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Die Europäische Kommission fordert in ihrem Weißbuch vom Februar 2012 im Rahmen einer Agenda für adäquate, sichere und nachhaltige Renten, unter anderem das Umlageverfahren durch ein Rentensparen zu ergänzen. Sie nimmt hier offensichtlich Deutschland mit seiner Riesterrente als Vorbild. Ernst Niemeier warnt ausdrücklich vor einer Übertragung dieses Modells auf Europa. Er zeigt die Schwächen auf und fordert eine Reform der Riesterrenten-Reform.

Das Weißbuch der Europäischen Kommission, das Mitte Februar 2012 unter dem Titel „Agenda für adäquate, sichere und nachhaltige Renten“1 veröffentlicht wurde, folgt unausgesprochen der verbreiteten Meinung, dass das Umlageverfahren wegen der demographischen Entwicklung ungeeignet sei, die Altersversorgung künftiger Generationen sicherzustellen. Denn es stellt kommentarlos und offenbar zustimmend fest, dass bisherige Reformen das Rentenniveau im Verhältnis zum früher erzielten Einkommen verschlechtert haben und fordert ein „ergänzendes Rentensparen“,2 das künftig eine größere Rolle spielen müsse, um ein angemessenes Rentenniveau bei gleichzeitiger Finanzierbarkeit sicherzustellen.3

Diese Begründung für ein ergänzendes privates Sparen entspricht den Begründungen für die Einführung der Riesterrente in Deutschland. Die demographische Entwicklung führe zu unvertretbar steigenden Beitragssätzen für die Erwerbstätigen. Deshalb sei es unumgänglich, eine zusätzliche private Vorsorge zu treffen oder einzuführen. Es fragt sich, ob ein Rentensystem, das nach diesem Modell konzipiert wird, eine adäquate, sichere und nachhaltige Rente besser schaffen kann als ein Umlageverfahren.

Vor der Prüfung dieser Frage ist aber der Vollständigkeit halber anzumerken, dass das Weißbuch weitere Maßnahmen vorschlägt, um ein angemessenes Rentenniveau zu garantieren. Diese Maßnahmen, die hier nicht näher behandelt werden sollen und die in Deutschland zum Teil schon verwirklicht sind, würden zweifellos helfen, ein tragbares Rentenniveau zu erreichen. Sie umfassen folgende zusätzliche Empfehlungen:4

  • das Renteneintrittsalter mit der steigenden Lebenserwartung zu verbinden,
  • die Möglichkeiten der Frühverrentung zu beschränken,
  • die Lage älterer Arbeitnehmer zu verbessern, d.h. das lebenslange Lernen zu unterstützen, Arbeitsplätze differenziert für unterschiedliche Arbeitskräfte zu gestalten, Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Beschäftigte zu schaffen und Maßnahmen für ein aktives und gesundes Altern zu unterstützen sowie
  • das Rentenalter für Frauen und Männer einander anzugleichen.

Die im Weißbuch empfohlene Entwicklung und Unterstützung privater Vorsorgeprogramme zur Sicherung eines angemessenen Renteneinkommens, die die wichtigste Empfehlung darstellt und die den Spuren Riesters folgt, ist vor dem Hintergrund der deutschen Entwicklung kritisch zu hinterfragen.

Riesterreform belastet Erwerbstätige zusätzlich und senkt zugleich das Rentenniveau

Wenn die Wirkungen eines Ersatzes oder Teilersatzes der Sozialversicherungsrente im Umlageverfahren durch eine private Altersversorgung genauer betrachtet werden, zeigt sich, dass die Heilsversprechen der Privatisierung nicht wirklich eintreten. Die teilweise Ersetzung der Beiträge in die soziale Rentenversicherung durch Beiträge in eine kapitalgedeckte Altersversorgung ändert am demographischen Problem und an der finanziellen Belastung der Erwerbstätigen nichts, jedenfalls nichts zum Positiven. Die Deckelung des Sozialversicherungsrentenbeitrages bei z.B. 22% bedeutet keine Entlastung für die Erwerbstätigen, weil die mit der Deckelung verbundene Kürzung der Sozialversicherungsrente durch einen (zusätzlichen) Beitrag von 4% in die Riesterrente ausgeglichen werden soll, an dem die Arbeitgeber nicht beteiligt sind.

