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Ende März 2012 hat der Bundestag ein Gesetz zum Abbau der kalten Progression beschlossen. Wenn dieses Gesetz den Bundesrat nicht passiert, könnten die Steuerzahler durch Maßnahmen entlastet werden, die nicht bundesratspflichtig sind – beispielsweise durch eine Reform des Solidaritätszuschlags. Die Autoren kommen auf Basis einer Mikrosimulationsanalyse zu dem Ergebnis, dass eine solche Reform das deutsche Einkommensteuersystem nicht nachhaltig verbessern würde.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 7. Dezember 2011 zum Abbau der kalten Progression durch eine inflationsbedingte Anpassung des Einkommensteuertarifs wurde Anfang Februar dieses Jahres mit Verweis auf die prekäre Haushaltssituation vieler Länder und Gemeinden vom Bundesrat abgelehnt. Zentrales Ziel des Reformvorschlags ist es, die durch die kalte Progression entstehenden ungewollten Mehreinnahmen des Staates an die Steuerzahler zurückzugeben.1 Diese Steuermehreinnahmen entstehen, wenn Lohnerhöhungen lediglich zu einem Inflationsausgleich führen, der Durchschnittssteuersatz aufgrund der progressiven Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs aber steigt. Im Vorfeld des Gesetzentwurfs zum Abbau der kalten Progression hat das RWI im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die Aufkommens- und Entlastungseffekte verschiedener Reformoptionen zur Einkommensbesteuerung untersucht, wobei ein Schwerpunkt der Reformvorschläge auf einer alternativen Vorgehensweise, nämlich der Veränderung des Solidaritätszuschlags, lag.2

Vor dem Hintergrund eines möglichen Scheiterns des Gesetzes stellt sich die Frage, inwiefern Steuerentlastungen durch eine Absenkung des Solidaritätszuschlags eine sinnvolle Alternative zu dem aktuellen Gesetzentwurf darstellen. Aus Sicht der Regierungsparteien liegt der Vorteil dieser Reformalternative zumindest darin, dass die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag ausschließlich dem Bund zustehen und eine Modifikation des Solidaritätszuschlags daher im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig ist. Als objektive Entscheidungshilfe zur Beantwortung dieser Frage werden im Rahmen dieses Beitrags die Aufkommens- und Verteilungswirkungen des aktuellen Gesetzvorschlags mit möglichen, vom BMWi entwickelten Reformoptionen für den Solidaritätszuschlag verglichen und einer ökonomischen Bewertung unterzogen.3

Reformvorschläge zur Entlastung der Steuerzahler

Als Umsetzungsvorschlag für das ursprünglich bereits im Koalitionsvertrag4 festgelegte Konzept für Steuerentlastungen hat die Bundesregierung Ende letzten Jahres ihren Gesetzentwurf zum Abbau der kalten Progression vorgelegt.5 Zentrales Ziel des Gesetzes ist es, die systembedingten Steuermehreinnahmen, die über den Effekt der kalten Progression entstehen, an die Steuerzahler zurückzugeben. Dazu soll der Grundfreibetrag unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Entwicklung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums in zwei Schritten um insgesamt 4,4% erhöht werden – zum 1. Januar 2013 auf 8130 Euro und zum 1. Januar 2014 auf 8354 Euro. Weiterhin soll der Tarifverlauf im Bereich der Progressionszonen im gleichen prozentualen Ausmaß angepasst werden. Um einen nachhaltigen Abbau der kalten Progression sicherzustellen, ist darüber hinaus alle zwei Jahre eine Überprüfung der Wirkung der kalten Progression und gegebenenfalls eine Anpassung des Tarifs vorgesehen.

