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Mit der Einheitlichen Europäischen Akte hatte sich die Europäische Gemeinschaft die Verwirklichung des Binnenmarktes als „Raum ohne Binnengrenzen“ bis zum 31. Dezember 1992 zum Ziel gesetzt. Die Vollendung des Binnenmarktes war zwar im EWG-Vertrag von 1957 bereits angelegt, es waren und sind aber auch nach 1993 noch viele Einzelschritte erforderlich, um das Ziel zu erreichen. Darüber, ob das Binnenmarktprojekt tatsächlich zu mehr innergemeinschaftlichem Handel und Wohlstand geführt hat, gibt es unterschiedliche Meinungen.

EU-Binnenmarktintegration im Lichte des EU-Integrationsindexes

Der europäische Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten ist ein weltweit einzigartiges Projekt regionaler Integrationspolitik. Ein nicht mehr durch Grenzkontrollen oder andere Hemmnisse separierter Gemeinsamer Markt für Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Kapital für eine Gruppe von mittlerweile 27 souveränen Staaten hat grundlegende Voraussetzungen für wachsende Marktverflechtungen in der Europäischen Union geschaffen. Die nahezu vollständige Öffnung der nationalen Märkte gegenüber den Anbietern und Nachfragern der Partnerstaaten ermöglicht einen (freiwilligen) Integrationsprozess durch die individuellen Entscheidungen von Marktteilnehmern, also quasi „von unten“.1 Damit verbunden war in den 1990er Jahren ein weitreichender Liberalisierungs- und Deregulierungsprozess, vor allem in den zuvor stark geschützten Dienstleistungsbereichen, der den zwischenstaatlichen Wettbewerb in diesen Sektoren deutlich erhöhte und den Integrationsprozess weiter förderte.

Erwartungen an den Binnenmarkt

Es gibt einige, allerdings nicht sehr viele Studien, die sich mit der Schätzung der EU-Binnenmarkteffekte auf das konkrete Ausmaß der Intra-EU-Wirtschaftsbeziehungen sowie auf Wachstum und Beschäftigung in der Gemeinschaft befassen. Der hierzu im Vorfeld von der EU-Kommission in Auftrag gegebene sogenannte Cecchini-Bericht2 prognostizierte dabei hohe Wachstums- und Beschäftigungszuwächse, Preisniveausenkungen sowie fiskalische Gewinne durch den Gemeinsamen Markt. Diese positiven Aussichten gründeten sich im Wesentlichen auf den folgenden Erwartungen:

  • Sinkende Transaktions- und Informationskosten (unter anderem durch den Wegfall der Grenzkontrollen und das Äquivalenzprinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Normen und Standards) fördern die wirtschaftliche Verflechtung.
  • Die Ressourcenallokation wird hierdurch verbessert.
  • Es entstehen weitere Kostenvorteile aus zunehmender Spezialisierung (Skaleneffekte).
  • Im öffentlichen Beschaffungswesen wird zunehmend EU-weit ausgeschrieben werden.
  • Es ergeben sich generell Effizienzgewinne durch verstärkten Wettbewerb auf den Güter- und Faktormärkten.
  • Es ergeben sich Anreize für technischen Fortschritt, Produkt- und Prozessinnovationen.

Zugleich wurde vielfach vermutet, dass die zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtungen auch zu zunehmender Konvergenz, etwa in den Pro-Kopf-Einkommen, führen könnten, die die Heterogenität in der Gemeinschaft abbauen würden.3

Die ersten Ex-post-Studien relativierten zunächst das Ausmaß der Erwartungen. So wurden für eine Studie der EU-Kommission wenige Jahre nach Einführung des Binnenmarktes unter anderem 13 500 Unternehmen befragt,4 woraus sich folgende erste Bewertungen des Binnenmarktes ergaben:

  • Es gab keinen „Befreiungsschlag“ durch die gegenseitige Anerkennung von Normen und Standards.
  • Es waren kaum Skaleneffekte nachweisbar.
  • Im öffentlichen Beschaffungswesen ergaben sich kaum Veränderungen in der grenzüberschreitenden Auftragsvergabe.
  • Es wurde kaum verstärkter Wettbewerb von den Unternehmen gemeldet.
  • Allein im Finanzdienstleistungsbereich gab es entscheidende Veränderungen sowie im Bereich der früheren Staatsmonopole (Telekommunikation, Verkehr, Energieversorgung usw.).
  • Die erhoffte „Kettenreaktion“ von Wachstumsimpulsen durch den Abbau von Handelshemmnissen war nicht zustande gekommen. Vermutlich waren vor allem im Warenhandel die Expansionsmöglichkeiten innerhalb der EG-12 durch den zuvor schon sehr intensiven Handel ausgereizt.

Unvollkommenheiten des Binnenmarktes

In einer jüngeren Befragung,5 die den durch die Osterweiterung der EU nun deutlich vergrößerten Binnenmarkt einbezieht, werden die Wettbewerbseffekte mittlerweile höher eingeschätzt, doch werden auch noch bestehende Unvollkommenheiten des Binnenmarktes kritisiert,6 die unter anderem durch eine weitere Harmonisierung der Regelungsverfahren und durch weitere Liberalisierungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe reduziert werden könnten. Zudem zeigen sich Unterschiede zwischen den De-jure-Vereinbarungen und der De-facto-Umsetzung beschlossener Maßnahmen. Auch zur Realisierung der Marktintegration sind schließlich gewisse institutionelle Regelungen notwendig, um den freien Wettbewerb, aber auch hinreichenden Verbraucher- und Gesundheitsschutz im Binnenmarkt zu gewährleisten.7 Die einzelnen EU-Länder setzen die vereinbarten gemeinsamen institutionellen Rahmenbedingungen jedoch oft sehr unterschiedlich schnell um.8

Ein Hinweis darauf sind die offiziellen Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission, die sich zum größten Teil auf den Binnenmarkt beziehen. Abbildung 1 zeigt die Zahl der im Zuge der Vertragsverletzungsverfahren als ersten Schritt versendeten Mahnschreiben. Ein erfreuliches Ergebnis ist der deutliche Rückgang der Vertragsverletzungsverfahren gegenüber 1993, andererseits werden auch nach fast 20 Jahren Binnenmarkt noch viele Richtlinien de facto nicht richtig umgesetzt. Diese mangelnde Integrationsbereitschaft ist dabei zwischen den Mitgliedern sehr unterschiedlich ausgeprägt, wie die Zahl der Mahnschreiben etwa an Griechenland, Italien, Portugal, Spanien im Vergleich zu Dänemark, Schweden, Niederlande oder Deutschland zeigt.

Insgesamt belegen die jüngeren Studien jedoch wieder deutlich positivere Binnenmarkteffekte,9 was vermutlich auch der Osterweiterung der EU zuzuschreiben ist. So ist das Potential für weitere Handelsverflechtungen innerhalb der EU-27 größer als zwischen den Ländern der EU-12, die zum Zeitpunkt der Vollendung des Binnenmarktes ihr gegenseitiges Handelspotential wohl schon weitgehend ausgeschöpft hatten.

Abbildung 1
Vertragsverletzungsverfahren (Mahnschreiben) der Europäischen Kommission
30865.png

Anmerkung: Die Werte von Österreich, Finnland und Schweden beziehen sich auf die Jahre 1995 und 2010.

Quelle: Europäische Kommission (1996 und 2011): Annual Report on Monitoring the Application of EU Law, Annex II, Tabelle 2.1.

Messung der Binnenmarktintegration

Allerdings zeigt sich beim Intra-EU-12-Handel das Phänomen, dass die Integration von Mitte der 1980er Jahre bis 1992 stetig zugenommen hat, ab 1993 – nach einem temporären Einbruch – aber eher stagnierte, bzw. sich sogar trendmäßig zurückentwickelte, wie Abbildung 2 verdeutlicht. Auch für die EU-27 gilt, dass die Handelsintegration schon vor dem faktischen Beitritt zur EU deutlich angestiegen ist, sich danach aber ebenfalls wieder abschwächt, allerdings nicht ganz so stark wie zwischen den EU-12-Ländern. Das Wissen um die künftige Teilnahme am Binnenmarkt bewirkt also schon im Vorfeld die erwarteten Handelszuwächse. Ansonsten wirkt sich der allgemeine Prozess der Globalisierung aus: Weltweit sind Zölle und andere Handelshemmnisse gravierend gesunken, so dass der Europäische Binnenmarkt im Warenhandel zunehmend weniger einzigartige Vorteile aufweist. Da zugleich die sich stark öffnenden und wachsenden Volkswirtschaften zumeist außerhalb der EU liegen, ist es nicht verwunderlich, dass der Extra-EU-Warenhandel mittlerweile, trotz Binnenmarkt, stärker expandiert als der Intra-EU-Warenhandel.

