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Der Ostseeraum steht, so wie andere Wirtschaftsräume in Europa, vor enormen demografischen Herausforderungen. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede in der Region. Während die östlichen Ostseeanrainer von negativen Wanderungssalden betroffen sind, ziehen die Länder im westlichen Teil des Ostseeraums Zuwanderer an. Auch die Entwicklungen innerhalb der Länder sind heterogen. Insbesondere die wirtschaftlichen Zentren profitieren vielerorts von einem Bevölkerungszustrom. Welche demografischen Trends beeinflussen zukünftig die Entwicklung dieser Länder? Und wie sind die Ostseestädte hiervon betroffen?

Bevölkerungsstruktur im Umbruch

In den kommenden Jahrzehnten wird die Bevölkerung in zahlreichen Ländern des Ostseeraums zurückgehen.1 Gleichzeitig wird sich der Bevölkerungsaufbau in seiner Struktur verändern. Die Anteile älterer Personen an der Gesamtbevölkerung und an der Erwerbsbevölkerung werden zunehmen. Das hat Folgen für die Wirtschaftsentwicklung der Länder im Ostseeraum. Denn die demografischen Veränderungen setzen die sozialen Sicherungssysteme unter Druck, beeinflussen die Immobilien- und Finanzmärkte und haben Konsequenzen für die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur und das Arbeitskräfteangebot. Dessen Umfang und strukturelle Zusammensetzung werden sich in den kommenden Jahrzehnten verändern. Gleichzeitig wird im Zuge des wissensbasierten Strukturwandels der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften weiter steigen. Gegenwärtig haben die wissensintensiven Dienstleistungen im Ostseeraum bereits einen Beschäftigungsanteil zwischen 32,8% in Litauen und 55,1% in Schweden. In den Ostseestädten liegt dieser Anteil noch höher und die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass sich dort die Beschäftigung zunehmend in wissensintensiven Branchen konzentriert (vgl. Abbildung 1). Besonders ausgeprägt ist diese Spezialisierung in den finnischen und skandinavischen Städten. Aufholbedarf zeigt sich bezüglich wissensbasierter Wirtschaftsstrukturen im östlichen Teil der Ostseeregion.

Abbildung 1
Beschäftigte in wissensintensiven Dienstleistungen
Anteil an allen Beschäftigten 2000 in %, Veränderung dieses Anteils von 2000 bis 2007 in Prozentpunkten1
Stiller Abb-1.ai

1 NUTS-2-Ebene; Polen 2004 bis 2007; Dänemark: NUTS-3-Ebene, 2001 bis 2007.

Quelle: Eurostat: Online Datenbank, http://epp.eurostat.ec.europa.eu; Statistics Denmark: Online Datenbank, 2010, http://www.dst.dk; Berechnungen HWWI.

Ausgeprägte demografische Unterschiede zwischen den Ostseeanrainern

Die wirtschaftsstrukturellen Veränderungen und die demografischen Trends werden Auswirkungen auf die Produktionsbedingungen und die Entwicklungspotenziale der Ökonomien im Ostseeraum haben. Dabei werden sich der demografische Wandel und seine Effekte auf den Arbeitsmarkt aufgrund von unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in den einzelnen Ostseeanrainer unterschiedlich stark zeigen.

Die nationale Bevölkerungsentwicklung resultiert aus der natürlichen Bevölkerungsentwicklung (Saldo der Geburten und Sterbefälle) und dem Wanderungssaldo. In allen betrachteten Ostseeanrainern liegt die Fertilitätsrate unter dem „Bestandserhaltungsniveau“ von durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau. Zwar wiesen Dänemark (1,84), Finnland (1,86) und Schweden (1,94) 2009 eine Fertilitätsrate auf, die den EU-Durchschnitt (1,6) deutlich übertrifft. Das Niveau ist aber in anderen Ländern viel zu gering, um den Rückgang der Bevölkerung aufzuhalten (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Demografische Indikatoren
  Fertilitätsrate Lebenserwartung bei der Geburt in Jahren Wanderungssaldo
  2009 20001 2009 1999 bis 20092
    Männer Frauen Männer Frauen  
Dänemark 1,84 74,3 79 76,5 80,8 121 371
Deutschland 1,36 75,4 81,2 77,3 82,5 1 214 206
Estland 1,62 65,1 76 69,8 80,1 - 18 385
Finnland 1,86 74,1 81 76,5 83,1 91 739
Lettland 1,31 64,9 76 68,3 78,1 - 29 406
Litauen 1,55 66,8 77,5 67,5 78,6 - 62 331
Polen 1,4 69,7 78 71,5 80,1 - 187 469
Russland 1,54 59 72,3 62,8 74,7 479 707
Schweden 1,94 77,4 82 79,4 83,4 403 585
EU 273 1,6 74,5 80,9 76,1 82,2 k.A.