Der Solidaritätszuschlag ist eine Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer, die 1991 zur Finanzierung der Wiedervereinigung eingeführt wurde.6 Der reguläre Zuschlagssatz beträgt derzeit 5,5% und wird erst erhoben, wenn die Bemessungsgrundlage einen bestimmten Betrag übersteigt. Bei der Veranlagung der Einkommensteuer ist die Bemessungsgrundlage für den Solidaritätszuschlag eine fiktive Einkommensteuer, die unter Berücksichtigung von Kinderfreibeträgen festzusetzen wäre. Der Solidaritätszuschlag wird nur dann erhoben, wenn die Bemessungsgrundlage im Fall einer Einzelveranlagung 972 Euro und im Fall von zusammenveranlagten Steuerpflichtigen 1944 Euro (Freigrenzen) übersteigt. Grundsätzlich darf er nicht mehr als 20% des Unterschiedsbetrags zwischen Bemessungsgrundlage und Freigrenze betragen, so dass er nach Überschreiten der Freigrenze in einem Übergangsbereich zunächst mäßig ansteigt, bevor er in voller Höhe greift.

Folgende Reformoptionen für die Bemessung des Solidaritätszuschlags sollen hier geprüft werden:

  • Reformoption 1: Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags um 300 Euro und Erhöhung der Freigrenze bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags:

    a. Erhöhung der Freigrenze bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags, so dass sich allein durch die Anhebung der Freigrenze ein jährliches Entlastungsvolumen von ungefähr 5 Mrd. Euro ergibt.

    b. Erhöhung der Freigrenze bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags, so dass sich insgesamt – d.h. durch die Tarifänderung in Verbindung mit der Anhebung der Freigrenze – ein jährliches Entlastungsvolumen von ungefähr 5 Mrd. Euro ergibt.
  • Reformoption 2: Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags um 300 Euro und Erhöhung der Freigrenze bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags, so dass die Zahlungspflicht für den Solidaritätszuschlag erst ab einem zu versteuernden Einkommen über

    a. 30 000 Euro bzw.

    b. 35 000 Euro einsetzt.
  • Reformoption 3: Einführung eines Abzugsbetrags bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags in Höhe von 100 Euro pro Steuerpflichtigen bei Einzelveranlagung bzw. 200 Euro bei Zusammenveranlagung sowie Einführung einer Kinderkomponente durch die Gewährung eines Abzugsbetrags von 100 Euro pro Kind.

Aufkommenswirkungen im Überblick

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Gesamtentlastungswirkungen des aktuellen Gesetzentwurfs und der drei Reformvorschläge für den Solidaritätszuschlag. Als Referenz für die Kalkulation der Entlastungseffekte dient die Steuerbelastung, die sich durch Anwendung des aktuellen Steuertarifs 2010 ergibt. Die Effekte wurden sowohl mit als auch ohne Berücksichtigung der durch die Reformmaßnahmen induzierten Arbeitsanpassung simuliert. Die Arbeitsanpassung wird im Rahmen des RWI-Einkommensteuer-Mikrosimulationsmodells rein arbeitsangebotsseitig modelliert, d.h. die Arbeitsnachfrage wird komplett vernachlässigt. Das zusätzliche Arbeitsangebot kann sich jedoch nur in einer höheren Beschäftigung niederschlagen, wenn ausreichend viele Arbeitsplätze vorhanden sind. Vereinfachend wurde unterstellt, dass das zusätzliche Arbeitsangebot auch auf eine entsprechende Nachfrage trifft, so dass die Schätzungen ohne Arbeitsanpassung als obere Grenze und die Schätzungen unter Berücksichtigung des fiskalischen Zweitrundeneffektes der Arbeitsanpassung als untere Grenze für den Entlastungseffekt interpretiert werden können. Der fiskalische Zweitrundeneffekt der Arbeitsanpassung umfasst sowohl die zusätzlichen Steuereinnahmen als auch die geringeren Transferausgaben des Staates, die sich aufgrund der erhöhten Beschäftigung ergeben.

