätigkeit definiert werden kann (bzw. über das Zusammenleben mit Angehörigen dieser Gruppe in einem Haushalt).10 Je nachdem, wie eng dabei auf höhere Qualifikationen, auf Personen mit Leitungsfunktionen (bis hin zum Meister) oder auch mit Expertenstatus (bis hin zum Facharbeiter) abgestellt wird, ergeben sich Anteile der Bevölkerung, die als Kandidaten für die Mittelschicht in zeitgemäßer Abgrenzung erscheinen, zwischen 45% und 60% der Gesamtbevölkerung. Diese ähneln grosso modo allen auf der Basis anderer Ansätze ermittelten Abgrenzungen. Die von dieser Gruppe erzielten Einkommen werden dabei zur abhängigen Variablen, was neue Analysemöglichkeiten eröffnet, und mit der Abhängigkeit („Endogenität“) des pro Kopf verfügbaren Einkommens von der Zahl der Haushaltsmitglieder kann durch die Betrachtung ungewichteter versus gewichteter Brutto- oder Nettoeinkommen flexibel umgegangen werden.

Befunde entsprechender Studien, die auf gewisse Probleme (in) der gesellschaftlichen Mitte deuten, sind dann etwa:11

  • Eine zahlenmäßige Stagnation der Mitte seit etwa 1990 und sogar eine leichte Schrumpfung ab 2000, während gleichzeitig der „Rand der Mitte“ gewachsen ist, d.h. die Zahl der Personen, die zwar die bildungsmäßigen Voraussetzungen für einen Mitte-Status erfüllen, aber dort beruflich nicht ankommen.
  • Unterproportionale Anteile in der Mitte von bestimmten Gruppen, vor allem Frauen und Migranten, deren Bildungs- und Erwerbsbeteiligung bzw. deren Bevölkerungsanteile im Laufe der Jahre deutlich gestiegen sind.
  • Ein sinkender Einkommensvorsprung der Mitte vor dem Durchschnitt aller Erwerbstätigen und zugleich – bei allgemein leicht zunehmender Spreizung der Bruttoerwerbseinkommen – eine sinkende Streuung der Einkommen in der Mitte.

All dies spricht für im Zeitablauf schwächer gewordene Aufstiegsmöglichkeiten in die gesellschaftliche Mitte sowie für fehlende Dynamik in der Mitte selbst. Zwar genießen die Angehörigen der Mitte durch eine recht erfolgreiche berufliche Karriere und gehobene Bildungsabschlüsse weiterhin einen gewissen Schutz gegen die Risiken des Erwerbslebens. Sie können die Erfahrung wachsender Bedrohung durch solche Risiken jedoch zumindest mittelbar machen, durch Partner/-innen, Kinder oder Kollegen/-innen. Probleme eines erschwerten Zugangs zur Mitte, einer sinkenden Attraktivität des Mitte-Status sowie die Gefahr wirtschaftlichen und sozialen Abstiegs, die an Beispielen in nächster Nähe deutlich genug spürbar werden, drücken dann auch und gerade in der Mitte auf die Stimmung.

Ausblick

Die Gründe für diese Entwicklungen lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. Am ehesten lässt sich sagen, dass die bundesdeutsche Gesellschaft als Ganze heute in einem stärkeren globalen Wettbewerb steht als in den Jahrzenten vor 1975 oder vor der Wiedervereinigung. Die wichtigsten Ansatzpunkte, um in diesem Wettbewerb erfolgreich zu agieren, liegen aus ökonomischer Sicht auf der Hand – sie finden sich im Bildungssystem und in gut funktionierenden Arbeitsmärkten. Dass letztere in den vergangenen fünf Jahren, nach fast 40 Jahren steigender Trendarbeitslosigkeit, endlich wieder an Dynamik gewonnen haben, ist so gesehen eine sehr positive Entwicklung. Bis auf Weiteres hängt dies aber auch an einer Ausweitung von Beschäftigungsformen, die die Verlässlichkeit früherer Zeiten gerade nicht bieten.

Vor diesem Hintergrund ist dann auch absehbar, dass die Ängste „der“ Mittelschicht, soweit sie sich an diesem Punkt festmachen lassen, ein Stück weit untröstlich sein dürften. Stärkere Arbeitsmarktdynamik kann zwar die effektive Beschäftigungssicherheit wieder erhöhen, aber die formale Sicherheit wird wohl geringer bleiben. Eine stärkere Einkommensdynamik ist dabei bislang nur ansatzweise zu erkennen. Sollte sie greifbarer werden, stellen aber gerade Angehörige der Mitte denjenigen Personenkreis dar, der Verbesserungen im Bildungssystem, Arbeitsmarktpolitik für die zahlenmäßig immer noch starken Problemgruppen, die finanzpolitischen Folgen der jüngsten, in wechselnden Formen weiter anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise sowie auch die ab sofort immer stärker hervortretenden fiskalischen Effekte der demographischen Alterung durch Abgaben überwiegend wird finanzieren müssen. Das ergibt sich unmittelbar aus ihrer Leistungsfähigkeit im Vergleich zu unteren sozialen Schichten und ihrer Anzahl im Vergleich zu den Kandidaten für irgendeine Form von „Reichensteuern“.

Wenn „die“ Mittelschicht demnach fast zwangsläufig der Lastesel einer Gesellschaft ist, kann man nur hoffen, dass sie sich nicht in Klagen darüber verliert, sondern in ausreichendem Maße auch Einstellungen und Verhaltensorientierungen bewahrt hat, durch die sie sich zugleich als Zugpferd beweisen kann. Ob und, wenn ja, was die Politik eigentlich dafür tun kann, ist dann wohl eine der spannendsten Fragen, auf die die Forschung bislang aber kaum eine Antwort liefert.