Abbildung 2
Anteil des Intra-EU-Warenhandels am Gesamtwarenhandel
in %
30931.png

Quelle: Eurostat (28.11.2012).

EU-Integrationsindex

Der Europäische Binnenmarkt umfasst jedoch letztlich mehr als den Warenhandel. Zur Erfassung der gesamten Binnenmarktintegration müssen daher die anderen Grundfreiheiten miteinbezogen werden. Generell ist aber festzustellen, dass der Begriff der „wirtschaftlichen Integration“ in wissenschaftlichen Beiträgen und politischen Debatten zwar breit Verwendung findet, eine einheitliche Definition oder Abgrenzung jedoch nicht existiert. Hierdurch sind Integrationsschritte oder -prozesse kaum quantifizierbar. Vor diesem Hintergrund wurde von König/Ohr ein Integrationsindex entwickelt, der den Integrationsgrad der einzelnen Mitgliedstaaten mit den übrigen EU-Partnern bestimmen und auch seine Veränderung im Zeitverlauf abbilden kann.10 Der Gesamtindex beinhaltet verschiedene Subindizes, die die vielfältigen Integrationsbeziehungen auf unterschiedlichen Märkten und im Hinblick auf unterschiedliche ökonomische Zielgrößen abbilden, darunter auch zwei Subindizes, die sich speziell auf die Binnenmarktintegration beziehen.

Tabelle 1
Intra-EU-Verflechtungen in Relation zu den gesamten außenwirtschaftlichen Verflechtungen
1999   2010
Rang Land Index-Punkte   Rang Land Index-Punkte
1 Belgien 72,61   1 Belgien 65,79
2 Irland 71,05   2 Portugal 54,28
3 Portugal 60,88   3 Schweden 52,92
4 Niederlande 59,92   4 Niederlande 51,94
5 Spanien 57,37   5 Frankreich 51,15
6 Schweden 56,78   6 Irland 48,20
7 Frankreich 53,52   7 Dänemark 48,19
8 Dänemark 53,05   8 Spanien 48,16
9 Österreich 51,37   9 Österreich 48,04
10 Finnland 49,72   10 Deutschland 44,60
11 Deutschland 49,09   11 Finnland 43,78
12 Großbritannien 47,10   12 Italien 39,14
13 Italien 45,12   13 Großbritannien 38,81
14 Griechenland 41,59   14 Griechenland 32,29

Quelle: J. König, R. Ohr: Homogeneous groups within a heterogeneous community: evidence from an index measuring European economic integration, cege-Diskussionspapier, Nr. 138, Göttingen 2012; J. König, R. Ohr: Messung ökonomischer Integration in der Europäischen Union – Entwicklung eines EU-Integrationsindexes, cege-Diskussionspapier, Nr. 135, Göttingen 2012; eigene Berechnungen.

Tabelle 1 zeigt einen Subindex11 für die Intra-EU-Binnenmarktverflechtungen (Waren, Dienstleistungen, Direktinvestitionen, Arbeitskräfte) der EU-15-Länder in Relation zu ihren jeweiligen weltweiten außenwirtschaftlichen Verflechtungen.12 Analog zum Warenhandel ist auch für den Binnenmarkt insgesamt festzustellen, dass bei allen EU-Mitgliedern die Intra-EU-Verflechtungen in den letzten Jahren relativ zu den Extra-EU-Verflechtungen abnehmen und dass darüber hinaus eine sehr große und nach wie vor unveränderte Spannbreite im Integrationsgrad zwischen den EU-15-Ländern besteht.

Die relative Bedeutung der Intra-EU-Verflechtungen im Vergleich zu den Extra-EU-Verflechtungen sagt jedoch noch wenig über die ökonomische Bedeutung der EU-Binnenmarktintegration für die einzelnen Volkswirtschaften aus. Ein relativ geschlossenes Land mit insgesamt geringen außenwirtschaftlichen Beziehungen, welche aber vorrangig mit der EU stattfinden, würde hier eine relativ hohe Integration aufweisen. Trotzdem sind diese EU-Verflechtungen im Gesamtbild der wirtschaftlichen Einflussgrößen des Landes jedoch nur relativ unbedeutend. Die ökonomische Relevanz der Wirtschaftsbeziehungen mit den EU-Partnern für eine Volkswirtschaft wird daher eher durch die Intra-EU-Verflechtungen in Relation zum BIP13 (EU-Offenheitsgrad) gemessen. Tabelle 2 zeigt die Resultate dieses Indexes.

Tabelle 2
Intra-EU-Verflechtungen der EU-Mitgliedsländer in Relation zum jeweiligen BIP
1999   2010
Rang Land Index-Punkte   Rang Land Index-Punkte
1 Belgien 64,65   1 Belgien 81,66
2 Irland 51,31   2 Irland 60,75
3 Niederlande 36,44   3 Niederlande 44,33
4 Schweden 24,73   4 Schweden 33,71
5 Österreich 22,21   5 Österreich 32,45
6 Deutschland 22,14   6 Dänemark 28,52
7 Frankreich 21,26   7 Deutschland 26,91
8 Dänemark 19,64   8 Frankreich 24,15
9 Großbritannien 17,79   9 Spanien 22,23
10 Portugal 16,91   10 Großbritannien 21,89
11 Finnland 15,16   11 Portugal 21,52
12 Spanien 15,08   12 Finnland 20,65
13 Italien 10,02   13 Italien 11,55
14 Griechenland 9,20   14 Griechenland 7,97

Quelle: J. König, R. Ohr: Homogeneous groups within a heterogeneous community: evidence from an index measuring European economic integration, cege-Diskussionspapier, Nr. 138, Göttingen 2012; J. König, R. Ohr: Messung ökonomischer Integration in der Europäischen Union – Entwicklung eines EU-Integrationsindexes, cege-Diskussionspapier, Nr. 135, Göttingen 2012; eigene Berechnungen.

Hinsichtlich der EU-Offenheit ist die Heterogenität innerhalb der EU-15 noch größer, und sie hat in den letzten Jahren sogar weiter zugenommen. Mit der Ausnahme Griechenlands hat sich jedoch die Bedeutung der EU-Binnenmarktverflechtungen für die eigene Volkswirtschaft in allen Mitgliedsländern erhöht, zum Teil sogar sehr deutlich. Am unteren Rand bzw. im unteren Bereich finden sich 1999 und auch 2010 aber weitgehend dieselben Länder, insbesondere Griechenland, Italien, Portugal oder Spanien. Obwohl der Gemeinsame Markt schon 20 Jahre besteht, zeigt sich somit nach wie vor eine recht unterschiedliche Integrationsbereitschaft oder -fähigkeit der EU-Mitglieder. Dabei ist ein deutliches Nord-Süd-Gefälle bzw. eine Diskrepanz in der EU-Integration zwischen den meisten Gründungsmitgliedern der EWG (außer Italien) einerseits und den derzeitigen Euro-Krisenstaaten (mit Italien) andererseits festzustellen. Diese Diskrepanz war zudem bereits 1999 deutlich sichtbar.

Braucht der Binnenmarkt den Euro?

Die Einführung der europäischen Währungsunion wurde vielfach mit dem Argument gestützt, erst durch die gemeinsame Währung könne der Binnenmarkt vollkommen werden. Die Vorteile einer Währungsunion werden in der Senkung von Transaktionskosten gesehen, im Wegfall von Wechselkursrisiken und den damit reduzierten Risikoprämien sowie in der Ausschaltung spekulativer Falschbewertungen – all dies könnten schließlich Handelshemmnisse sein, die die Binnenmarktintegration behindern.

Die aufgrund des Wegfalls von Transaktionskosten prognostizierten Handelszuwächse sind allerdings nicht in der erwarteten Höhe eingetreten.14 Zwar hat der Handel zwischen den Europartnern zugenommen, doch ist der Handel mit Nicht-Europartnern – wie oben beschrieben – deutlich stärker gewachsen. Die Existenz einer gemeinsamen Währung ist für den Handel und die ausländischen Direktinvestitionen also anscheinend nicht so entscheidend, sondern die Existenz zahlungskräftiger, wachstumsstarker Geschäftspartner – und diese befinden sich vor allem außerhalb der Eurozone, in Asien, aber auch in Osteuropa. Somit sind für die Ausnutzung der Vorteile des Binnenmarktes Stabilität und Wachstum bei den Binnenmarktpartnern wichtiger als eine einheitliche Währung.

