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Die Wirtschafts- und Finanzkrise kam unerwartet – auch für Wirtschaftswissenschaftler. Außer ihrer mangelnden Prognosefähigkeit wird ihnen seither vermehrt unterstellt, die Politik interessengeleitet zu beraten. Dass dies so ist, bestreitet der Autor nicht. Er sieht allerdings auch keine Möglichkeit, Objektivität zu erzwingen. Vielmehr lassen sich Erkenntnisfortschritte seiner Auffassung nach umso eher erzielen, je offener und kontroverser ein Diskurs geführt wird.

Dass Ökonomen unterschiedlicher Meinung sind, ist nicht gerade selten. Dies wird wieder sehr deutlich in der derzeitigen Beurteilung der öffentlichen Verschuldung. Während viele Ökonomen in Deutschland für eine strikte Begrenzung dieser Schulden plädieren und die Einhaltung der 2009 beschlossenen Schuldenbremsen für Bund und Länder verlangen, fordert Carl Christian von Weizsäcker neue Schulden, um die mangelnden privaten Anlagemöglichkeiten auszugleichen: „Die Schuldenbremse ist nutzlos: Verschuldet Euch!“1 Er kann sich dabei auf Richard Koo2 berufen, der zwischen traditionellen und Balance-Sheet-Rezessionen unterscheidet. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass die privaten Akteure versuchen, Schulden abzubauen, weshalb der Staat nach seiner Auffassung Schulden aufnehmen sollte, um ihnen Anlagemöglichkeiten zu bieten und damit zu verhindern, dass die Wirtschaft in eine tiefe Rezession abgleitet.3 Eine solche Rezession hatte Japan in den vergangenen zwei Jahrzehnten, und von Weizsäcker sieht heute eine solche Rezession zumindest in Teilen Europas. Eine dritte gelegentlich gehörte Meinung ist, dass die Schulden zwar grundsätzlich begrenzt werden sollten, dass Deutschland aber heute die Chance der extrem niedrigen Zinsen nutzen sollte, um seine teilweise marode Infrastruktur zu modernisieren.

Eine ähnliche Kontroverse betrifft die Geldpolitik. Während die einen Ökonomen glauben, die Aufblähung der Geldmenge durch die heutige Geldpolitik (nicht nur) der Europäischen Zentralbank führe zwangsläufig zu einer Hyperinflation, glauben andere, dass der hier unterstellte Zusammenhang zwischen Geldbasis und Preisniveau gar nicht mehr existiert. Auf der einen Seite steht z.B. Manfred Neumann aus Bonn, einer der führenden Geldtheoretiker Deutschlands, auf der anderen Seite Christopher Sims, Nobelpreisträger aus Princeton. Gerald Braunberger spricht in diesem Zusammenhang von zwei verschiedenen Planeten, auf denen die Ökonomen leben.4

Beispiel: Streit über Kantonale Gebäudeversicherung

Von einer einheitlichen Auffassung der Ökonomen zu reden, ist bezüglich dieser Fragen heute beim besten Willen nicht möglich. Aber selbst bei Fragen, die eigentlich viel leichter zu beantworten sein sollten, gibt es völlig konträre Auffassungen. Dies ist vor allem dann interessant, wenn Wissenschaftler direkt im Auftrag politischer Instanzen oder für Interessengruppen Gutachten verfassen, die helfen sollen, bestimmte politische Ziele zu erreichen. Dies war z.B. bei der Diskussion um die kantonalen Monopolversicherungen gegen Feuer- und Elementarschäden in der Schweiz in den 1990er Jahren der Fall.

Es gibt in 19 Kantonen solche kantonalen Monopole, während in sieben Kantonen Feuer- und Elementarschäden durch private Versicherungen abgedeckt werden, die in Wettbewerb zueinander stehen. Wäre die Schweiz dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beigetreten, hätten diese Monopole vermutlich aufgelöst werden müssen. Nach der Ablehnung des Beitritts zum EWR im Dezember 1992 fand in der Schweiz eine Diskussion darüber statt, ob die Monopole der Kantonalen Gebäudeversicherungen beibehalten oder abgeschafft werden sollten; die schweizerischen Privatversicherer wollten trotz der Ablehnung des EWR deren Beseitigung. Um dem etwas entgegenzusetzen, beauftragten die Kantonalen Gebäudeversicherungen Thomas von Ungern-Sternberg5 von der Universität Lausanne mit der Erstellung eines Gutachtens, das zeigen sollte, dass ihre Prämien deutlich tiefer als jene der privaten Konkurrenz sind. Nachdem er dies in seinem Gutachten dokumentiert hatte und es der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, beauftragten die Privatversicherer Bernd Schips6 von der ETH Zürich mit der Erstellung eines Gegengutachtens. Er kam – wenig überraschend – zum gegenteiligen Ergebnis.