  • 1 Vgl. Statistisches Bundesamt u.a. (Hrsg.): Datenreport 2008, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, Kap. 7.1, Tab. 4 (Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, ALLBUS, 2006).
  • 2 Vgl. H. Schelsky: Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, 1953, wiederabgedruckt in: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf, Köln 1965, S. 331-336.
  • 3 Vgl. P. Nolte, D. Hilpert: Wandel und Selbstbehauptung: Die gesellschaftliche Mitte in historischer Perspektive, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.): Zwischen Erosion und Erneuerung: Die Zukunft der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland, Frankfurt/Main 2007, S. 11-101, insbes. S. 23-29.
  • 4 Vgl. R. Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands: Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 4. Aufl., Wiesbaden 2006, insbes. S. 101; oder S. Hradil: Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive, in: Aus Parlament und Zeitgeschichte, Nr. 44-45, 2006, S. 3-10.
  • 5 Befragungsergebnisse des Allensbach-Instituts, die in diese Richtung deuten, präsentiert etwa R. Köcher: Demoskopische Annäherungen an die Mentalität der Mitte, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.): Wege zur gesellschaftlichen Mitte – Chancen, Leistung und Verantwortung, Frankfurt/Main 2008, S. 16-31.
  • 6 Vgl. zuletzt etwa M. M. Grabka, J. R. Frick: Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen?, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 10, 2008, S. 101-108; J. Goebel, M. Gornig, H. Häußermann: Polarisierung der Einkommen – die Mittelschicht verliert, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 24, 2010, S. 2-8.
  • 7 Vgl. M. M. Grabka, J. R. Frick, a.a.O., S. 103, Abb. 4; J. Goebel et al., a.a.O., S. 4, Abb. 1.
  • 8 Vgl. etwa R. Hauser, I. Becker: Die Entwicklung der Einkommensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, in: Konjunkturpolitik/Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung, 41. Jg. (1995), S. 308-342, die eine mehrdimensionale Messung auch in ihren Berechnungen für den „Ersten Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung von 2001 und vielen weiteren Arbeiten angewandt haben.
  • 9 Vgl. A. Peichl, N. Pestel, H. Schneider: Does Size Matter? The Impact of Changes in Household Structure on Income Distribution in Germany, CESifo Working Paper, Nr. 3219, 2010.
  • 10 Vgl. etwa M. Werding, M. Müller: Globalisierung und gesellschaftliche Mitte: Beobachtungen aus ökonomischer Sicht, in: Herbert Quandt-Stiftung: Zwischen Erosion und Erneuerung ..., a.a.O., S. 103-161; oder S. Hradil, H. Schmidt: Angst und Chancen: Zur Lage der gesellschaftlichen Mitte aus soziologischer Sicht, in: Herbert Quandt-Stiftung: Zwischen Erosion und Erneuerung ..., a.a.O. S. 163-232. Einen Zugang eröffnet etwa auch das auf R. Erikson, J. H. Goldthorpe, L. Portocarero: Intergenerational Class Mobility in Three Western European Societies: England, France and Sweden, in: British Journal of Sociology, 30. Jg. (1979), S. 415-441; zurückgehende „EGP-Schema“, vgl. etwa Statistisches Bundesamt u.a. (Hrsg.), a.a.O., Kap. 7.1, Abb. 2.
  • 11 Vgl. erneut M. Werding, M. Müller, a.a.O.; oder S. Hradil et al., a.a.O.

Die Mittelschicht – Missverständnisse, Mythen, Maßnahmen

Die stabile und im internationalen Vergleich breite Mittelschicht in Deutschland gilt als tragende Säule von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Manche verbinden damit jedoch nostalgische Idealvorstellungen einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“1 wie sie Helmut Schelsky 1953 beschrieben hat. Internationalisierung, Wachstum und technischer Fortschritt erfordern jedoch andere Gesellschafts- und Gerechtigkeitsvorstellungen – wie zum Beispiel Chancen- statt Verteilungsgerechtigkeit. Allerdings widersprechen diese Veränderungen vielen Sehnsüchten und Wünschen der Menschen, die sich evolutorisch entwickelt haben.2 Die negativen Schlagzeilen, die einen zunehmenden Abstieg aus der Mittelschicht propagieren, verunsichern weite Teile der Bevölkerung zusätzlich. Dabei zeigt eine differenzierte Analyse und Auswertung der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) mit Hinblick auf die sozialen Schichten, dass diese Prophezeiungen so pauschal nicht zutreffen. Die gesellschaftliche Mitte hat in den vergangenen Jahren demnach weder deutlich abgenommen, noch hat eine „Einkommenspolarisierung“ stattgefunden. Auch die objektiven Aufstiegschancen sind besser als vielfach wahrgenommen und medienwirksam verbreitet.3

Missverständnisse

Bereits die Abgrenzung der Mittelschicht ist in der Wissenschaft umstritten, was zu Missverständnissen führt. Es gibt keine disziplinübergreifend akzeptierte und passende Definition. Mal wird die Stellung im Beruf, mal die Bildung, mal die Wünsche, mal das Einkommen verwendet, um die gesellschaftliche Mitte zu charakterisieren. Sowohl monetäre als auch sozio-demographische Variablen werden somit genutzt, um zum Beispiel eine angestellte Person mit mittlerer bis höherer Qualifikation, die eine dienstleistungsähnliche Tätigkeit ausübt, zur Mittelschicht zu zählen.4 Auch Einstellungen, die mittelschichtstypisch sind, werden sozialwissenschaftlich als definierende Kriterien genutzt. Für international vergleichende Analysen eignen sich jedoch einkommensbasierte Abgrenzungen der Mittelschicht besser. Aber auch hier gibt es unterschiedliche Definitionen: Eurostat zählt alle Personen mit einem Einkommen zwischen 60% und 200% des Medianeinkommens zur Mittelschicht. Häufig wird auch die Abgrenzung von 75% bis 125% des Medianeinkommens gewählt.5 Gemäß der von der Bundesregierung verwendeten Definition im Armuts- und Reichtumsbericht werden Einkommen zwischen 70% und 150% des Medianeinkommens zur Mittelschicht gerechnet. Im Jahr 2009 gehörte laut dieser Definition jeder Alleinstehende, der ein Nettoäquivalenzeinkommen zwischen 860 und 1844 Euro zur Verfügung hat, zur Mittelschicht.6 Das monatlich verfügbare Einkommen wird äquivalenzgewichtet, wobei den Mitgliedern eines Haushalts bestimmte Gewichte zugeordnet werden, um jeweils den unterschiedlichen Verbrauchsstrukturen der Haushalte Rechnung zu tragen. Da Goebel et al. (2010) dieses Einkommen verwenden, um vor „Statuspanik“ zu warnen, beziehen wir uns ebenfalls auf das regelmäßige monatliche Einkommen.