Weiterhin ist der Binnenmarkt schon einige Jahre vor dem Euro entstanden. Er funktionierte auch schon vor der Währungsunion gut, und er umfasst auch heute noch viele EU-Länder, die nicht zum Euroraum gehören, wie Großbritannien, Schweden, Dänemark, Polen, Ungarn usw. Diese Länder sind genauso in den Binnenmarkt integriert und profitieren davon wie die Euroländer. So haben sich z.B. im oben dargestellten Integrationsindex die Rangpositionen der Nicht-Euro-Länder Schweden und Dänemark in den beiden Binnenmarktindizes im Jahr 2010 gegenüber 1999, also seit der Euro-Einführung, sogar verbessert. Großbritanniens Rangposition hat sich leicht verschlechtert, was aber nicht unbedingt auf die Nichtteilnahme an der Währungsunion zurückzuführen ist, sondern auf die generell zurückhaltende Einstellung Großbritanniens gegenüber der EU.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die EU mit ihrem Binnenmarktprojekt ein grundlegend positives Beispiel der Marktintegration gibt, wobei allerdings nicht alle EU-Länder dasselbe Integrationsmaß aufweisen. Zugleich funktioniert das ambitionierte und erfolgreich umgesetzte Binnenmarktprojekt mit allen 27 EU-Mitgliedstaaten unabhängig davon, ob sie zur Eurozone gehören oder nicht. Der Binnenmarkt braucht somit den Euro nicht.

Die Probleme in der Eurozone, dieser politischen bzw. institutionellen Integrationsform, beruhen dagegen letzlich auf „zu wenig Markt“. Eine gemeinsame Währung für noch sehr heterogene Wirtschaftsräume kann nur funktionieren, wenn eine hohe Flexibilität der Löhne, Preise und Kapitalrenditen vorliegt und/oder eine hohe Mobilität von Arbeitskräften und Kapital, die den Mangel an innergemeinschaftlicher Wechselkursflexibilität ausgleichen.15

Daher braucht nicht der Binnenmarkt den Euro, sondern ein funktionierender Euro braucht zuvor den Binnenmarkt – d.h., die hinreichende Bereitschaft und die hinreichende Fähigkeit aller Teilnehmerstaaten, sich nachhaltig marktmäßig zu integrieren. Zwar könnte nach der Theorie der Endogenität des optimalen Währungsraums16 eine gemeinsame Währung über intensiveren Handel, verstärkte Finanzmarktintegration, mehr Flexibilität auf den Arbeitsmärkten und eine stärkere Synchronisation der Konjunkturverläufe die Voraussetzungen für die eigene Funktionalität schaffen, doch ist dies für die Europäische Währungsunion nicht hinreichend nachweisbar.17 Ist diese Integrationsbereitschaft oder -fähigkeit bei einigen Ländern aber nicht genügend vorhanden, so besteht die Gefahr, dass die Währungsintegration letztlich scheitert.

Der EU-Integrationsindex belegt diese Problematik, da es vor allem die derzeitigen Krisenländer in der Eurozone sind, die auch eine deutlich geringere Integrationsbereitschaft oder -fähigkeit bezüglich der Binnenmarktintegration zeigen. Und es sind auch diese Länder, die vergleichsweise viele Vertragsverletzungsverfahren aufweisen. Eine weitere Stärkung des EU-Binnenmarktes sollte daher vordringliches Ziel der Politik sein, aber nicht eine Rettung des Euro für alle – „koste es, was es wolle“.

  • 1 Diese Marktintegration steht im Gegensatz zur politischen oder institutionellen Integration, die ein gemeinsames Eingliedern verschiedener Volkswirtschaften unter zentrale supranationale Institutionen „von oben“ verfolgt. Vgl. W. Mussler, M. E. Streit: Integrationspolitische Strategien in der EU, in: R. Ohr (Hrsg.): Europäische Integration, Stuttgart 1996, S. 265 ff.
  • 2 Vgl. P. Cecchini: Europa‚ 92. Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden 1988.
  • 3 Vgl. C. Molitor: Zur Frage der realwirtschaftlichen Konvergenz in der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 46. Jg. (1997), H. 3, S. 324 ff. Dabei sind allerdings auch divergente Entwicklungen nicht immer ausgeschlossen. Vgl. R. Ohr: Wirtschaftliche Konvergenz und Divergenz: Theoretische Konzepte, in: R. Caesar, K. Lammers, H. Scharrer (Hrsg.): Konvergenz und Divergenz in der Europäischen Union – Empirische Befunde und wirtschaftspolitische Implikationen, Baden-Baden 2003, S. 11 ff.
  • 4 Vgl. EU-Kommission: Der Binnenmarkt und das Europa von morgen. Single Market Review. Vorgelegt von M. Monti, Luxemburg 1997. Einen kritischen Überblick zu dieser und weiteren Studien gibt P. Ziltener: Hat der EU-Binnenmarkt Wachstum und Beschäftigung gebracht?, in : WSI-Mitteilungen, Nr. 4/2003, S. 221 ff.
  • 5 Vgl. EOS Gallup Europa: Der Binnenmarkt, Meinungen und Erfahrungen der Unternehmen aus den EU-15, Flash Eurobarometer 180, 2006.
  • 6 Vgl. hierzu auch z.B. F. Ilzkovitz u.a.: Steps Toward a Deeper Economic Integration: The Internal Market in the 21th Century. A Contribution to the Single Market Review, EU-Kommission, Economic Papers, Nr. 271, 2007.
  • 7 So mussten etwa 2011 allein 131 neue Richtlinien umgesetzt werden, vgl. Europäische Kommission: 29. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts, Brüssel 2012, S. 3.
  • 8 Vgl. hierzu auch B. Busch: Der EU-Binnenmarkt. Anspruch und Wirklichkeit, Institut für Wirtschaft, Beiträge zur Ordnungspolitik, Nr. 39, Köln 2009.
  • 9 Vgl. z.B. A. Boltho, B. Eichengreen: The Economic Impact of European Integration, CEPR Discussion Paper, Nr. 6820, 2008.
  • 10 Zur Abgrenzung der einzelnen Indikatoren, sowie zu ihrer Normierung und Gewichtung vgl. J. König, R. Ohr: Homogeneous groups within a heterogeneous community: evidence from an index measuring European economic integration, cege-Diskussionspapier, Nr. 138, Göttingen 2012; und J. König, R. Ohr: Messung ökonomischer Integration in der Europäischen Union – Entwicklung eines EU-Integrationsindexes, cege-Diskussionspapier, Nr. 135, Göttingen 2012, siehe auch www.eu-index.org.
  • 11 Die Indexwerte können zwischen 0 und 100 liegen.
  • 12 Aufgrund der Datenlage konnte der Index vorerst nur von 1999 bis 2010 und nur für die EU-15 berechnet werden. Da Luxemburg bei vielen Indikatoren extreme Messwerte aufweist, wurde zudem dieses Land von der Indexberechnung herausgenommen. Vgl. J. König, R. Ohr: Messung ökonomischer Integration ..., a.a.O., S. 16.
  • 13 Bei den Arbeitskräfteverflechtungen in Relation zur Gesamtzahl der inländischen Erwerbstätigen.
  • 14 Es gibt eine Vielzahl von Studien zu den Handelseffekten des Euro, beginnend mit A. K. Rose: One Money, one Market: Estimating the Effect of Common Currencies on Trade, in: Economic Policy, 15. Jg. (2000), H. 30, S. 9 ff., der sehr hohe Handelseffekte prognostizierte. Spätere Studien relativieren die Effekte deutlich nach unten, so z.B. R. Baldwin u.a.: Study on the Impact oft the Euro on Trade and Foreign Direct Investment, EC Economic Papers, Nr. 321, Brüssel 2008, oder stellen sie sogar in Frage, wie z.B. G. Cafiso: The Euro’s Influence Upon Trade – Rose Effect Versus Border Effect, ECB Working Paper Series, Nr. 941, Frankfurt 2008.
  • 15 Dies besagen schon die traditionellen Theorien des optimalen Währungsraums, vgl. hierzu auch F. Mongelli: What is European Economic and Monetary Union Telling Us About the Properties of Optimum Currency Areas?, in: Journal of Common Market Studies, 43. Jg. (2005), H. 3 S. 607 ff.
  • 16 Vgl. P. De Grauwe, F. Mongelli: Endogeneities of Optimum Currency Areas: What Brings Countries Sharing a Single Currency Closer Together?, ECB Working Paper, Nr. 468, Frankfurt 2005.
  • 17 Vgl. hierzu R. Ohr: Erfolgsbilanz Europäische Währungsunion: Hatten die Maastricht-Kritiker Unrecht?, in: B. Knoll, H. Pitlik (Hrsg.): Entwicklung und Perspektiven der Europäischen Union, Baden-Baden 2009, S. 24.

