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Der Konsum ist ein zentraler Treiber des weltweiten Energieverbrauchs und damit auch des Klimawandels. Der überwiegende Teil aller Treibhausgasemissionen ist dem Konsum zuzurechnen, denn, wie schon Adam Smith festgestellt hat: „Der Verbrauch ist das einzige Ziel und der einzige Zweck einer jeden Produktion“1. Im Durchschnitt verursacht ein Mensch in Deutschland etwas mehr als 10 t Treibhausgasemissionen im Jahr. Ein großer Teil dieser Emissionen fällt allerdings nicht in Deutschland an, sondern wird andernorts durch die Herstellung der hierzulande konsumierten Produkte und durch Urlaubsreisen außerhalb Deutschlands verursacht. Im weltweiten Durchschnitt liegen die CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr bei ca. 4 t – bei allerdings stark steigender Tendenz in den Entwicklungs- und Schwellenländern (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
CO2-Ausstoß pro Kopf und Jahr
in t CO2
Lell Abb-1.ai

Quelle: Umweltbundesamt: Klimaneutral leben: Verbraucher starten durch beim Klimaschutz, 2010, S. 8, http://www.umweltbundesamt.de/uba-info-medien/4014.html.

Damit das Weltklima nicht entgleist, muss die Erderwärmung auf 2°C begrenzt werden. Um das zu erreichen, darf der Ausstoß von Treibhausgasen pro Kopf und Jahr den weltweiten Durchschnitt von langfristig 2 t nicht übersteigen. Das ist eine enorme Herausforderung, wenn es gelingen soll, den Konsum in nachhaltige und klimaschonende Bahnen zu lenken. Ob und wie diese Herausforderung gemeistert wird, ist noch offen.

Wer soll es richten: der Verbraucher oder die Politik?

Die Debatte über den richtigen Weg zu einem nachhaltigen Konsum wird derzeit von zwei entgegengesetzten Sichtweisen beherrscht. Die einen sehen die Verbraucherinnen und Verbraucher2 selbst in der Pflicht und in der Verantwortung. Mit Schlagworten wie „Einkaufsrevolution“3 oder „strategischer Konsum“4 wird den Verbrauchern die Macht zugeschrieben, über ökologisch bewusste und verantwortliche Konsumentscheidungen nachhaltiges Wirtschaften zu erzwingen. Die andere Seite meint, der individuelle Konsum werde in seiner Bedeutung überschätzt; die Zukunft des Weltklimas werde in den Parlamenten entschieden, und daher könne der individuelle Beitrag zur Lösung der ökologischen Frage nur ein politischer sein.5

Keine der beiden Sichtweisen überzeugt. Alle Verantwortung auf der individuellen Ebene anzusiedeln, ist ebenso aussichtslos wie alleine auf die Politik zu setzen. Stattdessen kommt es darauf an, positive Rückkopplungen zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene in Gang zu setzen.6 Wie das konkret gelingen kann, wird deutlich, wenn man die Defizite der heute propagierten konträren Politikansätze näher beleuchtet.

Defizite der Klimapolitik durch ökologisch korrekten Konsum

Der Ansatz, nachhaltigen Konsum durch eine Vielzahl individueller Konsumentscheidungen herbeizuführen, stößt auf die Schwierigkeit, hinreichend große Verbrauchergruppen für diese Idee zu gewinnen und zu mobilisieren. Beispielsweise stimmen 85% der Deutschen der Aussage zu: „Wir brauchen einen konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien.“7 Aber nur 8% beziehen Ökostrom.8 Auch in anderen Märkten, in denen es ein vom Massenmarkt abgegrenztes Ökosegment gibt, liegt dessen Marktanteil regelmäßig unterhalb von 10%. Auch wenn die Marktanteile von nachhaltigen Produkten wachsen, deutet nichts darauf hin, dass sie alsbald den Massenmarkt dominieren würden. Eher dürften die Anbieter in dem wachsenden Ökosegment eine zusätzliche Einnahmequelle sehen, die den Massenmarkt ergänzt.

