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Eine Auswertung von Tarifkonflikten in Deutschland zeigt, dass Spartengewerkschaften eine hohe Konfliktbereitschaft aufweisen. Treten mehrere konfliktfreudige Gewerkschaften bei einem Arbeitgeber in Konkurrenz, kumulieren sich die Konflikthandlungen. Im Extremfall gerät ein Arbeitgeber von einer Tarifauseinandersetzung in die nächste. Der Gesetzgeber kann diese Folge von Tarifpluralität begrenzen, indem er die Tarifeinheit wiederherstellt.

Die Lohnfindung in Deutschland war über viele Jahrzehnte durch ein Monopol von Branchengewerkschaften und durch den Grundsatz der Tarifeinheit geprägt. Dieses Monopol ist durch das Auftreten von Spartengewerkschaften, die komplementäre Berufsgruppen vertreten, gebrochen worden. Es wird befürchtet, dass der komplementäre Wettbewerb Neideffekte schürt, ein Aufschaukeln von Lohnforderungen verursacht und dadurch die Konfliktintensität bei Tarifverhandlungen zunimmt.1 Bislang steht der empirische Nachweis dieser Folgen allerdings aus. Es lässt sich weder ein systematisches Aufschaukeln von Lohnforderungen nachweisen, noch ein Anstieg der Streikaktivitäten.2 Allerdings zeigt ein Blick in die amtliche Arbeitskampfstatistik, dass diese das tatsächliche Streikgeschehen nur unzureichend abbildet. Es wird lediglich erfasst, wie viele Betriebe von Arbeitskämpfen betroffen sind und wie viele Arbeitstage arbeitskampfbedingt ausfallen (Arbeitskampfvolumen).3

Mit diesen Indikatoren lässt sich das tatsächliche Ausmaß der Konfliktintensität von Tarifverhandlungen aber nicht vollständig abbilden. Rufen große Branchengewerk­schaften Zehntausende zu ganztägigen Warnstreiks auf, sind davon sehr viele Betriebe unmittelbar betroffen und es fallen viele Arbeitstage aus. Treten hingegen ein paar Dutzend Lokführer, Lotsen oder Piloten für zwei bis drei Stunden in den Ausstand, gehen nur wenige Arbeitstage verloren und es ist oftmals nur ein Unternehmen direkt betroffen. Trotzdem hat ein solcher Ausstand aufgrund der besonderen betriebswirtschaftlichen Schlüsselstellung dieser Berufsgruppen eine große ökonomische Schadenswirkung. Diese trifft nicht nur den Verhandlungsgegner, sondern auch unbeteiligte Dritte. Eine größere Aussagekraft als das Arbeitskampfvolumen hätte die in der amtlichen Statistik nicht ausgewiesene Zahl der Arbeitskämpfe. Allerdings misst diese nur extreme Konflikthandlungen wie Streik und Aussperrung. Im Verkehrssektor reichen aber schon verbale Drohungen aus, um einen wirtschaftlichen Schaden zu verursachen und das Verhandlungsklima zu belasten. Um ein vollständiges Bild der Konfliktintensität bei Tarifverhandlungen zu erhalten, ist deshalb ein Messverfahren notwendig, das auch solche Eskalationsstufen, die einem Arbeitskampf vorgelagert sind, berücksichtigt.

Messung der Konfliktintensität

Bei den Eskalationsstufen in Tarifverhandlungen ist analog zu politischen Konflikten zwischen verbal-formalen und materiellen Konflikthandlungen zu unterscheiden. Zu den verbal-formalen Handlungen gehören die Streik- oder Aussperrungsdrohung, der Verhandlungsabbruch, der Streikaufruf, das Scheitern mit anschließender Schlichtung und das Scheitern mit anschließender Urabstimmung (oder Streikankündigung). Materielle Konflikthandlungen sind Warnstreiks, Streiks und Aussperrungen. Die verschiedenen Konflikthandlungen lassen sich in einer Eskalationspyramide anordnen (vgl. Abbildung 1).4 Im Idealfall kommt eine Tarifauseinandersetzung ohne Konflikthandlungen aus. Nachdem (mindestens) eine Tarifpartei eine Forderung stellt, wird darüber verhandelt und nach einem Kompromiss gesucht. Die Tarifverhandlung stellt demnach ein eskalationsfreies Mittel zur Lösung eines Tarifkonfliktes dar. Ihr werden in der Pyramide die Eskalationsstufe 0 und der Punktwert 0 zugeordnet.