Die Riesterreform vermindert die Belastung der Erwerbstätigen also überhaupt nicht. Im Gegenteil, da die Erwerbstätigen auch den entsprechenden Wegfall des Arbeitgeberbeitrages durch ihren Riester-Beitrag ausgleichen müssen, steigt ihre Belastung sogar an. Die öffentliche Förderung der Riesterrente, die offenbar kaum die Mehrkosten der Privatversicherung5 deckt, ändert daran auch nichts, ganz abgesehen davon, dass die steuerzahlenden Erwerbstätigen diese Förderung selbst finanzieren.

Die Behauptung, dass die vermeintliche Nichtfinanzierbarkeit der Sozialversicherungsrente deren Kürzung notwendig mache und stattdessen durch die private Vorsorge ergänzt werden müsse, erweist sich also als Trugschluss: Die Finanzierungsproblematik für die Erwerbstätigen bleibt unverändert, weil die Verminderung des Sozialversicherungsbeitrages durch den Privatversicherungsbeitrag ersetzt wird. Die private Vorsorge ist, soweit sie das staatliche Umlageverfahren ersetzen soll, ein Irrweg. Das gilt umso mehr, als die Privatversicherung die Sicherheit des Umlageverfahrens nicht ersetzen kann, wie die Finanz- und Wirtschaftskrise gerade eindrucksvoll belegt hat. Und das gilt zusätzlich auch deshalb, weil selbst intelligente Normalbürger der Komplexität der Finanzprodukte und des Finanzmarktes nicht gewachsen sind.

Die Milchmädchenrechnung der demographischen Entwicklung

Die Begründungen für den (zumindest teilweisen) Ersatz der Altersversorgung aus dem Umlageverfahren durch die private Vorsorge gehen von falschen Voraussetzungen aus. Denn die Dramatisierung der demographischen Entwicklung beruht auf einer mathematischen Milchmädchenrechnung, weil reale wirtschaftliche Entwicklungen ausgeblendet werden. Ökonomen sollten von einer solchen Blindheit eigentlich nicht befallen sein, denn sie wissen von der Bestimmung des Realeinkommens durch die Produktivitätsentwicklung.

Der populäre Hinweis auf die sich offensichtlich verschlechternde Relation zwischen Rentnern und Erwerbstätigen vernachlässigt die folgenden tatsächlichen oder potenziellen Entwicklungen:

  • Der Altenquotient hat sich von 1950 bis 2008 bereits mehr als verdoppelt, ohne dass es zu vergleichbar dramatischen Diskussionen kam wie in den letzten Jahren. Diese Verdopplung wurde nicht nur verkraftet, in diesen Zeitraum fällt auch die große Rentenreform von 1957, die das Umlageverfahren einführte und eine deutliche Steigerung der Renten zur Folge hatte. Diese Entwicklung zeigt, dass eine Reformbegründung nur mit der Altersstrukturentwicklung unzureichend ist.
  • Der Jugend- und der Altenquotient veränderte sich von 1950 bis 2008 deutlich (vgl. Abbildung 1). Während der Altenquotient sich mehr als verdoppelte, verminderte sich der Jugendquotient um mehr als ein Drittel. Der Gesamtquotient sank leicht, d.h. die Gesamtlast für die Erwerbstätigen hat sich, gemessen an den Quotienten, sogar vermindert.6 Wenn auch die durchschnittliche Höhe der finanziellen Belastung für Kinder und Jugendliche einerseits und Rentner andererseits differieren mag, so ist doch nicht zu bestreiten, dass der Gesamtquotient die finanzielle Belastung der Erwerbstätigen besser wiedergibt als der Altenquotient. Die sich durch verminderte Ausgaben für Kinder und Jugendliche ergebende finanzielle Entlastung der Erwerbstätigen drückt sich zwar nicht im Beitragssatz zur Rentenversicherung aus, ermöglicht aber eine höhere Beitragsbelastung. Die starke Erhöhung des Altenquotienten wurde also unter anderem tragbar, weil sich der Jugendquotient verminderte.
  • Noch wichtiger als die Verminderung des Jugendquotienten war für die Tragbarkeit der höheren Belastung als Folge der Steigerung des Altenquotienten die erreichte Produktivitätssteigerung, d.h. die sich daraus ergebende Steigerung des Realeinkommens. Im Zeitraum 1950 bis 1980 hat sich das Realeinkommen vervielfacht. Wegen der Methodenwechsel in der statistischen Erfassung weist das Statistische Bundesamt keine vergleichbaren Daten für den gesamten Zeitraum von 1950 bis 2008 aus. Die Werte für die gewählten Zeitabschnitte lassen aber erkennen, dass sich das Bruttoinlandsprodukt in diesem Zeitraum mehr als verdreifacht hat (vgl. Tabelle 1).
Abbildung 1
Jugend-, Alten- und Gesamtquotient bei einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren bis 2060
in %
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1 Personen im nicht erwerbsfähigen Alter je 100 Personen im erwerbsfähigen Alter.