Dazu kommt, dass diejenigen Verbraucher, die sich selbst als umweltbewusst wahrnehmen, objektiv nicht viel zur Entlastung des Klimas beizutragen scheinen. Nach einer stichprobenartigen Untersuchung unter einer Gruppe von Mitgliedern des Bund Naturschutz schätzten die Befragten ihren eigenen Energieverbrauch um etwa 30% niedriger ein als den eines Durchschnittsdeutschen. Tatsächlich lag aber der Energieverbrauch der Gruppe auf dem gleichen Niveau wie der der Deutschen insgesamt (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2
Jahresenergieverbrauch pro Kopf und Jahr
in kWh
Lell Abb-2.ai

Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von M. Bilharz: „Key Points“ nachhaltigen Konsums, Marburg 2008, S. 269.

Der Unterschied zwischen der Selbsteinschätzung und dem realen Energieverbrauch lässt sich vermutlich damit erklären, dass umweltbewusste Verbraucher in vielen Einzelheiten ökologischer handeln als der Bevölkerungsdurchschnitt, dass die daraus resultierenden Verhaltensänderungen aber zu sehr an der Oberfläche bleiben, um entscheidende Reduktionen des CO2-Ausstoßes zu bewirken. Individuelle Konsumentscheidungen können die Anbieter bewegen, statt des Produktes A ein umweltverträglicheres Produkt B anzubieten. Sie haben aber wenig Einfluss auf gesellschaftliche Werthaltungen und die daraus folgenden Konsumpräferenzen. Auch bei umweltbewussten Konsumenten gibt es einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Energieverbrauch: Wer es sich leisten kann, hat eine große Wohnung und ist viel unterwegs. Dazu kommt, dass der Energieverbrauch zu einem großen Teil durch die Infrastruktur, also Gebäude, Verkehrswege, Siedlungsformen und Energieversorgungssysteme vorgegeben ist. Die Infrastruktur kann aber durch individuelle Konsumentscheidungen nur indirekt und sehr langsam verändert werden.

Es ist aus diesen Gründen völlig berechtigt, überzogene Erwartungen an den individuellen Konsum zu korrigieren und das „Machbarkeitspathos“9 zu kritisieren, das häufig mit Appellen für einen umweltbewussten Konsum verbunden ist. Tatsächlich nutzen Marketingstrategen das Bedürfnis vieler Verbraucher nach einem nachhaltigen Konsum inzwischen, um alle möglichen Produkte mit ökologischen Heilsversprechungen aufzuladen. So wird Thunfisch als „delphinsicher“ bezeichnet, obwohl diese Behauptung oft kaum gesichert ist und der Thunfisch selbst durch übermäßige Befischung bedroht ist. Südspanische Erdbeeren werden mit einem PRO PLANET-Label ausgezeichnet, weil sie wassersparend angebaut werden – obwohl der Anbau von Erdbeeren in den wasserarmen Gegenden Südspaniens kaum nachhaltig gestaltet werden kann. Und Elektroautos werden als „emissionsfrei“ bezeichnet, obwohl das nur zutrifft, wenn ein Elektroauto zu 100% mit regenerativ erzeugtem Strom beladen wird – ansonsten sind die Treibhausgasemissionen einem konventionell betriebenen Auto vergleichbar. Viel von dem, was heute zur Vermarktung eines ökologisch korrekten Konsums getan wird, beruhigt allenfalls das ökologische Gewissen, ohne wirklich etwas zu ändern.10

Defizite der Klimapolitik durch Parlamente und Regierungen

Alles in allem führt kein Weg daran vorbei, dass die Politik durch Regeln und Gesetze die Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wirtschaften und damit auch für einen nachhaltigen Konsum setzt. Bislang ist es der Politik aber nicht gelungen, die notwendigen Weichen hierfür zu stellen. Das gilt auch für Deutschland, das sich gerne als Vorreiter im Klimaschutz darstellt.

Die nationale Klimabilanz von Deutschland mag suggerieren, dass wir beim Klimaschutz auf einem guten Weg seien. Deutschland wird voraussichtlich seine Verpflichtung aus dem Kyoto-Protokoll erfüllen, die nationalen Treibhausgasemissionen im Durchschnitt der Jahre 2008 bis 2012 um 21% gegenüber dem Jahr 1990 zu reduzieren. Dieser vermeintliche11 Erfolg relativiert sich allerdings, wenn man sich vor Augen hält, dass die deutschen Pro-Kopf-Emissionen an CO2-Äquivalenten derzeit immer noch mehr als 10 t betragen, während ein langfristig nachhaltiges Niveau im weltweiten Durchschnitt bei 2 t pro Kopf und Jahr liegt.