Sieht man von leichten Schwankungen ab, so gehörten – die oben genannte Definition vorausgesetzt – seit 1993 zwischen 60% und 67% der deutschen Bevölkerung zur Mittelschicht, während sich der übrige Teil mit jeweils etwa 20% auf die untere und die obere Einkommensschicht verteilt. Auch im internationalen Vergleich weist Deutschland eine besonders breite Mittelschicht auf, die nur in skandinavischen Ländern noch größer ist, dort allerdings auch von einem anderen Familienmodell getragen wird, in dem beide Partner berufstätig sind.7 Dem Staatshaushalt kommt eine breite Mittelschicht durch die damit verbundenen hohen Steuereinnahmen zu Gute. Das Einkommenssteueraufkommen wird zwar zu über 54% durch die 10% der Topverdiener getragen, nimmt man die Mittelschicht jedoch hinzu, tragen diese beiden Gruppen über 93% der Einkommensteuerlast.8 Bezogen auf die indirekten Steuern auf Konsumgüter, wie Mehrwert-, Öko-, oder Tabaksteuer, ist die Mittelschicht die tragende Säule der Staatsfinanzen. Bei der Einkommensteuer führt die kalte Progression dazu, dass die Mittelschicht jedes Jahr mehr Steuern an den Staat zahlen muss. Die kalte Progression entsteht durch eine Kombination aus Einkommenssteigerungen, progressivem Steuertarif und Inflation: Wenn sich die Arbeitseinkommen in gleichem Maße erhöhen wie die Preise, bleibt zwar das reale Bruttoeinkommen konstant, nicht aber die Kaufkraft der Arbeitnehmer. Denn der deutsche (progressive) Steuertarif bewirkt, dass die Steuerlast mit steigendem Einkommen überproportional stark zulegt. Dadurch steigt das Nettoeinkommen weniger stark als das Bruttogehalt. Durch eine an die Inflationsrate angelehnte jährliche Anpassung der Formel des Einkommensteuertarifs könnte die systematische Zusatzbelastung der Mittelschicht vermieden werden.

Obwohl sich die Einkommensteuersätze in den letzten 20 Jahren eher zu Gunsten der ärmeren Einkommensgruppen und hin zu einer höheren Besteuerung der mittleren und höheren Einkommen entwickelt haben,9 wird die Mittelschicht nicht systematisch ausgebeutet, wie in den Medien vielfach behauptet; zumindest dann nicht, wenn die Gegenleistungen des Staates berücksichtigt werden. Denn die Steuern fließen als Transferleistungen und Subventionen besonders häufig an die Haushalte der Mittelschicht zurück; wie in Form von Kindergeld oder Kinderfreibetrag, Eigenheimzulagen, Rentenzuschüssen und Bausparprämien. Allerdings ist damit vielfach eine unsystematische Umverteilung innerhalb der Mittelschicht verbunden, ohne dass dem einzelnen Haushalt bewusst ist, ob er von den staatlichen Eingriffen profitiert oder letztlich Nettozahler ist.10 Dies führt dazu, dass 80% der Bevölkerung die Steuerlast der kleineren und mittleren Einkommen als zu hoch erachten und sich benachteiligt fühlen.11

Mythen

Arbeitslosigkeit, befristete Beschäftigung und wirtschaftliche Stagnation führen zu Sorgen vor einem massenhaften sozialen Abstieg. Eine zunehmende Polarisierung an den Einkommensrändern hält sich als Mythos hartnäckig in den Medien. Die Wahrnehmung dieser Entwicklung könne bei den Betroffenen Statuspanik auslösen und sogar zu diskriminierenden Haltungen gegenüber anderen Schichten führen.12 Eine solche Dystopie, die den Zerfall der Gesellschaft beobachten will, kann aus unserer Sicht aus den vorliegenden Daten so nicht abgelesen werden.13 Im Zeitablauf ist kein eindeutiger, starker (zunehmender oder abnehmender) Trend bezüglich der Mittelschicht zu beobachten. Der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung war im betrachteten Zeitraum von 1993 bis 2009 relativ konstant und nur leichten Schwankungen um Werte von 60% bis 67% unterworfen. Dabei pendelte der Umfang der unteren Einkommensschicht um einen Anteil von etwa 20%, während die oberen Einkommensschichten zwischen 16% und 19% der Bevölkerung ausmachten. Ein deutlicher Trend, wie er häufig erwähnt wird, ist dabei nicht sichtbar (vgl. Abbildung 1). Im Krisenjahr 2009 gelang es mit Hilfe sozialstaatlicher Maßnahmen, die untere Einkommensschicht vor den Folgen der Krise zu schützen und einen Zuwachs der mittleren Schicht um 0,6% zu erreichen. Die Mittelschicht blieb also in den vergangenen Jahren relativ stabil. Selbstverständlich garantiert diese Beobachtung keine langfristige Stabilität, doch aktuell gibt es keine Indizien für ein bedrohliches Schrumpfen des Anteils der Mittelschicht.

Abbildung 1
Einkommensschichten in Deutschland 1993 bis 2009
Anteile der Bevölkerung in %
Enste Abb-1.ai

Quelle: J. Goebel et al.: Polarisierung der Einkommen. Die Mittelschicht verliert, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 24, 2010, S. 4.

Auch eine dramatisch zunehmende Einkommensungleichheit kann nicht festgestellt werden. Der Anstieg der Einkommensungleichheit von 1998 bis 2005, gemessen am Gini-Koeffizienten als Maß für die Einkommensverteilung, ist nicht auf marktliche oder staatliche Fehlentwicklungen zurückzuführen, sondern zu einem Teil auf geänderte Präferenzen bei der Heirat und dem Zusammenleben, d.h. an der Veränderung der Einkommensstruktur der Haushalte. Häufiger finden Paare mit ähnlich hohem oder ähnlich niedrigem Einkommen zusammen, wodurch der Einkommensausgleich innerhalb der Haushalte seltener stattfindet und die Einkommensspreizung zunimmt.14 Die Ehe zwischen Chefarzt und Krankenschwester oder Manager und Sekretärin gibt es immer seltener, stattdessen suchen sich die Menschen eher Lebenspartner aus der gleichen Einkommensschicht. Deutschland hat bezogen auf den Gini-Koeffizienten im internationalen Vergleich eine relativ ausgeglichene Einkommensverteilung. Im Jahr 2009 lag der Durchschnitt von 30 OECD Ländern bei 0,301, während Deutschland einen Gini-Koeffizienten von 0,298 aufwies.15 Innerhalb Deutschlands blieb der Gini-Koeffizient von 2005 bis 2009 konstant bei etwa 0,29 und zeigte somit keinen Trend zur Polarisierung der Einkommen.16 Die Veränderungen in den Einkommensschichten ergeben sich auch ansonsten vielfach durch Änderungen der Sozialstruktur: Es leben deutlich mehr Personen in Singlehaushalten. Und während zwei Singles gemeinsam ein Einkommen von 1720 bis 3688 Euro (jeweils 860 bis 1844 Euro) erwirtschaften müssen, um zur Mittelschicht zu zählen, benötigt ein Paar nur 1290 bis 2766 Euro. So verändert sich die Schichtenzugehörigkeit zum Beispiel auch nach einer Trennung, wenn jeder Partner mindestens 860 Euro (statt vorher 645 Euro) Einkommen haben muss, um nach wie vor zur Mittelschicht zu gehören.