Quelle: Die Werte des Jahres 1950 wurden mit Hilfe der PDF-Datei „Bevölkerung in Deutschland nach Altersgruppen bis 95 und mehr ab 1950“ errechnet, die am 5.3.2012 vom Statistischen Bundesamt übermittelt wurde; Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, 2009, Tabelle 1, S. 20.

Tabelle 1
Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts
in %
Zeitraum Veränderung
1950 bis 1960 früheres Bundes­gebiet1 +120,6
1960 bis 1970 früheres Bundes­gebiet +54,3
1970 bis 1991 früheres Bundes­gebiet +76,0
1991 bis 2008 früheres Bundes­gebiet +28,6

1Ohne Saarland und Berlin (West).

Quelle: Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen – Bruttoinlandsprodukt, Bruttonationaleinkommen und Volkseinkommen ab 1950, Wiesbaden 2012; eigene Berechnungen.

Schon diese Zahlen, die nicht die Pro-Kopf-Entwicklung zeigen, deuten die gewaltigen Realeinkommenssteigerungen an, die trotz der Verdopplung des Altenquotienten die steigende Beitragsbelastung tragbar gemacht haben. Die höhere Belastung durch den Altenquotienten und die Einführung des Umlageverfahrens haben dazu beigetragen, dass sich die Sozialbeiträge7 insgesamt von 1951 (10,75% des Volkseinkommens) bis 2009 (24,6% des Volkseinkommens) mehr als verdoppelt haben. Das war ohne Revolution möglich, da die Realeinkommensentwicklung dies tragbar machte und zudem die Entwicklung des Jugendquotienten entlastend wirkte.

Nicht nur der steigende Rentneranteil ist also auch in der Zukunft zu berücksichtigen, sondern zusätzlich die Entwicklung des Anteils der Kinder und Jugendlichen, die ebenfalls zu alimentieren und der bei der finanziellen Belastung der Erwerbstätigen zu beachten sind. Der Gesamtquotient, also der Jugend- plus der Altenquotient, verschlechtert sich auch bis 2060 deutlich weniger stark als die Relation der Rentner zu den Erwerbstätigen, und zwar allein durch die Tatsache, dass der Jugendquotient ein wenig sinkt (vgl. Tabelle 2). 2060 müssen 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) für 98,4 unter 20-Jährige beziehungsweise über 65-Jährige aufkommen. Der Altenquotient steigt zwar beträchtlich, was den Anlass für die dramatische Demographiediskussion der letzten Jahre bot. Aber schon der geringfügige Rückgang des Jugendquotienten bewirkt, dass der Gesamtquotient nur um etwas mehr als die Hälfte der Steigerung des Altenquotienten steigt. Die tatsächlich eintretende Gesamtbelastung für die Erwerbstätigen ist also erheblich geringer als es der Altenquotient anzuzeigen scheint.

