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Die Kernaufgabe der Europäischen Zentralbank ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat der EZB die Rolle aufgezwungen, durch Notmaßnahmen die Stabilität der Währungsunion zu sichern. Ihre Unabhängigkeit wird zunehmend dadurch gefährdet, dass es in diesem Prozess zu einer Verquickung von Fiskal- und Geldpolitik kommt. Wünschenswert wäre eine Rückkehr der EZB zu ihrer alten Rolle und eine Strategie, die für einen Abbau der weltweiten und europäischen Ungleichgewichte sorgen könnte.

Baldige Rückkehr zur alten Rolle erforderlich!

Die europäische Gemeinschaftswährung Euro wurde am 1. Januar 1999 mit der erklärten Absicht eingeführt, eine entpolitisierte Währung zu werden. Um ihre innere und äußere Stabilität zu gewährleisten, wurde eine unabhängige Europäische Zentralbank (EZB) gegründet, die unter Präsident Wim Duisenberg am 1. Juni 1998 ihre Arbeit in Frankfurt am Main aufnahm. Ihre Aufgaben und Ziele wurden erstmals im Jahr 1992 im Vertrag von Maastricht festgelegt. Dieser sah vor, dass die EZB ihrer Arbeit ohne politische Einflussnahme nachkommt. Diese institutionelle Unabhängigkeit entspringt der historischen Erfahrung, dass politisch abhängige Zentralbanken zu häufig kurzfristig stabilisierende Maßnahmen zulasten der mittleren und langen Frist ergreifen – sei es durch übermäßige geldpolitische Expansion oder gar durch die Monetisierung von Staatsschulden. Daher ist nach Art. 123 AEUV „der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln [von Regierungen der Mitgliedstaaten] durch die Europäische Zentralbank“ verboten. Dieses Verbot soll verhindern, dass die institutionelle Unabhängigkeit der EZB durch eine Pflicht zur Kreditgewährung an die Mitgliedstaaten der Währungsunion ausgehebelt wird.

Darüber hinaus wurde die EZB in Art. 127 Abs. 1 AEUV zur Wahrung der Preisniveaustabilität verpflichtet. Der Erreichung dieses Ziels sollte in der Tradition der Deutschen Bundesbank eine überragende Rolle zukommen. Die EZB selbst definiert Preisniveaustabilität als eine Veränderung des harmonisierten Verbraucherpreisindexes (HVPI) in der Eurozone, die unter, aber nahe bei 2% liegt. In der Wahl ihrer Instrumente und Methoden, die sie zur Wahrung niedriger und stabiler Inflationsraten anwendet, ist die EZB ebenfalls frei („Operationale Unabhängigkeit“). Der Festlegung des Leitzinses fällt hierbei in aller Regel die größte Bedeutung zu („konventionelle Geldpolitik“). Des Weiteren ist es der EZB gestattet, andere Ziele – z.B. die Erhöhung des Beschäftigungsniveaus in der Eurozone – zu verfolgen, insofern dies nicht die Wahrung der Preisniveaustabilität gefährdet. Die EZB konnte den an sie gerichteten Anforderungen in den ersten Jahren nach Einführung des Euro alles in allem gerecht werden. In den Jahren 1999 bis 2010 lag die durchschnittliche jährliche Veränderungsrate des HVPI in der Eurozone bei 1,98% und damit tatsächlich unter, aber nahe dem selbst gesetzten Referenzwert von 2%.

Die Reaktion der EZB auf die Weltfinanzkrise

Die Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre haben die EZB – und das Eurosystem insgesamt – vor enorme Herausforderungen gestellt. Der Finanz- und Bankenkrise, die im Frühjahr 2007 mit einem Abschwung am US-amerikanischen Immobilienmarkt begann und mit der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, begegnete die EZB mit einer deutlichen Senkung des Leitzinses von 3,75% auf historisch niedrige 1% und einer Reihe sogenannter unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen. Um das Bankensystem in der Eurozone zu stabilisieren, legte die EZB im Juni 2009 ein Ankaufprogramm für Pfandbriefe auf („Covered Bond Purchase Programme“, kurz CBPP) und erwarb bis Juni 2010 Wertpapiere im Wert von 60 Mrd. Euro, die sie bis zum Ende der Laufzeit hält. Im November 2011 kündigte die EZB ein vergleichbares Programm an (CBPP2), im Rahmen dessen sie bis Oktober 2012 Pfandbriefe im Wert von weiteren 40 Mrd. Euro kaufen wird. Darüber hinaus begegnete die EZB der Krise im Euro-Interbankenmarkt mit der Bereitstellung zusätzlicher Liquidität. Diese Programme waren von ihrer Dauer und Größe klar begrenzt und erschienen aus damaliger Sicht notwendig, um eine Kreditklemme in der Eurozone zu verhindern.

Die Reaktion der EZB auf die europäische Schuldenkrise

Im Zuge der Staatsschuldenkrise im Euroraum hat die EZB jedoch seit Anfang 2010 darüber hinausgehende Maßnahmen ergriffen, die Zweifel aufkommen lassen, ob sie noch durch den Geist der europäischen Verträge gedeckt sind. So akzeptiert die EZB Staatsanleihen von Euroländern, die Mittel aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) erhalten, ungeachtet ihrer Bonität, als Sicherheiten. Des Weiteren finanziert sie die Leistungsbilanzdefizite dieser Euroländer durch das Target2-System. Schließlich erwirbt sie im Rahmen des Ankaufprogramms für Staatsanleihen („Securities Markets Programme“, kurz SMP) Schuldtitel aus Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien (GIIPS-Länder). Die EZB überdehnt mit diesen Maßnahmen die ihr im Vertrag von Maastricht gesetzten Grenzen und zwar ohne erneute demokratische Legitimation. Damit riskiert sie sowohl ihre Unabhängigkeit als auch ihre Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit und somit ihre schärfsten Waffen im Kampf gegen die Inflation. Im Folgenden gehen wir genauer auf die aus unserer Sicht problematischen Maßnahmen ein.

Bis zum 14. Oktober 2008 war es übliche Praxis, dass die EZB Notenbankgeld nur gegen Sicherheiten guter Bonität ausgibt. Die von den Banken an die EZB verpfändeten Wertpapiere mussten ein Rating von mindestens A- aufweisen. Um den Banken den Zugang zu Zentralbankgeld zu erleichtern, wurden die Anforderungen an die Kreditsicherheiten als Reaktion auf die Finanz- und Bankenkrise am 15. Oktober 2008 auf BBB- abgesenkt. Wertpapiere derartiger Bonität gelten als ausfallgefährdet und daher als spekulative Anlage. Bis heute wurden die Anforderungen an die Kreditsicherheiten nicht wieder erhöht.

Im Zuge der Staatsschuldenkrise im Euroraum wurden die Bonitätsanforderungen an Staatsanleihen einzelner Euroländer sogar ganz ausgesetzt. So nimmt die EZB seit 10. Mai 2010 griechische Staatsanleihen als Kreditsicherheit an, obwohl das Land nicht mehr über einen Zugang zum privaten Kapitalmarkt verfügt und auf Hilfen durch den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Europäische Union (EU) und die im Juni 2010 gegründete EFSF angewiesen ist. Ebenso setzte sie die Bonitätsanforderungen an irische und portugiesische Staatsanleihen zum 31. März bzw. 7. Juli 2011 aus. Sowohl Irland als auch Portugal befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem Euro-Rettungsschirm, da ihre Refinanzierungskosten zuvor deutlich gestiegen waren und private Investoren die Schuldverschreibungen beider Länder aufgrund des hohen Risikos mieden. Indem die EZB ausfallgefährdete griechische, irische und portugiesische Staatsanleihen als Sicherheiten akzeptiert, misst sie diesen einen Wert zu, den sie nach Einschätzung privater Investoren nicht haben. So versetzt sie Banken in die Lage, mehr dieser Staatsanleihen zu kaufen, als nach Risikogesichtspunkten geboten wäre. Es handelt sich daher indirekt um eine Subventionierung der Refinanzierungskosten der betroffenen Staaten. Damit verstößt die EZB zwar nicht explizit gegen das Verbot der Staatsfinanzierung nach Art. 123 AEUV, aber sehr wohl gegen seine Intention.

Kritisch zu beurteilen ist auch die Rolle der Target2-Salden des Eurosystems. Sie messen das zusätzliche Geld, das die nationalen Notenbanken über das Maß hinaus verliehen haben, das für die eigene, innere Geldversorgung benötigt wurde. Ende Oktober 2011 betrugen die kumulierten Target2-Verbindlichkeiten der GIIPS-Länder 461 Mrd. Euro. Dem standen Target2-Forderungen der Deutschen Bundesbank in Höhe von 466 Mrd. Euro gegenüber. Das zusätzliche Geld wird von den GIIPS-Ländern verwendet, um Leistungsbilanzdefizite und Kapitalflucht durch das Eurosystem zu finanzieren, indem die dortigen Banken minderwertige Sicherheiten – z.B. ausfallgefährdete Staatsanleihen – für Zentralbankgeld hinterlegen, mit dem sie in anderen Euroländern Importe oder hochwertigere Vermögenstitel erwerben. Dieser Ressourcentransfer führt zu erheblichen Vermögensrisiken für die Kreditgeberländer, ist aber nicht parlamentarisch legitimiert. Auch verschleppt er die notwendigen realwirtschaftlichen Anpassungen in den GIIPS-Ländern. Diese Länder haben große Probleme, sich privates Kapital zu beschaffen. Sie befinden sich in einer Zahlungsbilanzkrise, die eigentlich zu drastischen – aber notwendigen – Reaktionen bei Löhnen und Preisen führen würde, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Zwar hat die EZB die Ausdehnung der Target2-Salden nicht herbeigeführt, sie hat sie aber akzeptiert. Zudem hat sie es versäumt, auf die Einführung eines Ausgleichsmechanismus – wie es ihn z.B. in den USA gibt – hinzuwirken. Im US-amerikanischen Zentralbankensystem müssen Target-Salden einmal jährlich durch marktfähige Wertpapiere hoher Bonität beglichen werden.