Die Aufstiegschancen werden zudem unterschätzt. Tatsächlich hat die Aufwärtsmobilität in Deutschland in den letzten Jahren abgenommen und der Einfluss zum Beispiel der sozialen Herkunft hat zugenommen.17 Dennoch werden die Aufstiegsmöglichkeiten weitaus schlechter eingeschätzt als sie tatsächlich sind. Denn trotz einer Abnahme der Mobilität gelang es zwischen 1995 und 2007 insgesamt jedem dritten Deutschen, in ein höheres Einkommensquintil aufzusteigen, obwohl nur jeder Fünfte laut einer Umfrage des Allensbach Instituts einen persönlichen Aufstieg für möglich hält.18

Maßnahmen: A + B = C

Bessere Aufstiegschancen sind unseres Erachtens gerechter als eine Festschreibung der Schichtzugehörigkeit und eine starre Mittelschicht. Um die Durchlässigkeit der Einkommensschichten zu fördern, ist vor allem ein Fokus auf Bildung und Arbeitsmarkt notwendig.19 Besonders betroffen von geringen Aufstiegschancen und höherer Abstiegsbedrohung aus der Mittelschicht sind Arbeitslose, Geringqualifizierte und Migranten.20 Erwerbstätigkeit ist einer der größten Garanten für sozialen Aufstieg und die Vermeidung von Armut. Der Status am Arbeitsmarkt und damit die Wahrscheinlichkeit, zur gesellschaftlichen Mitte zu gehören, hängt in hohem Maße vom jeweiligen Bildungsniveau ab. 65,7% derjenigen, die ihr Abitur absolviert haben, bezogen im Jahr 2008 mittlere Einkommen. Von denen, die einen Meister- oder Technikerabschluss erlangt hatten, fanden sich rund 66% in der Mittelschicht wieder (vgl. Tabelle 1). Im Zeitraum von 1995 bis 2007 konnten 73% der Universitätsabsolventen und 41% der Fachhochschulabsolventen mindestens eine Schicht aufsteigen.21

Tabelle 1
Einkommensschichten und Bildungsstand 2008

in %

Bildungsstand Einkommensschicht
Niedrige Einkommen Mittlere Einkommen Hohe Einkommen
Ohne Sekundarstufe-II-Abschluss 37,8 56,32 5,88
Sekundarstufe-II-Abschluss 18,22 65,73 16,05
Meister/Techniker 12,35 66,09 21,56
Hochschulabschluss 8,4 44,94 46,67
Insgesamt (Durchschnitt) 19,41 60,22 20,37

Quelle: D. H. Enste et al.: Mythen über die Mittelschicht. Wie schlecht steht es wirklich um die gesellschaftliche Mitte?, in: Roman Herzog Institut: Information, Nr. 9, 2011, S. 10.

Eine starke positive Korrelation von Bildung, Einkommen und sozialer Stellung ist und durch zahlreiche empirische Evidenz bestätigt.22 Verbesserungen im Bildungssystem müssen auf die Erhöhung der Chancengerechtigkeit zielen. Besonders Kinder aus Migrationsfamilien und Familien mit geringem Bildungshintergrund haben schlechte Chancen, die Hochschulreife zu erlangen. Nicht mehr Umverteilung oder finanzielle Entlastung, sondern vielmehr ein funktionsfähiger Arbeitsmarkt (A) und ein gutes Bildungssystem (B) sorgen für Chancengerechtigkeit (A + B = C) und bessere Aufstiegschancen in die Mittelschicht.

  • 1 H. Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Dortmund 1953.
  • 2 D. H. Enste et al.: Unterschiede im Denken zwischen Ökonomen und Laien, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 10. Jg. (2009), H. 1, S. 60-78.
  • 3 D. H. Enste et al.: Mythen über die Mittelschicht. Wie schlecht steht es wirklich um die gesellschaftliche Mitte?, in: Roman Herzog Institut: Information, Nr. 9, 2011, S. 5.
  • 4 M. Werding: Grundzüge einer Politik für eine durchlässige und attraktive gesellschaftliche Mitte, in: Wege zur gesellschaftlichen Mitte. Chancen, Leistungen und Verantwortung, Sinclair-Haus-Gespräche, Nr. 28, 2008, Bad Homburg v. d. Höhe, S. 58.
  • 5 A. Brandolini: On the Identification of the „Middle Class“, Conference paper for „Inequality and the Luxembourg Income Study“, 2010, S. 4, http://www.lisproject.org/conference/papers/brandolini.pdf, Stand: 8.7.2011.
  • 6 J. Goebel et al.: Polarisierung der Einkommen. Die Mittelschicht verliert, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 24, 2010, S. 2-9.
  • 7 A. Brandolini, a.a.O., S.17.
  • 8 Bundestagsdrucksache 17/691 vom 10.2.2010.
  • 9 V. Stern: Die Mitte verliert. Nach Tarifkorrektur 2010 erhöhter Nachholbedarf bei Entlastung mittlerer Einkommen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Sonderinformation, Nr. 57, 2009, S. 5-6.
  • 10 J. Pimpertz, N. Horschel, C. Schröder: Soziale Umverteilung in Deutschland, Bestandsaufnahme und Ansätze zu einer rationalen Neukonzeption, in: IW Analysen, Nr. 49, 2009, S. 27-66.
  • 11 Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik e.V.: Steuermentalität und Steuermoral in Deutschland 2008, Köln 2009.
  • 12 J. Goebel et al. a.a.O., S. 2-4, 7-8.
  • 13 D. H. Enste et al.: Mythen über die Mittelschicht ..., a.a.O., S. 5.
  • 14 M. Schröder: Einkommensungleichheit und Homogamie, in: IW-Trends, Nr. 1, 2011, S. 7.
  • 15 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Society at a Glance 2009, OECD Social Indicators, Paris 2009.
  • 16 Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Daten zur Sozialberichterstattung 2009, Gini Koeffizient der Äquivalenzeinkommen, http://www.amtliche-sozialberichterstattung.de/Tabellen/tabelleA3.html, abgerufen: 19.7.2011.
  • 17 Vgl. H.-P. Klös, D. H. Enste: Aufstiegs- und Generationenmobilität, in: Wege zur gesellschaftlichen Mitte. Chancen, Leistungen und Verantwortung, Sinclair-Haus-Gespräche, Nr. 28, 2008, S. 33.
  • 18 M. Neumann, H. Schäfer, J. Schmidt: Recht auf Aufstieg. Vom Tellerwäscher zum Millionär?, Roman Herzog Institut: Diskussion, Nr. 13, 2010, S.11 f.
  • 19 M. Werding, a.a.O., S. 61.
  • 20 H. Schäfer, J. Schmidt: Strukturen und Determinanten der Einkommensmobilität in Deutschland, in: Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): Agenda 20D. Wege zu mehr Wachstum und Verteilungseffizienz, 2009, S. 163.
  • 21 M. Neumann, H. Schäfer, J. Schmidt, a.a.O., S. 17.
  • 22 Vgl. hierzu L. Wössmann: „Aufstieg durch Bildung“ – zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Wege zur gesellschaftlichen Mitte. Chancen, Leistungen und Verantwortung, Sinclair-Haus-Gespräche, Nr. 28, 2008, S. 50-57. 