Tabelle 1
Aufkommenswirkungen ohne und mit Arbeitsanpassung
  Gesetzentwurf Reformvorschläge
1a 1b 2a 2b 3
Entlastung ohne Arbeits­anpassung in Mrd. Euro 5,19 7,17 5,34 5,16 6,13 3,07
Entlastung mit fiskalischem Zweitrunden­effekt der Arbeits­anpassung in Mrd. Euro 3,11 4,88 3,20 3,04 3,91 2,50
Beschäftigungs­effekt in 1000 Personen 104 114 107 106 110 28

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Faktisch Anonymisierten Lohn- und Einkommensteuerstatistik FAST 2004 und auf Basis des SOEP, hochgerechnet bis 2011.

Unter Vernachlässigung der Arbeitsanpassung zeigt ein Vergleich der Entlastungsvolumina der einzelnen Reformoptionen für den Solidaritätszuschlag mit dem Effekt des Gesetzentwurfs zum Abbau der kalten Progression lediglich für die Varianten 1a, 2b und 3 einen prägnanten Unterschied: Reformvorschlag 1a bzw. 2b entlastet die Steuerpflichtigen um knapp 2 bzw. 1 Mrd. Euro mehr und Option 3 um gut 2 Mrd. Euro weniger. Betrachtet man zusätzlich den fiskalischen Zweitrundeneffekt, nivellieren sich die Unterschiede in den Entlastungsvolumina, insbesondere bei Reformvariante 3, da sich hier aufgrund der vergleichsweise niedrigen Gesamtentlastung auch nur geringe Beschäftigungseffekte ergeben. Die Reformvarianten 1a und 2b führen hingegen weiterhin zu einer um knapp 1,8 bzw. 0,8 Mrd. Euro höheren Entlastung als der Gesetzentwurf. Um eine Aussage darüber treffen zu können, inwiefern eine Reform des Solidaritätszuschlags eine sinnvolle Alternative zum aktuellen Gesetzesvorschlag sein kann, reicht der Blick auf die Aufkommenswirkungen jedoch nicht aus. Abgesehen von der Berücksichtigung der konkreten Zielsetzungen der Reformvorschläge ist auch eine differenziertere Betrachtung der Entlastungseffekte für eine ökonomische Bewertung unerlässlich.

Entlastungseffekte (ohne Arbeitsanpassung) in Abhängigkeit des Einkommens

In den Abbildungen 1 bis 3 werden die mit den drei Reformvorschlägen verbundenen absoluten und relativen Entlastungen daher differenziert nach der Höhe der Bruttohaushaltseinkommen (bzw. dem Gesamtbetrag der Einkünfte (GDE) als Approximation) dargestellt und mit den jeweiligen Entlastungseffekten des Gesetzentwurfs verglichen. Die relativen Entlastungseffekte ergeben sich, indem die absoluten Effekte (Differenz der Steuerzahlungen vor und nach Reform) ins Verhältnis zur aktuellen Steuerzahlung (Steuerzahlung vor Reform) gesetzt werden. Zudem zeigen die Abbildungen, wie sich die Anzahl der nach Grund- und Splittingtabelle besteuerten Haushalte über das Einkommen verteilt.

Abbildung 1
Durchschnittliche Entlastungswirkungen von Reformoption 1
Absolute Entlastung in Euro; relative Entlastung in %; Anzahl der Haushalte in Mio.
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Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von FAST 2004, hochgerechnet bis 2011.

Abbildung 2
Durchschnittliche Entlastungswirkungen von Reformoption 2
Absolute Entlastung in Euro; relative Entlastung in %; Anzahl der Haushalte in Mio.
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Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von FAST 2004, hochgerechnet bis 2011.

Abbildung 3
Durchschnittliche Entlastungswirkungen von Reformoption 3
Absolute Entlastung in Euro; relative Entlastung in %; Anzahl der Haushalte in Mio.
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Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von FAST 2004, hochgerechnet bis 2011.