Ebenfalls kritisch zu bewerten ist das im Mai 2010 von der EZB aufgelegte Ankaufprogramm für Staatsanleihen (SMP). Im Rahmen des SMP hat die EZB bis Ende Dezember 2011 Staatstitel der GIIPS-Länder im Wert von 211 Mrd. Euro über den Sekundärmarkt erworben. Ihr Vorgehen hat die EZB zumeist damit begründet, dysfunktionale Marktsegmente behinderten den geldpolitischen Transmissionsprozess. Zudem hat sie auch den Erhalt der Finanzmarktstabilität als Grund angeführt. Es bleibt aber unklar, worin genau die Transmissionsstörung liegt und warum der Anstieg von Renditen auf Staatsanleihen der GIIPS-Länder das Euro-Bankensystem insgesamt derart bedroht, dass die EZB mit dem Ankauf von Staatsanleihen – und keiner weniger problematischen Maßnahme – eingreifen muss. Es wird zuweilen argumentiert, die EZB besäße nicht-öffentliche Informationen, die einen solchen Schritt tatsächlich rechtfertigen. Dies ist naturgemäß von außen schwer zu beurteilen. Die öffentliche Kontroverse zwischen EZB-Präsident Jean-Claude Trichet und dem ehemaligen Bundesbankpräsidenten und EZB-Ratsmitglied Axel Weber sowie der Rücktritt des EZB-Direktoriumsmitglieds Jürgen Stark legen allerdings nahe, dass es eher um unterschiedliche Interpretationen der Fakten und divergierende Ansichten zur Grundausrichtung der EZB geht.

Das Ankaufprogramm für Staatsanleihen der GIIPS-Länder stellt letztlich eine Vergemeinschaftung von Schulden dar, denn bei einem Forderungsausfall müssten alle anderen Mitgliedsländer der Währungsunion entsprechend ihres Kapitalanteils an der EZB für die Verluste einstehen. Dies widerspricht zwar nicht dem Wortlaut des Art. 123 AEUV, aber wohl dem Geist des Maastrichter Vertrages. Es ist zudem nicht ohne weiteres mit Art. 125 AEUV in Einklang zu bringen, der festlegt, dass ein Mitgliedstaat nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen haftet. Die Hauptfunktion dieser Nichtbeistands-Klausel besteht darin, die Mitgliedsländer der Eurozone zu einer verantwortungsbewussten Haushaltsführung zu bewegen. Indem die EZB diese Norm faktisch aushebelt, verlässt sie streng genommen den ihr gewährten Kompetenzrahmen. Zudem verstößt sie gegen das fundamentale demokratische Prinzip „Keine Besteuerung ohne Mitspracherecht“, da die Bürger in den haftenden Mitgliedstaaten im Zweifelsfall Steuermittel für die EZB-Verluste bereitstellen müssen, ohne dies demokratisch legitimiert zu haben. Der Ankauf von Staatsanleihen hat darüber hinaus negative Anreizwirkungen. Zum einen wird der Druck auf die Mitgliedsländer und die EU-Kommission reduziert, ihrerseits zügig Verfahren zur Lösung der Staatsschuldenkrise auf den Weg zu bringen. So existiert bis heute kein marktschonendes Insolvenzverfahren für Mitgliedsländer der Währungsunion oder zumindest für das europäische Bankensystem. Zudem sinkt der Konsolidierungsdruck auf die GIIPS-Länder, da die Ausspreizung der Renditen auf Staatsanleihen verhindert oder zumindest abgeschwächt wird. Somit fließt mehr Kapital in die GIIPS-Länder, als es aus Risikogesichtspunkten gut wäre.

Funktionswandel der EZB?

Die EZB hat im Zuge der Staatsschuldenkrise Maßnahmen getroffenen oder Reaktionen zugelassen, die mit dem vorgegebenen Rahmen der Europäischen Verträge nur schwer vereinbar sind. Insbesondere hat sie durch den Ankauf von Staatsanleihen und die Tolerierung der Target2-Kredite das Verbot der europäischen Gemeinschaftshaftung umgangen, ohne dass nationale Parlamente eingebunden worden wären. Da sie die betroffenen Staaten indirekt unterstützt und gleichzeitig zu Haushaltsdisziplin und Strukturreformen drängt, ist sie zunehmend zu einem direkt Beteiligten geworden, wenn es um die Bewältigung von Staatsschuldenproblemen geht. Damit haben sich die Währungshüter in einen Kernbereich der Politik hineinziehen lassen. Beobachter, Marktteilnehmer und sogar Regierungen scheinen derzeit zu erwarten, dass die EZB ihre neue Rolle auch in Zukunft wahrnimmt. Das Ziel einer unpolitischen Währung ist damit kaum zu vereinbaren.

Der EZB ist zugute zu halten, dass sie diese Rolle nicht aktiv gesucht hat. Vielmehr hat sie sich vor dem Hintergrund der extrem ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen von den Märkten und der Politik schrittweise hineindrängen lassen. Sie steht nun vor der Frage, wann der richtige Ausstiegszeitpunkt ist. Die Erfahrung mit den Staatsfinanzen lehrt, dass einer fiskalischen Expansion in der Rezession allzu selten eine rechtzeitige Kontraktion in besseren Zeiten folgte, um das „zarte Pflänzlein“ des Aufschwungs nicht zu zerstören. Die EZB hat es aber noch in der Hand, die kritischen Sondermaßnahmen zügig zu beenden, zu ihrer alten Rolle zurückzukehren und verlorene Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen. Es kommt darauf an, dass die EZB mit Taten deutlich macht, dass sie sich einer eindeutig stabilitätsorientierten Geldpolitik verpflichtet sieht und dass die europäischen Regierungen sie darin unterstützen.

Die EZB als Gläubigerin der letzten Instanz

Die Krise im Euroraum tritt in ihre entscheidende Phase. Seit Herbst 2009, als sie mit dem Fokus auf Griechenland begann, hat sie sich zumeist in Schüben sowohl ausgeweitet als auch vertieft. Die Krise dehnte sich regional immer weiter aus, weil sie immer mehr Länder – Irland, Portugal, Spanien und schließlich Italien – erfasste; sie vertiefte sich, weil die Schuldenproblematik trotz aller Bemühungen anscheinend bis zuletzt nicht in den Griff zu bekommen war.

Im Zuge dieser teilweise dramatischen Entwicklung gerät zunehmend die EZB in das Zentrum der Hoffnungen, aber auch der Kritik. Es geht um die Funktionen einer Zentralbank im Allgemeinen, und es geht um die Funktionen der EZB im Besonderen. Die Besonderheit ergibt sich aus der Konstruktion des Währungsgebiets. Denn anders als in den traditionellen Währungsgebieten, in dem die Währung an einen autonomen Staat gekoppelt ist, ist der Euroraum ein Währungsverbund von im Grundsatz unabhängigen Nationalstaaten. Wirtschaftspolitisch bedeutet dies, dass alle Bereiche außer der Geldpolitik auch weiterhin der nationalen Souveränität unterliegen. Es stellt sich also die Frage, welche Funktionen eine Zentralbank unter diesen nicht typischen Bedingungen übernehmen sollte. Insbesondere geht es um die Funktion der EZB in einer Situation, in der der Euro als Währung auf des Messers Schneide steht.

Blickt man in übliche Lehrbücher zur Geldpolitik, so findet man bei Issing1 vier Funktionen:

  1. Halten der Währungsreserve,
  2. Bank der Banken,
  3. Hausbank des Staates,
  4. Emission von Banknoten.

Alle diese Funktionen beziehen sich in erster Linie auf einen geldpolitischen „Normalbetrieb“, nicht aber auf eine grundlegende Krise eines Währungsgebiets. Gleichwohl schreibt Issing, dass „eine Notenbank als ‚Hüterin der Währung‘ keinesfalls dem politischen Willensprozess entzogen (sei); jede geldpolitische Maßnahme hat auch allgemein – politische Bedeutung“2. Dies ist als ein deutlicher Hinweis zu verstehen, dass sich die Zentralbank in einer Krisensituation zumindest mit allgemein politischen Erwägungen auseinanderzusetzen hat. Die Entscheidungen trifft sie freilich in eigener Kompetenz, die ihr durch ihre Unabhängigkeit garantiert bleibt.

Deshalb erscheint es sinnvoll, die üblichen Funktionen der Zentralbank auch in einem Krisenkontext zu betrachten, in dem sie ihre Funktionen in zweiter Linie ausübt. Von besonderer Bedeutung sind dann ihre Funktionen als Bank der Banken und als Hausbank des Staates. Hier stellt sich die Frage, ob die Zentralbank als Gläubiger der letzten Instanz (Lender of last Resort) fungieren kann, d.h., dass sie gegenüber Banken und dem Staat noch als Kreditgeber zur Verfügung steht, wenn hierzu sonst niemand mehr bereit ist.3

Eine solche Rolle kann mit externen Effekten, die Kreditengpässe auf den Finanzmärkten nach sich ziehen können, begründet werden. Wenn durch die wirtschaftliche Schieflage, z.B. einer Bank, Panik auf den Finanzmärkten entsteht, die auch andere Banken und mithin die gesamte Wirtschaft in Mitleidenschaft zieht, kann die Lage durch eine großzügige Bereitstellung von Liquidität seitens der Zentralbank unter Kontrolle gebracht werden. Die Panik verebbt oder tritt, weil alle um das Eingreifen des Lenders of last Resort im Voraus wissen und sich dessen sicher sind, erst überhaupt nicht auf.

Eine solche Stabilisierung, so notwendig sie prinzipiell erscheint, wirft jedoch Fragen auf. Denn sie kann die Haftung für wirtschaftliches Fehlverhalten beim Verursacher außer Kraft setzen, wenn z.B. auch die durch möglicherweise eigene Fehlentscheidungen in Schieflage geratene Bank durch die bereit gestellte Liquidität gerettet wird. In diesem Fall hätte letztlich die Zentralbank das Risiko übernommen. Für die Bank könnte somit ein Anreiz bestehen, Fehlverhalten, insbesondere durch Übernahme überhöhter Risiken, zu wiederholen. Denn es locken die hohen Renditen, während die Risiken ja letztlich von der Zentralbank, also ganz am Ende vom Steuerzahler, übernommen werden.

All diese Überlegungen gelten prinzipiell auch im Verhältnis der Zentralbank zum Staat. Gerät ein Staat in eine Schuldenspirale, weil seine Anleihen auf dem Finanzmarkt nur noch zu Renditen abzusetzen sind, die eine immer höhere Verschuldung durch neue Kredite erfordern, könnte eine Zentralbank, die als Gläubiger der letzten Instanz fungiert, entweder direkt oder indirekt über den Anleihemarkt Staatschuldpapiere aufkaufen und damit die Kurse stabilisieren. Die staatlichen Finanzen und damit die Finanzierung wichtiger öffentlicher Aufgaben würden zumindest kurzfristig gesichert sein. Aber auch in diesem Fall stellt sich die Frage, ob damit nicht auch ein Fehlverhalten des Staates aufgefangen wird. Wenn dieser sicher sein kann, dass unabhängig von seinem Finanzgebaren immer ein solventer Gläubiger bereit stünde. Im Extremfall, bei fortgesetzter Monetarisierung der Staatsschuld auch in wirtschaftlich guten Zeiten, droht durch die Käufe der Zentralbank eine Liquiditätsschwemme, die in hoher Inflation münden könnte. Um dieser Versuchung nicht zu erliegen, sind die Zentralbanken in der Regel unabhängig von Regierungen, und es gibt häufig institutionelle Regelungen, die ein massives Eingreifen zugunsten der Staatsfinanzen beschränken oder gar verbieten.