Die Mitte im Zugriff des Fiskus

Der Mittelschicht wird in der Gesellschaft oftmals eine stabilisierende Funktion zugeschrieben. Weitgehende Übereinstimmung besteht insoweit, dass insbesondere Einkommen, Vermögen und Bildung als Kriterien für die Zuordnung zu den sozialen Schichten maßgeblich sind. Wenn es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und dies speziell im Rahmen der Besteuerung geht, wird naturgemäß in erster Linie nach der Einkommenshöhe differenziert. Wie hat sich die Steuerbelastung in den verschiedenen Einkommensbereichen entwickelt? Wie schneidet die Mitte dabei ab? Wie viel Umverteilung findet überhaupt statt? Diese Fragen werden nachfolgend diskutiert.

Zunächst sei angemerkt, dass es keine allgemeingültige Definition und Abgrenzung von „Mittelschicht“ gibt. Es besteht daher die Gefahr, dass mit demselben Begriff unterschiedliche Einkommensschichten gemeint sind, und dass es deshalb zu Missverständnissen kommt. Dies gilt beispielsweise für die besonders enge Definition, wie sie vom DIW in Anlehnung an den Medianwert der Einkommensverteilung verwendet wird.1 Demnach werden ledige Vollzeiterwerbstätige mit Durchschnittsverdiensten nicht mehr zur Mitte gerechnet, weil deren Nettoeinkommen die Obergrenze der so definierten Mittelschicht überschreiten.2 Wer in der politischen Diskussion mehr Umverteilung „von oben nach unten“ fordert, wird solche Durchschnittsverdiener im Zweifelsfall aber bei weitem nicht zur Oberschicht rechnen. Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, wird daher nachfolgend auf eine Definition der Mittelschicht verzichtet und stattdessen bei den jeweiligen Betrachtungen der konkret gemeinte Einkommensbereich benannt.

Langfristig veränderte Belastungsidee

Wie sehr die der Einkommensbesteuerung zugrunde liegende Belastungsidee im langfristigen Vergleich verändert wurde und wie davon gerade Bezieher mittlerer Einkommen betroffen sind, wird bei Betrachtung von zwei wesentlichen Tarifeckwerten – Grundfreibetrag und Einkommensgrenze für den Spitzensteuersatz – ersichtlich. Die besondere Funktion des Grundfreibetrages besteht darin, dass damit festgelegt wird, bis zu welcher Höhe das Existenzminimum steuerlich verschont bleibt, bzw. von welchem Einkommen an belastbare steuerliche Leistungsfähigkeit gesehen wird und somit der steuerliche Zugriff beginnt. Im Jahr 1958, als der Tarif in seiner noch heute gültigen Struktur eingeführt wurde, betrug der Grundfreibetrag 859 Euro. Bis 2010 wurde er auf 8004 Euro angehoben und so mehr als verneunfacht. Multipliziert man den derzeitigen Grundfreibetrag von 8004 Euro mit der Anzahl der steuerpflichtigen Personen, ergibt sich ein Gesamtbetrag von nahezu 400 Mrd. Euro.3 Damit bleibt inzwischen mehr als ein Drittel des gesamten zu versteuernden Einkommens wegen des Grundfreibetrages steuerlich unbelastet. Im Gegensatz dazu war der entsprechende Anteil 1992 nur rund halb so groß.4

Mit entsprechend erhöhten Steuersätzen wird auf das verbleibende belastbare Einkommen zugegriffen, um das Lohn- und Einkommensteueraufkommen von rund 214 Mrd. Euro (2010) zu erzielen.5 Bewirkt wurde die Verschärfung des steuerlichen Zugriffs jenseits des Grundfreibetrages vor allem dadurch, dass die Einkommensgrenze für das Erreichen des Spitzensteuersatzes nicht nur nicht angehoben, sondern sogar absolut abgesenkt worden ist. Wurde der Spitzensteuersatz (von damals 53%) im Jahr 1958 ab 56 263 Euro erreicht, ist dies seit 2010 (mit inzwischen 42%) schon ab 52 882 Euro der Fall. Somit galt der Spitzensteuersatz zunächst nur für wirkliche Spitzenverdiener ab rund dem zwanzigfachen Einkommen eines Durchschnittsverdieners. Heute ist das schon bei weniger als dem eineinhalbfachen Durchschnittsverdienst der Fall. Durchschnittsverdiener werden so quasi von unten und von oben in die Zange genommen: Ihr Einkommensabstand zu den steuerlich verschonten „Armen“ und den mit dem Spitzensteuersatz belasteten „Reichen“ wird immer kleiner. Denn unten wurde – wie dargelegt – insbesondere durch die deutliche Anhebung des Grundfreibetrages entlastet, ganz oben durch die Absenkung des Spitzensteuersatzes. Dazwischen ist die tarifliche Belastung – nicht zuletzt durch die krasse reale Absenkung der Einkommensgrenze für den Spitzensteuersatz – verschärft worden.