Im Hinblick auf den Gesetzentwurf wird deutlich, dass die absoluten Entlastungen aufgrund des höheren Grundfreibetrags und den Anpassungen in den Tarifzonen mit steigendem Einkommen zunehmen. Der stärkste Entlastungseffekt ergibt sich demnach mit durchschnittlich 681 Euro pro Jahr bei einem Bruttojahreseinkommen von mehr als 120 000 Euro. Im Gegensatz zu den absoluten Entlastungwirkungen nimmt die relative Entlastung mit steigendem Einkommen ab. Mit 58% werden Steuerpflichtige mit einem Haushaltsbruttoeinkommen bis maximal 10 000 Euro am stärksten entlastet. Die erste Einkommensklasse umfasst allerdings sehr viele Steuerpflichtige, die aufgrund des Grundfreibetrags keine Steuerzahlungen leisten müssen, so dass die Entlastungswirkungen in diesem Bereich sehr sensibel auf Reformmaßnahmen reagieren können. Die Ergebnisse für diese einkommensschwachen Haushalte sind also mit Vorsicht zu interpretieren.

Sowohl das Durchschnitts- als auch das Medianeinkommen aller Steuerpflichtigen mit positiver Einkommensteuerschuld liegt in der vierten hier betrachteten Einkommensklasse, d.h. zwischen einem Bruttojahreseinkommen von 30 000 und 40 000 Euro. Für diese Haushalte liegt die relative Entlastung bei ca. 8% und damit geringfügig unter dem Gesamtdurchschnitt über alle Haushalte von rund 9%. Betrachtet man zusätzlich die Verteilung der Haushalte über das Einkommen differenziert nach Veranlagungsart wird deutlich, dass die Mehrheit der nach der Grundtabelle besteuerten Haushalte über ein Bruttoeinkommen von maximal 30 000 Euro verfügen, während sich das Gros an zusammenveranlagten Steuerpflichtigen auf den Einkommensbereich von 20 000 bis 50 000 Euro verteilt.

Die Reformoptionen 1 und 2 kombinieren eine Anhebung des Grundfreibetrags um 300 Euro und eine Verschiebung der Freigrenzen, ab der der Solidaritätszuschlag greift. Dabei führt die Anhebung des Grundfreibetrags vor allem zu einer Entlastung der niedrigen Einkommensklassen, während durch die Verschiebung der Freigrenzen insbesondere für die mittleren und höheren Einkommensklassen Entlastungswirkungen entstehen. So profitieren von den verschiedenen Reformoptionen zunächst vor allem die Haushalte der unteren Einkommensbereiche, deren Einkommensteuer sich innerhalb der neuen Freigrenzen befindet und die somit vom Solidaritätszuschlag befreit sind. Gleichzeitig verschiebt sich durch die veränderten Freigrenzen auch der Übergangsbereich. Für Haushalte mit einer Steuerzahlung innerhalb dieses Bereichs sinkt der zu entrichtende Solidaritätszuschlag, während für Haushalte mit einer Steuerzahlung oberhalb des Übergangsbereichs der Solidaritätszuschlag unverändert bleibt und in voller Höhe greift.

Aus diesem Grund steigen die absoluten Entlastungen der Reformoptionen 1 und 2 bis zu einer bestimmten Einkommensklasse an, fallen dann aber in den nachfolgenden Einkommensbereichen wieder geringer aus (vgl. Abbildungen 1 und 2). Der stärkste Entlastungseffekt zeigt sich bei der Variante 1a mit durchschnittlich 809 Euro pro Jahr bei einem Bruttojahreseinkommen zwischen 80 000 und 90 000 Euro, bei Variante 1b und 2a mit durchschnittlich 485 Euro bzw. 454 Euro bei einem Einkommen zwischen 60 000 und 70 000 Euro und bei Variante 2b mit durchschnittlich 604 Euro bei einem Einkommen zwischen 70 000 und 80 000 Euro pro Jahr. Hinsichtlich der Verteilung der absoluten Entlastungseffekte über die Einkommensbereiche stehen die Reformoptionen 1 und 2 demnach nicht im Einklang mit dem Gesetzentwurf, bei dem die Entlastung mit steigendem Einkommen zunimmt.