Das interessante an diesem Beispiel ist nicht, dass zwei Wissenschaftler zum gleichen Gegenstand unterschiedliche, sich widersprechende Auffassungen vertreten, sondern vielmehr, dass dies selbst bei einer Frage geschieht, bei der theoretische Überlegungen nur eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Wird über die Sinnhaftigkeit der Sparprogramme für Griechenland und Spanien diskutiert, mag man unterschiedlicher Meinung sein. Aber bei den kantonalen Monopolversicherungen handelt es sich um eine sehr einfache Frage: Wer verlangt für die gleiche Leistung höhere Prämien: die kantonalen Monopole oder die im Wettbewerb miteinander stehenden Privatversicherungen? Hier stehen nicht große konkurrierende Theorien miteinander in Widerstreit, und die ökonometrischen Methoden, die für eine solche Untersuchung erforderlich sind, sind auch nicht extrem aufwändig. Daher ist es umso merkwürdiger, dass die beiden Gutachter zu so unterschiedlichen Ergebnissen kamen, die – selbstverständlich rein zufällig – genau dem entsprachen, was die Auftraggeber von ihnen erwartet hatten. Dazu kommt, dass das Ergebnis von von Ungern-Sternberg,7 das letztlich auch bestätigt wurde,8 im Widerspruch zur Auffassung mancher – oder vielleicht auch vieler – Ökonomen steht, die davon ausgehen, dass privater Wettbewerb immer und überall staatlichen Monopolen überlegen ist.

Angesichts dieser und anderer Beispiele kann man sich fragen, welchen Sinn wirtschaftspolitische Beratung überhaupt macht: Vertreten die involvierten Wissenschaftler nicht einfach ihre persönlichen (ideologischen) Überzeugungen, und weshalb soll man dann dazu in erheblichem Umfang Steuergelder aufwänden? Die Wissenschaftler sind dagegen in aller Regel der Überzeugung, dass sie hier rein wissenschaftlich und nicht politisch argumentieren. Nur nimmt ihnen dies außerhalb des Wissenschaftsbereichs kaum jemand ab.

Will man nicht in allgemein verbreitete (Vor-)Urteile verfallen, bietet es sich an, den Prozess der wissenschaftlichen Politikberatung mit Hilfe des ökonomischen Instrumentariums zu untersuchen. Dies bedeutet, dass das ökonomische Verhaltensmodell konsequent auf alle an diesem Prozess beteiligten Akteure angewendet wird. Dies ist bisher nur in sehr geringem Umfang geschehen. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die meisten Wissenschaftler von sich und ihrer Wissenschaftsgemeinschaft ein zu idealistisches Bild haben, das sich auf Max Weber9 berufen kann. Danach sind Wissenschaftler grundsätzlich allein der Wahrheit (und Ökonomen möglicherweise noch der gesellschaftlichen Wohlfahrt) verpflichtet. Dies wird nicht nur als eine moralische Forderung an die einzelnen Wissenschaftler, sondern auch als eine weitgehend korrekte Beschreibung des Wissenschaftsbetriebs verstanden, weil sonst objektive Wissenschaft gar nicht möglich wäre. Dem lässt sich ein realistischeres Bild gegenüberstellen, wonach Objektivität der Wissenschaft weniger eine Frage der Motivation (bzw. Integrität) der einzelnen Wissenschaftler als vielmehr eine Frage der vernünftigen Organisation des Wissenschaftsprozesses ist, die Kritik ermöglicht und sogar ermutigt und die damit die Chance eröffnet, Fehler auszuräumen. Bei dieser Konzeption kann man sich auf Karl Popper10 berufen.

