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Pflegeneuausrichtungsgesetz: Fragwürdige Förderung

Von Ines Läufer, Steffen J. Roth

Das vom Kabinett verabschiedete Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (PNG) sieht unter anderem Leistungsausweitungen für Personen mit Demenzerkrankungen vor. Ebenso wie die weiterhin verschobene Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes ist dies aus pflegewissenschaftlicher Sicht notwendig. Sollen willkürliche Leistungseinschränkungen für körperlich eingeschränkte Personen vermieden werden, bedarf die Einführung neuer Leistungen aber auch einer neuen Finanzierungsbasis. Das umlagefinanzierte System der gesetzlichen Pflegeversicherung ist aufgrund seiner Demografieabhängigkeit finanziell instabil. Die vorgesehene Finanzierung der neuen Leistungen über eine Erhöhung der Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung um 0,1 Prozentpunkte führt außerdem zu neuen Einführungsgewinnen und damit zu weiteren sozialpolitisch unerwünschten Umverteilungen. Sinnvoller wäre es daher, die notwendigen Betreuungsleistungen für Demenzkranke in den Leistungskatalog der Pflegeversicherung aufzunehmen und durch eine allgemeine Kürzung der von der Pflegeversicherung übernommenen Anteile an den gesamten Kosten abzufangen. Die Eigenverantwortlichkeit in der Pflegevorsorge würde damit wieder leicht erhöht. Einkommensschwache Personen, die den gestiegenen Eigenanteil an den Pflegekosten nicht tragen können, würden im Falle der Pflegebedürftigkeit über die steuerfinanzierte „Hilfe zur Pflege“ unterstützt, die systematischer als heute für demenzkranke Personen gesichert wäre.

Der Entwurf sieht außerdem eine Förderung freiwilliger Zusatzvorsorge vor. Es ist aber trotz der Förderung fraglich, ob der Abschluss einer privaten Zusatzversicherung für viele Bürger attraktiv wird: Im Fall der Pflegebedürftigkeit würde die Zusatzversicherung einen Teil der Ausgaben decken, die ansonsten durch privates Einkommen bzw. Vermögen oder nachrangig über die Sozialhilfe finanziert würden. Die Gewissheit, im Bedarfsfall von der Grundsicherung aufgefangen zu werden (und aufgrund der Freibeträge auch die eigenen Kinder nur begrenzt beanspruchen zu müssen), reduziert die Attraktivität einer privaten Pflegezusatzversicherung im Vergleich zu einer ebenfalls geförderten, nicht zweckgebundenen Altersvorsorge deutlich. Darüber hinaus ist die Förderung ohnehin höchst fragwürdig, und zwar unabhängig davon, ob sie in Form von steuerlicher Absetzbarkeit der Beiträge oder in Form von direkten Beitragszuschüssen erfolgt. Erstens sind bei den Personen, die auch ohne staatliche Unterstützung eine Zusatzversicherung abgeschlossen hätten, Mitnahmeeffekte zu erwarten. Zweitens hat die Förderung sozialpolitisch unerwünschte Folgen. Eine steuerliche Absetzbarkeit der Beiträge fördert all jene Personen nicht, die kein steuerpflichtiges Einkommen besitzen. Aber auch eine einkommensunabhängige Förderung durch direkte Beitragssubventionen beinhaltet tendenziell eine Umverteilung von einkommensschwachen zu einkommensstarken Bürgern, weil letztere die Subvention systematisch häufiger in Anspruch nehmen.

Begrüßenswert sind die geplanten flexibleren Leistungen in Form von Zeitvolumina, die durch individuelle Absprachen mit den Pflegediensten ausgefüllt werden können. Sie werden individuellen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen bzw. deren Angehörigen gerechter. Auch die geplante Förderung von ambulanten Wohngruppen als Alternativen zu einer stationären Betreuung ist sinnvoll: Sie wirkt den gegenwärtig bestehenden Anreizen zur Inanspruchnahme stationärer Betreuung entgegen. Konsequenter wäre jedoch die Auszahlung von gleichen Leistungssätzen innerhalb einer Pflegestufe, unabhängig von der gewählten Betreuungsform.

Demografischer Wandel: Allein es fehlt die Strategie!