Abbildung 1
Die Eskalationspyramide
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Quelle: eigene Darstellung.

Die erste Stufe der Eskalation ist die Drohung. In der Regel handelt es sich dabei um eine Streikdrohung, denkbar ist aber auch eine Aussperrungsdrohung. Beide Formen erhalten den Punktwert 1. Eine zweite Stufe der Eskalation wird erreicht, wenn eine Verhandlung nicht nur ergebnislos vertagt, sondern ohne Vereinbarung eines neuen Termins abgebrochen wird. Dem Verhandlungsabbruch (Punktwert 2) folgt oftmals ein Aufruf zu einem Warnstreik. Der Streikaufruf stellt die dritte Stufe der Eskalation dar, der Warnstreik die vierte Stufe (Punktwerte 3 und 4). Der Warnstreik ist als zeitlich befristete Arbeitsniederlegung bereits eine materielle Konflikthandlung. Die Gewerkschaften rechtfertigen ihn damit, dass er eine weitere Eskalation in Form eines Scheiterns der Verhandlungen verhindern soll, die eine Urabstimmung und einen unbefristeten Streik nach sich ziehen kann. Entsprechend verschärft sich die Konflikteskalation, wenn (mindestens) eine Tarifpartei die Verhandlungen für gescheitert erklärt. An diesem Punkt stehen zwei Alternativen bereit: Schlichtung und Urabstimmung. Die Schlichtung, bei der es zu einer weiteren, in der Regel trilateralen Verhandlung (unter Hinzuziehung eines neutralen Schlichters) kommt, ist die mildere Konflikthandlung und damit die fünfte Eskalationsstufe. Mit der Urabstimmung signalisiert die Gewerkschaft, dass sie die Verhandlungsmöglichkeiten zumindest vorläufig als erschöpft betrachtet und sie den Druck auf den Arbeitgeber durch Kampfhandlungen erhöhen will. Da nicht alle Gewerkschaftssatzungen eine Urabstimmung vorsehen, kann nach dem Scheitern auch unmittelbar ein Arbeitskampf angekündigt werden. Beide Varianten stellen die sechste Eskalationsstufe dar. Streik und Aussperrung sind dann die siebte und finale Eskalationsstufe. Eine Aussperrung ist immer nur in Reaktion auf einen Streik möglich, Angriffsaussperrungen sind nicht zulässig.

Eine weitere formal-verbale Konflikthandlung ist das Einlegen von Rechtsmitteln. Dies ist zu verschiedenen Zeitpunkten einer Tarifauseinandersetzung möglich. Denkbar ist, bereits nach einer Tarifforderung gegen die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft zu klagen, um die Aufnahme von Tarifverhandlungen zu verhindern. Außerdem kann ein Warnstreik oder Streik durch eine einstweilige Verfügung gestoppt werden oder eine Gewerkschaft nach einem Arbeitskampf auf Schadensersatz verklagt werden. Solche juristischen Auseinandersetzungen signalisieren, dass ein Konflikt nicht mehr bilateral, sondern durch das Einbeziehen eines Dritten – der Arbeitsgerichtsbarkeit – gelöst werden soll. Durch diesen trilateralen Charakter besteht eine gewisse Analogie zur Schlichtung. Entsprechend wird dem Einlegen von Rechtsmitteln der Punktwert 5 zugeordnet.