Ein anderes Bild zeichnet sich bei Betrachtung der relativen Entlastungswirkungen der Reformoptionen 1 und 2 ab. Genau wie beim aktuellen Gesetzesvorhaben fällt die relative Entlastung für die niedrigste Einkommensklasse, d.h. für Haushalte mit einem Bruttoeinkommen von weniger als 10 000 Euro, mit etwa 53% am höchsten aus. Analog zum Gesetzentwurf ist dieser Effekt darauf zurückzuführen, dass einige Steuerpflichtige allein durch die Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrags um 300 Euro (Gesetzentwurf: 354 Euro) keine Einkommensteuer mehr entrichten müssen. Über den Verlauf der Einkommensklassen hinweg weisen die relativen Entlastungswirkungen des Gesetzesvorhabens und der Reformoptionen 1 und 2 geringere Unterschiede auf, als es die absoluten Entlastungswirkungen zunächst vermuten lassen. Die mittleren Einkommen (Bruttojahreseinkommen zwischen 30 000 und 40 000 Euro) werden in Relation zu ihrer ursprünglichen Steuerschuld in beiden Reformoptionen um rund 8% bis 9% entlastet, was maximal einer jährlichen Entlastung von 294 (Variante 1a) bzw. 283 Euro (Variante 2b) entspricht. Analog zum Verlauf der mit dem Gesetzentwurf verbundenen relativen Entlastung nimmt auch der relative Effekt der Reformvorschläge 1 und 2 mit zunehmendem Einkommen ab, da die absolute Entlastungswirkung insbesondere bei den einkommensstarken Haushalten in Relation zu ihrer gesamten Einkommensteuerzahlung nur einen sehr geringen Anteil ausmacht.

Bei Reformvariante 3 wird bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags ein Abzugsbetrag pro Steuerpflichtigen sowie eine Kinderkomponente eingeführt. Diese Abzugsbeträge haben zur Folge, dass die absolute Entlastung mit dem jährlichen Haushaltsbruttoeinkommen steigt, allerdings mit abnehmender Intensität (vgl. Abbildung 3). So werden Haushalte, deren Bruttojahreseinkommen über 120 000 Euro liegt, mit 291 Euro pro Jahr am stärksten entlastet. Damit fallen die absoluten Entlastungseffekte zwar deutlich geringer aus als bei dem Gesetzentwurf zum Abbau der kalten Progression, im Hinblick auf den Verlauf der Entlastungskurven über die Einkommensbereiche sind die beiden Reformvorschläge jedoch eher vergleichbar als die Reformvarianten 1 und 2 mit dem Gesetzentwurf.

Bezüglich der Verteilung der relativen Entlastungseffekte ergeben sich allerdings deutliche Unterschiede. Während bei dem Gesetzentwurf der untere Einkommensbereich mit 58% relativ am stärksten entlastet wird, ist die sich durch Reformoption 3 ergebende relative Entlastung über alle Einkommensklassen hinweg sehr gering und mit durchschnittlich etwa 3% für die Haushalte mit einem Bruttojahreseinkommen zwischen 40 000 und 70 000 Euro am höchsten, wobei das Ausmaß der Entlastung sicherlich vor allem von der Höhe der Abzugsbeträge abhängt. Reformoption 3 lässt sich allerdings nur bedingt mit den Varianten 1 und 2 vergleichen, da hier weniger auf die steuerliche Entlastung der unteren und mittleren Einkommen abgezielt wird, sondern mit der Einführung einer Kinderkomponente vor allem Familien mit Kindern stärker entlastet werden sollen. Neben allgemeinen Steuererleichterungen spielen bei Reformoption 3 also insbesondere familienpolitische Überlegungen eine Rolle.