1 Für Deutschland Werte aus dem Jahr 2002.

2 Polen: von 1999 bis 2008; Russland: von 2005 bis 2007.

3 Fertilitätsrate aus dem Jahr 2008; Lebenserwartung aus den Jahren 2002 und 2007; k.A. = keine Angaben.

Quellen: Eurostat: Online Datenbank, 2011, http://epp.eurostat.ec.europa.eu; Statistisches Bundesamt Deutschland: Online Datenbank, 2011, http://www.destatis.de; Berechnungen HWWI.

Während die Fertilitätsrate bereits seit einigen Jahrzehnten in zahlreichen Ostseeländern auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau verharrt, hat die Lebenserwartung dort in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dies führt sukzessive zu einem steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung. Gegenwärtig liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer und Frauen bei der Geburt im westlichen Teil der Ostseeregion oberhalb von jener im östlichen Teil. Den höchsten Wert erreicht sie in Schweden. Dort betrug die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung im Jahr 2009 bei der Geburt 79,4 Jahre und die der weiblichen Bevölkerung 83,4 Jahre. Die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung ist in den Baltischen Staaten deutlich niedriger. Sie liegt zwischen 67,5 Jahren in Litauen und 69,8 Jahren in Estland. Die Frauen haben eine Lebenserwartung zwischen 78,6 Jahren in Litauen und 80,1 Jahren in Estland. In diesen Staaten und auch in Polen nimmt die Lebenserwartung seit Beginn der 1990er-Jahre, insbesondere aufgrund verbesserter Umwelt-, Arbeits- und Ernährungsbedingungen. Sie nähert sich dem Niveau in den westlichen Staaten an, jedoch ebenfalls kontinuierlich zu (vgl. Tabelle 1).

Entwicklung variiert im Raum

Die einzelnen Ostseestaaten sind unterschiedlich von Zu- und Abwanderung betroffen. Wanderungen verstärken im östlichen Teil der Ostseeregion die Tendenzen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung, während der Wanderungssaldo im westlichen Teil positiv ausfällt (vgl. Tabelle 1). Insbesondere die deutlichen Lohnunterschiede im Vergleich zu anderen EU-Staaten sind ein wichtiger Erklärungsgrund für die Abwanderung aus den Baltischen Staaten und Polen.2

Die Folgen der niedrigen Fertilitätsraten und des negativen Wanderungssaldos in den Baltischen Staaten und Polen zeigt die Bevölkerungsentwicklung von 2000 bis 2010. Während Schweden ein Wachstum von 5,4% verbuchen konnte, sind die Bevölkerungszahlen in den Baltischen Staaten zurückgegangen. Am deutlichsten fiel diese Entwicklung mit -5,6% in Lettland aus. In Deutschland blieb die Bevölkerungszahl mit einem Rückgang von -0,4% relativ stabil.

Der Eurostat-Prognose zur Entwicklung der Bevölkerung bis zum Jahr 2030 liegen die Annahmen zugrunde, dass es keine deutlichen Veränderungen im Fertilitätsverhalten geben wird und das Wanderungsmuster im Wesentlichen bestehen bleibt. Aufgrund dieser Prognose werden sich die demografischen Trends im Ostseeraum entsprechend der Entwicklungen im vergangenen Jahrzehnt fortsetzen. In der Konsequenz wird die Bevölkerung in den westlichen Ostseeländern weiter wachsen und in anderen Ländern weiterhin abnehmen. Für Dänemark (+6,5%), Finnland (+6,6%) und Schweden (+13,2%) ergibt die Eurostat-Prognose deutliche Bevölkerungszuwächse. Für die Baltischen Staaten impliziert sie hingegen eine Abnahme der Bevölkerungszahlen in der Größenordnung von -4,5% in Estland, -8,6% in Litauen und -10,1% in Lettland. Auch für Deutschland wird ein Bevölkerungsrückgang (-4,7%) erwartet. Im Zuge dieser Entwicklungen wird zudem die erwerbsfähige Bevölkerung insgesamt im Ostseeraum im Zeitraum von 2010 bis 2030 zurückgehen, insbesondere in den Baltischen Staaten, Deutschland, Polen und Russland.