Um die Konfliktintensität auf Grundlage dieser Eskalationspyramide zu messen, bieten sich zwei Verfahren an. In einem statischen Verfahren wird geprüft, welche Eskalationsstufe in einer Tarifauseinandersetzung maximal erreicht wurde. Kommt es zu einem Arbeitskampf, hat der Konflikt eine Intensität von 7 Punkten, wird lediglich eine Streikdrohung ausgesprochen, wird eine Konfliktintensität von 1 Punkt erreicht. Die Länge bleibt bei diesem Messverfahren ebenso unberücksichtigt wie wiederholte Konflikthandlungen. In einem dynamischen Verfahren wird der zeitliche Ablauf bewertet. Dazu wird nach jeder Tarifverhandlung geprüft, welche Konflikthandlungen realisiert wurden. Diese werden dann summiert. Tritt eine Konflikthandlung nach einer Verhandlungsrunde mehrfach auf, wird diese nur einmal gezählt. Dies gewährleistet die Vergleichbarkeit von Tarifkonflikten in großen Branchen mit solchen in einzelnen Unternehmen. Kommt es beispielsweise nach drei Tarifverhandlungsrunden jeweils zu einer Streikdrohung, einem Streikaufruf und einem Warnstreik, werden insgesamt 24 Konfliktpunkte vergeben (3x1+3x3+3x4). Finden diese drei Konflikthandlungen nur einmalig nach einer Tarifverhandlung statt, entstehen insgesamt 8 Punkte (1+3+4).5

Datenquellen und Datenauswahl

Grundlage der empirischen Auswertung ist eine Tarifdatenbank des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Die IW-Datenbank basiert auf Pressemitteilungen der Tarifpartner, Zeitungsberichten, Agenturmeldungen und Experteninterviews. In der Datenbank sind derzeit insgesamt 123 Tarifkonflikte so gut dokumentiert, dass sie anhand der erläuterten Messverfahren ausgewertet werden können. Insgesamt liegen Informationen über zwölf Gewerkschaften, darunter fünf Sparten- und sieben Branchengewerkschaften und elf Wirtschaftszweige vor. Neben den fünf Spartengewerkschaften Marburger Bund (MB), Vereinigung Cockpit (VC), Unabhängige Flugbegleiter-Organisation (UFO), Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) und der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) wurden die IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), die IG Metall (IGM), die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Deutsche Beamtenbund und Tarifunion (dbb) als Branchengewerkschaften berücksichtigt. Neben den vier Wirtschaftszweigen des Verkehrs- und Gesundheitssektors, in denen Spartengewerkschaften verhandeln und wo Gewerkschaftswettbewerb besteht (Flugsicherung, Luftfahrt, Schienenverkehr, Krankenhäuser), wurden wichtige Branchen ausgewählt, in denen nach wie vor Tarifeinheit gilt. Im Einzelnen sind aus dem Produzierenden Gewerbe das Bauhauptgewerbe, die Chemische Industrie, die Druckindustrie sowie die Metall- und Elektroindustrie berücksichtigt und aus dem Dienstleistungssektor das Private Bankgewerbe, der Öffentliche Dienst und die Nachrichtenübermittlung.

Die empirische Auswertung berücksichtigt nur solche Tarifkonflikte, die ausreichend dokumentiert werden konnten. Dazu sind Informationen über den Zeitpunkt notwendig, zu dem Tarifforderungen gestellt wurden (dieser Zeitpunkt markiert den Konfliktbeginn), ferner darüber, wie oft verhandelt wurde und welche Eskalationsstufen zwischen den Verhandlungen erreicht wurden und wann die Verhandlungen endeten. Die Auswertung beginnt, soweit möglich, mit dem Jahr 2000. Sofern Sparten- oder Branchengewerkschaften erst später eigenständige Tarifverhandlungen führen, wurde der jeweils erste eigenständige Konflikt als Startzeitpunkt gewählt. So verhandeln ver.di und die VC erst seit 2001, die GdF und UFO seit Ende 2002, die GDL seit 2003 und der MB seit 2005. Von den 123 ausgewerteten Konflikten entfällt etwa die Hälfte auf Spartengewerkschaften. In einzelnen Wirtschaftszweigen (Schienenverkehr, Flugsicherung, Luftfahrt, Krankenhäuser, Nachrichtenübermittlung) konnten nicht alle Konflikte berücksichtigt werden, weil nicht primär auf Branchenebene, sondern auf Firmenebene verhandelt wird und viele Firmentarifverhandlungen in der IW-Datenbank noch nicht ausreichend dokumentiert sind. Die Auswertung ist daher im statistischen Sinne nicht repräsentativ. Dennoch vermittelt sie einen ersten umfassenden Überblick über die Konfliktneigung einzelner Gewerkschaften und die Konfliktintensität in einzelnen Wirtschaftszweigen.