Die Mechanismen, nach denen Klimapolitik heute funktioniert, lassen sich am Beispiel des Autoverkehrs gut verdeutlichen. Die CO2-Emissionen des Autoverkehrs sind proportional zum Verbrauch von Benzin und Dieselkraftstoffen. Das richtige Instrument für eine wirksame Klimapolitik scheint daher auf der Hand zu liegen: Man müsste fossile Kraftstoffe verteuern, damit ökologisches Verhalten auch ökonomisch sinnvoll ist. In der praktischen Politik greift dieser Ansatz aber zu kurz, weil er außer Acht lässt, was für ein hohes Gut individuelle Mobilität in unserer Gesellschaft ist. Wenn 80% der Wegstrecken in Deutschland mit dem Auto zurückgelegt werden, ist für die meisten Verbraucher Mobilität gleichbedeutend mit Autofahren. Das hat zwei Konsequenzen: Zum einen stößt es auf erheblichen Widerstand, wenn man politisch versucht, Autofahren zu verteuern. Zum anderen ändert sich das Mobilitätsverhalten nicht notwendigerweise, wenn Autofahren tatsächlich teurer wird. Die Verbraucher werden eher bereit sein, auf anderes zu verzichten, als auf das Autofahren.

Beides lässt sich am Beispiel des Benzinpreises beobachten: 1998 beschloss ein Parteitag der Grünen, den Benzinpreis durch Steuererhöhungen auf 5 DM pro Liter anzuheben und damit fast zu verdreifachen. Prompt erlitten die Grünen bei der folgenden Bundestagswahl eine schwere Niederlage. Inzwischen hat sich der Benzinpreis auch ohne Zutun der Politik mehr als verdoppelt. Der durch den Autoverkehr verursachte CO2-Ausstoß ist aber nur marginal zurückgegangen.

Verbraucherorientierte Klimapolitik

Daraus lässt sich schließen, dass Klimapolitik gegen die Verbraucher oder an den Verbrauchern vorbei zum Scheitern verurteilt ist. Die Lebens- und Konsumgewohnheiten, die häufig ignoriert werden, wenn von der Bedeutung von politisch gesetzten Regeln für die Klimapolitik die Rede ist, sind in Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung. Nur wenn Klimapolitik an die Bedürfnisse und Interessen der Verbraucher anknüpft, wenn sie für die Gesellschaft wie für das Individuum zu einem besseren Leben beiträgt, wird sie Erfolg haben: „Das Wams ist näher als der Rock: Beruflicher Stress und Mobbing, Produktivitätsdruck und seit Jahren sinkende Reallohneinkommen bedrohen individuell allemal mehr als Klima und Artensterben.“12 So gesehen ist es die soziale Frage, die über den Erfolg des Klimaschutzes entscheidet.

Wenn man in diesem Sinne die heutige Politik auf ihren Mehrwert für die Verbraucher überprüft, wird man feststellen, dass den Verbrauchern heute erhebliche Aufwendungen zugemutet werden, um energie- und CO2-intensive Industriestrukturen vor Veränderungen zu schützen. Um beim Beispiel des Autoverkehrs zu bleiben: Eine der kostengünstigsten Maßnahmen, um die Treibhausgasemissionen des Autoverkehrs zu reduzieren, sind anspruchsvolle CO2-Grenzwerte für Neuwagen. CO2-Reduktionen sind zugleich Verbrauchsreduktionen; daher wirken sich strenge CO2-Grenzwerte als Ersparnis für die Verbraucher aus. Trotzdem hat sich die Bundesregierung mit aller Macht und im Ergebnis erfolgreich dafür eingesetzt, dass die von der EU-Kommission anvisierten CO2-Grenzwerte abgeschwächt wurden. Der von der Kommission vorgegebene Wert von 120 g CO2/km13 wurde zwar formal beibehalten, maximal 10 Gramm an Emissionsreduktion können aber durch „zusätzliche Maßnahmen“, insbesondere durch die Verwendung von Biokraftstoffen erreicht werden. De facto wird dadurch der CO2-Grenzwert auf 130 g CO2/km14 erhöht.