All diese Überlegungen sind in der gegenwärtigen Eurokrise von Bedeutung, wenn über die Funktion der EZB diskutiert wird.

Die Krise des Euroraums

Will man die veränderte Funktion der EZB im Verlauf der Krise des Euroraums analysieren, sollten deren Ursachen aufgezeigt werden, um den Handlungsdruck auf die EZB angemessen beurteilen zu können. In ihrem Ursprung ist die Eurokrise eine Zahlungsbilanzkrise.4 Im Kern heißt dies, dass Handelsungleichgewichte an der Wiege der Krise stehen. Dies konnte nur entstehen, weil sich die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten des Euroraums auseinander entwickelt hat. Dies zeigt sich vor allem in den Inflationsunterschieden, die sich über einen langen Zeitraum im Euroraum verfestigt haben.

Im Ergebnis führte dies dazu, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit jener Länder mit relativ hohen Inflationsraten permanent verschlechterte, während sich jene mit vergleichsweisem geringem Preisauftrieb fortwährend verbesserte. Hierdurch entstanden Leistungsbilanzdefizite und -überschüsse, die sich im Laufe der Zeit in beträchtlichem Umfang auftürmten. Dies heißt aber nichts anderes, als dass die Überschussländer Nettoauslandsvermögen innerhalb des Euroraums anhäuften, und die Defizitländer Schulden akkumulierten. Dabei geht es bei weitem nicht nur um Staatsschulden, sondern wie die Beispiele Irland und Spanien zeigen, auch um private Schulden, die allerdings später durch Rettungsaktionen des Staates zu Staatschulden wurden. Diese privaten Schulden sind aus Finanzmarkt- und Immobilienblasen entstanden und haben im Hinblick auf die Auslandsverschuldung prinzipiell die gleiche Wirkung wie Staatsschulden. Insofern beruht die Beschreibung der gegenwärtigen Krise als Staatsschuldenkrise auf einer zu engen Betrachtungsweise.

Der Kern der Eurokrise besteht nun darin, dass bei Beginn der Währungsunion nicht bedacht wurde, wie mit derartigen Leistungsbilanzungleichgewichten umzugehen sei. In der Regel wurde darauf gehofft, dass diese auch nur kurzfristig Bestand hätten und sich im Laufe der Zeit über eine höhere Inflation in Überschussländern und eine entsprechend niedrige in Defizitländern von alleine korrigieren würde.5 Dies ist nicht geschehen. Im Gegenteil bis 2007 nahmen sie ständig zu. Allerdings wurde selbst nach Ausbruch der Krise noch von manchen Beobachtern bestritten, dass zumindest aus deutscher Sicht überhaupt ein ernsthaftes Leistungsbilanzproblem vorlag.6

Mit der Finanzkrise änderte sich diese Sichtweise ab Herbst 2009 jedoch allmählich grundlegend. Die fundamentale Unsicherheit, teilweise sogar Panik, der Anleger auf den Kapitalmärkten veranlasste diese, ihre Finanzanlagen im Nachklang der Finanzkrise sehr sorgfältig zu prüfen. Dabei gerieten insbesondere die Kapitalanlagen in den Defizitländern des Euroraums, allen voran die Staatsanleihen Griechenlands, in den Fokus. Und es wurde ihnen klar, dass der Euroraum über keinerlei institutionelle Regelungen für den Umgang mit Leistungsbilanzdefiziten verfügt. Dies führte zu einem massiven Vertrauensverlust in diese Anleihen mit dem entsprechenden Kursverlust als Folge.

Hierdurch wurde ein Teufelskreis ausgelöst, da der implizite Zinssatz für Staatsanleihen, der sich durch den Kursrutsch einstellte, von keinem der Krisenländer auf Dauer zu refinanzieren war. Selbst für ein Überschussland wie Deutschland wäre bei einem Zinssatz von nahe 30%, wie sie für griechische Staatsanleihen Anfang 2012 verlangt werden, nach kurzer Zeit unter realistischen Annahmen keine Bedienung der Schulden mehr möglich. Es drohten also Staatspleiten als Folge der aus der Leistungsbilanzkrise entstandenen Vertrauenskrise.

Die Rolle der EZB in der Vertrauenskrise

Die entscheidende Frage lautet nunmehr, ob die EZB bei der Bewältigung dieser massiven Vertrauenskrise eine wichtige Rolle spielen sollte. Dabei ist auch zu klären, ob sie dies überhaupt darf und welche Nebenwirkungen insbesondere im Hinblick auf die Inflation im Euroraum, wenn überhaupt, zu erwarten sind. Zudem ist zu erwägen, welche Alternativen anstelle einer EZB-Intervention möglich sind.

Auf Dauer führt kein Weg daran vorbei, dass die institutionellen Rahmenbedingungen im Euroraum um eine Institution ergänzt werden, die sich der Aufgabe widmet, Leistungsbilanzkrisen präventiv zu verhindern und sie im Krisenfall zu überwinden.7 Dies ist jedoch kurzfristig nicht erreichbar. Daher müssen die bereits beschlossenen Krisenmaßnahmen diese Funktion übernehmen. Das Problem ist, dass weder die EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) noch der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), der ab Mitte des Jahres 2012 seine Tätigkeit aufnehmen soll, hierzu hinreichend finanziell ausgestattet sind. Hinreichend heißt, sie müssen in der Lage sein, zumindest die Schuldenstände der Krisenländer inklusive Italiens mittels niedrig verzinster Kredite zu stabilisieren. Dazu reichen die derzeitigen Mittel erkennbar nicht aus. Mithin wären Krisenländer weiterhin auf den Kapitalmarkt mit seinen hohen Zinsen angewiesen. Dies aber würde die Schuldenstände weiter nach oben treiben, anstatt sie zu vermindern. Hinzu kommt, dass die massiven Sparprogramme einen tiefen Absturz zur Folge haben. Auf dieser nicht nachhaltigen Basis kann aber kein Vertrauen entstehen. Die Finanzmärkte bleiben instabil.

Eine Lösung wäre, die Rettungsmechanismen finanziell noch besser auszustatten. Dies würde aber weitere Einlagen der Mitgliedsländer erfordern, deren Durchsetzung angesichts der bereits hohen Staatsverschuldung in fast allen Ländern des Euroraums politisch wahrscheinlich extrem schwierig wäre.

Damit bleibt nur eine Institution, die auf kurze Sicht überhaupt in der Lage ist, Vertrauen auf den Märkten zu erzeugen: die EZB. Genau dies ist die Funktion des Gläubigers der letzten Instanz, der Kredite vergibt, wenn niemand anderes es mehr will. Die EZB ist hierzu auch in der Lage, da sie über unbegrenzte Mittel in eigener Währung verfügt. Da die Verschuldung der Krisenländer weitaus überwiegend in Euro ist, steht damit prinzipiell einem Aufkauf von Staatsanleihen nichts im Weg.

Allerdings stellt sich im Rahmen des Euroraums, wo weiterhin im Grundsatz souveräne Nationalstaaten die fiskalpolitische Hoheit über den jeweiligen Mitgliedstaat behalten, die Frage nach der Anreizwirkung verschärft. Denn theoretisch wäre es möglich, dass ein Land sich genau deshalb über Gebühr verschuldet, weil den Regierungen die sichernde Funktion der EZB jederzeit bewusst ist. Es könnte über verminderte EZB-Gewinne oder gar über EZB-Verluste zu einer teilweisen Verlagerung der Schuldenlasten auf die übrigen Mitgliedstaaten kommen. Daher ist die Forderung, Unterstützung nur mit Auflagen zu geben, nicht völlig von der Hand zu weisen. An dieser Stelle stößt aber die EZB an die Grenzen ihrer Legitimation. Denn wenn eine unabhängige Zentralbank demokratisch legitimierten Regierungen bindende Auflagen machen kann, werden grundlegende demokratische Prinzipien wie das Budgetrecht des Parlaments eklatant verletzt.

Aus diesem Grund kann es keine schlichte Übernahme der Funktion eines Gläubigers der letzten Instanz seitens der EZB geben, sondern es bedarf einer Einbettung in ein demokratisches Gefüge von Institutionen. Kurzfristig kann dies nur in einem Beschluss des Europäischen Rates bestehen, dass kein Land fallen gelassen wird, wenn hinreichende und langfristig tragbare Konsolidierungsanstrengungen unternommen werden. Dies könnte z.B. durch einen Schuldentilgungsfonds, wie er vom Sachverständigenrat vorgeschlagen wurde, flankiert werden.8 Demnach werden alle Schulden, die eine Quote von über 60% des BIP eines Mitgliedslandes übersteigen, gemeinschaftlich garantiert. Im Gegenzug muss es sich unter Benennung einer konkreten Steuer verpflichten, die aus der Steuer erzielten Einnahmen zur Tilgung der Schulden einzusetzen. Mit diesem Beschluss im Rücken könnte die EZB die Funktion als Gläubigerin der letzten Instanz wahrnehmen und Staatsanleihen in einem Umfang aufkaufen, der die Renditen auf ein für die Staaten tragbares Maß reduziert. Anders als bisher könnte sie dies auch ankündigen – am besten nachdem sie bereits Papiere aufgekauft hat, um zu erwartende Kursgewinne mitzunehmen. Dies würde die Märkte schlagartig beruhigen, und es würde auch wieder Geld in die Anleihen der Krisenländer fließen. Vor diesem Hintergrund bedarf es nach einer solchen, glaubwürdigen Ankündigung wahrscheinlich nur noch geringerer Aufkäufe, um die niedrigeren Risikoaufschläge am Markt durchzusetzen.

All dies ist auch mit dem prioritären Ziel der EZB, Preisstabilität zu wahren, vereinbar. Denn in einer Phase, in der die Märkte zutiefst verunsichert sind, bläht sich die Kreditvergabe trotz des hohen Zustroms an Liquidität, was in der Tat zu Inflation führen könnte, nicht auf. Vielmehr wird die überschüssige Liquidität über das Bankensystem aus Sicherheitsgründen wieder bei der EZB zu niedrigen Zinsen geparkt. Unter diesen Umständen kann keine Inflation entstehen. Erst wenn die Panik aus den Märkten weicht, und das Geld in den Wirtschaftskreislauf fließt, könnte es durch Übersteigerungen zu Inflation kommen. Hierauf kann und muss die EZB rasch mit den Verkäufen der Staatspapiere reagieren. Auf diese Weise entzieht sie den Märkten wieder die zuvor zugeführte Liquidität und wird zudem noch Kursgewinne realisieren. Außerdem kann sie jederzeit die Zinsen erhöhen.