Abbildung 2
Die Konfliktneigung von Gewerkschaften1
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1 Im Durchschnitt aller ausgewerteten Tarifkonflikte. IG BAU: Bauhauptgewerbe; IG BCE: Chemische Industrie; IGM: Metall- und Elektro-Industrie; ver.di: Druckindustrie, Privates Bankgewerbe, Öffentlicher Dienst, Luftfahrt, Telekommunikation und Postdienste; Tarifgemeinschaft (TG) ver.di/GEW/dbb: Öffentlicher Dienst.

Quelle: IW-Tarifdatenbank; eigene Berechnungen.

Ergebnisse zur Konfliktintensität

Zunächst sind in Abbildung 2 die Ergebnisse zur Konfliktneigung einzelner Gewerkschaften dargestellt. Die maximale Eskalationsstufe ist an der Abszisse und die Konfliktintensität auf der Ordinate abgetragen. Je weiter eine Gewerkschaft vom Nullpunkt entfernt ist, desto größer ist ihre Konfliktneigung. Die GDL erreicht beispielsweise eine durchschnittliche maximale Eskalationsstufe von 4,7 und eine Konfliktintensität von 40,7 Punkten. Sie stellt demnach die konfliktfreudigste Gewerkschaft dar. Ähnlich hohe maximale Eskalationsstufen weisen mit Ausnahme des VC (maximale Eskalationsstufe im Durchschnitt 2,6) auch die übrigen Spartengewerkschaften MB, GdF und UFO auf. Branchengewerkschaften wie die IG BAU, die IGM und die Tarifgemeinschaft aus ver.di, GEW und dbb kommen lediglich auf maximale Eskalationsstufen von 4,0 bis 4,2, ver.di und die EVG auf 3,2 bis 3,3 und die IG BCE auf 0,1. Sie verhandelt nahezu konfliktfrei.

Bei der Konfliktintensität fallen die Unterschiede zwischen Sparten- und Branchengewerkschaften weniger deutlich aus. Neben der GDL, dem MB (22,1) und der GdF (18,3) erreichen auch die IGM (19,8) und die Tarifgemeinschaft aus ver.di, GEW und dbb (17,4) hohe Punktwerte. UFO (10,2) schneidet bei der Konfliktintensität im Vergleich zu den anderen Gewerkschaften friedvoller und die VC (11,6) konfliktfreudiger als bei der maximalen Eskalationsstufe ab. Insgesamt zeigt die Auswertung, dass vier der fünf Spartengewerkschaften zu den Gewerkschaften mit der höchsten Konfliktneigung gehören.

Darüber hinaus belegt eine Analyse der Konfliktmuster, dass der Eskalationsgrad und die Konfliktintensität einer Tarifverhandlung, die von einer Spartengewerkschaft geführt wird, nur schwer zu kalkulieren sind. Besonders konfliktintensiv sind vor allem solche Tarifrunden ausgefallen, in denen die Spartengewerkschaften ihre Eigenständigkeit durchsetzen mussten.6 Ein Beispiel dafür ist der zwischen 2010 und 2012 von der GDL geführte Kampf zur Durchsetzung eines branchenweiten Rahmen-Tarifvertrags für Lokführer. Die GDL verhandelte zunächst mit der Deutschen Bahn und einer Verhandlungsgemeinschaft privater Bahngesellschaften des Schienen-Personen-Nahverkehrs. Als sich die Verhandlungsgemeinschaft aufgrund unüberbrückbarer Interessengegensätze auflöste, ging die Lokführergewerkschaft dazu über, alle Unternehmen einzeln zum Abschluss des angestrebten Rahmentarifvertrages zu zwingen. Insgesamt mündeten drei der sechs ausgewerteten GDL-Konflikte in einen Arbeitskampf, während es die GDL 2008/09 und 2012 bei einer Streikdrohung beließ (vgl. Abbildung 3). Beim Marburger Bund gibt es neben Tarifrunden, die bis zum Arbeitskampf eskalieren und mit einer hohen Konfliktintensität einhergehen auch solche, die konfliktfrei verlaufen sind (vgl. Abbildung 3). Für die übrigen Spartengewerkschaften GdF, UFO und VC fällt der Befund ähnlich aus.