20 Jahre Europäischer Binnenmarkt: Auswirkungen auf den Handel

Die europäische Nachkriegszeit ist gekennzeichnet durch eine Abfolge von Integrationsschritten, mit denen die Mitgliedsländer der Europäischen Union nach und nach auf bedeutende Teile ihrer nationalen Souveränität verzichteten. Zwar lässt sich grundsätzlich argumentieren, dass die Vorteile des „Zusammenwachsens“ wohl – unter dem Strich – eindeutig überwiegen dürften, schließlich sind nicht nur viele Regelungen unverändert in Kraft, sondern die Integration wurde sogar über Jahrzehnte hinweg weiter vorangetrieben. Dennoch wäre aus wirtschaftspolitischer Sicht eine belastbare Analyse der Auswirkungen einzelner Integrationsschritte, die dann auch möglichst eine konkrete Kosten-Nutzen-Bewertung von verschiedenen Vorschlägen erlaubt, wünschenswert.

Empirisch wird eine solche Quantifizierung allerdings durch zumindest zwei Aspekte erheblich erschwert:

  • Erstens erstrecken sich die Integrationsbestrebungen in Europa auf viele Politikbereiche. Da zudem einige Maßnahmen in engem zeitlichen Abstand implementiert wurden, ist eine isolierte Betrachtung der jeweiligen Effekte nur schwer möglich. Berger und Nitsch1 veranschaulichen diesen Punkt für Schätzungen der Handelseffekte der Europäischen Währungsunion (vgl. Abbildung 1). Während eine Reihe von empirischen Ergebnissen suggeriert, dass sich die Handelsbeziehungen zwischen den Mitgliedsländern nach der Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro, spürbar intensiviert haben, zeigen Berger und Nitsch,2 dass der Handel bereits vor der Euro-Einführung kontinuierlich zugenommen hat. Der Wegfall des Währungsrisikos ging deshalb vor allem mit einer Fortsetzung eines zuvor bereits etablierten Integrationstrends einher.
  • Daneben wird die Analyse, zweitens, durch die schrittweise geographische Ausweitung der Europäischen Union beeinträchtigt. Angesichts des Anstiegs der Zahl der EU-Mitgliedsländer und der gleichzeitigen Gewährung wichtiger Präferenzen an ausgewählte Nichtmitglieder, wie z.B. im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums, wird es immer schwieriger, ein plausibles Vergleichssample an Ländern zu definieren, das ähnliche Merkmale wie die EU-Länder aufweist, aber nicht an deren Integrationsprojekten teilnimmt. Fehlt aber ein solcher Vergleichsmaßstab („counterfactual“) lassen sich die Integrationswirkungen europäisch ausgerichteter politischer Initiativen und Beschlüsse letztlich nur schwer identifizieren.
Abbildung 1
Index europäischer Integration
32407.png

Der Index quantifiziert die verschiedenen institutionellen Veränderungen zwischen den EU-Mitgliedsländern mit dem Ziel der Handelsintegration. Zur Konstruktion des Index vgl. H. Berger, V. Nitsch: Zooming Out: The Trade Effect of the Euro in Historical Perspective, in: Journal of International Money and Finance, 2008, S. 1244-1260.

Praktische Probleme

Bei einer Bewertung der Auswirkungen des Europäischen Binnenmarktes auf die Außenhandelsmuster der beteiligten Länder sind zudem eine Reihe praktischer Probleme zu berücksichtigen.

  • Ein wichtiger Aspekt betrifft die Datenerhebung. Typischerweise werden Volumen und Wert international gehandelter Waren zum Zeitpunkt des Grenzübertritts mit Hilfe der Zollerklärung erfasst. Sobald jedoch sämtliche Handelsschranken und Grenzkontrollen entfallen, worauf die Schaffung eines gemeinsamen „Binnen“marktes ja abzielte, steht diese Datenquelle nicht länger zur Verfügung. Ersatzweise werden nunmehr für den „Intrahandel“ die Meldungen der Unternehmen herangezogen, die ihre Auslandslieferungen innerhalb des Europäischen Binnenmarktes anzeigen, nicht zuletzt um die darauf gezahlte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen. Zwar war zu befürchten, dass diese Umstellung in der Erhebungsmethode möglicherweise zu einem (einmaligen) Bruch in der Datenreihe zum Zeitpunkt der Einführung führen könnte; tatsächlich jedoch ging sie mit einer beträchtlichen Verzerrung der innereuropäischen Handelsdaten in den Folgejahren einher. Auslöser dafür waren betrügerische Aktivitäten in erheblichem Umfang, die vor allem zu einer künstlichen Aufblähung des „Intrahandels“ geführt haben.3 Die Verzerrungen waren teilweise so massiv, dass z.B. in Großbritannien die veröffentlichten Daten für das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts um bis zu 0,2 Prozentpunkte niedriger ausfielen, als das britische Office for National Statistics im Jahr 2003 die Außenhandelsdaten für den Mehrwertsteuerbetrug korrigierte.4
  • Ein weiterer Aspekt, der bei einer Analyse der Außenhandelsdaten zu berücksichtigen ist, ist die Beeinflussung der Handelsmuster durch andere Faktoren. Dazu gehört unter anderem die Wirtschaftskraft der Handelspartner: dynamisch wachsende Regionen werden wohl tendenziell sowohl als Absatzmarkt als auch als Lieferant stärker an Bedeutung gewinnen. Vor diesem Hintergrund greift auch die einfache Kalkulation der Anteile des intraregionalen Handels, also jenes Anteils des Außenhandels, der innerhalb der eigenen Region abgewickelt wird, zu kurz. So ist z.B. die im internationalen Vergleich außerordentlich große Bedeutung des innereuropäischen Handels nicht zuletzt auf die räumliche Nähe einer großen Zahl potenter Handelspartner zurückzuführen. Gleichzeitig ist der zuletzt rückläufige Anteil des innereuropäischen Handels vor allem Ausdruck der wachsenden Bedeutung außereuropäischer Handelspartner.
  • Zwar wird typischerweise versucht, für den Einfluss solcher Standarddeterminanten des Handels mit Hilfe eines Gravitationsmodells zu korrigieren. Dennoch können Sonderfaktoren das Bild verzerren. So könnte der zunehmende Trend, die Wertschöpfungskette in der Produktion auf mehrere, in unterschiedlichen Ländern befindliche Standorte aufzusplitten („vertikale Spezialisierung“), den Handel innerhalb Europas überproportional stark beflügelt haben. Auch das Problem der ordnungsgemäßen Zuordnung von Lieferungen, die zunächst am Ankunftsort der Schiffsladung verbucht werden, um dann in andere Länder weitertransportiert zu werden („Rotterdam Effekt“), trifft Europa in besonderem Maße.
  • Schließlich ist zu berücksichtigen, dass auch vermeintlich einfache Regelungen, wie der pauschale Wegfall aller Handelsbarrieren, in der Praxis Schwierigkeiten bei der Implementierung aufwerfen können. So gibt es häufig einen zeitlichen Spielraum bei der Umsetzung dieser Beschlüsse. Die Europäische Kommission verfolgt z.B. in regelmäßigen Abständen, in welchem Maße die Absprachen bezüglich des Binnenmarktes auch tatsächlich Einzug in die nationale Gesetzgebung gehalten haben.5 Gleichzeitig kann sich beispielsweise herausstellen, dass auch nach dem Abbau sämtlicher formaler Grenzbarrieren einige Faktoren den grenzüberschreitenden Handel nach wie vor behindern, wie z.B. länderspezifische Unterschiede bei technischen Regulierungen und Standards. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und das Funktionieren des Gemeinsamen Binnenmarktes sicherzustellen, werden von der Europäischen Kommission kontinuierlich weitere Maßnahmen ergriffen. Zum Stichtag 1. April 2012 waren deshalb insgesamt 1393 Direktiven und 1613 Richtlinien in Kraft, um einen einheitlichen Binnenmarkt zu gewährleisten.6

Bewertung schwierig

Vor dem Hintergrund all dieser Probleme ist eine konkrete Bewertung der Effekte des Europäischen Binnenmarktes schwierig. Hinzu kommt, dass sich auch unterschiedliche Ansätze wählen lassen, um die Wirkungsweise eines Gemeinsamen Binnenmarktes näher zu beleuchten, die nicht unbedingt ein einheitliches Ergebnis liefern müssen.