Tabelle 2
Jugend-, Alten- und Gesamtquotient bei einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren bis 2060
in %
Quotient 1950 2008 2060
Jugendquotient (unter 20) 50,8 31,5 30,9
Altenquotient (65 und älter) 16,3 33,7 67,4
Gesamtquotient1 67,1 65,1 98,4

1 Personen im nicht erwerbsfähigen Alter je 100 Personen im erwerbsfähigen Alter.

Quelle: Die Werte des Jahres 1950 wurden mit Hilfe der PDF-Datei „Bevölkerung in Deutschland nach Altersgruppen bis 95 und mehr ab 1950“ errechnet, die am 5.3.2012 vom Statistischen Bundesamt übermittelt wurde; Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, 2009, Anhang B, Tabelle 1, S. 39.

Dennoch wird die Gesamtbelastung steigen, wie es der höhere Gesamtquotient zeigt. Der Rentenversicherungsbeitrag wird sich sogar stärker erhöhen als die Gesamtbelastung. Entscheidend aber ist die Tragfähigkeit, die durch die Realeinkommensentwicklung bestimmt wird. Deshalb muss der Belastungsentwicklung die bis 2060 zu erwartende Realeinkommenssteigerung gegenübergestellt werden, die erst ein endgültiges Urteil über die Belastbarkeit der Erwerbstätigen zulässt.

Produktivitätssteigerung: bestimmender Faktor für Wohlstand und Belastbarkeit

Die wichtigste Entwicklung für die Belastbarkeit der Erwerbstätigen, die in der Rentendiskussion unbegreiflicherweise vernachlässigt wird, ist die im Laufe von 30 bis 50 Jahren stattfindende Produktivitätssteigerung. Sie ist der wichtigste Grund dafür, dass die erhebliche Verschlechterung der Relation der Inaktiven zu den Aktiven, die in der Nachkriegszeit schon stattgefunden hat, nicht nur tragbar war, sondern sogar erlaubte, die große Reform des Umlageverfahrens im Jahre 1957 zu verkraften.

Bei der nicht unrealistischen Annahme einer durchschnittlichen Produktivitäts- und damit Realeinkommenssteigerung von jährlich 1,5% verdoppelt sich das Realeinkommen von 2008 bis 2060 (+116,9%!).8 Das bedeutet, dass das reale Nettoeinkommen – nach Abzug des Rentenbeitrages – nach 52 Jahren trotz eines Anstiegs des Beitragssatzes von beispielsweise 23% (19% + 4%) auf 26%9 und bei einem Anstieg des Beitragssatzes auf 30% deutlich höher läge als im Jahre 2008.

Obwohl also die Belastung der Erwerbstätigen durch den Unterhalt der Rentnergeneration absolut und relativ steigt, würde es ihnen nach 52 Jahren materiell wesentlich besser gehen als der gegenwärtigen Erwerbstätigengeneration. Das würde tendenziell auch bei einer niedrigeren Produktivitätssteigerung und bei einer anderen Beitragssatzsteigerung gelten. Der Anstieg des Netto-Realeinkommens trotz der beispielhaft angeführten Steigerung des Beitragssatzes auf immerhin 30% zeigt, dass eine angemessene Lebensstandardsicherung der Rentner im Umlageverfahren ohne Überforderung der Erwerbstätigen sehr wohl möglich ist.