Dies alles zeigt: Unter wohl definierten Umständen kann die EZB schadlos eine Funktion als Gläubigerin der letzten Instanz wahrnehmen. In einer Notsituation, wie sie derzeit herrscht, ist dies, will man den Euro erhalten, sogar unvermeidlich. Auf Dauer führt allerdings kein Weg daran vorbei, eine Institution zu schaffen, die in der Lage ist, die wesentliche Ursache der Krise, die Leistungsbilanzungleichgewichte, präventiv und nachhaltig zu bekämpfen.

  • 1 Vgl. O. Issing: Einführung in die Geldpolitik, 2. Aufl., München 1993, S. 7 f.
  • 2 Vgl. ebenda, S. 11.
  • 3 Vgl. H. Thornton: An Enquiry into the Nature and Effects of the Paper Credit of Great Britain, London 1802.
  • 4 Vgl. G. A. Horn, T. Niechoj, S. Tober, T. van Treeck, A. Truger: Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts: Nicht nur öffentliche, auch private Verschuldung zählt, IMK Report, Nr. 51 (2010).
  • 5 Vgl. G. A. Horn, B. Mülhaupt, K. Rietzler: Quo vadis Euroraum?, IMK-Report, Nr. 1 (2005).
  • 6 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010/2011, Ziffer 187.
  • 7 G. A. Horn, A. Herzog-Stein, S. Tober, A. Truger: Den Bann brechen, Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2012, IMK Report 70, Januar 2012.
  • 8 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Verantwortung für Europa wahrnehmen, Jahresgutachten 2011/2012.

Die EZB und ihre politische Unabhängigkeit

Die EZB hat im Verlauf der Finanzkrise, die sich zur Eurokrise entwickelt hat, ihr traditionelles geldpolitisches Instrumentarium weiter ausgeschöpft und schrittweise immer mehr außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen. So hat die EZB, nachdem sie bereits die Zinsen auf ein historisches Tief gesenkt und den Banken unbeschränkt Liquidität zugesichert hatte, damit begonnen, Anleihen von Staaten des Euroraums aufzukaufen. Diese Erweiterung ihres Bewegungsspielraumes bzw. Mandates hat nicht nur zu bankexterner, sondern auch -interner Kritik geführt. Kurzfristig ist es zwar nachvollziehbar, dass die EZB in das politische Vakuum eingetreten ist. Längerfristig sind die Risiken für ihre Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit und damit für die langfristige Preisstabilität im Euroraum jedoch sehr hoch.

Eine Einschätzung dieser neuartigen EZB-Politik verlangt eine Einschätzung der Krise und ihrer für die EZB relevanten Aspekte, die wir in der Folge vornehmen wollen. Zuerst muss aber geklärt werden, was überhaupt die Aufgaben der EZB sind.

Preisstabilität und ihre Durchsetzung

Das vorrangige Ziel der EZB, oder genauer des Eurosystems (d.h. der EZB und der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist), ist die Gewährleistung der Preisstabilität im Euroraum. Um dieses Ziel mittel- und langfristig zu erreichen, sind politische Unabhängigkeit sowie Glaubwürdigkeit für eine Zentralbank essenziell. Das Preissetzungsverhalten wirtschaftlicher Akteure beruht auf (Preis-)Erwartungen. Eine glaubwürdige Zentralbank ist in der Lage, diese Erwartungen zu beeinflussen. Somit kann sie das Ziel der Preisstabilität mit geringeren gesellschaftlichen Kosten erreichen.

Politiker haben indes ein Interesse daran, die Zentralbank für ihre Zwecke zu nutzen. So könnte die Zentralbank dazu gebracht werden z.B. Schuldtitel des Staates zu übernehmen, um so die Mehrausgaben der Regierung zu finanzieren, oder Zinsen zu senken, um kurzfristig überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum zu erzeugen. Beides führt unausweichlich zum Verlust der Preisstabilität. Daher ist es gesellschaftlich wünschenswert, geldpolitische Entscheidungen außerhalb des politischen Einflusses stattfinden zu lassen. Die Bedeutung der Unabhängigkeit lässt sich mittels verschiedener Indikatoren messen. Zieht man z.B. die Anzahl der Wechsel in der Führungsspitze – wobei ein häufiger Wechsel in den Führungsgremien auf eine niedrige Unabhängigkeit einer Zentralbank hindeutet – zur Rate, lässt sich eine negative Korrelation mit der Höhe der Inflation bzw. deren Variabilität feststellen.1 Anders ausgedrückt: Je unabhängiger eine Zentralbank ist, desto niedriger ist die durchschnittliche Inflation bzw. die Preisvariabilität der Güter. Umgekehrt: je größer die Verquickung von Politik und Zentralbank, umso größer ist die Gefahr für die Preisstabilität.

Die Stabilität des Finanzsystems im Euroraum

Auch wenn das oberste Ziel der EZB die Preisstabilität ist, trägt die EZB zusätzlich eine besondere Verantwortung für die Stabilität des Finanzsystems. Gerade um diese zu sichern, hatte die EZB, wie auch andere Zentralbanken der großen Industrienationen, bereits 2008 und 2009 im Zuge der Finanzkrise, stark interveniert. Nahezu alle eingeführten außerordentlichen Maßnahmen sind hierauf zurückzuführen.

Wie man anhand der Risikoprämien auf dem Interbankengeldmarkt sehen kann, litt das Vertrauen unter den Banken damals extrem. Banken waren kaum noch bereit, sich gegenseitig Geld zu leihen. Den Zentralbanken blieb somit nicht viel anderes übrig, als zusätzliche Liquidität mittels unlimitierter und längerfristiger Refinanzierungsoperationen bereitzustellen (vgl. Abbildung 1). Geld, das sich die Banken normalerweise kurzfristig auf dem Interbankengeldmarkt beschaffen konnten, wurde von den Zentralbanken bereitgestellt und von den Banken umfänglich abgerufen. Interessanterweise wurde – zumindest im Euroraum – ein Großteil dieser zusätzlich bereitgestellten liquiden Mittel wieder über die Einlagefazilität und Termineinlagen bei der EZB im Eurosystem hinterlegt.

Abbildung 1
Stress im Interbankengeldmarkt des Euroraums
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1 Liquiditätszuführende Maßnahmen: Hauptrefinanzierungsgeschäfte, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte, Spitzenrefinanzierungsfazilität.
2 Liquiditätsabsorbierende Maßnahmen: Einlagefazilität, Termineinlagen.
3 Risikoaufschlag: Differenz zwischen unbesichertem Dreimonatsgeld (Euribor) und besichertem Dreimonatsgeld (Eurepo) am Interbankengeldmarkt.

Die Liquiditäts- und teilweise Solvenzprobleme einiger Staaten sowie die fragile Lage im Bankensektor und die Zahlungsbilanzprobleme, die durch die Kapitalflucht entstanden, haben wiederum zu einem starken Anstieg der Risikoprämien auf dem Interbankengeldmarkt gesorgt. Dies veranlasste die EZB zu weiteren Maßnahmen, und seit Mitte 2011 ist wieder eine starke Ausweitung der Brutto-Liquiditätsversorgung der EZB zu registrieren. Die EZB forcierte ihre Politik des günstigen Geldes und der unlimitierten Zuteilung weiter und setzte im Dezember 2011 einen neuen Höhepunkt mit der Einführung eines 3-Jahres-Tenders, der den seit der Krise neu eingeführten 1-Jahres-Tender ersetzte. Durch den 3-Jahres-Tender konnten sich Banken im Euroraum mit 500 Mrd. Euro frischem Geld versorgen. Die Nachfrage der Banken war groß, verdrängte aber andere Refinanzierungsgeschäfte der EZB und ein Großteil wurde zudem gehortet, d.h. bei der EZB gelagert. Letzteres sorgte sogar dafür, dass die Nettoliquiditätszufuhr seit Mitte 2011 stark abgenommen hat (vgl. Abbildung 1).

Auch wenn die effektive Liquiditätszufuhr kurzfristig abgenommen hat und auch das Wachstum des breiten Geldmengenaggregats M3, das oft als Indikator für zukünftige Inflationsschübe gesehen wird, seit Ende 2008 äußerst niedrig und in den letzten Monaten sogar negativ war, könnte sich die Politik des billigen Geldes prinzipiell mittelfristig als problematisch für die Einhaltung der Preisstabilität herausstellen. Allerdings stehen der EZB genügend Instrumente zur Verfügung, um einer zu starken Ausweitung der Kreditnachfrage entgegenzutreten. In dem Fall kann sie den Leitzins anheben bzw. die Liquiditätsversorgung der Banken einschränken. Solange der politische Wille der EZB vorhanden ist, ist dieses höchstens ein Problem der zeitlichen Planung, keines fehlender Instrumente.

Inflationserwartungen

Die wirkliche Gefahr für die EZB liegt somit im Verlust ihrer politischen Unabhängigkeit. Es stellt sich also die Frage, inwieweit die Öffentlichkeit bereits Zweifel an der Zielsetzung der EZB und damit ihrer Unabhängigkeit hat. Hierzu ist es sinnvoll, die derzeitige Lage im Hinblick auf ihr Hauptmandat, die Preisstabilität, zu evaluieren.

Die Verankerung der mittelfristigen Erwartungen ist ein wichtiges Indiz hierfür. Die Erwartungen sind langfristig weitestgehend unbeeinflusst von konjunkturellen und weiteren einmaligen Preiseffekten und daher gut geeignet, zu beurteilen, ob die Wirtschaftsexperten einer Zentralbank zutrauen, ihre Ziele verwirklichen zu können. Laut der Umfrage der EZB unter Prognoseexperten (Survey of Professional Forecasters, 2011 Q4) sind die Inflationserwartungen im Euroraum für in fünf Jahren über die letzten Quartale auf leicht über 2% angestiegen und verfehlen damit inzwischen das von der EZB erhobene Ziel von „nahe bei aber unter 2%“ – wenn auch nur knapp. Zoomt man genauer in die Zahlen hinein, gibt es aber Experten, die Inflationserwartungen von 3% in fünf Jahren erwarten. Zudem war die Streuung der erwarteten Inflation 2008 nur halb so groß wie zuletzt. Blickt man auf die abgefragte Wahrscheinlichkeit, dass die Inflationsrate sich in fünf Jahren zwischen 1,5% und 1,9% bewegen wird, dann hat sich diese von durchgängig fast 40% vor der Krise auf nicht einmal 30% im Durchschnitt des Jahres 2011 verringert. Insbesondere die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Inflationsrate über 2,5% bewegen könnte, hat substanziell zugenommen (vgl. Abbildung 2). Diese Gesamtentwicklung kann man als besorgniserregend interpretieren.