Hinsichtlich der demografischen Entwicklung gibt es ausgeprägte Unterschiede zwischen einzelnen Regionstypen, die auch im Ostseeraum zu beobachten sind. Im Allgemeinen sind die raumstrukturellen Entwicklungsprozesse in Europa von der zunehmenden Urbanisierung geprägt. Während im Jahr 1950 51,3% der Europäer in Städten wohnten, waren es zur Jahrtausendwende bereits 70,8%. 2050 könnten bereits 85% der Menschen in Europa in einer Stadt leben.3 Dabei konzentriert sich neben dem gesellschaftlichen Leben vor allem das wirtschaftliche Geschehen zunehmend auf die Städte und in weiten Teilen des Ostseeraums in den wenigen Agglomerationsräumen. Andere Regionen sind hingegen relativ dünn besiedelt, vor allem die Baltischen Staaten, Finnland und Schweden.

Im Ostseeraum befinden sich überwiegend Großstädte mittlerer Größe zwischen 98 000 (Tartu) und 829 000 Einwohnern (Stockholm). Ausnahmen stellen Hamburg (1,8 Mio. Einwohner) und St. Petersburg (4,6 Mio. Einwohner) dar, die als einzige Ostseestädte die Millionengrenze überschreiten. Trotz ihrer unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen sind alle betrachteten Städte wichtige urbane Zentren für die sie einschließenden Regionen. Aus den wirtschaftsgeografischen Gegebenheiten im Ostseeraum resultiert die hervorgehobene Bedeutung der urbanen Zentren als Motoren der regionalen Entwicklung. Die Bevölkerung und die Produktion sind in weiten Teilen des Ostseeraums in wenigen Städten konzentriert, insbesondere in den Baltischen Staaten. In Vilnius leben 25% der nationalen Bevölkerung, in Riga sind es 31,7% und in Tallinn sogar 38,9%. Ferner hat der Großteil der Ostseestädte ein überdurchschnittliches BIP pro Kopf: Ihr Anteil am nationalen BIP übertrifft ihren Bevölkerungsanteil, und sie produzieren mit 39,7% (Vilnius) bis hin zu weit über 50% (Riga 54,4% und Tallinn 59,7%) einen bedeutenden Anteil des BIP der Baltischen Staaten. Diese Städte sind deshalb von zentraler Bedeutung für die ökonomische Entwicklung der jeweiligen Volkswirtschaften insgesamt.

Das Gleiche gilt für die polnischen Städte. Sie erwirtschaften rund 50% (Danzig) beziehungsweise ein Drittel (Stettin) des BIP der jeweiligen Woiwodschaft und beherbergen gleichzeitig den Großteil der Bevölkerung der Region. Auch die finnische Hauptstadt Helsinki und ihr Umland reihen sich in diese Aufzählung der wirtschaftlichen Lebensmittelpunkte der Ostseenationen ein. Dort lebt mit 26% mehr als ein Viertel der nationalen Bevölkerung, und diese produziert 35,8% des finnischen BIP. Der Anteil an der Bevölkerung Schleswig-Holsteins beläuft sich für Lübeck und Kiel auf 7,5% und 8,3%, während sie 8,6% beziehungsweise 12,2% des BIP produzieren. In Hamburg entsteht etwa 20% des BIP Norddeutschlands (Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachen und Schleswig-Holstein). Etwa 12% der Bevölkerung dieser Bundesländer leben in der Hansestadt.