Die Strategie der CO2-Vermeidung durch Biokraftstoffe, die auf diese Weise an die Stelle weiterer Effizienzverbesserungen tritt, ist für viele Branchen von Vorteil, neben der Autoindustrie auch für Landwirtschaft und Mineralölindustrie, die sich neue Absatzmärkte erhoffen. Für die Verbraucher sind Biokraftstoffe dagegen nachteilig. Wenn man auf CO2-Einsparung durch effizientere Autos setzt, sind mit jeder eingesparten Tonne CO2 volkswirtschaftliche Gewinne von 128 Euro verbunden. Wenn man dagegen fossile Brennstoffe durch Biokraftstoffe ersetzt, entstehen pro eingesparter Tonne CO2 volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von 84 bis 168 Euro.15 Andere Nachteile wie die ungeklärte Verträglichkeit für manche Motoren sowie die zweifelhafte Nachhaltigkeitsbilanz von Biokraftstoffen sind vor allem seit Anfang 2011 mit der Einführung des mit Bioethanol angereicherten Kraftstoffs E 10 in die öffentliche Diskussion gekommen.

Der klimapolitisch wie verbraucherpolitisch fragwürdige Kurs der Bundesregierung erklärt sich durch den massiven Druck der deutschen Autoindustrie, die durch strenge CO2-Grenzwerte Absatznachteile bei den schweren und teuren Autos des Premiumsegments befürchtete. Hier wie in anderen Bereichen gibt die Politik schnell den Forderungen der Industrie nach einer Abschwächung des Klimaschutzes nach, wenn eindrücklich auf Wettbewerbsnachteile und Arbeitsplatzverluste hingewiesen wird. Übersehen wird, dass die Industrie dadurch zu Fehlentwicklungen angehalten wird, die ihr langfristig auf den Weltmärkten Absatznachteile bringen werden. Das gilt insbesondere dann, wenn Zugeständnisse an die Industrie wie beim Beispiel der CO2-Grenzwerte zugleich direkte Nachteile für Verbraucher mit sich bringen.

Verbraucherorientierte Klimapolitik heißt, nicht länger energieintensive Strukturen zu konservieren, sondern umgekehrt anknüpfend an die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen einen klimapolitischen Strukturwandel voranzutreiben. Soweit Verbraucher in neuen Angeboten eine attraktive Verbesserung des Status quo wahrnehmen, sind die Lebens- und Konsumgewohnheiten sehr wandelbar. Das zeigt die jüngste Vergangenheit, in der sich Handys, Computer und Internet zu essentiellen Teilen des Alltags entwickelt haben. Ebenso können sich auch Lebens- und Konsumgewohnheiten in eine Richtung wandeln, die weniger Energieverbrauch und nachhaltigere Energieerzeugung bedeutet, wenn das als vorteilhaft und erstrebenswert angesehen wird.

Am Beispiel der individuellen Mobilität heißt das Folgendes: Seit einigen Jahren ist ein Trend erkennbar, dass sich die Verbindung zwischen dem Wunsch nach Mobilität und dem Wunsch nach einem eigenen Auto lockert. Mobilität verliert also nicht an Bedeutung, sie wird aber nicht mehr notwendigerweise gleichgesetzt mit dem Besitz eines Autos, sondern reduziert auf das Wesentliche: Nämlich möglichst schnell, flexibel und angenehm von A nach B zu kommen. Vor allem in den Städten verzichten immer mehr junge Menschen auf den Führerschein,16 und das Segment von Neuwagenkäufern im Alter zwischen 18 und 29 Jahren hat sich in den letzten Jahren halbiert.17 Autohersteller wie Daimler,BMW und VW sehen in diesem Trend ein neues Geschäftsmodell und investieren in eigene Carsharing-Flotten.18

Auf diesen Trend aufbauend, könnte Mobilität sehr viel schlanker, preisgünstiger und mit weniger Aufwand an Fahrzeugen und Infrastruktur organisiert werden. Mobilitätsdienstleister könnten den Kunden jeweils passgenaue Beförderungsleistungen mit Auto, Bahn oder ÖPNV bieten. Durch ein genaues Eingehen auf die spezifischen Kundenwünsche könnten diese Unternehmen das Prinzip des Autofahrens „Nutzen, ohne nachzudenken“ realisieren – und dem Kunden zugleich Zugang zu den besonderen Vorteilen des Öffentlichen Verkehrs bieten, d.h. vor allem die Möglichkeit, das Unterwegssein für Entspannung, Arbeit oder Kommunikation zu nutzen. Dadurch würde das Marktpotential des öffentlichen Verkehrs wie auch des Fahrrad- und Fußgängerverkehrs zunehmen, der öffentliche Raum würde vom Verkehrsdruck entlastet und die CO2-Emissionen des Verkehrs würden zurückgehen.