Von Martin Gasche

Am 25.4. wurde die Demografiestrategie der Bundesregierung vorgestellt. Von einer Strategie erwartet man, dass die Leitlinien zukünftigen politischen Handels aufgezeigt werden. Konkrete Maßnahmen werden später eingebettet, beschlossen und durchgeführt. Diese Erwartung wird bei der Demografiestrategie enttäuscht, da kein „roter Strategiefaden“, sondern ein Sammelsurium von oft sinnvollen Einzelmaßnahmen, Aktionsplänen, kleinsten Initiativen und Willensbekundungen präsentiert wird. Die Entwicklung einer Strategie im herkömmlichen Sinne ist beim Thema Demografie gar nicht (mehr) möglich. Denn der demografische Wandel und die damit verbundenen Probleme sind kein neues Thema. Die demografische Entwicklung und die damit verbundenen Probleme, genauso wie die Rezepte, diesen Problemen zu begegnen, sind schon seit Jahrzehnten bekannt. Es ist auch nicht so, dass die Politik bisher keine Maßnahmen ergriffen hätte. Allein in der Rentenversicherung haben mit Blick auf die demografische Entwicklung in den letzten 20 Jahren zahlreiche Reformen stattgefunden.

Grundsätzlich werden in der Demografiestrategie die richtigen Handlungsfelder betrachtet: Familien-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Regional-, Bildungs-, Wachstums- und Finanzpolitik. Aus Ökonomensicht würde die Sicherung des Wachstums im Vordergrund stehen, da für den Wohlstand der Gesellschaft die Produktion von Gütern und Dienstleistungen notwendig ist. Hierfür sind Arbeitskräfte, Kapital und technischer Fortschritt nötig. Wenn die Zahl der Arbeitskräfte durch die demografische Entwicklung sinkt, sollte ungenutztes Arbeitskräftepotenzial gehoben werden. Dieses besteht im Wesentlichen aus den Frauen, den Älteren und den Jüngeren. Entsprechend muss Politik so gestaltet sein, dass die Erwerbstätigkeit dieser Gruppen gefördert wird. Da greifen die Familien-, die Arbeitsmarkt- und die Rentenpolitik, Maßnahmen zur alters- und familiengerechten Gestaltung von Arbeitsplätzen und -zeiten sowie eine auf die Erwerbsfähigkeit Älterer ausgerichtete Gesundheitspolitik. Arbeitskräftelücken können auch durch eine „produktive Zuwanderung“ geschlossen werden. Hier sind Integrationsmaßnahmen für neue Zuwanderer und bereits Zugewanderte notwendig. Einem Rückgang der Arbeitskräftezahl kann zudem durch eine höhere Produktivität der noch vorhandenen Arbeitskräfte entgegengewirkt werden. Hier kommt es auf die Bildungs- und Weiterbildungspolitik an. Der technische Fortschritt muss durch entsprechende Forschungs- und Innovationspolitik unterstützt werden. All das kann nur gelingen, wenn die öffentlichen Finanzen und die Sozialversicherungen tragfähig sind. Negative Auswirkungen der regionalen Unterschiede bei Bevölkerungsrückgang und -alterung müssen abgefedert werden, aber eher als Anpassungshilfen und weniger als Politik, die sich gegen die demografische Entwicklung in den Regionen stemmt. Schließlich stellt ein zunehmender Anteil älterer Menschen Themen wie Pflege, gesundes selbstbestimmtes Altern, altengerechtes Wohnen und bürgerschaftliches Engagement in den Vordergrund.

Eine so skizzierte Demografiestrategie müsste durch geeignete Maßnahmen mit Leben gefüllt werden. Aber konkrete Maßnahmen werden in der Demografiestrategie kaum genannt, sondern es werden meist nur Absichtserklärungen und Aktionspläne aufgezählt. Beispielsweise wird angekündigt, dass eine Präventionsstrategie ausgearbeitet werden soll. Es bleibt zu hoffen, dass in der Präventionsstrategie nicht die Umsetzung der Demografiestrategie angekündigt wird. Denn dann würde sich der Hund in den Schwanz beißen. Mit der Demografiestrategie liegt zwar keine Strategie im klassischen Sinne vor, trotzdem ist sie durchaus verdienstvoll, da sie die demografische Entwicklung und die damit verbundenen Probleme zurück in die öffentliche Diskussion bringt. Das ist wichtig; denn wären diese Probleme allen so klar, müsste nicht in der Demografiestrategie völlig zu Recht ein entsprechender Sinneswandel gefordert werden.