Konzeptionen der Politikberatung

Ökonomen haben sich bisher nicht sehr häufig mit dem Prozess der Politikberatung befasst. Wenn sie es tun, dann häufig, indem sie darüber klagen, dass die Politik ihren Ratschlägen nicht in ausreichendem Maße folge.11 Dabei war in den vergangenen Jahrzehnten wohl kaum eine Sozialwissenschaft politisch so erfolgreich wie die Ökonomie: Die Politiker hätten die großen Vorhaben der Deregulierung und Privatisierung wohl kaum jemals so umgesetzt, wenn nicht die überwiegende Mehrheit der Ökonominnen und Ökonomen ihnen permanent erklärt hätte, dass dies der gesellschaftlichen Wohlfahrt diene. Hinter den Klagen über die weitgehende Erfolglosigkeit der politischen Beratungstätigkeit von Wirtschaftswissenschaftlern steht das traditionelle, reichlich naive Verständnis vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Es geht von Idealbildern von Politikern wie Wissenschaftlern aus, die es in der Realität nicht gibt. Von der Politik wird erwartet, dass sie bestrebt ist, das Gemeinwohl zu fördern, und dabei die zuverlässigen Ergebnisse der Wissenschaft berücksichtigt. Von der Wissenschaft wird erwartet, dass sie diejenigen objektiven Informationen, welche die Politik benötigt, bereitwillig zur Verfügung stellt.12

Hinter diesem Verständnis steht eine ganze Reihe von Annahmen, die in aller Regel nicht oder bestenfalls nur zum Teil reflektiert werden:

  1. Die Regierung verhält sich wie ein wohlwollender Diktator. Ihr Handeln wird als Versuch der Maximierung einer Zielfunktion verstanden, welche die soziale Wohlfahrt abbildet.13
  2. Die Regierung ist für ihre Politik darauf angewiesen, dass sie von der Wissenschaft entsprechende Informationen erhält.
  3. Die Wissenschaftler sind politisch neutral und nur der Wahrheit (bzw. der Wohlfahrt ihres Gemeinwesens) verpflichtet.
  4. Die Wissenschaft gibt eindeutige Anweisungen.

Wie bereits ausgeführt wurde, haben viele Ökonomen, aber auch viele andere (Sozial-)Wissenschaftler, von sich selbst als Wissenschaftler ein sehr hehres Bild. Sie glauben an dieses Bild auch dann, wenn sie Politikberatung betreiben: sie halten sich für objektiver und unabhängiger als andere Menschen (Nichtwissenschaftler). Sie glauben, dass sie aufgrund ihrer Wissenschaftlichkeit nicht nur über mehr Information verfügen und damit politische Fragen besser beurteilen können als andere Menschen, sondern dass sie auch eher dem Gemeinwohl dienen als jene. Sie billigen sich dabei eine moralische Position zu, die sie (fast) niemand anderem zugestehen.14

Entsprechend dieser Perspektive besteht das Problem der Wissenschaft darin, den Politikern genau zu erklären, worin die gesellschaftliche Wohlfahrt besteht und wie das Ziel ihrer Maximierung möglichst weitgehend erreicht werden kann. Von den Ergebnissen müssen die Politiker überzeugt werden. Da dies ganz offensichtlich bei Weitem nicht immer gelingt, befassen sich große Teile der Literatur zur Politikberatung damit aufzuzeigen, wie man die Politiker auf den rechten Weg bringen könnte und wie dies in dem einen oder anderen Fall auch gelungen sein mag.15

Dass (auch demokratisch gewählte) Politiker sich generell wie wohlwollende Diktatoren verhalten, ist freilich eine eher merkwürdige Vorstellung. Schließlich verfolgen sie – gerade in einer Demokratie – in Abhängigkeit von ihrer Parteiideologie ganz unterschiedliche Politiken, die sich zum Teil diametral widersprechen. Gehen die Ökonomen davon aus, dass die Wirtschaftssubjekte vornehmlich ihre eigenen Interessen (selbstverständlich unter Nebenbedingungen) verfolgen, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Politiker dies nicht auch tun. Beginnend mit den klassischen Arbeiten von Kenneth Arrow,16 Anthony Downs17 sowie James Buchanan und Gordon Tullock18 hat sich eine moderne Politische Ökonomie entwickelt, die das Verhalten politischer genauso wie jenes wirtschaftlicher Akteure mit Hilfe des ökonomischen Ansatzes untersucht und die heute in die moderne Volkswirtschaftslehre weitgehend integriert ist. Gleichwohl wird dabei die Rolle des Wissenschaftlers nach wie vor – zumindest implizit – idealisiert.