Abbildung 2
Entwicklung der Verteilung der mittelfristigen Inflationserwartungen
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Quelle: ECB Survey of Professional Forecasters, Durchschnitt der Erwartung der Wahrscheinlichkeitsverteilung der fünfjährigen Inflationsraten.

Die EZB im internationalen Vergleich

Generell steht die EZB mit ihrer Strategie einer ultra-lockeren Geldpolitik und ausgeweiteten Refinanzierungsmöglichkeiten der Banken nicht alleine da: Der Leitzins der Federal Reserve (FED) in den USA sowie der Bank of England (BOE) liegt sogar seit längerem deutlich unter dem der EZB. Erst vor kurzem hat die FED angekündigt ihre Leitzinsen bis in das Jahr 2014 hinein auf diesem niedrigen Niveau zu belassen. Zudem kaufen auch diese Zentralbanken die Anleihen ihrer eigenen Staaten seit einiger Zeit auf dem Sekundärmarkt auf. Die FED überlegt sogar, ob sie nicht im Rahmen eines „Quantitative Easing 3“ Aktien aufkaufen sollte. Aus diesem Blickwinkel und angesichts der Situation scheinen die Maßnahmen der EZB nicht außerordentlich, sondern sogar eher zurückhaltend. Der große Unterschied ist allerdings, dass es sich bei der FED und der BOE um Zentralbanken innerhalb einer Fiskalunion handelt, in der die übergeordnete Regierung für einen direkten oder indirekten Finanzausgleich und die finanzpolitische Überwachung sorgt. Innerhalb der Europäischen Union wie auch innerhalb des Euroraums finden nur in einem geringen Ausmaß Transferzahlungen statt, und die Europäische Kommission hat de facto keine Möglichkeiten, länderübergreifend fiskalpolitisch zu agieren. Die Mitgliedstaaten sind fiskalpolitisch unabhängig voneinander. Jeder Eingriff der EZB mit fiskalpolitischem Charakter würde die Souveränität der Mitgliedsländer tangieren und überdehnt damit ihr Mandat. Gerade aus diesem Grund ist das Mandat der EZB präziser und enger definiert als bei vielen anderen Zentralbanken.

Im Vergleich zu anderen Zentralbanken räumt die EZB daher der Diskussion über Struktur- und Fiskalpolitik deutlich mehr Bedeutung ein. Keine der anderen großen Zentralbanken wie die FED oder die BOE hat sich in ihrer Kommunikation mit der Außenwelt so intensiv mit der Budgetpolitik beschäftigt. Genauer genommen warnt die EZB bereits seit 2002 davor, dass manche Länder (die sie bisher nie explizit angesprochen hat) weder eine notwendige Strukturpolitik betreiben noch für einen nachhaltigen Staatshaushalt Sorge tragen.

Ankäufe von Staatsanleihen

Der politische Druck und das Fehlen jeglicher institutioneller Rahmenbedingungen für einen Krisenfall ließen der EZB praktisch keine andere Wahl, als den Versuch zu starten, die Höhe der Zinsen auf Staatsanleihen insbesondere von Portugal, Italien, Griechenland und Spanien zu senken. Die EZB kaufte und kauft dazu am Sekundärmarkt Staatsanleihen dieser Länder auf. Mittlerweile hat sie Staatsanleihen im Wert von 220 Mrd. Euro in ihrer Bilanz. Rein juristisch gesehen, widerspricht dieses Vorgehen nicht direkt dem Maastrichter Vertrag, da die Ankäufe nicht am Primärmarkt geschehen. Der Artikel 104 hält fest: „Kredite sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln durch die EZB.“ Das Wort „unmittelbar“ kann so interpretiert werden, dass Ankäufe über den Sekundärmarkt legitim sind. Allerdings heißt es darüber hinaus: „Die Gemeinschaft haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen.“ Die EZB hat somit zwar dem Artikel 104 entsprochen, aber dem „No-Bailout-Gedanken“, der auch in dem Gesetz erfasst wird, nicht genüge getan. Hierdurch wird die Glaubwürdigkeit wie auch die politische Unabhängigkeit der EZB in Frage gestellt. Da bereits Ankäufe getätigt werden und ein Ende der Krise noch immer nicht in Sicht ist, steigt der politische Druck auf die EZB, dieses Programm fortlaufend auszuweiten.

Der Wunsch der Politiker nach einer aktiveren Rolle der EZB ist nachvollziehbar. Zu Beginn der Krise gab es kaum ein anderes Vehikel, um in Notlage geratenen Staaten zu helfen. Man musste auf jene Institutionen zurückgreifen, die verfügbar waren und genügend finanzielle Mittel hatten – also auf die EZB. Inzwischen gibt es die EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) und ihr Nachfolger, der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), steht bereits in den Startlöchern. Es ist allerdings fraglich, ob deren Kapazitäten ausreichen. Wenn die Irrationalität der Finanzmärkte die Ursache der Zinsexplosionen ist, dann könnte eine große „Geste“ der EZB den Vertrauensverlust auffangen und umkehren. Die oftmals geäußerte Meinung ist daher: was die EFSF und der ESM nicht schaffen können, muss eben durch die EZB gestemmt werden.

Die EZB dafür abzustellen, notleidenden Staaten zu helfen, würde allerdings gravierende Fehlanreize setzen, die weiteres Fehlverhalten und Misswirtschaft in Zukunft fördern. Dadurch sinkt der Druck auf die Mitgliedsländer und auf die Europäische Kommission, ihrerseits Verfahren zur Lösung der Staatsschuldenkrise zügig einzuleiten. Und der Konsolidierungsdruck auf die betroffenen Länder sinkt ebenfalls.

Die EZB und die Zahlungsbilanzprobleme

Neben der fiskalpolitischen Seite ist ein weiteres grundlegendes Problem, dass die EZB ebenfalls eine wichtige – wenn auch in der Öffentlichkeit weniger diskutierte – Rolle beim Umgang mit den Zahlungsbilanzproblemen innerhalb des Euroraums spielt. Bereits vor der Krise zeigten Wollmershäuser und Sturm,2 dass hohe Asymmetrien in Preis- und Wachstumsentwicklungen zwischen den Mitgliedstaaten im Euroraum es für die EZB immer schwieriger machen, eine für alle angemessene Geldpolitik durchzuführen.

Lange Zeit lag das Zinsniveau angesichts der wirtschaftlichen Dynamik und Inflation in vielen südlichen Staaten unter dem für sie optimalen Niveau. Umgekehrt musste Deutschland mit – für seine Konjunkturlage – entsprechend zu hohen Zinsen umgehen. Zudem hat der Wegfall von Wechselkursrisiken einen Boom in den südlichen Staaten ausgelöst, der teilweise durch ausländisches Kapital finanziert wurde. Die Kehrseite war ein Anstieg der Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb Europas.

Die seit Anfang der Krise stattfindende Kapitalflucht würde in einem Regime mit flexiblen Wechselkursen zu sofortigen Wechselkursanpassungen führen, womit auch auf der Leistungsbilanzseite die nötigen Anpassungen forciert würden. Wie im Bretton-Woods-System bis zum Anfang der 1970er Jahre, oder im Europäischen Wechselkursmechanismus (ERM) Anfang der 1990er Jahre, müssen entweder die offiziellen Währungsreserven oder die Zinsen herhalten, um den festen Wechselkurs weiterhin garantieren zu können. Innerhalb des Eurosystems erfüllen die sogenannten Target-Salden die Funktion der Veränderung der offiziellen Reserven. Ohne sie hätte die Zinsdifferenz zwischen z.B. Deutschland und Italien bedeutend höher sein müssen, damit der Kapitalstrom genügend gebremst werden würde, um mit den Anpassungen auf der Leistungsbilanzseite Schritt halten zu können. Hiermit hält das Eurosystem die Zinsen in den Krisenländern niedriger (und in den anderen Ländern höher) als sie wären, wenn sie über den Markt realisiert werden würden.3 Unter konjunkturellen Gesichtspunkten ist das vielleicht zu begrüßen. Gleichzeitig reduziert es aber wieder den Reformwillen und setzt sowohl kurzfristige als auch langfristige Fehlanreize.

Schlussbetrachtung

Neben der als oberstes Ziel definierten Preisstabilität ist die EZB mitverantwortlich für die Finanzstabilität im Euroraum. Aus dieser Perspektive ist es nachvollziehbar, dass die EZB in der gegenwärtigen Krisensituation den Banken mit Hilfe verschiedener Instrumente Liquidität nahezu unbegrenzt zur Verfügung stellt. Dies stellt allerdings eine immense Subvention des Finanzsektors dar, welche die notwendigen Strukturreformen in diesem Sektor verzögern könnte. Damit ist klar, dass diese Maßnahmen definitorisch nur temporärer Natur sein können.

Das politische Vakuum auf europäischer Ebene zwang die EZB dazu, durch den Erwerb von Staatsanleihen Schlimmeres abzuwenden. Polit-ökonomisch gesehen, hat die EZB jedes Interesse daran, das Projekt „Euro“ am Leben zu halten. Ihre Existenz wäre sonst gefährdet. Diese Überlegung zeigt, dass zeitinkonsistentes Handeln bei der EZB wohl möglich ist. Auch das gefährdet ihre Glaubwürdigkeit.

Das kurzfristige Kalkül, das auch die EZB in letzter Zeit an den Tag gelegt hat, kann langfristig schwerwiegende Konsequenzen haben. Die Verquickung von Staatsfinanzierung und Geldpolitik schadet der Unabhängigkeit der EZB und damit ihrer Glaubwürdigkeit. Wir brauchen eine politische Transformation, die einerseits zu nachhaltigen Staatsfinanzen führt und andererseits Mechanismen etabliert, um in Krisenzeiten über die nötigen Mittel zu verfügen. Damit verbunden sind auch geregelte Prozesse, um in Not geratenen Staaten unter die Arme zu greifen oder im Falle einer Insolvenz diese ordnungsgemäß abzuwickeln. Nur dann kann sich die EZB wieder glaubwürdig ihrer Kernaufgabe, der Preisstabilität, widmen. Die Zeit drängt, nicht nur wegen der ungelösten fiskalpolitischen Probleme, sondern insbesondere in Hinblick auf die derzeitige Asymmetrie im Euroraum, die eine einheitliche Geldpolitik erschwert.