Abbildung 3
Konfliktmuster von Sparten- und Branchengewerkschaften
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IGM: Metall- und Elektro-Industrie, Tarifgemeinschaft ver.di/GEW/dbb: Öffentlicher Dienst.

Quelle: IW-Tarifdatenbank; eigene Berechnungen.

Bei den Branchengewerkschaften sind die Konfliktmuster zumindest in den Wirtschaftszweigen homogener, in denen nach wie vor Tarifeinheit herrscht und keine Konkurrenz durch Spartengewerkschaften besteht. Als durchweg verlässlicher verhandlungsorientierter Sozialpartner erweist sich die IG BCE in der Chemischen Industrie. In den zehn ausgewerteten Tarifrunden wurde lediglich einmal eine Streikdrohung ausgesprochen. Die IGM ist in der Metall- und Elektroindustrie zwar konfliktfreudiger, sie folgt aber einem recht verlässlichen Muster: In acht der elf ausgewerteten Konflikte kam es bis zum Warnstreik und die Konfliktintensität entwickelte sich vergleichsweise stetig (vgl. Abbildung 3). Die IG BAU erreicht im Bauhauptgewerbe in der Regel maximale Eskalationsstufen zwischen vier und fünf. Hier spielt die verbal-formale Konflikthandlung Scheitern und Schlichtung eine wichtigere Rolle als der Warnstreik. Eine Erklärung für diesen Befund kann im wirtschaftlichen Hintergrund der Branche liegen. Durch den Strukturwandel gingen viele Arbeitsplätze verloren, was die Wahl der Kampfmittel beschränkt.

Weniger homogen und verlässlich verhalten sich Branchengewerkschaften, die mit Spartengewerkschaften im Wettbewerb stehen. Allenfalls bei der im Öffentlichen Dienst verhandelnden Tarifgemeinschaft aus ver.di, GEW und dbb (Wettbewerb mit dem MB im Gesundheitssektor) ist zu beobachten, dass sie generell eher konfliktorientiert verhandelt, wobei sie verbal-formale und materielle Konflikthandlungen nutzt (vgl. Abbildung 3). Die Verhandlungen der EVG, die 2010 aus der Fusion der Eisenbahnergewerkschaft Transnet und der Verkehrsgewerkschaft GDBA hervorging, sind hingegen erst in den letzten Jahren konfliktintensiver geworden (Wettbewerb mit der GDL im Schienenverkehr). Schließlich entwickelte sich das Konfliktmuster von ver.di im Luftverkehr ähnlich unstetig wie bei den Spartengewerkschaften.

Kumulierende Konfliktintensität

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Konfliktintensität nach Wirtschaftszweigen. Dort, wo mehrere Gewerkschaften verhandeln, wurden zunächst nur ungewichtete Mittelwerte aus den Konfliktmustern der jeweils verhandelnden Gewerkschaften gebildet. Die durchschnittliche maximale Eskalationsstufe liegt in den meisten Wirtschaftszweigen zwischen 4,0 und 4,5 Punkten, und zwar unabhängig davon, ob wie in der Flugsicherung, in der Luftfahrt, in Krankenhäusern und im Schienenverkehr Tarifpluralität besteht oder ob es sich um Branchen mit Tarifeinheit handelt. Geringere Stufen haben die Chemische Industrie (0,1), das Private Bankgewerbe (2,1), die Luftfahrt (3,3) und die Nachrichtenübermittlung (3,5). Die durchschnittliche Konfliktintensität in Punkten ist im Schienenverkehr (24,3), in Krankenhäusern (19,8) in der Metall- und Elektroindustrie (19,8), in der Flugsicherung (17,9) und im Öffentlichen Dienst (17,4) am größten. Konfliktärmer geht es vor allem in der Chemischen Industrie (0,1), aber auch im Privaten Bankgewerbe (8,0), im Bauhauptgewerbe (8,6) und in der Nachrichtenübermittlung (11,4) zu.