Derzeit wird eine solche Entwicklung allerdings noch durch verschiedene politische Hemmnisse behindert. Das Personenbeförderungsgesetz steht flexiblen, bedarfsorientierten Angeboten im öffentlichen Verkehr entgegen. Jede Stadt hat ihr eigenes kommunales Verkehrsunternehmen mit eigenen Tarifstrukturen und Beförderungsbedingungen. Das macht es schwierig, übergreifende Dienstleistungsangebote zu entwickeln, etwa ein „Navi“ für Mobilitätsdienstleistungen, das aus einer breiten Palette von Unternehmen die beste Kombination von Verkehrsmitteln für eine bestimmte Verbindung heraussucht. Letztlich wirkt sich auch die öffentliche Finanzierung des öffentlichen Verkehrs als Innovationshemmnis aus, weil die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs mehr darauf bedacht sind, sich die öffentlichen Zuschüsse zu erhalten, als mit neuen Angeboten und Absatzformen neue Kundengruppen für sich zu gewinnen.

Diese Umstände sind keineswegs unveränderbar. Ebenso wie die Politik in den vergangenen Jahrzehnten Investitionshemmnisse für Unternehmen beseitigt hat und dadurch das Wirtschaftswachstum erfolgreich gefördert hat, kann die Politik bei veränderten Prioritäten auch diejenigen Hemmnisse beseitigen, die verbraucherorientierten Angeboten im Verkehrsbereich und anderswo entgegenstehen. Die Folge wäre eine ganz neue Dynamik der Marktkräfte für Klimaschutz und Lebensqualität.

Bürgerbeteiligung an der politischen Willensbildung

Bislang werden die hier angedeuteten Synergien zwischen Verbraucherinteressen und Klimaschutz politisch kaum wahrgenommen, geschweige denn bewusst gefördert. Hintergrund dessen ist eine allgemeine Entfremdung zwischen der Politik und ihrer Basis in der Bevölkerung. Die politischen Eliten sind über die Parteien hinweg mit den wirtschaftlichen Eliten eng verbunden, die Bürger sind in eine passive Rolle geraten und haben faktisch geringe Möglichkeiten, auf politische Entscheidungen einzuwirken.19

Um diese Entwicklungen zu korrigieren, sind zusätzliche Formen von direkter Bürgerbeteiligung erforderlich. Gemeint sind hiermit nicht nur Volksabstimmungen, sondern auch und in erster Linie Beteiligungs- und Austauschverfahren, die Rückkopplungen zwischen der Entscheidungsebene der Politik und der politischen Basis herstellen. Bürgergutachten und Planungszellen sind Instrumente, die für diesen Zweck entwickelt worden sind, die aber bislang nur sporadisch eingesetzt werden.

Ebenso wichtig ist es, dass Entscheidungen, die sich auf die Lebensbedingungen vor Ort auswirken, auch vor Ort getroffen werden. Dann gestalten diejenigen, die entscheiden, ihr eigenes Lebensumfeld. Das begünstigt lebensnahe Entscheidungen, die der lokalen Interessenlage gerecht werden – anders als wenn wie heute Ortsumgehungen im Bundesverkehrswegeplan ausgewiesen und durch Bundesmittel finanziert werden. Ein Mittel, um die Verantwortung der kommunalen Ebene in der Energiepolitik zu stärken, könnte es sein, auf Basis der nationalen energie- und klimapolitischen Ziele regionale und kommunale Ziele zu definieren. Regionen und Kommunen sollten diese Ziele in eigenständiger Verantwortung umsetzen und dabei neuartige und angepasste Lösungen für eine nachhaltige Energieversorgung entwickeln.