Die Öffentlichkeit nimmt den Ökonomen ihr ideales Selbstbildnis kaum ab. Auch wenn die dort geäußerte Kritik in vielen Punkten überzogen sein mag, wird man doch zugestehen müssen, dass das Bild der Öffentlichkeit von den wissenschaftlichen Beratern eher realistisch ist als jenes hehre Bild, das viele Ökonomen (und andere Wissenschaftler) von sich selbst haben. Schließlich verfassen sie z.B. Gutachten für unterschiedliche Interessengruppen, für die sie sich nicht selten recht gut bezahlen lassen. Und deren Ergebnisse dienen in aller Regel ihren Auftraggebern, wobei von verschiedenen Wissenschaftlern häufig sich widersprechende Gutachten vorgelegt werden. Da sie wissen, dass hier Konflikte mit ihrer Rolle als Wissenschaftler auftreten könnten, versuchen Gutachter gelegentlich auch, ihre Einbindung in wirtschaftliche Interessen zu verschleiern.19 Nicht umsonst haben sowohl die American Economic Association als auch der Verein für Socialpolitik einen Ehrenkodex verabschiedet, der die Ökonomen z.B. verpflichtet, dann, wenn sie in einer der Zeitschriften dieser beiden Gesellschaften publizieren, mögliche Interessenkonflikte offen zu legen.20

Dazu kommt ein systematisches Argument: Auch wenn sich viele Ökonomen und gerade auch solche, die sich der Public-Choice-Schule zurechnen, dagegen sträuben: Man kann kaum ernsthaft allen anderen unterstellen, dass sie – zumindest fast ausschließlich – ihre eigenen Interessen verfolgen, und für sich selbst beanspruchen, dass man allein an der gesellschaftlichen Wohlfahrt interessiert ist. Wenn man (bei Anwendung des ökonomischen Verhaltensmodells) davon ausgeht, dass alle Wirtschaftssubjekte und alle Politiker im Wesentlichen ihren eigenen Vorteil suchen, weshalb sollte man dann ausgerechnet die Ökonomen davon ausnehmen? Eine konsequente Abwendung des ökonomischen Verhaltensmodells gestattet hier keine Ausnahme: Auch Ökonomen maximieren ihren Nutzen unter Nebenbedingungen. Sie unterscheiden sich darin nicht von anderen Menschen, sie sind nicht grundsätzlich anders, weder schlechter noch besser. Akzeptiert man, dass Ökonomen nicht per se bessere Menschen als der Rest der Welt sind, stellen sich neue Fragen. Weshalb sind so unterschiedliche Ergebnisse in unserer Wissenschaft überhaupt möglich? Und kann, wenn auch die wirtschaftspolitischen Berater (wie alle anderen Menschen) vornehmlich ihren eigenen Interessen folgen, der Prozess der wirtschaftspolitischen Beratung so organisiert werden, dass er zu einer Verbesserung der Politik beiträgt?

Die begrenzte Aussagekraft der Wissenschaften

Wenn Aussagen der Wissenschaft zur Lösung politischer Probleme beitragen sollen, sind ohne zusätzliche Annahmen häufig keine eindeutigen Aussagen möglich. Ganz offensichtlich ist dies bei der Frage der Kernenergie. Die Wissenschaft kann zwar versuchen, das „Restrisiko“, das mit dieser Technologie verbunden ist, so präzise wie möglich abzuschätzen, aber selbst wenn sie sich darüber einigen könnte, wäre die Frage, ob die Gesellschaft weiter auf die Kernenergie bauen oder aus ihr aussteigen soll, dadurch nicht beantwortet. Auch bei minimalem Restrisiko kann jederzeit eine Katastrophe auftreten, aber es können auch Jahrhunderte lang keine schwerwiegenden Probleme auftreten. Ob die Gesellschaft das mit dieser Technologie verbundene Risiko auf sich nehmen soll, ist keine wissenschaftliche, sondern eine politisch zu entscheidende Frage, bei der auch seriöse Wissenschaftler unterschiedliche Auffassungen vertreten können. Daher ist es nicht überraschend, dass beide Seiten in dieser Auseinandersetzung Wissenschaftler finden, die ihre Position mit guten Argumenten stützen.