Der am 31.1.2012 beschlossene EU-Pakt, der das Ziel einer strengeren Haushaltsdisziplin hat und durch den die Umsetzung einer Schuldenbremse im staatseigenen Recht etabliert werden soll, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zudem ist es ein gutes Zeichen, wenn der ESM bereits in diesem Sommer aktiv wird. Bleibt zu hoffen, dass weitere Schritte folgen, damit die EZB so schnell wie möglich aus der Staatsfinanzierung aussteigen kann.

  • 1 H. Berger, J. de Haan, S. C. W. Eijffinger: Central Bank Independence: An Update of Theory and Evidence, in: Journal of Economic Surveys, 15. Jg. (2001), H. 1, S. 3-40.
  • 2 T. Wollmershäuser, J.-E.Sturm: The Stress of Having a Single Monetary Policy in Europe, CESifo Working Paper, Nr. 2251, 2008.
  • 3 H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser: Target Loans, Current Account Balances and Capital Flows: The ECB’s Rescue Facility, NBER Working Paper, Nr. 17626, November 2011.

Der finanzmarktdominierte Funktionswandel in der globalen und europäischen Geldpolitik

Die Geldpolitik hat ihr Gesicht verändert. Die geldmengenbasierte vorausschauende Inflationssteuerung wurde von unkonventionellen Maßnahmen abgelöst, die vorwiegend das Ziel verfolgen, die Finanzmärkte zu stabilisieren.1 Bisher wird dieser Funktionswandel in der europäischen Geldpolitik als ein temporäres Krisenmanagement verstanden. Doch in Japan ist die Abkehr von der traditionellen Geldpolitik schon seit mehr als einer Dekade zum Alltag geworden.

Die großen Zentralbanken sehen sich zunehmend in die Rolle der Krisenfeuerwehr auf Finanzmärkten gedrängt. Die Geldmenge als Indikator für zukünftige Inflation ist aus dem Blickfeld gerückt. Locker erreichte explizite oder implizite Inflationsziele werden als geldpolitische Erfolgsindikatoren kommuniziert, während eine von den großen Volkswirtschaften ausgehende Welle vagabundierender Liquidität globale Boom-und-Krisen-Zyklen befeuert. Im Verlauf des unumgänglichen Krisenmanagements ist die nach den Statuten der Europäischen Union unabhängige Europäische Zentralbank in das Spannungsfeld heterogener politischer Interessen gerückt. Marktwirtschaftliche Prinzipien wie Haftung oder die Signal- und Allokationsfunktion von Zinsen und Preisen werden außer Kraft gesetzt.

Die Veränderung der Funktion und der Ziele der Europäischen Zentralbank fügt sich in ein verändertes globales Umfeld geldpolitischer Entscheidungen seit den 1980er Jahren ein. Der institutionelle Rahmen geldpolitischer Entscheidungsfindung blieb auf Preis- und Outputentwicklungen auf den Gütermärkten ausgerichtet, während die wirtschaftliche Entwicklung zunehmend auf den Finanzmärkten bestimmt wurde. Bei unveränderten Regelmechanismen folgte die Geldpolitik nicht mehr dem Ziel der Preisstabilität und der Verteilungsgerechtigkeit, sondern wurde zunehmend als Instrument der keynesianischen Konjunktursteuerung eingesetzt.

Asymmetrische Geldpolitik in den USA und in Japan

Dieser Prozess ging von Japan und den USA aus. In Japan, wo die Exportindustrie eine zentrale Rolle für das Wachstum spielt, wurden seit den 1980er Jahren in Aufwertungsperioden des Yen die Zinsen stärker gesenkt als sie in Abwertungsperioden erhöht wurden. In den USA wurde unter Alan Greenspan und Ben Bernanke eine ähnliche Politik mit Fokus auf die Aktien- und Finanzmärkte betrieben. Zwar sah die Federal Reserve – wie im sogenannten Jackson Hole Consensus festgeschrieben – keine Notwendigkeit gegen Übertreibungen auf den Vermögensmärkten zu intervenieren. Doch wurden in Reaktion auf stark fallende Vermögenspreise die Zinsen entschieden gesenkt.

Die Geldmengenaggregate in den großen Volkswirtschaften konnten großzügig wachsen, da die inflationsfokussierten Zielgrößen der Zentralbanken nicht verletzt wurden. Die von den Zentralbanken emittierte Liquidität wurde nicht mehr in die Güter-, sondern in die florierenden Finanzmärkte gelenkt. Mit der Integration Chinas und Mittel- und Osteuropas in das System der internationalen Arbeitsteilung entstand ein globaler Deflationsdruck auf den Gütermärkten, der die Zentralbanken mit einer beispiellosen Periode der Preisstabilität glänzen ließ, ohne dass straffe Geldpolitiken verfolgt wurden.

Zwar bewirkte die strukturelle Ausweitung der globalen Liquidität eine wachsende Welle von Boom-und-Krisen-Zyklen auf den Vermögensmärkten. Doch wurden Übertreibungen in den Vermögensmärkten nicht als Zielgröße der Zentralbanken angesehen. Im Gegenteil rechtfertigten die deflationären Tendenzen, die platzende Blasen nach sich zogen, neue Runden der Liquiditätsausweitung. Es entstanden asymmetrische Muster in der Geldpolitik: In Boomphasen blieben die Zinsen lange Zeit niedrig, während die Zinsen in Krisenphasen schnell und deutlich gesenkt wurden, um die Finanzmarktstabilität sicherzustellen.

Die unweigerliche Konsequenz war die Konvergenz der Leitzinsen gegen Null. In Japan spricht man seit Ende der 1990er Jahre von einer Liquiditätsfalle, die mit zwei verlorenen Dekaden bei Stagnation trotz monetärer Expansion verbunden ist. In den USA wurde die Nullzinsuntergrenze beim Leitzins eine Dekade später mit der US-Hypothekenmarktkrise erreicht. Die Europäische Zentralbank zögert noch. Der Hauptrefinanzierungssatz liegt bei 1%. Doch auch in Europa ist ein historischer Tiefstand bei den Zinsen und ein historisch hohes Volumen der Zentralbankbilanz zu beobachten.

Ungleichgewichte bleiben bestehen

Der in der Tradition der Deutschen Bundesbank stehende institutionelle Rahmen der Europäischen Zentralbank ließ zunächst weniger Raum für eine asymmetrische Geldpolitik nach japanischem oder US-amerikanischem Muster. Die Unabhängigkeit der Zentralbank ist stärker ausgeprägt und das Inflationsziel mit nahe 2% klar definiert. Die monetäre Säule der geldpolitischen Strategie hätte es erlaubt, die Auswirkung monetärer Expansion auf Ungleichgewichte in den Finanzmärkten stärker in geldpolitische Entscheidungen einzubeziehen. Dass dies zunehmend nicht geschehen ist, hat drei Gründe:

  • Erstens stand die monetäre Säule der EZB unter wissenschaftlicher Kritik, da statistisch kein stabiler Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation etabliert werden konnte. Die wachsende akademische Kritik an Zielgrößen für Geldmengen spiegelte sich in einer wachsenden Bedeutung von reinen Inflationszielen wie der Taylor-Regel wider. Die monetäre Säule wurde ins Abseits gedrängt und der Referenzwert für das Geldmengenwachstum deutlich gerissen.
  • Zweitens wurde die asymmetrische Geldpolitik aus den USA auf Europa über den Wechselkurs übertragen. Die drastischen und lang anhaltenden Zinssenkungen der Federal Reserve unter Alan Greenspan in Reaktion auf das Platzen der Dotcom-Blase brachten seit der Jahrtausendwende den Euro unter Aufwertungsdruck. Der resultierende Deflationsimport erlaubte der Europäischen Zentralbank Zinssenkungen auf ein historisch niedriges Niveau, ohne dass das Inflationsziel von nahe 2% mittelfristig verletzt wurde. Doch es wurden innereuropäische spekulative Kapitalflüsse und Spekulation begünstigt. Gepaart mit den deutschen Bemühungen, nach dem Wiedervereinigungsboom die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmenssektors wiederherzustellen und die Staatsverschuldung zu konsolidieren, konnten sich deutsche Banken zu günstigem Zins bei der Europäischen Zentralbank finanzieren und Kredite in Peripherieländer der Europäischen (Währungs-)Union vergeben. Da die deutsche Fiskalpolitik im Vergleich zu den europäischen Peripherieländern restriktiv war, wurde auch ein fiskalischer Anreiz für den deutschen Kapitalexport gegeben. Die daraus resultierende Ausweitung der Leistungsbilanzungleichgewichte in der Europäischen Union wurde durch die Niedrigzinspolitik der EZB befeuert, da die Risikoprämien auf Staatsanleihen von Peripherieländern komprimiert wurden.
  • Drittens haben die aus den steigenden und persistenten Leistungsbilanzungleichgewichten hervorgehenden steigenden Nettoschuldner- und Nettogläubigerpositionen innerhalb der Europäischen Währungsunion eine neue Runde im Funktionswandel der Europäischen Zentralbank eingeleitet. Insbesondere, der Ankauf von Staatsanleihen von Krisenstaaten und die jüngste geldpolitische Lockerung deuten eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten (potenzieller) Krisenstaaten an. Die zahlreichen Nettoschuldnerländer an der Peripherie der Europäischen Währungsunion, wo die Staatsfinanzen von Ausfall bedroht sind, haben ein deutliches Interesse an unkonventioneller geldpolitischer Expansion. Diese reduzieren die möglichen Kosten der Rekapitalisierung von Banken. Die öffentlichen Zinslasten für Krisenstaaten werden verringert. Inflation entwertet real Verbindlichkeiten. Mit der Anhäufung von risikoreichen Vermögenswerten in der Bilanz der europäischen Zentralbank werden die nationalen Kosten der Krise auf europäischer Ebene sozialisiert. Zwar ist steigender Inflationsdruck bzw. die Gefahr neuer Boom-und-Krisen-Zyklen nicht im Interesse der Nettogläubigerländer. Doch ist deren Zahl neben Deutschland gering. Selbst Österreich, dessen Banken hohe Risiken im Osten Europas halten, dürfte zur einer expansiven Geldpolitik tendieren.

Funktionswandel der EZB

Die Heterogenität in der Europäischen Währungsunion, die durch die Niedrigzinspolitik seit der Jahrtausendwende nochmals deutlich verstärkt wurde, dient damit als Katalysator für den Funktionswandel in der europäischen Geldpolitik. Der Rücktritt wichtiger deutscher Vertreter aus dem Entscheidungsgremium der Europäischen Zentralbank symbolisiert den Wandel vom einen Zentralbankmodell deutscher Prägung zu einem Zentralbankmodel südeuropäischer bzw. angloamerikanischer Art.