Ein möglicher Ansatz, um den Integrationserfolg zu quantifizieren, ist z.B. die Analyse von Preisdifferenzen: der Abbau von Handelsbarrieren sollte letztendlich dazu führen, dass die Preisunterschiede zwischen den nationalen Märkten kleiner werden. Tatsächlich basierte der von der Europäischen Kommission zeitweilig ermittelte „Internal Market Index“, der den gewichteten Durchschnitt von zwölf verschiedenen Indikatoren darstellte, etwa zur Hälfte auf Preisdaten.7 Während die Ermittlung von Preisdifferenzen und Preisspannen lange Zeit wichtige Rückschlüsse für die Funktionsweise des Binnenmarktes lieferte,8 beschränken sich neuere Studien fast ausschließlich auf eine Identifikation von Preiseffekten der gemeinsamen Währung, wobei die Ergebnisse gemischt ausfallen. Beobachtungen zur Preiskonvergenz auf einzelnen Märkten, wie z.B. bei Kraftfahrzeugen, stehen andere Schätzergebnisse gegenüber, denen zufolge keine Angleichung der nationalen Preisniveaus statistisch nachweisbar ist.

Eine Alternative ist die Betrachtung der Entwicklung der Handelsströme: eine wachsende Verflechtung sollte sich in einer besonders starken Zunahme der grenzüberschreitenden Transaktionen ausdrücken. Möglicherweise greift dabei jedoch das alleinige Heranziehen des Handelsvolumens, gemessen am Gesamtwert der gehandelten Waren, zu kurz. So ist beispielsweise nicht uninteressant, ob sich möglicherweise die Markteintrittsbarrieren für Unternehmen reduziert haben und die Anzahl der exportierenden Unternehmen gestiegen ist. Für Deutschland lässt sich z.B. feststellen, dass sich die Zahl der am „Intrahandel“ beteiligten Unternehmen in den vergangenen Jahren moderat erhöht hat. Gleichzeitig ist der Handel aber auf wenige Unternehmen konzentriert. Bei insgesamt 610 000 Unternehmen, die 2011 am Außenhandel mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt waren, entfielen etwa 75% der gehandelten Werte auf nur 2550 Exporteure und 2965 Importeure.9 Berger und Nitsch10 wiederum betonen die Bedeutung von möglichen Auswirkungen der Integration auf die Entwicklung von Handelsbilanzungleichgewichten zwischen Ländern.

Schließlich lassen sich die Wirkungen des Binnenmarktes auch im wirtschaftsgeographischen Kontext diskutieren: der Wegfall von Handelsbarrieren könnte die Standortwahl von Unternehmen beeinflussen und so z.B. durch Standortverlagerung zu einer stärkeren Konzentration von einzelnen Industriezweigen führen. Fragen, inwiefern der Gemeinsame Binnenmarkt die räumlichen Spezialisierungsmuster verändert hat, wurden vor allem noch in den 1990er Jahren untersucht, ohne dass es allerdings gelungen ist, einen eindeutigen Effekt zu identifizieren.11

Alles in allem ist die Schaffung eines Gemeinsamen Binnenmarktes, die Überwindung national fragmentierter Märkte, ohne jeden Zweifel eine gewaltige Errungenschaft des europäischen Integrationsprozesses. Die schrittweise Annäherung der europäischen Länder, die die Nachkriegszeit kennzeichnete, wurde dadurch nicht nur einfach fortgesetzt, sondern das „Zusammenwachsen“ wurde auf eine qualitativ neue Stufe gehoben, auch wenn es letztlich schwer fällt, die Effekte zu quantifizieren.

Der EU-Binnenmarkt: Juristische Gedanken zum 20. Jahrestag

„Europäischer Binnenmarkt“ ist ein Begriff von großer Suggestivwirkung, aber mit weichen normativen Konturen. Die Binnenmarkt-Definition des Art. 26 Abs. 2 AEUV – ein „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“ – fußt auf Art. 8a Abs. 2 EWGV. Diese Bestimmung wurde durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986, die erste Änderung der Gründungsverträge, eingefügt. Auch der EWG-Vertrag von 1957 hatte allerdings schon die genannten Freiheiten als Ziele (Art. 3 lit. c) bzw. Politiken der Gemeinschaft fixiert. Mit den Römischen Verträgen setzten die Gründungsstaaten sich die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes binnen zwölf Jahren zum Ziel (vgl. Art. 2 EWGV). Zu diesem vertraglich nicht definierten Begriff führte der EuGH zu einem Zeitpunkt aus, als die Herstellung des Gemeinsamen Marktes längst vollendet war, dass die Bedingungen dieses „einheitlichen Markt[es] […] denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahekommen.“1 Mit der EEA fand der neue Terminus des Binnenmarktes auch in die Gründungsverträge Eingang, ohne den „Gemeinsamen Markt“ allerdings völlig zu ersetzen; vielmehr koexistierten beide als Vertragsbegriffe,2 bis der Lissabon-Vertrag auch die letzten Bezugnahmen auf den Gemeinsamen Markt tilgte. Die juristischen Debatten über das Verhältnis von Gemeinsamem Markt und Binnenmarkt (mehr, weniger oder identisch?) gehören insofern der Vergangenheit an.3 Die Notwendigkeit, sich dem „Binnenmarkt“ durch Auslegung anzunähern, bleibt aber bestehen.

Gemein ist beiden Größen die planerisch-programmatische Finalität, welche konkrete juristische Aussagen zu überstrahlen scheint. Vor allem der Gemeinsame Markt, aber auch der Binnenmarkt ist als Rahmenkonzept angelegt, das durch Sekundärrecht ausgefüllt und dabei dynamisiert werden muss. Zur Selbstbestätigung der Union haben die Verträge sich 1957 wie 1986 eines Kunstgriffs bedient: Die Ausfüllung der Begriffe und das Procedere werden weitgehend den Gemeinschafts- bzw. Unionsorganen, allen voran der Kommission, überlassen und zugleich an Fristen gebunden.4 Die Meldung „Mission accomplished!“ – für den Binnenmarkt vertragsgerecht (Art. 8a EWGV in der Fassung der EEA) zum 31.12.1992 ausgegeben – war nur ein Gradmesser für Europas politische Effizienz. Dass der Binnenmarkt keineswegs zu diesem Zeitpunkt in jeder Hinsicht vollendet war, Markthindernisse auch weiterhin abgebaut werden mussten, räumt auch die Kommission in ihrer jüngsten Binnenmarktinitiative ein.5 Die entscheidenden Schritte zur Öffnung der Märkte für netzgebundene Dienstleistungen, heute von essentieller Bedeutung, wurden beispielsweise erst nach diesem Stichtag unternommen.6 Auch in anderen Wirtschaftsbereichen haben die Grundfreiheiten erst später einen wirklichen Durchbruch erlangt; man denke – um nur Beispiele zu nennen – an den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr7 oder an die Niederlassung von Kapitalgesellschaften in anderen Mitgliedstaaten unter Beibehaltung ihrer Rechtsform, die erst Jahre später der EuGH mit wegweisenden Entscheidungen durchsetzte.8

Ohne Frage kann dem Binnenmarkt attestiert werden, eine „Erfolgsgeschichte“ zu sein;9 doch hängt dieser Erfolg an den Erwartungen, die mit einem Markt verbunden werden, und er verfliegt, wenn Wille und Fähigkeit der Mitgliedstaaten oder der Union abnehmen, sich zu einem wirtschaftlich grenzenlosen Raum zu verbinden. Die Erfüllung des immerwährenden Binnenmarkt-Auftrags der Union (und der Mitgliedstaaten) wird zunehmend erschwert durch die Spannbreite der erfassten Märkte und die Schwierigkeit, eine Balance zwischen freiheitsfördernder Deregulierung und marktsichernder Re-Regulierung herzustellen.

Zudem kann Binnenmarkt ebenso als freier Wettbewerb der rechtlichen Systeme verstanden werden: wie im Kapitalgesellschaftsrecht, wo die Niederlassungsfreiheit einer weitgehend freien Konkurrenz von Gesellschaftsrechtsordnungen den Weg geebnet hat, wie die oktroyierte Standardisierung dieser mitgliedstaatlichen Ordnungen, wie Art. 114 f. AEUV und spezielle Vorschriften (wie Art. 113 AEUV für die indirekten Steuern) sie vorsehen.

Sachimmanente Zielkonflikte prägen auch die nicht wenigen Binnenmarktinitiativen, welche die Kommission seit 1992 mehr oder weniger erfolgreich angestoßen hat: die übergreifenden Binnenmarktstrategien aus den Jahren 1999, 2003 und 2007 und speziell die „Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor“ (2000), die unter anderem in die Dienstleistungsrichtlinie von 2006 mündete.10 In dieser Kontinuität stehen die jüngsten Initiativen der Kommission für eine „Neubelebung“ des Binnenmarkts. Auf der Basis eines Berichts des seinerzeitigen Binnenmarktkommissars (und heutigen italienischen Ministerpräsidenten) Mario Monti erließ die Kommission am 27.10.2010 die mit 50 rechtspolitischen Vorschlägen garnierte Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“.11 Die Präsentation dieser Binnenmarktakte mit dem Untertitel „Gemeinsam für neues Wachstum“ am 13.4.201112 markiert die jüngste Stufe: Im Fokus stehen zwölf Bereiche oder, wie die Kommission es formuliert, „Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen“.