Ähnliches gilt für die Wirtschaftswissenschaften. So stärkt z.B. eine Lohnerhöhung die Kaufkraft der Bevölkerung und damit die Nachfrage, was ceteris paribus zu einer Erhöhung der Beschäftigung führt. Andererseits erhöht sie die Produktionskosten des Faktors Arbeit, weshalb es lohnender wird, Arbeit durch Kapital zu substituieren. Zudem steigen dadurch die Preise der produzierten Güter, was nicht nur zu einem Rückgang der Nachfrage im Inland, sondern, falls dies nicht durch eine Veränderung des Wechselkurses ausgeglichen wird, auch zu einer Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führt. All dies verringert die Beschäftigung. Welcher Effekt überwiegt, ist theoretisch nicht entscheidbar. Das Gleiche gilt beispielsweise auch für die zu erwartenden Beschäftigungseffekte einer „ökologischen Steuerreform“. In vielen Fällen ist die rein theoretische Analyse zwar hervorragend in der Lage, einzelne partielle Effekte herauszuarbeiten, kann aber kaum etwas über den Gesamteffekt aussagen. Dies ist insbesondere immer dann der Fall, wenn Einkommens- und Substitutionseffekt gegenläufig sind.

Die Wissenschaft kann versuchen, diese Unsicherheit durch empirische Forschung zu überwinden. Leider sind jedoch auch deren Ergebnisse häufig nicht so eindeutig, wie man sich das wünscht. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass im Bereich der Politik in aller Regel keine kontrollierten Experimente möglich sind, und dass „natürliche Experimente“ nur selten zur Verfügung stehen. Dies gilt z.B. auch für die derzeitige Geld- und Finanzpolitik. Die heutige Politik der Europäischen Zentralbank lässt sich als ein großes Experiment auffassen, aber es ist sicher kein kontrolliertes Experiment im Sinne der empirischen Forschung. Bei Felduntersuchungen mit existierenden (realen) Daten sind jedoch fast immer die Ceteris-paribus-Annahmen kritisch, die unvermeidlich sind, weil zum einen nicht alle potenziell relevanten Einflussfaktoren erfasst werden können und weil zum zweiten die Zahl der Beobachtungen oft zu gering ist, um alle verfügbaren Variablen zu berücksichtigen. Die Hoffnung, dies mit Hilfe einer Extreme-Bound-Analyse im Sinne von Edward Leamer21 in den Griff zu bekommen, ist leider zum Scheitern verurteilt.22 Dazu kommt, dass das Ergebnis auch von der genauen Spezifikation der einzelnen Variablen, von der Frage, ob potenzielle Endogenität korrekt erfasst wurde sowie von der gewählten funktionalen Form abhängen kann.

Ein besonders krasses Beispiel für die Probleme der empirischen Forschung sind die Untersuchungen zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe. Im Anschluss an die grundlegende Arbeit von Isaak Ehrlich23 gibt es inzwischen über 100 Arbeiten, die diese Frage mit Hilfe ökonometrischer Verfahren untersuchen. Dabei entsprechen insbesondere die jüngeren Arbeiten den heutigen methodischen Standards. Trotzdem widersprechen sich die Ergebnisse. In einer Metaanalyse zeigte sich, dass die einzige Variable, die einen signifikanten Einfluss auf das erzielte Ergebnis hat, die Profession der Autoren ist. Ist ein Autor Ökonom, wird in aller Regel ein signifikanter Abschreckungseffekt konstatiert, ist der Autor kein Ökonom, sondern z.B. Jurist oder Soziologe, findet sich im Allgemeinen kein signifikanter Abschreckungseffekt.24 Dies alles heißt weder, dass auf theoretische, noch, dass auf empirische Forschung verzichtet werden sollte. Aber weder die eine noch die andere Art ökonomischer Forschung gibt in vielen Fällen jene Gewissheit, die bei politischen Ratschlägen erwünscht ist.