Tabelle 1
Konfliktintensität nach Wirtschaftszweigen
  Durch­schnittliche maximale Eskalations­stufe (Skala 0 bis 7) Durch­schnittliche Konflikt­intensität in Punkten Kumulierte Konflikt­intensität in Punkten
Schienenverkehr 4,0 24,3 48,6
Krankenhäuser 4,4 19,8 39,6
Flugsicherung1 4,5 17,9 35,7
Luftfahrt 3,3 10,2 30,6
Metall- und Elektroindustrie 4,2 19,8 19,8
Öffentlicher Dienst 4,2 17,4 17,4
Druckindustrie 4,0 17,2 17,2
Nachrichtenübermittlung 3,5 11,4 11,4
Bauhauptgewerbe 4,0 8,6 8,6
Privates Bankgewerbe 2,1 8,0 8,0
Chemische Industrie 0,1 0,1 0,1

1 Keine kumulierende Wirkung bei der Deutschen Flugsicherung (Tower), da sich die Gewerkschaft der Flugsicherung dort als Einheitsgewerkschaft betätigt; kumulierende Wirkung bei der Vorfeldkontrolle an Flughäfen.

Quelle: IW-Tarifdatenbank; eigene Berechnungen.

Bei einem Branchenvergleich ist allerdings zu berücksichtigen, dass bei Tarifpluralität mehrere Gewerkschaften mit einem Arbeitgeber verhandeln. Kooperieren konkurrierende Gewerkschaften und bilden sie wie im Öffentlichen Dienst Tarifgemeinschaften, entstehen keine kumulierenden Effekte. Kooperieren sie aber nicht und verhandeln getrennt, entstehen kumulierte Konfliktwirkungen, die parallel oder sequenziell auftreten können. Im Extremfall rutscht ein Arbeitgeber von einer Tarifauseinandersetzung in die nächste. Tabelle 1 enthält deshalb auch kumulierte Werte zur Konfliktintensität. Sie wurden durch Summierung der Einzelwerte aller jeweils an den Tarifverhandlungen beteiligten Gewerkschaften ermittelt. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Konfliktintensität im Verkehrs- und Krankenhaussektor mit 30,6 bis 48,6 Punkten deutlich höher ist als in den Branchen mit Tarifeinheit, die auf maximal 19,8 Punkte kommen. Bei komplementärem Gewerkschaftswettbewerb besteht demnach ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Tarifverhandlungen und der Konfliktintensität einer Branche.

Gesetzlicher Handlungsbedarf

Die Konfliktintensität einer Branche wird demnach durch zwei Faktoren bestimmt: zum einen durch die Konfliktneigung einer einzelnen Gewerkschaft, zum anderen durch die Zahl der verhandelnden Gewerkschaften. Ein Problem entsteht, wenn in einer Branche mehrere konfliktfreudige Gewerkschaften in Konkurrenz zueinander treten und separat verhandeln. Solche getrennten Verhandlungen können parallel oder sequenziell ablaufen. Parallele Verhandlungen haben aus Sicht des Arbeitgebers den Vorteil, die Konfliktwirkungen zeitlich zu begrenzen. Sequenzielle Verhandlungen bedeuten im Extremfall, dass ein Arbeitgeber von einer Tarifauseinandersetzung in die nächste gerät. Da sich die Friedenspflicht eines Tarifvertrages nur auf die Berufsgruppen seines Geltungsbereichs erstreckt, schützt der mit einer einzelnen Gewerkschaft abgeschlossene Tarifvertrag nicht vor Kampfhandlungen anderer konkurrierender Gewerkschaften. Dadurch wird die tarifliche Friedenspflicht des geschlossenen Tarifvertrages entwertet.

Natürlich hängt die Durchsetzungsstärke einer Spartenge­werkschaft auch von der Marktstruktur ab. Die hier untersuchten Spartengewerkschaften agieren ausschließlich in monopolistisch geprägten Branchen.7 Darauf zu setzen, dass es in Branchen mit mehr Wettbewerb zu keiner Herausbildung von Spartengewerkschaften kommen wird oder zu hoffen, dass mehr Wettbewerb zu einer Disziplinierung der Spartengewerkschaften führt, verkennt jedoch die Anreizstrukturen einer Spartengewerkschaft. Diese legitimiert sich allein dadurch, dass sie für ihre Mitglieder höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzt als eine Branchengewerkschaft. Der lohnpolitische Verteilungsspielraum mag durch einen steigenden Wettbewerbsdruck sinken. Der Verteilungskonflikt wird dadurch aber nicht entschärft. Im Gegenteil: Jede Spartengewerkschaft wird versuchen, ihren Anteil am sinkenden Verteilungsspielraum zu erhöhen, um dieselbe ökonomische Rente wie im Falle monopolartiger Marktstrukturen zu bekommen.8