Neue Wohlstandsmodelle

Wenn so Lebensqualität und Klimaschutz stärker in Zusammenhang gesehen werden, könnte eine Entwicklung in Gang kommen, in deren Verlauf die Energie- und Materialintensität des Konsums insgesamt reduziert wird. Möglicherweise beobachten wir heute schon die ersten Anfänge einer Kultur des Zusammenlebens, die dem sozialen Miteinander mehr Bedeutung zumisst als materiellen Werten. Über lange Zeit haben sich die Haushalte immer weiter verkleinert, und parallel dazu haben sich die Siedlungsflächen immer weiter ins flache Land hinein ausgedehnt. Seit einigen Jahren sind jedoch Entwicklungen zu beobachten, die diesem von Individualisierung geprägten Lebensstil entgegenwirken.20 Städtische Wohnlagen mit hoher sozialer und kultureller Dichte und entsprechend kurzen Wegen werden wieder als attraktiv wahrgenommen, was sich auch in den Immobilienpreisen niederschlägt. Zudem entstehen immer mehr gemeinschaftliche Wohnformen jenseits von traditionellen Familienstrukturen, etwa zwischen Menschen unterschiedlicher Altersgruppen.

Wenn man diese Entwicklungen fortdenkt, könnte sich ein anderes Modell von Lebensqualität entwickeln, in dessen Mittelpunkt der gute Kontakt zum sozialen Umfeld steht. Dem würden dichtere Siedlungsstrukturen und engere Bezüge zur näheren Umgebung entsprechen. Während die Siedlungsentwicklung der letzten Jahrzehnte den Energieverbrauch für Heizung und Verkehr nach oben getrieben hat, hätte dieser Trend die gegenteilige Wirkung. Klimaschutz wäre damit logische Folge und integraler Bestandteil eines solcherart veränderten Verständnisses von Lebensqualität.

Wachsende Zweifel am Wachstumsmodell

Der Arbeitsmarkt, das Finanzsystem und die sozialen Sicherungssysteme bauen heute auf der Annahme eines fortwährenden Wirtschaftswachstums auf. Diese Annahme in Frage zu stellen, war bis vor kurzem ein Tabu. Die Bankenkrise und die folgende Staatsschuldenkrise haben aber das Vertrauen in die Stabilität des bestehenden Wirtschaftssystems nachhaltig erschüttert. Man bemerkt nun, dass dem Wirtschaftswachstum in den Jahren 2000 bis 2006 – also noch vor Beginn der Bankenkrise – Staatsschulden in der gleichen Höhe gegenüberstehen. Das deutet darauf hin, dass das Wachstum keine Basis in der Verbrauchernachfrage mehr hat, sondern nur noch durch Schuldenaufnahmen in Gang gehalten wird.21 Die Menschen in den meisten westlichen Gesellschaften sind seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht glücklicher geworden, obwohl das Realeinkommen und der Lebensstandard sich im selben Zeitraum verdoppelt haben.22 Stattdessen rückt zunehmend ins gesellschaftliche Bewusstsein, dass mit der Überbetonung des Ökonomischen die soziale Qualität des Zusammenlebens leidet – in Form von Stress, Burnout, Entsolidarisierung und einer Spaltung der Gesellschaft in überforderte Arbeitende und unterforderte Betreuungsfälle. In der Folge wachsen die Zweifel am Wachstumsmodell und haben inzwischen auch den politischen Apparat in Berlin23 bis hin zur Bundesregierung24 erreicht.

Eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum würde sicher Verwerfungen mit sich bringen. Die Verwerfungen durch ungebremsten Energie- und Ressourcenverbrauch wären aber um einiges gravierender. Aus der Wachstumsspirale auszusteigen, hieße nicht zuletzt, die Wirtschaft auf ihren eigentlichen Zweck zurückzuführen, den Ludwig Erhard, der Begründer der sozialen Marktwirtschaft, folgendermaßen beschrieben hat: Für die Wirtschaft gebe „es nur einen Maßstab (…), und das ist der Verbraucher (…). Denn welchen anderen Zweck sollte eine Wirtschaft haben als den, der Gesamtheit eines Volkes zu immer besseren und freieren Lebensbedingungen zu verhelfen, Sorgen zu überwinden und den Segen der Freiheit – nicht nur der materiellen, sondern auch der geistigen und seelischen Freiheit – allen teilhaftig werden zu lassen?“25

Anmerkung: Der Autor dankt Frauke Rogalla und Hyewon Seo für hilfreiche Anregungen und Hinweise.