Zuzüge sichern ökonomische Leistungsfähigkeit der Ostseestädte

Weil zahlreiche Städte von Zuwanderung – auch aufgrund ihrer Funktion als Zentren des wissensbasierten Strukturwandels – profitieren, erreichen sie in vielen Ländern im Ostseeraum eine dynamischere Bevölkerungsentwicklung als die Länder insgesamt. Dies trifft insbesondere auf die schwedischen, dänischen und finnischen Städte zu. Spitzenreiter ist hierbei die Stadt Malmö, die zwischen 2002 und 2008 um 10,9% gewachsen ist. Darauf folgen Odense (9,7%), Stockholm (9,3%), Göteborg (6,9%), Tampere (5,9%), Kopenhagen (5,3%), Aarhus (4,8%) und Helsinki (4,2%). Allerdings gibt es auch Ausnahmen und Städte, die rückläufige Bevölkerungszahlen aufweisen, insbesondere in Litauen und Lettland. Die größten Bevölkerungsverluste weist die lettische Stadt Daugavpils mit -7,5% auf.

Die aufgezeigten Entwicklungen setzen sich im Wesentlichen in den jeweiligen Bevölkerungsprognosen bis zum Jahr 2030 fort. Demnach verlieren vor allem die osteuropäischen Städte Bewohner, während die dänischen, deutschen, finnischen und schwedischen Metropolen günstigere demografische Prognosen aufweisen. Für diese Städte ergibt die Bevölkerungsprognose von Eurostat Zuwächse in der Größenordnung von 2,5% (Rostock) bis zu 22,5% (Kopenhagen). Eine Ausnahme bildet hier Lübeck mit einem prognostizierten Bevölkerungsrückgang von -5,7%. Für Kaliningrad (-1,8%) und St. Petersburg (-1,6%) ergibt sich ebenso wie für die russische Bevölkerungsentwicklung insgesamt (-2,3%) ein negativer Trend.

Die Prognosen implizieren, dass in vielen Ländern des Ostseeraums eine Polarisierung der Bevölkerungsentwicklung zwischen ländlichen, peripheren Regionen und urbanen Räumen zu erwarten ist, was entsprechende Auswirkungen auf die räumliche Verteilung ökonomischer Aktivitäten hat.

Ihre Anziehungskraft für Zuwanderer, die wesentlich von den ökonomischen Gegebenheiten beeinflusst wird, ist dabei entscheidend für die demografische Zukunft der Ostseestädte. Ein ausreichendes Angebot an qualifizierten Arbeitskräften – das auch durch Zuwanderung gesichert wird – ist wiederum grundlegend dafür, dass die Städte auch zukünftig von den Potenzialen des wissensbasierten Strukturwandels profitieren können. Die Ostseestädte stehen deshalb vor der Herausforderung, sich auch zukünftig als attraktive Lebens- und Arbeitsorte zu positionieren, um im (internationalen) Standortwettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte erfolgreich zu sein. Die Konzentration von Fachkräften spezifischer, wissensbasierter Wirtschaftszweige ist gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die „kritische Masse“ zur erfolgreichen Clusterbildung in diesen Branchen in den Ostseestädten erreicht werden kann.

Anmerkung: Der Artikel basiert in weiten Teilen auf S. Stiller, J. Wedemeier: Zukunft Ostseeraum: Potenziale und Herausforderungen, HWWI Policy Report 16 (im Auftrag der Handelskammer Hamburg und der Europäischen Bewegung Deutschland); sowie J. Faltermeier, S. Stiller: Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Arbeitsmärkte im Ostseeraum, in: M. Hogeforster (Hrsg.): Bildungspolitische Strategien heute und morgen rund um das Mare Balticum, Baltic Sea Academy, 2011.

  • 1 Die Analyse bezieht sich auf die EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Deutschland, Estland, Polen, Finnland, Lettland, Litauen und Schweden. Zudem wird Russland, mit Kaliningrad und St. Petersburg, in die Betrachtungen einbezogen.
  • 2 Vgl. H. Brücker, A. Damelang, K. Wolf: Labour mobility within the EU in the context of enlargement and the functioning of the transitional arrangements, Forecasting potential migration from the New Member States into the EU-15: Review of Literature, Evaluation of Forecasting Methods and Forecast Results VC/2007/0293, European Integration Consortium, Brüssel 2009.
  • 3 Vgl. United Nations: Online Datenbank, 2011.

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DOI: 10.1007/s10273-011-1264-0