Ausgerechnet das Vertrauen ist dem Binnenmarkt offensichtlich abhandengekommen. Das Kernproblem stellt nicht die oft gegeißelte blinde Normierungswut dar, die den „Eurokraten“ teils zu Recht, teils zu Unrecht attestiert wird,13 als vielmehr Zweifel am rechtspolitischen Nutzen eines die Gestaltungsprärogativen der Mitgliedstaaten stark beschneidenden Eingriffs durch eine bürgerfern erscheinende Organisation von umstrittener demokratischer Legitimation. In der Krise befindet sich der europäische Markt nicht zum ersten Mal – auch Mitte der 1980er Jahre, nach einer Rezession, wählte die Kommission in einem Weißbuch dramatische Worte und sah den Binnenmarkt am „Scheideweg“ –,14 doch haben die gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen im Zuge der Finanz- und Staatsschuldenkrise, die zur Währungskrise zu werden droht, das Fundament des Binnenmarktes diesmal stark erschüttert. Auf die Notwendigkeit der Reformen, aber auch Reformhindernisse gehen Monti und die Kommission in ihren Publikationen ausführlich ein, und benennen reformbedürftige Bereiche. Die „Unbeliebtheit des Binnenmarktes“, über die Monti klagt,15 ist zum einen Ausweis struktureller Schwierigkeiten, mit denen die Union allgemein zu kämpfen hat (Mangel an Bürgernähe, Demokratiedefizit – und eine Tendenz nationaler Politiker, die Ursache für Missstände „in Brüssel“ zu suchen) und denen hier nicht nachgegangen werden soll. Ein Gradmesser für sie ist auch die in manchen Bereichen weniger ausgeprägte oder abnehmende Bereitschaft der Mitgliedstaaten, europarechtliche Vorgaben zu implementieren;16 hierauf näher einzugehen, würde den Rahmen dieser Betrachtung jedoch sprengen. Der Beliebtheitsgrad des Binnenmarktes spiegelt aber auch dessen nicht wenige und zum Teil ausgedehnte „Baustellen“. Im Folgenden soll – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf rechtliche und strukturelle Herausforderungen eingegangen werden, denen sich der Binnenmarkt stellen muss und in einigen Fällen auch schon gestellt hat.

Begriffliche und funktionale Grenzen des Binnenmarkt-Konzepts

Was zählt eigentlich alles zum Binnenmarkt? Monti und die Kommission sprechen in diesem Kontext auch Maßnahmen der Industriepolitik, des Verbraucherschutzes oder der verbundenen Netze an. Damit greift ihr Binnenmarktkonzept jedenfalls über Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV hinaus, der den Binnenmarkt von einer Reihe anderer Politikfelder (zu denen auch manche der angesprochenen Bereiche gehören) abgrenzt. Die Kompetenzordnung legt ein enges Begriffsverständnis nahe, wonach neben den Grundfreiheiten die Befugnis zum Erlass von Binnenmarktleitlinien, die Rechtsangleichung und das Steuerrecht zum Binnenmarkt gehören. Für Art. 26 AEUV dagegen vertreten manche ein Binnenmarktverständnis, das weitere Politikfelder (Landwirtschaft, Umwelt- und Verbraucherschutz, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der „Schengen-Besitzstand“ etc.) ebenfalls umschließt.17 Art. 114 Abs. 3 AEUV, wonach die Kommission bei ihren Vorschlägen für binnenmarktbezogene Harmonisierungsrechtsakte von einem hohen Schutzniveau in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz ausgehen soll, stützt diese Ansicht ebenso wie die mit jeder Vertragsänderung angewachsene Zahl sogenannter Querschnittsklauseln, die sämtlich auch für den Binnenmarktbereich Geltung beanspruchen (insbesondere Art. 8 bis 13 AEUV).

So oder so stehen die „negativen“ Freiheitsverbürgungen des Binnenmarkts in einem immer stärkeren Spannungsverhältnis zu anderen vertraglich verankerten Zielen, die aber ebenfalls als positive Marktfunktionen begriffen werden können.18 Die Richtung, in die sich der Binnenmarkt fortentwickeln soll, wird aber zunehmend diffus, weil diesem positiv „angereicherten“ Binnenmarktbegriff programmatische Versatilität anhaftet. Dies gilt umso mehr, als ihm Zielkonflikte innewohnen. Als „Verfassungswerten“ der EU wohnt Gleichstellungsgeboten, Diskriminierungsverboten, Tierschutz, Verbraucherschutz unter anderem auch das Potenzial inne, die Privatautonomie und den grenzüberschreitenden Verkehr von Waren, Diensten und Personen zu beschränken. Erinnert sei nur an die den Versicherern jetzt oktroyierten „Unisex-Tarife“ – oder, auf anderer Ebene, die Funktionsfähigkeit von Steuer- und Sozialversicherungssystemen, die als „zwingende Gründe des Gemeinwohls“ grundsätzlich auch angeführt werden dürfen, um den freien Personenverkehr einzuschränken. Zwar war solche Ambivalenz in den Verträgen seit jeher angelegt, aber primär als funktionale Schranke des Binnenmarktes (besonders markant in Art. 36 und 65 AEUV­), sofern nicht – wie im Fall Daily Mail19 – beschieden wurde, dass „beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts“ die Grundfreiheit für mitgliedstaatliches Handeln nicht einmal maßstäblich sei.

Die Verflechtung immer zahlreicherer Politiken mit dem Binnenmarkt weicht die Grenze zwischen binnenmarkteigen und binnenmarktfremd letztlich auf. Der Zugewinn an konzeptioneller Flexibilität wird mit Einbußen bei der Eindeutigkeit der Zielrichtung erkauft. So wird das Gebot der Verwirklichung des Binnenmarktes, wiewohl schon vordem konzeptionell ausfüllungsbedürftig, praktisch zu einer Notwendigkeit, zwischen widerstreitenden Interessen unter Wahrnehmung einer weiten Einschätzungsprärogative einen angemessenen Ausgleich zu finden.

Programmatische Entwicklung des Binnenmarktes

Gerade weil er inhaltlich ausgeformt werden muss, ist der Binnenmarkt anfällig für politische Strömungen und Zeitvorstellungen und damit zugleich für die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts in seinen einzelnen Bereichen. Vor allem dem freien Personenverkehr stehen nach wie vor strukturelle Hemmnisse im Weg, welche die Union mit Hilfe der Dienstleistungsrichtlinie von 200620 aufzubrechen bemüht war. Der Dienstleistungsverkehr ist, wie sich an den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI; eine Zeitlang auch „Dienstleistungen der Daseinsvorsorge“ genannt) zeigt, in besonderem Maße Zeitströmungen ausgesetzt. In den 1990er Jahren wurde Art. 106 AEUV noch als Hebel zur Privatisierung von Unternehmen (also zur Beseitigung binnenmarktinkompatibler Marktvorteile) eingesetzt. Vor allem nach der Normierung des heutigen Art. 14 AEUV aber überwiegt der Eindruck, dass DAWI heute vornehmlich als Bereiche wahrgenommen werden, die aufgrund ihres besonderen Gemeinwohlbezugs vor dem Binnenmarkt, insbesondere seinen Wettbewerbsregeln, pauschal geschützt werden dürfen.21 Die einschlägigen Freistellungsnormen der Kommission22 lassen den Mitgliedstaaten einen sehr weiten Spielraum bei der Qualifikation als DAWI und der Beurteilung der Notwendigkeit, einzelne Unternehmen finanziell zu unterstützen. Ihre Konkretisierung könnte Tendenzen zur Marktabschottung vorbeugen und zu einer stimmigeren Binnenmarktprogrammatik beitragen.