EU-Agrarpolitik: Keine mutige Reform

Von Ulrich Koester

Die EU-Kommission legte im Oktober 2011 einen Vorschlag zum siebenjährigen Finanzplan der EU und damit zu den finanziellen Grundlagen der EU-Agrarpolitik für den Zeitraum 2014 bis 2020 vor. Über den Finanzrahmen wird einstimmig im Ministerrat entschieden; einzelne Länder sind kaum bereit, auf bisherige Vorteile zu verzichten. Der Widerstand gegen drastische negative Änderungen aus nationaler Sicht kann auch deswegen erheblich sein, weil bei einer fehlenden abschließenden Beschlussfassung die sogenannte Ein-Zwölftel-Regel gilt, die einen monatlichen Nothaushalt auf Basis des Vorjahres möglich macht und damit den Status quo gewährleistet. Der Vorschlag der Kommission beruht daher auf einem Abwägen divergierender nationaler Interessen.

Der gegenwärtige Entscheidungsrahmen lässt kaum erwarten, dass die EU-Agrarpolitik angemessen auf Änderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen reagiert. So hat die Kommission vorgeschlagen, den größten Finanzposten, die Direktzahlungen an die landwirtschaftlichen Betriebe, annähernd unverändert auf der Höhe der Vorperiode zu belassen, obwohl die Begründung für diese Zahlungen, nämlich Kompensation der Einkommensverluste durch Absenkung staatlich garantierter Agrarpreise, mittlerweile entfallen ist. Diese Preise liegen inzwischen erheblich über dem Niveau vor 1992 und werden nach offiziellen Prognosen auch auf hohem Niveau bleiben. Die Kommission versucht dennoch, mit einer neuen Begründung die Transferzahlungen zu rechtfertigen. 70% der Zahlungen sollen die Landwirte als Grundeinkommenssicherung erhalten. Mit diesen Zahlungen würde die EU nicht nur eine sozialpolitische Maßnahme für eine spezielle Berufsgruppe einführen, sie würde sich dabei auch nicht an die allgemeinen nationalen Prinzipien von Sozialmaßnahmen halten. Nicht die individuell nachgewiesene Bedürftigkeit wäre für die Unterstützung entscheidend; stattdessen würde die Flächenausstattung je Betrieb als Kriterium gewählt werden. Je höher die Flächenausstattung, umso höher wäre der „Sozialtransfer“. Hiermit würde auch eindeutig gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen werden.

30% der bisherigen Direktzahlungen sollen die Betriebe für die Bereitstellung von Umweltleistungen erhalten. Effiziente Umweltpolitik hat sich aber an dem gegenwärtigen Zustand der Umwelt in den einzelnen Regionen zu orientieren und an der Zahlungsbereitschaft der Nutzer der Umwelt. Werden nur lokale Umweltgüter erstellt, ist die Zahlungsbereitschaft der Bewohner der Region entscheidend, bei Umweltgütern mit EU-weiter Wirkung kann auch eine EU-Förderung vorgesehen werden.

Die Bundesregierung als größter Nettozahler hat sicherlich einen gewichtigen Einfluss auf die Beschlüsse im Agrarministerrat. Tatsächlich wurden vom Wissenschaftlichen Beirat des zuständigen Ministeriums bereits im Vorfeld grundlegende Überlegungen über die Weiterführung der EU-Agrarpolitik nach 2013 veröffentlicht. In die Stellungnahmen des Ministeriums ist davon aber bisher nichts eingegangen. Im Gegenteil, das Ministerium akzeptiert die sozialpolitische Begründung der Direktzahlungen, wendet sich aber gegen eine Kürzung hoher Zahlungen an Spitzenempfänger. Das Bundesministerium stimmt damit implizit der Kommission zu, dass die Flächenausstattung je Betrieb ein geeignetes Kriterium für sozial begründete Transfers sein kann. Selbst juristische Personen, die zurzeit im Durchschnitt 285 000 Euro pro Unternehmen und Jahr erhalten, sind nach dieser Auffassung sozial bedürftig. Die vom Beirat empfohlene „mutige Reform der Agrarpolitik“ wird so nicht eingeleitet.