  • 1 „Consumption is the sole end and purpose of all production; and the interest of the producer ought to be attended to only so far as it may be necessary for promoting that of the consumer. The maxim is so perfectly self evident that it would be absurd to attempt to prove it.“ Vgl. A. Smith: Wealth of Nations, Book Four, Kapitel VIII, 1776.
  • 2 Um der Lesbarkeit willen werden die weiblichen Formen im Folgenden nicht mehr aufgeführt, sind aber selbstverständlich immer mit gemeint.
  • 3 Vgl. T. Busse: Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht, München 2008.
  • 4 So der Wahlspruch von www.utopia.de, dem „Webportal für strategischen Konsum und nachhaltigen Lebensstil“.
  • 5 Vgl. O. Geden: Macht die Sparlampen heller, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 23 vom 7.6.2009, S. 11; vgl. A. Grunwald: Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann, in: GAIA, 19. Jg. (2010), H. 3, S. 178 ff.
  • 6 Vgl. M. Bilharz, V. Fricke, U. Schrader: Wider die Bagatellisierung der Konsumentenverantwortung, in: GAIA, 20. Jg. (2010), H. 1, S. 9 ff.
  • 7 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Umweltbundesamt (Hrsg.): Umweltbewusstsein in Deutschland 2010. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, S. 43.
  • 8 Vgl. ebenda, S. 83. 8% der Befragten gaben an, dass sie bereits Ökostrom beziehen. Ob die Angabe zutrifft und ob es sich um „echte“ Ökostromangebote handelt, lässt sich der Umfrage nicht entnehmen.
  • 9 Vgl. M. Bilharz, V. Fricke, U. Schrader, a.a.O., S. 13.
  • 10 Vgl. K. Hartmann: Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die LOHAS und Lifestyle-Ökos vereinnahmt, München, Zürich 2009.
  • 11 Tatsächlich ist der Rückgang der Treibhausgase vor allem auf zwei Phänomene zurückzuführen, nämlich auf die Stilllegung der Produktion im Gebiet der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung und auf die Verlagerung vieler energieintensiver Produktionsbetriebe ins Ausland.
  • 12 Vgl. M. Hilgers: Raus aus der Ohnmachtsfalle!, in: Zeo2, Nr. 4/2011, S. 13 (14).
  • 13 Das entspricht einem Verbrauch von ca. 5,1 Litern Ottokraftstoff oder 4,5 Litern Diesel pro 100 km.
  • 14 Das entspricht einem Verbrauch von ca. 5,6 Litern Ottokraftstoff oder 5,0 Litern Diesel pro 100 km.
  • 15 Vgl. Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) u.a.: Wirtschaftliche Bewertung von Maßnahmen des Integrierten Energie- und Klimaprogramms (IEKP), http://www.bundesumweltministerium.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/fraunhofer_bewertung_iekp.pdf, S. 5.
  • 16 Vgl. J. Tartler: Die Jugend pfeift auf den Führerschein, http://www.stern.de/auto/news/weniger-pruefungen-die-jugend-pfeift-auf-den-fuehrerschein-1722643.html (31.8.2011).
  • 17 Vgl. J. Becker, V. Gaspar: Teure Autos zum Mitnehmen, in: ADAC motorwelt, Nr. 1/2012, S. 35 (36).
  • 18 Vgl. http://www.car2go.com/, https://www.drive-now.com/ und https://web.quicar.de/.
  • 19 Vgl. die Analyse von C. Crouch: Postdemokratie, Bonn 2008.
  • 20 Vgl. Verbraucherzentrale Bundesverband (Hrsg.): Energie 2050 – sicher, sauber, bezahlbar, Berlin 2012, S. 29.
  • 21 Vgl. W. Uchatius: Kapitalismus in der Reichtumsfalle, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 10.11.2011, http://www.zeit.de/2011/46/Kapitalismus.
  • 22 Vgl. R. Layard: Die glückliche Gesellschaft, Hamburg 2005, S. 43.
  • 23 Vgl. die Beratungen der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/gremien/enquete/wachstum/index.jsp.
  • 24 Bemerkenswert Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble: „So sehr wir uns für die Beseitigung des Hungers überall in der Welt einsetzen müssen, so sehr sollten wir uns andererseits in unseren eigenen westlichen Ländern für eine Begrenzung des Wirtschaftswachstums einsetzen.“ Vgl. W. Schäuble: Sind wir zu satt für Gott?, in: Christ & Welt, Nr. 51/2011, S. 3.
  • 25 Vgl. L. Erhard: Die Prinzipien der deutschen Wirtschaftspolitik, Vortrag vom 31.5.1954 in Antwerpen, nach der Wiedergabe in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Nr. 104, 2/2005, S. 13 (17).


DOI: 10.1007/s10273-012-1348-5