Entlastungen und Belastungen seit 1990

Wie sich die Belastung mit Lohn- und Einkommensteuer in den vergangenen 20 Jahren in den verschiedenen Einkommensbereichen konkret entwickelt hat, zeigt der Blick auf die seitherigen Änderungen. So ist es nach der durchgreifenden Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs zum 1.1.1990 in den Folgejahren bis 2010 zu insgesamt zehn Tarifkorrekturen gekommen.6 Im Zuge dieser Korrekturen wurde insbesondere der Grundfreibetrag von zunächst 2871 Euro auf inzwischen 8004 Euro angehoben. Dadurch kam es im Bereich niedriger Einkommen zu deutlichen Entlastungen. Zur Begrenzung der Steuerausfälle wurde im anschließenden Tarifbereich aber ein „Knick“ eingeführt, wodurch der Grenzsteuersatz im Anfangsbereich der Besteuerung rasant ansteigt (der „Trick mit dem Knick“). Die Entlastungswirkung des erhöhten Grundfreibetrages wurde so bereits für mittlere Einkommen zum erheblichen Teil ausgeglichen. Gleichwohl kam es von 1990 bis 2010 durch die tariflichen Korrekturen auch im mittleren Einkommensbereich zu begrenzten Tarifentlastungen. Recht spürbare Tarifentlastungen gab es – ebenso wie bei Geringverdienern – für Bezieher hoher Einkommen. Sie profitieren von der mehrstufigen Absenkung des Spitzensteuersatzes von zunächst 53% auf mittlerweile 42% (seit 2005).7

Neben den tariflichen Entlastungen kam es aber auch zu Belastungsverschärfungen. So wurde 1991 der Solidaritätszuschlag von zunächst 7,5% eingeführt, der sich seit 1998 auf 5,5% beläuft und auch derzeit in dieser Höhe erhoben wird. Insbesondere fielen seit 1990 erhebliche heimliche Steuererhöhungen an, die aus dem Zusammenwirken des progressiven Steuertarifs mit allgemeinen Einkommenserhöhungen resultieren. Da die Progression mit den einzelnen Tarifkorrekturen über weite Einkommensbereiche immer weiter verschärft wurde,8 hat die Dynamik dieser heimlichen Steuererhöhungen entsprechend zugenommen.

Per Saldo haben sich die tariflichen Entlastungen und die Mehrbelastungen durch den Solidaritätszuschlag und die heimlichen Steuerhöhungen unterschiedlich ausgewirkt. Bis zu Jahreseinkommen von 28 678 Euro war die Belastung 2010 niedriger als bei vergleichbaren Einkommen im Jahr 1990.9 Gleiches gilt für Jahreseinkommen von mehr als 112 290 Euro. Anders sieht es für Steuerzahler im mittleren Einkommensbereich zwischen den genannten Beträgen aus. Sie sind unter dem Strich nicht nur nicht entlastet, sondern sogar zusätzlich belastet worden. Die deutlichsten Belastungsverschärfungen ergeben sich bei Einkommen von rund 65 000 Euro, die 2010 um 13% höher belastet waren als 1990. Der mittlere Einkommensbereich zwischen rund 28 000 Euro und 112 000 Euro umfasst die Verlierer der einkommensteuerlichen Tarifanpassungen der vergangenen zwei Jahrzehnte. Hier besteht also Nachholbedarf bei der Entlastung.

Der Beitrag der Steuerpflichtigen zum Steueraufkommen

Wenn derzeit über die Notwendigkeit und die Ausgestaltung steuerlicher Entlastungen gestritten wird, sollte dieser Befund ebenso berücksichtigt werden wie das Ausmaß der ohnehin bereits erfolgenden steuerlichen Umverteilung. Für letztere liefert die Verteilung der gesamten Lohn- und Einkommensteuerbelastung auf die verschiedenen Einkommensschichten einen Anhaltspunkt. Dazu sind aktuelle Zahlen verfügbar. Das Bundesministerium der Finanzen schreibt auf der Grundlage der Lohn- und Einkommensteuerstatistik regelmäßig fort, welchen Beitrag die einzelnen Einkommensschichten zum Aufkommen an Lohn- und Einkommensteuer leisten. Die jüngsten Werte liegen für 2010 vor.10 Danach verfügte das obere Viertel der Steuerpflichtigen11 im letzten Jahr über 59,1% der Einkünfte, trug aber 76,5% der gesamten Steuerbelastung.12 Die oberen 50% verfügten über 83% der Einkünfte und hatten einen Anteil von 94,2% am gesamten Steueraufkommen. Umgekehrt trug das untere Viertel der Steuerpflichtigen 0,2%, die untere Hälfte 5,8% zum gesamten Steueraufkommen bei.

Wie der Vergleich mit den Jahren 1992 und 2005 zeigt, hat sich die ungleiche Steuerlastverteilung im Zeitverlauf merklich verstärkt. 2005 war der Anteil des oberen Viertels noch um rund zwei Prozentpunkte niedriger, 1992 gar um sieben Prozentpunkte. Der Steueranteil der oberen Hälfte war 2005 um einen Prozentpunkt niedriger als 2010, 1992 um sechs Prozentpunkte. Im Gegenzug reduzierte sich der Beitrag zum Steueraufkommen für untere Einkommensschichten drastisch. So war der Anteil der unteren Hälfte der Steuerpflichtigen 1992 mit 11,8% noch mehr als doppelt so hoch wie 2010. Hier findet vor allem die bereits angesprochene Erhöhung des Grundfreibetrags ihren Niederschlag. Diese Verschiebung in der Steuerlastverteilung ist besonders bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass für die Jahre ab 1989 eine zunehmend gleichmäßigere Verteilung der zu versteuernden Einkommen festgestellt wird.13

Zum Gesamtvolumen der Umverteilung bei Lohn- und Einkommensteuer

Einen Eindruck vom gesamten absoluten Volumen der über Lohn- und Einkommensteuer erfolgenden Umverteilung vermittelt folgende Betrachtung: Verteilungsneutral wäre eine Besteuerung mit einem einheitlichen Steuersatz für alle Steuerzahler. Es würde dann also auf die Progression verzichtet14 und stattdessen der gleiche Steuersatz für alle Steuerzahler angewendet (flat tax). Dieser einheitliche Steuersatz müsste – einschließlich Solidaritätszuschlag – 21% betragen, um das gleiche Steueraufkommen zu erzielen wie derzeit. Im Vergleich zu dieser verteilungsneutralen flat tax werden durch den progressiven Tarif in seiner derzeitigen Ausgestaltung ledige Steuerzahler bis zu Jahreseinkommen von rund 33 000 Euro und Verheiratete bis zu 66 000 Euro entlastet. Dies betrifft die etwas mehr als vier Fünftel aller Steuerzahler, die weniger als 21% Lohn- beziehungsweise Einkommensteuer zahlen. Sie werden durch die progressionsbedingte Umverteilung um insgesamt rund 42 Mrd. Euro im Jahr entlastet. Im gleichen Umfang wird knapp ein Fünftel der Steuerzahler mit Einkommen über den genannten Beträgen durch die progressive Besteuerung zusätzlich belastet. Das Gesamtvolumen der Umverteilung infolge des progressiven Tarifs beläuft sich derzeit folglich auf die genannten rund 42 Mrd. Euro im Jahr. Zum Vergleich: Die jährlichen Ausgaben für BAföG-Leistungen werden auf 2,8 Mrd. Euro, die Ausgaben für das Elterngeld auf 4,5 Mrd. Euro15 und die Ausgaben für Sozialhilfe auf 20,9 Mrd. Euro16 beziffert.