Derzeit jedenfalls lässt die Gesamtschau keine klare Richtung für die programmatische Entwicklung des Binnenmarktes erkennen, weil die rechtspolitische Entwicklung widersprüchlichen Signalen folgt: Während sich im DAWI-Bereich faktisch gebietsübergreifende Ausnahmen abzeichnen, hat der EuGH die im Vertrag angelegten Ausnahmeregeln für staatsnahe Tätigkeiten (Art. 45 Abs. 4 und Art. 51 AEUV) durch restriktive Interpretationen des Anwendungsbereichs weitgehend beraubt.23 Doch auch dort, wo die Regeln des Binnenmarktes aus Primärrechtssicht volle Wirksamkeit zeitigen, ist der Versuch, aus diesen primärrechtlichen Geboten klare sekundärrechtliche Konzepte abzuleiten, allenfalls zum Teil gelungen. So mündete der Streit um die Frage, ob für die Niederlassung und die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen die rechtlichen Anforderungen des Herkunfts- oder des Bestimmungslandes ausschlaggebend sein sollen, letztlich in ein Bündel von Kompromissregelungen, mit denen die Dienstleistungsrichtlinie keinem einheitlichen Muster mehr folgt.24

Zuständigkeiten und Verfahren

Fortschrittsunterschiede zwischen einzelnen Bereichen des Binnenmarkts mögen zumindest teilweise auch darauf zurückzuführen sein, dass eine einheitliche Binnenmarktkompetenz nur scheinbar besteht. Während die Binnenmarktzuständigkeit im engeren Sinne in der geteilten Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten steht und damit das Gebot der Subsidiarität zu beachten hat, ist der Union für das binnenmarktbezogene Wettbewerbsrecht die ausschließliche Zuständigkeit zugewiesen (Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV). In Bereichen wie z.B. Industriepolitik, welche die Kommission ebenfalls dem Binnenmarkt zuschlägt, verfügt die Union nur über eine Unterstützungs- und Koordinierungskompetenz (Art. 6 AEUV).

Innerhalb der geteilten Zuständigkeit für den Binnenmarkt bestehen überdies intergouvernemental geprägte Inseln, unter anderem im wichtigen Bereich der Steuerpolitik (Art. 113 AEUV). Das Einstimmigkeitserfordernis für die Harmonisierung der indirekten Steuern erschwert, verglichen mit anderen Bereichen, die Fortschreibung des Binnenmarkts an dieser Stelle. Nicht umsonst beklagt nicht erst Monti die Fragmentierung der Steuerlandschaft.25

Bei der allgemeinen Harmonisierungskompetenz des Art. 114 AEUV wiederum ist umstritten, wie weit sie reicht, ob sie nur zu Angleichungen des materiellen Rechts oder auch zur Begründung europäischer Behörden bzw. Agenturen berechtigt. Mit Blick auf Art. 298 Abs. 2 AEUV wird man grundsätzlich dies bejahen müssen; auch dann aber bleibt offen, wie weit die ihnen zugewiesenen Kompetenzen reichen dürfen.26 Insofern hat auch der Lissabon-Vertrag die erwünschte Klarheit nicht geschaffen; sie wird auch in Zukunft peu à peu durch den EuGH hergestellt werden müssen.

Regulierungsdichte und Frühwarnsystem

Der Binnenmarkt kann kein Raum grenzenloser Freiheit sein, sondern muss durch Regulierung gezügelt werden. Fast mustergültig ist der Union in den 1990er Jahren gelungen, bei gleichzeitigen intensiven („asymmetrischen“) Regulierungsvorgaben neue funktionsfähige Märkte zu erschließen, und zwar in den Bereichen Postwesen und (mehr noch) Telekommunikation. Technischer Fortschritt, Notwendigkeit der Kapitalakquise, um Investitionen zu tätigen, aber auch Aussichten auf defizitsenkende Privatisierungserlöse im Vorfeld der Euro-Einführung machten die Betätigung dieses Hebels leicht. Erheblich schwieriger erscheinen europarechtliche Ansätze, wo Mitgliedstaaten in Systemkonkurrenz stehen. Im „Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen“27 scheinen sich die beschworenen Gefahren eines „race to the bottom“ nicht verwirklicht zu haben.

Verzichten die attraktivsten mitgliedstaatlichen Ordnungen aber auf Mechanismen, um Fehlentwicklungen zu korrigieren (und erachten andere Staaten Schutzvorkehrungen für erforderlich), kann es zu gefährlichen Regulierungsdivergenzen kommen.28 Im Finanz- bzw. Kapitalmarktrecht scheint die EU diese zu spät wahrgenommen zu haben: Obwohl das mitgliedstaatliche Recht bereits vor der Finanzmarktkrise der Jahre 2007/2008 stark europarechtlich determiniert war, trugen nicht erkannte Systemrisiken und Regulierungslücken in einzelnen Mitgliedstaaten zur Finanzmarktkrise bei. Erst in der Krise wurde – parallel zur abermaligen Verschärfung der materiellrechtlichen Anforderungen – ein Europäisches System der Finanzaufsicht geschaffen, das als „Frühwarnsystem“ auch einen Europäischen Ausschuss für Systemrisiken einschließt.29 Die Krise hat in diesem Bereich nicht zu einem Freiheitszuwachs geführt, aber in einen bis dahin gefährlich unterregulierten Bereich des Binnenmarkts zur Nachholung der notwendigen Regulierungsschritte beigetragen, die allerdings in vielen Belangen eine strukturell problematische materiell- wie verfahrensrechtliche Hochzonung der Entscheidungen auf die EU einschließen. Der eigentlich zwischenstaatlich wirkende Binnenmarkt kippt damit in die Vertikale und wird auch institutionell zu Lasten mitgliedstaatlicher Souveränität umhegt.

Die ambivalente Unionswährung

Jenseits aller Symbolik, die einer Währungsunion anhaftet, diente die Einführung des Euro der Vereinfachung des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und kam insoweit indirekt auch der Waren- und Dienstleistungsfreiheit zugute. Die systembedingte Unmöglichkeit, wirtschaftliche Ungleichgewichte – wie sie infolge der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise auftraten – über Wechselkurse abzufedern, verschärfte bekanntlich die aufgetretenen Inkohärenzen aber noch und stellte damit die „Geschäftsgrundlage“ der Währung (wirtschafts- und fiskalpolitische Konvergenz, wie Art. 140 AEUV sie definiert) in Frage. Zu den paradoxen Folgen zählt, dass grenzüberschreitend tätige Unternehmen aus Sorge vor dem Zusammenbruch des Euro oder dem Ausscheiden eines Mitgliedstaats aus der gemeinsamen Währung ihre Finanzbeziehungen auf nationale Banken hin und damit gerade nicht mehr primär grenzüberschreitend ausrichten, um das Währungsrisiko zu begrenzen.

Montis Befund, der Binnenmarkt habe die Krise weitgehend unbeschadet überstanden,30 kann insofern zumindest für diesen Bereich nicht uneingeschränkt zugestimmt werden: Der Sachverständigenrat Wirtschaft beklagt insoweit vielmehr eine „Fragmentierung des Binnenmarkts“.31 Mag das Gefäß auch heil geblieben sein, sein Inhalt verflüchtigt sich doch immer mehr. So droht das Gegenteil dessen sich einzustellen, was mit dem Euro eigentlich bezweckt worden war: die Stärkung und Intensivierung der finanziellen Transaktionen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Neubelebung des Binnenmarktes muss Hand in Hand mit der Stabilisierung der Wirtschafts- und Währungsunion gehen. Um seiner Kräftigung willen dürfen auch strukturelle Rückschritte – wie die Rückkehr einzelner Mitgliedstaaten zu eigenen nationalen Währungen – kein absolutes Tabu sein.

Unterschiedliche Geschwindigkeiten

Im eng verstandenen Sinne des Art. 26 AEUV gilt der Binnenmarkt ohne Ausnahme und uneingeschränkt für alle Mitgliedstaaten. Ausnahmen, die Mitgliedstaaten durch die den Verträgen beigefügten Protokolle eingeräumt werden, können sich jedoch durchaus auf die Funktionsweise des Binnenmarktes auswirken. Offensichtlich ist dies, wie bereits dargelegt, für den Geltungsbereich der Unionswährung. Doch zeigen z.B. auch Ausnahmen, die sich Mitgliedstaaten, allen voran Großbritannien, beim Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Opting in bzw. out nach Maßgabe der Protokolle 21, 22 und 3632) ausbedungen haben, insoweit Binnenmarktwirkungen, als sich diese Staaten europarechtlichen Vorgaben über strafrechtliche Sanktionen für marktwidrige Verhaltensweisen (wie z.B. Insiderhandel) entziehen können. Auch wenn daraus keine akute Gefahr für den Binnenmarkt zu erwachsen scheint, ist doch nicht völlig ausgeschlossen, dass ein solcher „à la carte“-Ansatz zu unterschiedlichen Schutzstandards führt. Die Union sollte daher auch bestrebt sein, die betroffenen Mitgliedstaaten zum politischen bzw. rechtlichen Verzicht auf ihre Ausnahmerechte zu bewegen.