Mindestlohn: Keine Privatisierung der Sozialpolitik

Von Ronnie Schöb

Mindestlohnbefürworter und -gegner stehen sich unversöhnlich gegenüber. Beide Seiten präsentieren ausschließlich Argumente und empirische Untersuchungen, die ihre Position untermauern. Für unbedarfte Beobachter liegt daher die Vermutung nahe, dass es unter den Ökonomen keinen Konsens gibt hinsichtlich der Frage, wie schädlich der Mindestlohn ist. Damit zeigt die wissenschaftliche Diskussion eines sehr deutlich: die Einführung eines Mindestlohns ist sozialpolitisch äußerst riskant.

Während Politik und öffentliche Meinung bei technologischen Großrisiken wie bei der Kernenergie oder beim Klimawandel gerne auf eine risikominimierende Politik setzen – selbst wenn dies mit enormen Kosten verbunden ist –, neigt die Politik in sozialen Fragen offenbar immer mehr zum Vabanquespiel. Beim Thema Mindestlohn werden die gewaltigen Risiken einfach ausgeblendet. Dabei muss allen klar sein: Wenn es beim Mindestlohn schief geht, dann setzen wir die arbeitsmarktpolitischen Erfolge der letzten Jahre aufs Spiel und zwingen insbesondere diejenigen, die den schwersten Stand am Arbeitsmarkt haben, zurück in die Arbeitslosigkeit bzw. verwehren ihnen die Chance, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. All das hätte verheerende sozialpolitische Konsequenzen, denn wir schließen einen Teil der Gesellschaft mehr oder weniger dauerhaft von der Teilhabe am Wohlstand aus.

Nach den Linken, den Grünen und der SPD will sich nun auch die CDU auf dieses Wagnis einlassen. Auch sie will mit ihrem Vorschlag zu einer allgemeinverbindlichen Lohnuntergrenze „faire Löhne“ durchsetzen und nimmt hierfür „anständige Arbeitgeber, die anständig zahlen“ in die Pflicht. Hierzu soll eine unabhängige durch die Bundesregierung berufene Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften eingerichtet werden, die Lohnuntergrenzen für jene Branchen festlegt, für die bislang keine tariflich bestimmten Lohnuntergrenzen gelten. Löhne werden dann nicht mehr nach Marktgegebenheiten ,sondern nach sozialen Gesichtspunkten festgelegt. Die Sozialpolitik wird in zwei Stufen privatisiert. Zunächst bestimmt eine Kommission ohne demokratische Legitimation, was einen fairen Lohn ausmacht. Dann wird die Umsetzung der Zielvorgabe an die Arbeitgeber delegiert.

Das wird nicht gutgehen. So schön es auch wäre, die Unternehmer für existenzsichernde Löhne in die Pflicht zu nehmen, so unrealistisch ist ein Erfolg dieser Strategie. Es wird kaum verwundern, wenn sich Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, der ihnen zugedachten sozialpolitischen Aufgabe entziehen, etwa indem sie zu teuer gewordene Arbeiten ins Ausland auslagern, indem sie langfristig Menschen durch Maschinen ersetzen oder gänzlich auf deren Leistungen verzichten. Auf der Strecke bleiben die Bedürftigsten und die Zeche zahlt der Steuerzahler.

Sozialpolitik ist die originäre Aufgabe des Staates. Dieser Aufgabe darf er sich nicht entledigen, indem er sie an die Tarifparteien und an die Unternehmen delegiert. Es ist an der Zeit, dass die Parteien sich der sozialpolitischen Verantwortung des Staates wieder bewusst werden und sich wieder darauf besinnen, dass der wichtigste Schritt zur Verteilungsgerechtigkeit die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen ist. Das kann nur gelingen, wenn niedrige Lohneinkommen endlich von der hohen Abgabenlast befreit und damit faire Einkommen geschaffen werden, ohne gleichzeitig Arbeitskosten zu belasten und Arbeitsplätze zu gefährden.


DOI: 10.1007/s10273-012-1378-z

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