Verstärkt wird der Umverteilungseffekt der progressiven Besteuerung zudem durch die marktbedingten Einkommensunterschiede. Diese sogenannte Einkommensspreizung treibt die gesamte Einkommensbelastung nach oben.17 Das Ausmaß dieses Effekts wird ersichtlich, wenn mit der Situation bei gleicher Einkommensverteilung – also bei gleich hohen Einkommen aller Steuerzahler – verglichen wird. Wird demnach unterstellt, das gesamte zu versteuernde Einkommen der nach der Grundtabelle und der nach der Splittingtabelle Besteuerten sei gleich verteilt, dann wäre das Aufkommen aus Lohn- und Einkommensteuer (einschließlich Solidaritätszuschlag) im Jahr 2010 bei dem geltenden Tarif um rund 64 Mrd. Euro niedriger gewesen, als es tatsächlich war. Dieser Steuer erhöhende Effekt der Einkommensspreizung ergibt sich nur bei progressiver Besteuerung. Im Gegensatz dazu wäre das Steueraufkommen bei einer flat tax (bei gegebenem Gesamteinkommen) von der Gleich- oder Ungleichheit der Einkommensverteilung unabhängig (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Beitrag der Steuerpflichtigen zum Aufkommen an Lohn- und Einkommensteuer
  Kumulierte Anteile an Lohn- und Einkommensteuer in %
  1992 2005 2010
Obere … % der Steuerpflichtigen
5 36,1 42,5 41,8
10 50,2 54,1 54,6
15 57,2 62,5 63,7
20 64,2 69,1 70,8
25 69,5 74,6 76,5
30 74,4 79,2 81,4
35 78,5 83,1 85,4
40 82,2 86,9 88,8
45 85,4 90,2 91,7
50 88,2 93,2 94,2
Untere … % der Steuerpflichtigen
20 0,8 0 0,1
25 1,6 0,1 0,2
30 2,9 0,3 0,6
35 4,7 1,1 1,3
40 6,7 2,4 2,4
45 8,9 4,2 3,9
50 11,8 6,8 5,8

Quellen: 2005 und 2010 Bundesministerium der Finanzen: Datensammlung zur Steuerpolitik, Ausgaben 2005 und 2010; 1992 eigene Berechnungen auf der Grundlage der Lohn- und Einkommensteuerstatistik 1992 (Statistisches Jahrbuch 1999, S. 520).

Die vorangegangenen Ausführungen machen deutlich, in welchen Dimensionen durch die unterschiedlich hohen Steuersätze der progressiven Lohn- und Einkommensteuer im Jahr 2010 umverteilt worden ist. Einen besonders hohen Anteil an dieser Umverteilung hatte der oben skizzierte Bereich mittlerer Einkommen, der bei den seit 1990 erfolgten Tarifkorrekturen zu den Verlierern gehört. Auf diesen Einkommensbereich, der rund ein Viertel aller Steuerpflichtigen betrifft, entfielen 2010 rund 60% des gesamten Lohn- und Einkommensteueraufkommens, während der Anteil am gesamten zu versteuernden Einkommen sich für diese „Mitte“ lediglich auf knapp 50% belief.

Fazit und Schlussfolgerungen

Zusammenfassend ist also festzustellen, dass Umverteilung im Rahmen der Lohn- und Einkommensbesteuerung in erheblichem Maße stattfindet und dies mit zunehmender Tendenz. In Anbetracht des gewaltigen Gesamtvolumens dieser Umverteilung stellt sich die Frage, ob damit Leistung nicht über Gebühr „bestraft“ und der Aufstieg von Leistungsträgern durch die hohen (Grenz-) Steuersätze nicht über Gebühr behindert wird. Diese Gefahr wird in der wissenschaftlichen Diskussion durchaus gesehen.18

Um weitere Belastungsverschärfungen gerade auch für die Mitte zu verhindern, sollten daher kurzfristig zumindest die sogenannten heimlichen Steuererhöhungen, die aus dem Zusammenwirken von Progression und allgemeinem Einkommensanstieg resultieren, ausgeschaltet werden. Wegen der scharfen Progression des derzeitigen Tarifs führen diese ungerechtfertigten Belastungsverschärfungen 2011 dazu, dass für Durchschnittsverdiener bei 3% Lohnerhöhung die Belastung mit Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag um 5,4% steigt. Zur Vermeidung solcher heimlichen Steuererhöhungen sind die Eckwerte des Lohn- und Einkommensteuertarifs an die Einkommensentwicklung zu koppeln, der Tarif ist also „auf Räder zu stellen“.19 Mittelfristig sollten dann Tarifentlastungen folgen, die insbesondere Bezieher mittlerer und gehobener Einkommen betreffen, weil sie die Verlierer der seit 1990 erfolgten Tarifkorrekturen sind. Dazu sind die Steuersätze vom Eingangs- bis zum Spitzensteuersatz abzusenken, der „Knick“ im Tarifverlauf zu beseitigen und die Einkommensgrenze für den Beginn des Spitzensteuersatzes deutlich anzuheben.20