Fazit

Zentrales Ziel des aktuellen Gesetzentwurfs der Bundesregierung ist es, den Effekt der kalten Progression nachhaltig abzuschwächen und so vor allem Steuerzahler aus den unteren und mittleren Einkommensbereichen zu entlasten. Das Gesetz wirkt damit einem grundsätzlichen Problem entgegen, dass sich aufgrund der linear-progressiven Ausgestaltung des deutschen Einkommensteuertarifs ergibt: es verhindert, dass der Staat zulasten der Steuerpflichtigen von inflationsbedingten Mehreinnahmen profitiert. Unabhängig von der Diskussion darüber, ob die Mehrbelastungen durch die kalte Progression nicht bereits über Steuerreformen der vergangenen Jahre an die Steuerzahler zurückgezahlt wurden7 oder ob die Dringlichkeit derartiger Reformen nicht grundsätzlich hinterfragt werden sollte,8 legen die hier durchgeführten Simulationen eine kritische Bewertung der betrachteten Reformalternativen nahe. Ebenso wie der Gesetzentwurf führen sie zwar vor allem im unteren und mittleren Einkommensbereich zu einer steuerlichen Entlastung, das Problem der kalten Progression wird jedoch nicht dauerhaft beseitigt.

In den folgenden Jahren wären also weitere diskretionäre Maßnahmen zum Ausgleich der „unerwünschten Steuermehreinnahmen“ notwendig. Aus politökonomischer Sicht ist dies durchaus im Interesse der jeweils regierenden Parteien, da sie so die Möglichkeit haben, beispielweise vor Wahlen durch diskretionäre Steuererleichterungen die Gunst der Wähler zu sichern. Aber aus ökonomischer Sicht wird dies nicht unbedingt als Vorzug angesehen.

Die Vorschläge zur Reform des Solidaritätszuschlags leisten also keinen nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung des deutschen Einkommensteuersystems. Die kalte Progression oder der sogenannte Mittelstandsbauch bleiben weiterhin bestehen und auch die häufig kritisierte Komplexität des deutschen Einkommensteuersystems bleibt – sowohl in Bezug auf die Ausgestaltung des Tarifs als auch hinsichtlich der steuerrechtlichen Regelungen – unverändert. Darüber hinaus widerspricht eine Erhöhung der Freigrenzen bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags dessen ursprünglicher Idee und Rechtfertigung, da eine immer kleinere Gruppe die Einnahmen zur Finanzierung der Wiedervereinigung generieren würde. Vielmehr müsste man sich in diesem Fall über eine generelle Abschaffung des Solidaritätszuschlags Gedanken machen.

Die Autoren danken Christoph M. Schmidt und Rainer Kambeck für ihre wertvollen Hinweise.

  • 1 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/086/1708683.pdf, Dezember 2011.
  • 2 RWI Projektbericht: Entlastungseffekte durch Veränderung der Eckwerte des Einkommensteuertarifs und Modifikation des Solidaritätszuschlags, http://www.rwi-essen.de/publikationen/rwi-projektberichte/PB_Entlastungseffekte-Einkommensteuer.pdf, Dezember 2011.
  • 3 Die Ergebnisse der im Auftrag des BMWi durchgeführten Studie wurden im Rahmen der vorliegenden Analyse bis zum Jahr 2011 aktualisiert, so dass es zu geringfügigen Abweichungen im Vergleich zu den im Projektbericht ausgewiesenen Effekten kommen kann.
  • 4 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP: Wachstum. Bildung. Zusammenhalt., http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, Oktober 2009.
  • 5 Gesetzentwurf der Bundesregierung, a.a.O..
  • 6 Solidaritätszuschlagsgesetz (SolzG) 1995, in der Bekanntmachung vom 15.10.2002 (BGBI.I S. 4130), zuletzt geändert durch Artikel 31 des Gesetzes vom 8.12.2010 (BGBI.I S. 1768), §§ 1,3 und 4.
  • 7 Vgl. M. Broer: Kalte Progression in der Einkommensbesteuerung – Ist ein Tarif auf Rädern der diskretionären Anpassungspolitik in Deutschland überlegen?, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 10, S. 694 f.
  • 8 Vgl. S. Bach: Abbau der kalten Progression: Nicht die einzige Herausforderung beim Einkommensteuertarif, in: DIW Wochenbericht, Nr. 12/2012.


DOI: 10.1007/s10273-012-1383-2