Die höhere Belastung ist nicht nur zumutbar und erträglich, sondern drückt auch die unumgängliche Selbstverständlichkeit aus, dass die aktive Generation die noch nicht oder nicht mehr aktive Generation immer unterhalten muss, unabhängig davon, ob das per Umlageverfahren oder in anderer Form geschieht. Die höhere Belastung muss dabei als „Sparbeitrag“ für den künftigen Ruhestand dargestellt werden, der sie auch wirklich ist, damit er nicht als „Steuer“-Belastung empfunden wird und dann psychologisch schwer zu vermitteln ist. Wenn zwischen Einkommen in der aktiven Phase und der Rente ferner eine feste Beziehung besteht und auf eine auskömmliche Rente vertraut werden kann, wird die höhere Belastung kaum ein Problem darstellen. Das Umlageverfahren ist im Übrigen nicht nur kostengünstiger, sondern auch sicherer.10 Die daraus resultierende Rentenzusage kann sich nicht, wie im Falle der kapitalgedeckten Altersversorgung, in einer Finanzkrise in Luft auflösen, wie es gegenwärtig gerade Millionen von US-Amerikanern erfahren.

Das Argument der negativen Auswirkung der Beitragssatzerhöhungen auf die Lohnnebenkosten und damit einer gravierenden negativen Auswirkung auf Wirtschaft und Beschäftigung ist nur sehr bedingt gültig.

  • Erstens führt die in einer (einseitigen) theoretischen Partialanalyse gewonnene Erkenntnis der Verursachung von Arbeitslosigkeit durch Lohnsteigerungen wegen der Vernachlässigung der Wirkung der dabei als gegeben angesehenen Einflussfaktoren (Nachfragewirkung und konjunkturelle Lage) zu einem fragwürdigen Ergebnis.
  • Zweitens würde, wenn die Lohnkostenwirkung tatsächlich ausschlaggebend wäre, sie das nur dann sein können, wenn die Beitragssatzentwicklung nicht durch Produktivitätssteigerungen abgedeckt würde. Diese Abdeckung aber kann wirtschafts- und lohnpolitisch sichergestellt werden.

Die Relation von Inaktiven zu Erwerbstätigen könnte spürbar verbessert werden, wenn eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik betrieben würde, die die Arbeitslosigkeit stark vermindert, statt einer systematisch prozyklischen Geld-, Finanz- und Lohnpolitik, die das Wachstum in Deutschland viele Jahre behindert und die Arbeitslosigkeit hochgehalten hat.11

Kapitalgeckte Altersvorsorge investitions- und produktivitätssteigernd?

Ein Argument, das gegen das Umlageverfahren und für das kapitalgedeckte Verfahren angeführt wird, muss noch behandelt werden. Es weist darauf hin, dass die Privatvorsorge ökonomisch vorteilhafter sei als das Umlageverfahren, weil die Kapitalfundierung die Investitionstätigkeit und damit die Produktivität steigere. Dieses Argument wäre aber nur dann gültig, wenn das private Sparen die Investitionstätigkeit tatsächlich auslöste, was in Zeiten der Kapitalknappheit oder der Kreditrestriktion denkbar sein mag. Wenn die private Spartätigkeit jedoch nur eine anderweitige Kreditfinanzierung ersetzt, werden die Investitionen unabhängig von den Privatvorsorgemaßnahmen getätigt. Ohnehin dürften die erwarteten Marktchancen das entscheidende Investitionsmotiv sein. Und günstige Zinskonditionen hängen sehr stark von geldpolitischen Entscheidungen und konjunkturellen Entwicklungen ab.

Riesterreform ist ein Flop

Die Riesterreform ist aus allen genannten Gründen ein Flop. Die Argumentation für die Riesterreform übersah die entlastende Wirkung des sinkenden Jugendquotienten. Sie vernachlässigte die Produktivitäts- und damit die Realeinkommensentwicklung, die trotz höherer Belastung der künftigen Erwerbstätigengeneration zu einer deutlichen materiellen Wohlfahrtssteigerung gegenüber der gegenwärtigen Erwerbstätigengeneration führt. Sie bewirkt sogar eine höhere Belastung der Beitragszahler, weil ein anteiliger Arbeitgeberanteil von ihnen übernommen werden muss und die steuerliche Subventionierung die höheren Kosten der Privatversicherung offenbar kaum ausgleicht. Sie übersieht auch die Komplexität und das Risiko der Finanzprodukte, die mit einer Privatvorsorge verbunden und für Normalbürger unzumutbar sind. Negativ wirkt sich zudem aus, dass sich insbesondere Niedriglohnbezieher die zusätzlichen Beitragszahlungen in die Riesterrente nicht leisten können oder sie sich nicht im erforderlichen Umfang leisten. Die Riesterreform hat deshalb mit dem Wechsel von der Lebensstandardsicherung zur Beitragssatzstabilisierung, die mit Hilfe der privaten Zusatzversicherung erzwungen wurde, de facto zusätzliche Altersarmut vorprogrammiert.