Der Markt wird die Konfliktneigung der Spartengewerkschaften kaum dämpfen. Auch der Gesetzgeber ist dazu nicht in der Lage, weil ihm die Tarifautonomie Schranken setzt. Der Gesetzgeber kann aber verhindern, dass ein Unternehmen oder ein Arbeitgeberverband mit konkurrierenden konfliktfreudigen Gewerkschaften regelmäßig Tarifauseinandersetzungen führen muss. Dabei stellt sich die Frage, welche gesetzliche Regelung dies am besten sichert und welche verfassungsrechtlichen Risiken eine solche Regelung aufwerfen würde. Aus ökonomischer Sicht sollte erreicht werden, dass konkurrierende Gewerkschaften miteinander kooperieren, ihre Forderungen abstimmen und gemeinsam verhandeln. Ein im Juni 2010 von der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände und dem Deutschen Gewerkschaftsbund vorgelegter Vorschlag zur gesetzlichen Verankerung der Tarifeinheit weist in diese Richtung.9 Der Vorschlag sieht vor, dass bei Tarifpluralität nur der Tarifvertrag anwendbar sein soll, an den die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder in einem Betrieb gebunden ist. Die während der Laufzeit des Tarifvertrags geltende Friedenspflicht würde durch die gesetzliche Regelung auf konkurrierende Tarifverträge, die aufgrund mangelnder Repräsentativität nicht zur Geltung kommen, ausgeweitet. Verlangt eine Konkurrenzgewerkschaft für ihre Mitglieder einen alternativen Tarifvertrag, müsste sie die geltende Friedenspflicht achten. Arbeitskampfmaßnahmen wären erst zulässig, wenn die Friedenspflicht des repräsentativen Tarifvertrags endet. Dieser Vorschlag wäre vor allem dann wirkungsvoll, wenn er nicht nur verhindert, dass für eine Arbeitnehmergruppe konkurrierende Tarifverträge angewendet werden, sondern wenn er auch den komplementären Gewerkschaftswettbewerb unterbinden würde. Dies schließt der Vorschlag aus verfassungsrechtlichen Gründen aber gerade nicht aus. Eine vereinbarte Tarifpluralität, bei der sich verschiedene Tarifparteien darauf verständigen, in einem Betrieb unterschiedliche Tarifverträge für unterschiedliche Arbeitnehmergruppen zu vereinbaren, soll zulässig bleiben. Eine solche Regelung ist aus ökonomischer Sicht unbefriedigend, sobald bei komplementärem Gewerkschaftswettbewerb die beschriebenen Folgen kumulierender Konfliktintensität auftreten.

Eine Alternative wäre die gesetzliche Tarifgemeinschaft. Bei einer Tarifgemeinschaft müssten konkurrierende Gewerkschaften ihre Lohnforderungen innerhalb der tarifvertraglichen Friedenspflicht ohne den Einsatz von Konflikthandlungen abstimmen und anschließend gemeinsam verhandeln. Ein gesetzlicher Zwang zur Bildung einer Tarifgemeinschaft greift aber erheblich in das Koalitionsrecht der Gewerkschaften ein. Eine geringere Eingriffsintensität läge vor, wenn lediglich vorgeschrieben würde, Tarifverhandlungen zeitlich zu synchronisieren, so dass Streikaktivitäten rivalisierender Gewerkschaften nur noch parallel auftreten.10 Die Laufzeit eines Tarifvertrages ist in Tarifverhandlungen allerdings eine wichtige Stellschraube. Der Tausch einer längeren Laufzeit gegen eine höhere Lohnsteigerung wäre nicht mehr uneingeschränkt möglich.