Dies scheint ohne eine Veränderung des in den EU-Verträgen verankerten institutionellen Rahmens des Europäischen Systems der Zentralbanken möglich. Die Folge dürfte eine Umverteilung von deutschen Sparern und Steuerzahlern vor allem in den Süden der Europäischen Währungsunion aber auch zugunsten der Finanzinstitute sein. Dieser Prozess könnte letztendlich auch die Zustimmung der deutschen Regierung finden, da die Rückkehr zu einem Zentralbankmodell deutscher Prägung mit hohen Risiken für den (teils staatlichen) deutschen Bankensektor verbunden wäre.

Der deutsche Sparer und Steuerzahler muss sich deshalb auf eine Geldpolitik einstellen, die weiterhin auf eine monetäre Expansion, insbesondere durch den Aufkauf von Staatspapieren von Schuldnerstaaten, setzen wird. In welcher Form Opfer realisiert werden, ist ungewiss. Der traditionelle, gütermarktbasierte Umverteilungskanal expansiver Geldpolitik ist die Inflation, die die realen Löhne und Zinseinkommen senkt. Doch die Inflationserwartungen sind bis auf absehbare Zeit gering.

In dem veränderten Umfeld finanzmarktdominierter Wirtschaftsentwicklung sind alternative Umverteilungskanäle denkbar. Zum Beispiel werden über Boom-und-Krisen-Zyklen die von Finanzinstituten eingegangenen Risiken auf den Staat übertragen. Die Staatsverschuldung steigt an. Dies zwingt den öffentlichen Sektor in nominale Lohnzurückhaltung, was auch Lohnerhöhungen im privaten Sektor dämpft. Steigende Risikoprämien auf Zinsen werden über konventionelle und unkonventionelle geldpolitische Expansion abgesenkt, sodass die Einlagenzinsen gegen Null tendieren. Auf der Grundlage von nominaler Lohnausterität und Geldmengenexpansion reicht schon eine Zielinflationsrate von 2% aus, um die realen Lohn- und Zinseinkommen des Haushaltsektors ins Negative zu drehen. Ein Umweg über hohe Inflation zur Überwälzung der Lasten von geldpolitisch begünstigter Finanzmarktspekulation ist nicht mehr nötig.

  • 1 G. Schnabl: Monetary Policy Reform in a World of Central Banks, Global Financial Markets Working Paper, Nr. 26, 2012.

Grenzen des Konzepts einer unabhängigen Zentralbank

Herkömmlich hat die ökonomische Wissenschaft ein Rezept gegen Rezession und Inflation bereitgehalten: Steuerung des von der Zentralbank gesetzten Zinssatzes zwecks Stimulierung oder Dämpfung der Investitionen. Dies ist Teil des theoretischen Modells, das zugleich die geistige Basis für die Institution einer unabhängigen Zentralbank bildet. Die Zentralbank bestimmt den Geldmarktzinssatz und damit indirekt den Kapitalmarktzinssatz zwischen der Skylla eines zu hohen Zinses, der Rezession hervorruft, und der Charybdis eines zu niedrigen Zinses, der Inflation verursacht. Sie hat dabei vor allem das Ziel der Preisstabilität im Auge. Diese kann als vorrangiges Ziel propagiert werden, weil auch ein Abweichen von der Preisstabilität zugunsten zu niedriger Zinsen mit kurzfristig stimulierender, aber letztlich inflatorischer Wirkung langfristig nicht zu mehr Sozialprodukt, mehr Wohlstand und mehr Beschäftigung führen würde. Das ebenfalls wohlstandssteigernde Ziel der Preisstabilität wäre langfristig ohne Gegenwert geopfert worden. Die Unabhängigkeit der Zentralbank dient in dieser Theorie dazu, dass die Geld- und Zinspolitik nicht Zielen untergeordnet wird, die kurzfristig erreichbar, aber nicht dauerhaft sind. Der auf kurzfristige Erfolge angewiesenen Politik einer Regierungsmehrheit sollen damit Schranken gesetzt werden.

Dieser Politikansatz gerät in Schwierigkeiten, wenn der ihr entsprechende Realzinssatz nicht mehr positiv ist. Denn Preisstabilität, also das von der Zentralbank nach diesem Ansatz zu verfolgende Ziel, bedeutet ja, dass Realzinssatz und Nominalzinssatz einander gleich sind, und dass fernerhin der Realzinssatz mindestens gleich Null ist. Denn Preisstabilität heißt auch, dass Anleger die Möglichkeit haben, ein Anlageinstrument zu wählen, das sie keinem Risiko, insbesondere keinem Kaufkraftrisiko aussetzt, das ihnen also eine risikofreie Realrendite von mindestens Null verspricht. Bei Preisstabilität ist damit Null die Untergrenze für den risikofreien Realzinssatz.

Ein negativer gleichgewichtiger Realzinssatz als Strukturproblem für eine unabhängige Zentralbank

Nun kann es aber sein, dass bei einem risikofreien Realzinssatz von Null und bei guter Auslastung der Kapazitäten die volkswirtschaftliche Ersparnis größer ist als die volkswirtschaftliche Nettoinvestition – und das weltweit. Das aber ist für eine geschlossene Volkswirtschaft – und die Weltwirtschaft ist das Paradebeispiel für eine geschlossene Volkswirtschaft, da mit anderen Planeten oder Fixsternen kein Handel stattfindet – gar nicht möglich. Also ist eine gute Auslastung der Kapazitäten dann unmöglich. Um diese zu erreichen, müsste der Realzins negativ werden, was aber nur bei Inflation möglich ist. Im Folgenden spreche ich vom gleichgewichtigen Realzins als demjenigen Realzins, der es ermöglicht, dass – weltweit – die Ersparnisse und die Investitionen bei guter Auslastung der Kapazitäten gleich hoch sind.

Es gibt zwei unterschiedliche Erklärungen, weshalb der gleichgewichtige weltweite Realzins negativ sein kann. Die eine Erklärung ist eine kapitaltheoretische: der Vermögensbildungswunsch zwecks Zukunftsvorsorge ist bei der Bevölkerung so groß, dass bei zu geringen Staatsschulden dieses gewünschte Vermögen nicht vollständig in der Form von Realkapital im Produktionsprozess untergebracht werden kann, solange der Realzins gleich Null oder größer als Null ist. Es bedarf dann eines erheblichen Ausmaßes an Staatsschulden, damit das Privatvermögen in dem gewünschten Ausmaß das Realkapital der Weltwirtschaft übersteigen kann, wenn der gleichgewichtige Realzins der Preisstabilität wegen nicht negativ werden kann. Ich habe diese These in anderen Publikationen im Einzelnen begründet, dabei allerdings offen gelassen, ob die aktuelle weltweite Staatsverschuldung ausreichend ist, um den gleichgewichtigen Realzins auf ein nicht-negatives Niveau anzuheben.1

Die in diesen Publikationen kapitaltheoretisch begründete These des negativen gleichgewichtigen Realzinssatzes ist verwandt mit der „Savings-Glut-These“ von Greenspan und Bernanke. Diese war aufgekommen, als man beobachtete, dass das Entwicklungsland China einen großen Teil der Investitionen des reichen Landes USA durch seinen Kapitalexport bei einem sehr niedrigen Realzins finanzierte. Hinter der Savings-Glut-These wie auch hinter meiner kapitaltheoretischen These des weltweiten Überhangs des privaten Vermögensbildungswunsches über dem privaten Realkapitalbildungswunsch stehen demographische Entwicklungen der steigenden Lebenserwartung und die Tatsache, dass für die wirtschaftliche Entwicklung bei Schwellenländern der Engpass nicht die Kapitalknappheit ist, sondern die Fähigkeit, auf den Weltmärkten konkurrenzfähige Produkte anzubieten. Dort, wo in einem Schwellenland diese Fähigkeit erworben und somit dieser Engpass überwunden wird, verwandelt sich dieses Land sehr schnell zum Kapitalexportland und fällt damit als „Senke“ für einen Kapitalanlagewunsch der reichen Ländern aus.

Dass Kapital in der Welt im Saldo „aufwärts“ fließt, also von Schwellenländern in reiche Länder, hängt auch mit der Struktur der Eigentumsrechte und der Finanzmärkte zusammen. Der hohe Grad des Rechtsschutzes des Eigentums in den USA und in vielen anderen angelsächsischen Ländern macht sie als Zielort für Vermögensanlagen besonders attraktiv. Hierauf aufbauend ist ein Finanzsektor entstanden, mit dessen Hilfe auch die private Verschuldung wesentlich erleichtert wurde. Diese wird dann von den Schwellenländern mitfinanziert.

Die andere Erklärung für einen negativen gleichgewichtigen Realzins ist eine finanzmarkttheoretische: Auf den Finanzmärkten besteht eine so große Verunsicherung und ein so großes Misstrauen zwischen den Akteuren, dass die Finanzmärkte ihre ureigenste Funktion des Zusammenbringens von Kapitalangebot und Kapitalnachfrage nicht mehr in hinreichendem Maße erfüllen können. Vieles hiervon kann unter dem Stichwort „Deleveraging“ zusammengefasst werden. Die potentiellen Gläubiger misstrauen in hohem Maße den potentiellen Schuldnern. Die potentiellen Schuldner bemühen sich darum, ihre „Bonität“ dadurch wieder herzustellen, dass sie ihren Schuldenstand im Verhältnis zu einem geeigneten Referenzwert zu vermindern suchen: „Deleveraging“. So entsteht eine allgemeine Investitionszurückhaltung. Bei den Banken ergibt sich im Sinne des Deleveraging eine Tendenz zur Verkürzung der Bilanzsumme mit einer zusätzlichen Zurückhaltung bei der Kreditvergabe. Bei einem Realzinssatz von Null oder darüber reicht in dieser Situation das Investitionsvolumen nicht aus, um das weltwirtschaftliche Sparvolumen bei hoher Beschäftigung zu absorbieren. Der gleichgewichtige Realzinssatz ist in diesem Falle negativ. Nur bei einem negativen Realzinssatz, also bei Inflation, also bei einer „Flucht in die Sachwerte“ kann dann hohe Beschäftigung erreicht werden.