Das riesterreformierte Rentensystem bedarf dringend der Reform. Das Umlageverfahren kann und muss sicherstellen, dass die Rente – in der Formulierung des Weißbuches der EU-Kommission – eine angemessene und ausreichende Höhe erreicht und die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Rentner sichert. Dazu ist wahrscheinlich nicht nur die Rückkehr zu dem Absicherungsniveau erforderlich, das vor der Riesterreform bestand. Wenn nach der Reform der Riesterreform die Höhe der Rente angemessen und ausreichend gesichert ist, wenn die Erwerbstätigen sicher sein können, als Rentner mit der Sozialversicherungsrente wirtschaftlich unabhängig sein zu können, ist es möglich, dass der einzelne Bürger daran denkt, sich eine zusätzliche Alterssicherung durch eine private Vorsorge zu verschaffen.

Dass das Kapitaldeckungsverfahren im Vergleich zum Umlageverfahren sozialpolitisch positiv wirkt, ist sachlich nicht begründbar. Daher sollten die EU-Regierungen den Empfehlungen des Weißbuches der EU-Kommission, die darauf hinauslaufen, das staatliche Umlageverfahren ganz oder auch nur teilweise durch eine private Vorsorge zu ersetzen, nicht folgen.

  • 1 European Commission: White Paper – An Agenda for Adaquate, Safe and Sustainable Pensions, Brüssel 16.2.2012; vgl. auch C. Benita-Wilke: Europäische Rentenpolitik auf dem Vormarsch – Deutschland spielt ganz vorne mit, HWWI Standpunkte, 22.2.2012.
  • 2 European Commission, a.a.O., S. 3, 5, 6, 9.
  • 3 European Commission, a.a.O., S. 6, 12.
  • 4 European Commission, a.a.O., S. 9.
  • 5 Bemerkenswerterweise verbindet das Weißbuch der EU-Kommission die Empfehlung zu einer ergänzenden privaten Vorsorge mit der Forderung, deren Kosteneffizienz zu verbessern, vgl. European Commission, a.a.O., S. 12.
  • 6 Auch die EU-Kommission vernachlässigt den Jugendquotienten, rechnet aber die Zahl der Arbeitslosen in die „economic dependency ratio“, ihre Rate der Inaktiven, mit ein, vgl. European Commission, a.a.O., S. 6.
  • 7 U. Busch, R. Land: Deutschland zwischen 1950 und 2009 – Wirtschaftsentwicklung und Teilhabekapitalismus, Entwurf Oktober 2009, Tabelle 5, S. 27 (Internet).
  • 8 Einkommen 2008 x 1,01552.
  • 9 Einkommensbeispiel 4000 Euro im Jahre 2008 und Verdopplung auf 8000 Euro im Jahre 2060: Bei einer Beitragssatzsteigerung von 23% auf 26% ergeben sich folgende Werte: Beitrag 2008 = 920 Euro, Nettorealeinkommen 3080 Euro; Beitrag 2060 = 2080 Euro, Nettorealeinkommen 5920 Euro: Steigerung des Nettorealeinkommens 92,2%.
  • 10 Auf die höheren Kosten und auf die geringere Sicherheit der Privatvorsorge weist auch das Weißbuch der EU hin, wenn es feststellt: „Member States will have to find ways of improving the cost-effectiveness, safety and equitable access to supplementary pension schemes“, vgl. European Commission, a.a.O., S. 12.
  • 11 Vgl. z.B. E. Niemeier: Ursachen der deutschen Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg. (2009), H. 9, S. 592 ff.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1381-4

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