  • 1 Siehe dazu J. Goebel, M. Gornig, H. Häußermann: Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, in: Wochenbericht des DIW, Nr. 24/2010, S. 2 ff.
  • 2 Für Vollzeiterwerbstätige im früheren Bundesgebiet wird der Durchschnittsverdienst für 2010 mit 44 149 Euro ausgewiesen (siehe dazu Statistisches Bundesamt, Fachserie 16, Reihe 2.3, 2010, S. 14). 2005 belief sich der entsprechende Wert auf 40 114 Euro. Dem entsprach (für Ledige in Steuerklasse I) ein Nettoeinkommen von rund 23 000 Euro im Jahr bzw. von rund 1900 Euro monatlich. In der DIW-Studie (Fußnote 1) wird die untere Einkommensgrenze der Mittelschicht für Ledige im Jahr 2005 auf 860 Euro, die obere Grenze auf 1844 Euro monatlich beziffert.
  • 3 Die jüngste umfassende Lohn- und Einkommensteuerstatistik liegt für 2004 vor. Siehe dazu Statistisches Bundesamt, Lohn- und Einkommensteuer 2004, Fachserie 14, Reihe 7.1, Mai 2009. Dort wird die Zahl der nach der Grundtabelle besteuerten Steuerpflichtigen mit positivem zu versteuerndem Einkommen auf 18,3 Mio. und die Zahl der nach der Splittingtabelle Besteuerten auf 14,5 Mio. beziffert. Da es sich bei den Splittingfällen um gemeinsam veranlagte Ehegatten handelt, betrifft dies jeweils zwei Personen, von denen jede einen „eigenen“ Grundfreibetrag erhält. Insgesamt kamen für die statistisch ausgewiesenen Steuerzahler 2004 also rund 47,3 Mio. Grundfreibeträge zur Anwendung. Der Gesamtbetrag des zu versteuernden Einkommens wird für diese Steuerpflichtigen mit rund 891 Mrd. Euro ausgewiesen. Legt man die zwischenzeitliche Entwicklung des Volkseinkommens zugrunde, dürfte das gesamte zu versteuernde Einkommen bis 2010 auf rund 1000 Mrd. Euro zugenommen haben.
  • 4 Zu den entsprechenden Werten der ersten gesamtdeutschen Statistik für 1992 siehe Statistisches Bundesamt: Lohn- und Einkommensteuer 1992, Fachserie 14, Reihe 7.1.
  • 5 Siehe dazu Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 2010, Fachserie 18, Reihe 1.4, S. 242. Dort wird die Lohnsteuer für 2010 mit 177,9 Mrd. Euro ausgewiesen und die veranlagte Einkommensteuer mit 36,1 Mrd. Euro.
  • 6 Zu den nachfolgenden Darlegungen ausführlich Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler: Die Mitte verliert – Nach Tarifkorrektur 2010 erhöhter Nachholbedarf bei Entlastung mittlerer Einkommen, Sonderinformation 57, 2009.
  • 7 Für Bezieher sehr hoher Einkommen (über 250 000 Euro/500 000 Euro – Ledige/Verheiratete) wurde 2007 allerdings ein erhöhter zweiter Spitzensteuersatz von 45% eingeführt, der in der politischen Diskussion als „Reichensteuer“ bezeichnet wird.
  • 8 Zur Entwicklung der Tarifelastizitäten für ausgewählte Einkommensteuertarife von 1990 bis 2010 siehe Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler: Steuer- und Abgabenbelastung weiter angespannt – Deutsche Haushalte im internationalen Vergleich, Sonderinformation 61, 2010, S. 27.
  • 9 Die genannten Einkommensbeträge beziehen sich auf den Grundtarif, der für Ledige gilt. Für Verheiratete, die nach dem Splittingtarif besteuert werden, gelten die getroffenen Aussagen für die doppelten Einkommensbeträge.
  • 10 Siehe dazu Bundesministerium der Finanzen: Datensammlung zur Steuerpolitik, Ausgabe 2010, S. 33.
  • 11 Zu beachten ist bei der Interpretation dieser Zahlen, dass zusammenveranlagte Ehegatten hier als ein Steuerpflichtiger erfasst werden.
  • 12 Zu den nachfolgenden Ausführungen siehe die Tabelle 3.
  • 13 Siehe dazu H. Müller, R. Maiterth: Aufkommens- und Verteilungswirkungen des Einkommensteuertarifs in Deutschland von 1988 bis 2008, in: Steuer und Wirtschaft, Nr. 1, 2011, S. 28 ff. Dort wird auf S. 32 ausgeführt: „Der Gini-Koeffizient des zu versteuernden Einkommens sinkt zwischen 1989 und 2004 mit Ausnahmen von 1998 kontinuierlich, was – zumindest global gesehen – eine zunehmend gleichmäßigere Verteilung der Einkommen anzeigt.“
  • 14 Die Progression wird auf zweierlei Weise erzeugt: die indirekte Progression durch die Wirkung des Grundfreibetrages und die direkte Progression durch die steigenden Grenzsteuersätze des Tarifs. Verzicht auf Progression hieße also, einen einheitlichen Steuersatz auf das gesamte zu versteuernde Einkommen anzuwenden (flat tax).
  • 15 Die Angaben für BAföG-Leistungen und Elterngeld beziehen sich auf das Jahr 2010. Siehe dazu Bundesministerium der Finanzen, a.a.O., S. 68.
  • 16 Die genannten Ausgaben für Leistungen nach dem SGB XII „Sozialhilfe“ beziehen sich auf das Jahr 2009. Siehe dazu Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung, Nr. 380 vom 22.10.2010.
  • 17 Wie die Einkommensspreizung das Steueraufkommen erhöht, sei beispielhaft anhand des Tarifs 2010 verdeutlicht: Wenn zwei ledige Steuerzahler A und B jeweils 40 000 Euro im Jahr an zu versteuerndem Einkommen erzielen, entfällt auf ihr gesamtes zu versteuerndes Einkommen von 80 000 Euro eine Einkommensteuer von 2 x 9007 Euro, insgesamt also 18 014 Euro. Wenn sich das Gesamteinkommen mit 10 000 Euro auf A und mit 70 000 Euro auf B verteilt, fallen Steuern von 315 Euro für A und 21 228 Euro für B an. Die gesamte Steuer beträgt dann 21 543 Euro und ist damit um rund 20% höher als bei einer Gleichverteilung der Einkommen.
  • 18 Siehe dazu D. H. Enste, V. Erdmann, T. Kleineberg: Mythen über die Mittelschicht, in: Roman Herzog Institut: Information, Nr. 9, Januar 2011, S. 14.
  • 19 Dazu ausführlich Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler: Der Tarif muss auf Räder – Heimliche Steuererhöhungen vermeiden, Schriftenreihe, H. 95, 2002.
  • 20 Dazu zuletzt ausführlicher Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler: Steuer- und Abgabenbelastung weiter angespannt – Deutsche Haushalte im internationalen Vergleich, Sonderinformation 61, März 2010, S. 27 f.

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DOI: 10.1007/s10273-011-1256-0