Alle Vorschläge einer gesetzlichen Verankerung der Tarifeinheit stoßen auf verfassungsrechtliche Bedenken, weil die Koalitions- und Arbeitskampffreiheit verfassungsrechtlich geschützte Güter sind. Beide Güter konkurrieren aber mit den Grundrechten Dritter, die besonders bei Arbeitskämpfen in der Daseinsvorsorge eingeschränkt werden. Da dem Schutz Dritter in der Arbeitskampfrechtsprechung kaum Beachtung geschenkt wird, steht der Gesetzgeber geradezu in der Pflicht, diese zu schützen. Zudem hat der Gesetzgeber die Aufgabe, den rechtlichen Rahmen von Tarifverhandlungen so zu gestalten, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gesichert ist. Allein der Gesetzgeber ist in der Lage, die schleichende Entwertung der tarifvertraglichen Friedenspflicht zu stoppen. In einer arbeitsteiligen Wirtschaft stellt die Sicherung der tarifvertraglichen Friedenspflicht über die gesamte Wertschöpfungskette einen wichtigen Standortvorteil dar. Diesen gilt es zu wahren.


Der Autor dankt Carsten Giersch und Lea M. Petters für viele Diskussionen und wertvolle Hinweise.

  • 1 Vgl. H. Lesch: Spartengewerkschaften – Entstehungsmotive und ökonomische Wirkung, in: Industrielle Beziehungen, 15. Jg. (2008), H. 4, S. 303-328; H. Lesch, L. M. Petters: Die Konfliktintensität von Tarifverhandlungen bei Tarifpluralität, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 5, S. 294-299; J. Haucap: Tarifeinheit nicht durch Gesetz verankern, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 5, S. 299-303.
  • 2 Vgl. R. Bachmann, M. Henssler, C. M. Schmidt, A. Talmann: Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen, RWI-Projektberichte, Essen 2011.
  • 3 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Arbeitsmarkt in Zahlen. Streikstatistik, Berichtsjahr 2012, Nürnberg.
  • 4 Vgl. H. Lesch: Die Konfliktintensität von Tarifverhandlungen, in: IW-Trends, 40. Jg., H. 3, S. 63-79.
  • 5 Bei finalem Produktionsausfall kann ein modifiziertes Messverfahren herangezogen werden. So reicht im Verkehrssektor schon eine Streik­ankündigung aus, um einen finalen Produktionsausfall zu verursachen. Die verbal-formale Konflikthandlung wirkt dann im Ergebnis wie eine materielle. Dies lässt sich berücksichtigen, indem der Streikaufruf und der Warnstreik bei finalem Produktionsausfall wie ein Arbeitskampf bewertet werden. Entsprechende Berechnungen führen zu keiner qualitativen Änderung der Ergebnisse, siehe H. Lesch: Die Konfliktintensität von Tarifverhandlungen, a.a.O.
  • 6 Vgl. dazu den Überblick über die Konfliktintensität von Statuskonflikten im Vergleich zu sachbezogenen Tarifkonflikten in der Flugsicherung und in der Luftfahrt bei H. Lesch, L. M. Petters, a.a.O.
  • 7 Vgl. J. Haucap, a.a.O., S. 301.
  • 8 Vgl. H. Lesch: Ökonomik des Arbeitskampfrechts, IW-Analysen, Nr. 86, Köln 2013, S. 85 ff.
  • 9 Vgl. Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Deutscher Gewerkschaftsbund: Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit gesetzlich regeln, Berlin 2010.
  • 10 Vgl. Monopolkommission: Mehr Wettbewerb, wenig Ausnahmen, 18. Hauptgutachten, Bonn 2010, S. 422.

Title:Intensity of Conflict When a Company Has Entered into Multiple Collective Bargaining Agreements

Abstract:In some industries, wage negotiations are conducted not only by labour unions covering the whole sector but also by craft unions representing single occupations. A comprehensive evaluation of wage disputes in Germany shows that craft unions are especially confrontational. Particular problems arise if several conflict-prone unions representing employees of the same company enter into competition with each other. The cumulative effects of such a situation can undermine the legal ban on industrial action while a collective wage agreement is in force. This damage could be limited by legislation regulating competition among trade unions and restoring exclusivity for wage agreements at the plant level (one company = one agreement).


DOI: 10.1007/s10273-013-1596-z