Der Binnenmarkt nach 20 Jahren

Auch 20 Jahre nach der Verkündung seiner Herstellung bildet der Binnenmarkt eine Großbaustelle, die sich allerdings durch hohen und unter dem Eindruck zu bewältigender Krisen noch zunehmenden Konstruktionseifer des europäischen Bauherrn auszeichnet. Die umrissenen Probleme, aber auch Erwägungen über eine Rückführung von Befugnissen an die Mitgliedstaaten erschweren Prognosen über Zeitpunkt, Richtung und Ort der Baufortschritte. Auch die seitens der Kommission erstellte Agenda ist nur exemplarisch und lässt das „Gesamtkunstwerk“ und seine Ausmaße, vor allem seine Grenzen, noch nicht in allen Teilen plastisch werden. Den erzielten Baufortschritt markieren aber auch in der Zeit der Krise wegweisende Rechtsakte wie die Freizügigkeitsrichtlinie von 2004, die Dienstleistungsrichtlinie von 2006, die Verordnungen zur Errichtung der Europäischen Finanzaufsichtsbehörden (ESMA, EBA, EIOPA) von 2011. Zu den nächsten Schritten werden der Erlass einer Richtlinie über Dienstleistungskonzessionen33 – einen zwar sekundärrechtlich ungeregelten Bereich, der aber strengster Observanz unterliegt – und die Errichtung der (umstrittenen) Bankenunion gehören.34 Die Kommission mag sich auch künftig rühmen, Etappen erreicht zu haben, einen wirklichen Fertigstellungstermin wird sie für den Binnenmarkt niemals angeben können. Wollte man ihm ein Motto finden, böte sich am ehesten eine Paraphrase jenes vom Zweiten Vatikanischen Konzil rezipierten Befundes eigentlich calvinistischen Ursprungs über die Kirche an. Denn wie diese bedarf auch der Binnenmarkt, um lebendig zu bleiben, der immerwährenden Reform: Forum Europaeum semper reformandum.

  • 1 EuGH, Rs. 15/81, Schul, Slg. 1982, 1409, Rn. 33.
  • 2 Vgl. etwa für die Rechtsangleichung Art. 100 und Art. 100a EWGV, die heute noch – jetzt aber beide auf den Binnenmarkt bezogen – als Art. 114 und 115 AEUV fortbestehen.
  • 3 Übersicht unter anderem bei A. Hatje, in: J. Schwarze (Hrsg.): EU-Kommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 26 AEUV Rn. 5 ff.; W. Kahl, in: C. Calliess, M. Ruffert (Hrsg.): EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., 2011, Art. 26 AEUV, Rn. 10 ff.; und R. Streinz: Europarecht, 9. Aufl., 2012, Rn. 969 ff.
  • 4 Art. 8 Abs. 2 EWGV (1957) statuierte für den in drei Etappen à vier Jahren zu errichtenden Gemeinsamen Markt lediglich: „Jeder Stufe entspricht eine Gesamtheit von Maßnahmen, die zusammen eingeleitet und durchgeführt werden.“
  • 5 Binnenmarktakte – Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen „Gemeinsam für neues Wachstum“, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 13.4.2011, KOM(2011) 206 endg., mit weiteren Nachweisen.
  • 6 Übersicht bei I. F. Hochbaum, R. Klotz, in: H. von der Groeben, J. Schwarze (Hrsg.): Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl., 2003, Rn. 119 ff.
  • 7 Vgl. C. Hahn, S. Wild: Grenzüberschreitende Bankdienstleistungen in der EU – Europa- und aufsichtsrechtliche Aspekte am Beispiel Deutschland und Österreich, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 2006, S. 107-111.
  • 8 Insbesesondere EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459; Rs. Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919.
  • 9 W. Kahl, a.a.O., Rn. 31.
  • 10 Überblick bei R. Streinz, a.a.O., Rn. 937 ff.; W. Kahl, a.a.O., Rn. 33 ff.
  • 11 Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen (mit dem Untertitel „Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“), KOM(2010) 608 endg.
  • 12 M. Monti: Eine neue Strategie für den Binnenmarkt. Im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft Europas, Bericht an den Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, vom 9.5.2010; zur Binnenmarktakte siehe Binnenmarktakte – Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen „Gemeinsam für neues Wachstum“, a.a.O.
  • 13 Das am häufigsten zitierte Beispiel – Festlegung des Krümmungsgrades von Bananen – ist jedenfalls erfunden. Solche Standarisierungen können sinnvoll sein, weil sie Verpackung und Transport von Gütern vereinheitlichen. Bananen allerdings werden bündelweise transportiert und niemals einzeln verkauft, weswegen Formstandards hier von geringem Nutzen wären.
  • 14 So deren Weißbuch an den Europäischen Rat „Vollendung des Binnenmarkts“ vom 28./29.6.1985, KOM(85) 310, Nr. 219; M. Monti, a.a.O., stellte das Zitat seiner Analyse ostentativ voran.
  • 15 M. Monti, a.a.O., S. 24.
  • 16 Hierzu insbesondere B. Busch: Der EU-Binnenmarkt. Anspruch und Wirklichkeit, Köln 2009, S. 26 ff.
  • 17 Vgl. M. Lux, in: C. O. Lenz, K.-D. Borchardt (Hrsg.): EU-Verträge, 6. Aufl., 2012, Art. 26 Rn. 5.
  • 18 Vgl. dazu auch W. Schröder, in: R. Streinz (Hrsg.): EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 26 AEUV Rn. 34 ff.
  • 19 EuGH, Rs. 81/87, „Daily Mail“, Slg. 1988, 5483, Rn. 25.
  • 20 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EG 2006, Nr. L 376, S. 36 ff.
  • 21 In diesem Sinne auch V. Emmerich: Monopole, Binnenmarkt, Daseinsvorsorge oder was sonst?, Bemerkungen zu Art. 86 Abs. 2 EGV, in: C. Gröppl, M. Jachmann, G. Manssen (Hrsg.): Nach geltendem Verfassungsrecht: Festschrift für Prof. Dr. Udo Steiner, 2009, S. 181 f.
  • 22 Zuletzt Beschluss 2012/21/EU der Kommission vom 20.12.2011 über die Anwendung von Artikel 106 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, ABl. EU Nr. 7 vom 11.1.2012, S. 3 ff.
  • 23 Zu Art. 45 Abs. 4 AEUV vgl. J. A. Kämmerer: Europäisierung des öffentlichen Dienstrechts, in: Europarecht 2001, 27 (36 ff.); zu Art. 51 AEUV vgl. die Entscheidungen EuGH, Rs. C-54/08, Kommission/Deutschland, vom 24.5.2011, wonach selbst „lateinische“ Notare nicht mehr unter die Bestimmung fallen.
  • 24 Vgl. nur R. Streinz, S. Leible, in: M. Schlachter, C. Ohler (Hrsg.): Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Baden-Baden 2008, Einleitung, Rn. 63 ff. mit weiteren Nachweisen.
  • 25 M. Monti, a.a.O., S. 93; im Übrigen schon C. Seiler: Steuerstaat und Binnenmarkt, in: O. Depenheuer, M. Heintzen, M. Jestaedt, P. Axer (Hrsg.): Staat im Wort, Festschrift für J. Isensee, Heidelberg 2007, S. 885 ff.: Fragmentarische Europäisierung des Steuerrechts bei Asymmetrie zwischen Kompetenzen und Kompetenzausübungsschranken.
  • 26 Vgl. EuGH, Rs. C-217/04, Slg. 2006, I-3771 (ENISA), aber auch EuGH, EGKS/Hohe Behörde („Meroni“), Rs. 9/56, Slg. 1958, 9 ff.: keine Übertragung von Ermessensentscheidungen.
  • 27 Allgemein E.-M. Kieninger: Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, Tübingen 2002.
  • 28 Vgl. auch M. Monti, a.a.O., S. 17.
  • 29 Vgl. statt vieler G. Baur, M. Boegl: Die neue europäische Finanzmarktaufsicht – Der Grundstein ist gelegt, in: Bank und Kapitalmarktrecht 2011, S. 177 ff.; J. A. Kämmerer: Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem (ESFS) – Modell für eine europäisierte Verwaltungsarchitektur?, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2011, S. 1281 ff.
  • 30 M. Monti, a.a.O., S. 10.
  • 31 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2012/13, Drittes Kapitel, Nr. 253 ff.
  • 32 Skeptisch offenbar auch M. Monti, a.a.O., S. 24 ff., S. 80 ff.
  • 33 Vorschlag [der Kommission] für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Konzessionsvergabe, KOM(2011) 897 endg.
  • 34 Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, KOM(2012) 510 endg.

Title:Twenty Years of the European Single Market

Abstract:In 1992 the European Single Market was to have been completed. But there is still no truly integrated market in many fields – the EC has to overcome many obstacles yet to make this happen. Based on different EU integration indexes, it is shown that internal market integration has developed since the introduction of the euro. At the same time, the internal market linkages are different from country to country. Internal – but also external – trade and wealth have grown. However, whether there would have been more or less success without the internal market is a question that must be answered. A single market probably does not require a common currency.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1459-z