Gleichgültig, welche der beiden Erklärungen die richtige ist, die Konjunkturpolitik mittels einer an der Preisstabilität ausgerichteten Geld- und Zinspolitik einer unabhängigen Zentralbank kommt im Falle eines negativen gleichgewichtigen Realzinssatzes an ihr Ende. Sofern nicht einfach das Ziel hoher Auslastung der Produktionskapazitäten und geringer Arbeitslosigkeit fallen gelassen wird, muss die Gesamtnachfrage über das Maß hinaus gesteigert werden, das im Rahmen der herkömmlichen Zentralbankpolitik ermöglicht werden kann. Der eine Ausweg ist der einer expansiven Fiskalpolitik solcher Staaten, die das Vertrauen der Kapitalmärkte haben. Der andere Ausweg ist der der geplanten Inflation. Beide Auswege begegnen sowohl dem Widerstand der Bevölkerung als auch dem Widerstand derjenigen Ökonomen, die an die Rückkehr zu einer Welt glauben, in der der gleichgewichtige Realzins erneut positiv ist.

„Quantitative Easing“ und Staatsfinanzierung durch die Zentralbank

Da die herkömmliche Politik der Zentralbank seit der Finanzkrise und seit der europäischen Staatsschuldenkrise an das Ende ihrer Möglichkeiten gekommen ist, betreiben sowohl die US-amerikanische, als auch die britische als auch die Europäische Zentralbank „Quantitative Easing“: Sie kaufen längerfristig laufende Festverzinsliche, insbesondere Staatsanleihen, um auf diese Weise bei einem niedrigen Zins am kurzen Ende auch den Zins am langen Ende zu senken. Dadurch soll, so die Erklärung, der für die Erstellung langlebiger Kapitalgüter entscheidende Kostenfaktor „langfristiger Zins“ gesenkt, und sollen somit die Investitionen insbesondere in neu zu erstellende Immobilien stimuliert werden.

Die Problematik einer solchen Form der Konjunkturstimulierung ist, dass es hier einen fließenden Übergang zur Staatsfinanzierung durch Gelddrucken gibt. Das wird besonders deutlich bei den Ankäufen von Staatsanleihen seitens der EZB. Die Bank muss sich natürlich, wenn sie solche länger laufender Anleihen kauft, eine Meinung bilden, ob die sich in den Marktrenditen spiegelnden Ausfallrisiken denen ihrer eigenen Einschätzung entsprechen. Damit aber hat die EZB einen Entscheidungsspielraum, welche Staatsanleihen sie kauft. In der kritischen Situation der Staatsschuldenkrise sind die Dispositionen der EZB dann aber auch immer ein Signal für die Märkte. Aus diesem Grund ist es unvermeidbar, dass die Bank nicht nur das allgemeine langfristige Zinsniveau beeinflusst, sondern Staatsanleihen speziell derjenigen Staaten kauft, die unter dem Misstrauen der Märkte leiden. Würde sie das nicht tun, wäre das eine Misstrauenskundgebung für diese Staatsanleihen. Damit aber ist die EZB praktisch gezwungen, mit ihren Käufen die Finanzierung der Staatshaushalte wackliger Staaten im Euroraum zu erleichtern. Es ist dann keine klare Grenze mehr zu ziehen zwischen einem allgemeinen „quantitative easing“ zwecks Senkung des Niveaus der langfristigen Zinsen und der Finanzierung von Staatshaushaltsdefiziten.

Sobald aber die Zentralbank in die Rolle eines (impliziten) Staatsfinanzierers hineinrutscht, ist es mit ihrer Unabhängigkeit vorbei. Die nationale Zusammensetzung des Zentralbankrats erzwingt in einer derartigen Krisensituation, dass der Angehörige eines Euro-Mitgliedstaates in diesem Entscheidungsgremium von diesem als sein „Botschafter“, als Sachwalter der Interessen dieses Mitgliedstaates verstanden wird. Der daraus resultierende handfeste oder doch zumindest „moralische“ Druck aus seinem Herkunftsland ist unvermeidlich. Dieser Druck wächst zudem mit der Zeit. Wenn es sich herausstellt, dass ein Kollege im Zentralbankrat sich dem heimatlichen Druck gebeugt hat, steigt der Druck aus dem eigenen Heimatland, dann doch wenigstens dafür zu sorgen, dass Maßnahmen im Interesse des eigenen Landes getroffen werden, die die vorangehenden Maßnahmen zugunsten eines anderen Landes zumindest kompensieren. Ein unabhängig entscheidender Zentralbankrat ist dann keine Gleichgewichtssituation mehr. Spieltheoretisch gesprochen: ein Gremium von unabhängig entscheidenden Fachleuten im Zentralbankrat ist dann kein Nash-Gleichgewicht mehr.

Der einzige Weg, der bleibt, um die Unabhängigkeit des Zentralbankrats zu erhalten, ist der, dass dieser sich entscheidet, auf „quantitative easing“ ganz zu verzichten, sodass der Kauf von langfristigen oder auch mittelfristigen Staatsanleihen grundsätzlich ausgeschlossen ist. Dann aber liegt die gesamte Bürde der Stabilisierung des Euro bei den fiskalischen Maßnahmen. Ob diese so schnell implementiert werden können, dass das Vertrauen der Kapitalmärkte in die Staatsschuldner so rechtzeitig wieder hergestellt werden kann, dass nicht vorher ein weitgehender Vertrauenszusammenbruch stattfindet, bleibt fraglich.

Vermehrte (implizite) Staatsverschuldung?

Wäre der gleichgewichtige Realzinssatz positiv, so ginge die Theorie der unabhängigen Zentralbank mit dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität auf. Wie aber kann man zu einem positiven gleichgewichtigen Realzins zurückkommen? Das Rezept hängt davon ab, ob man der Meinung ist, der negative gleichgewichtige Realzins sei kapitaltheoretisch oder finanzmarkttheoretisch begründet. Im letzteren Fall sieht man ihn als vorübergehendes Phänomen einer Vertrauenskrise an. Man kann sich dann die Hoffnung machen, dass mit dem Abebben der Finanzmarktkrise oder der Staatsschuldenkrise auch das Vertrauen in den Finanzmärkten zurückkehrt, wodurch dann der gleichgewichtige Realzins wieder positiv wird. Daraus resultiert die Empfehlung, die Staatsschulden einzudämmen, um das Vertrauen der Märkte in die Staatsschuldner zurückzugewinnen.

Erklärt man den negativen gleichgewichtigen Realzins jedoch durch einen strukturellen Überhang des privaten Sparwunsches über den privaten Investitionswunsch, dann kann es nicht nur um das Zurückgewinnen des Vertrauens in den Kapitalmärkten gehen. Wenn der gleichgewichtige Realzins aus strukturellen Gründen negativ ist, dann muss eben diese Struktur geändert werden, damit dieser wieder positiv werden kann – um so eine erneut unabhängige Zentralbank zu ermöglichen. Diese strukturelle Änderung muss dann gerade darin bestehen, dass die Staatsschuldenquoten im Durchschnitt steigen, um so die Gleichheit zwischen Kapitalangebot und Kapitalnachfrage bei positivem gleichgewichtigem Realzins möglich zu machen. Die Aufgabe erhöhter Staatsverschuldung muss den Staaten zufallen, die Kapitalexporteure sind, die also über einen Leistungsbilanzüberschuss verfügen. Von den größeren Ländern sind hier insbesondere China, Deutschland und Japan zu nennen. Denn das Vertrauen in die Staatsschuldner hängt ganz wesentlich daran, dass ihre Leistungsbilanzen positiv sind.

Was gegenwärtig im Euroraum geschieht, ist eine versteckte Vermehrung der Staatsschulden. Während im neuen Fiskalpakt sich die Staaten gegenseitig Schuldenbremsen versprechen, wird durch die Ankäufe von Staatsanleihen seitens der EZB und durch die immer weiter steigenden Target-Salden der nationalen Zentralbanken die versteckte Staatsverschuldung massiv in die Höhe getrieben. In beiden Fällen ist die EZB der Akteur, der diese versteckte Staatsverschuldung ermöglicht. Im Zentralbankrat dominieren quantitativ die Vertreter der Staaten, die an dieser versteckten Staatsverschuldung interessiert sind. Damit wird die Europäische Zentralbank zum Befehlsempfänger derjenigen Euro-Mitgliedstaaten, denen der Kapitalmarkt nicht mehr vertraut. Man beachte, dass es sich hier zu einem großen Teil auch um eine versteckte Verschuldung des deutschen Fiskus handelt: anstelle der normalerweise vorhandenen Nettogläubigerposition der Bundesbank gegenüber den Geschäftsbanken sind heute die deutschen Geschäftsbanken Nettogläubiger der Bundesbank. Sollten die Target-Kredite der Bundesbank in Zukunft nicht zurückgezahlt werden können, so müsste die Bundesbank durch den deutschen Fiskus rekapitalisiert werden, was den Stand der deutschen Staatsschulden massiv steigern würde. Daher ist die Schuldenbremse Deutschlands, sind aber auch die versprochenen Schuldenbremsen der anderen Fiskalpakt-Partner Augenwischerei. Und der „Augenwischer“ ist in diesem Fall die insoweit überhaupt nicht mehr unabhängige Europäische Zentralbank.

Um die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls der indirekt über die EZB oder den ESM an die schwachen Euroländer verliehenen Gelder zu vermindern, muss inzwischen auch Deutschland mehr und mehr an einer Inflation im Euroraum interessiert sein. Dadurch vermindert sich zwar der Realwert der Forderungen Deutschlands, zugleich aber erhöht sich die Chance, dass sich die Staatsfinanzen und die Konjunktur in den schwachen Euroländern so verbessern, dass sie in Bezug auf ihre direkten und indirekten Schulden gegenüber Deutschland nicht fallieren. Zugleich bietet die Inflation auch einen Ausweg für das Ungleichgewicht der nationalen Leistungsbilanzen im Euroraum. Eine starke Lohninflation in Deutschland vermindert die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und verhilft den übrigen Euroländern durch eine somit induzierte Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Deutschland heraus in diese Länder zu neuen Wettbewerbschancen. Insofern wird sich der Widerstand Deutschlands gegen eine die Schuldner begünstigende inflatorische Geldpolitik der EZB in engen Grenzen halten.

  • 1 C. C. von Weizsäcker: Public Debt Requirements in a Regime of Price Stability, Preprint of the Max Planck Institute for Research on Public Goods, Bonn 2011/20, August 2011, http://www.coll.mpg.de/biblio/aid/123?sort=issue; derselbe: Staatliches Gewaltmonopol, Staatsschulden und individuelle Vorsorge, Walter Adolf Jöhr Vorlesung 2011, St. Gallen 2011, www.fgn.unisg.ch/Walter+Adolf+Joehr+Vorlesung.aspx; derselbe: Die Notwendigkeit von Staatsschulden, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 11, S. 720-723.


DOI: 10.1007/s10273-012-1332-0