Zum Prozess der Politikberatung

Wissenschaftliche Erkenntnis gelangt im Wesentlichen über folgende fünf Wege in die Politik:

  1. Wissenschaftler können selbst politisch tätig werden.
  2. Wissenschaftler beraten Politiker direkt.
  3. Wissenschaftler erstellen für Politiker, politische Institutionen und/oder Interessengruppen Gutachten.
  4. Wissenschaftler beraten die Öffentlichkeit, indem sie z.B. Artikel für Zeitungen oder (nicht-wissenschaftliche) Zeitschriften verfassen.
  5. Wissenschaftler verfassen wissenschaftliche Arbeiten, in denen sie – implizit oder explizit – zu wirtschaftspolitischen Fragen Stellung nehmen.

Hier soll insbesondere der dritte Fall betrachtet werden, da hier Wissenschaftler mit ihrer wissenschaftlichen Autorität in die politische Diskussion eingreifen, dafür bezahlt werden und, soweit sie von verschiedenen Seiten engagiert werden, in aller Regel gegensätzliche Auffassungen vertreten. Dabei sind insbesondere jene „ideologischen“ Gutachten interessant, bei denen die Politiker bereits ihre Politik kennen, sie aber wissenschaftlich untermauert sehen und/oder eine Rechtfertigung von außen für die Durchführung der im Prinzip bereits beschlossenen Politik erhalten möchten.

Auch wenn man vom Idealbild des Wissenschaftlers abrückt und ihm ein realistischeres Bild entgegenstellt, sollte man die Existenz sich widersprechender wissenschaftlicher Gutachten nicht dadurch zu erklären versuchen, dass die Beteiligten schlechte Menschen bzw. opportunistisch im Sinne von Oliver E. Williamson25 sind, sondern man sollte – entsprechend des ökonomischen Ansatzes – versuchen, dies als Ergebnisse rationalen Handelns zu erklären, wobei die Akteure ihre eigenen Interessen verfolgen, ohne deshalb notwendigerweise juristisch oder auch nur moralisch fragwürdige Handlungen zu begehen. Auch wenn opportunistisches Verhalten nie ganz auszuschließen ist, spricht nichts dafür, dass sich wissenschaftliche Politikberater bei jeder sich bietenden Gelegenheit (und häufiger als andere Menschen) so verhalten.

Dies gilt auch, wenn Berater genau jene Ergebnisse vorlegen, welche die Auftraggeber von ihnen erwartet hatten. Es ist häufig der Fall, dass sowohl dem Auftraggeber als auch dem Auftragnehmer klar ist, welches Ergebnis herauskommen soll: Deshalb werden die Politiker ihre Aufträge in aller Regel ganz bewusst an jene Wissenschaftler vergeben, von denen sie sich entsprechende Ergebnisse erhoffen. Da die Gutachter diese Erwartungen kennen, ist davon auszugehen, dass die gewünschten Ergebnisse ihren eigenen ideologischen Vorstellungen zumindest nicht diametral entgegenstehen. Schließlich müssen sie sich damit bei Veröffentlichung der Gutachten auch identifizieren können.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die beauftragten Wissenschaftler gerade dann, wenn sie Aufträge von Interessengruppen übernehmen, häufig weder anders können noch anders wollen, als das von ihren Auftraggebern angestrebte (politische) Ziel zu befürworten. Dies gilt auch dann, wenn sie sich nicht opportunistisch verhalten: Auch wenn alle Gutachter nur diejenigen Ziele verfolgen, von denen sie selbst überzeugt sind bzw. die sie selbst für (moralisch) vertretbar halten, führt der Selektionsmechanismus zu einer Zuordnung der Gutachter, bei der die Zielvorstellungen von Auftraggebern und Gutachtern (weitgehend) übereinstimmen. Dazu kommt, dass Wissenschaftler, soweit sie selbst politische Zielvorstellungen haben, dann, wenn sie als Gutachter tätig werden, auch von sich aus eher jene Auftraggeber akzeptieren, die mit ihren eigenen politischen Zielen zumindest weitgehend übereinstimmen. Als Staatsbürger haben sie – wie alle anderen – das Recht, ihre eigenen Zielvorstellungen in den politischen Prozess einzubringen. Sie werden, soweit sie als Gutachter tätig sind, damit aber nur dann erfolgreich sein können, wenn ihre politischen Vorstellungen nicht zu stark von denjenigen ihrer Auftraggeber abweichen. Insofern wird die Interessenkonvergenz zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer im Prozess der wissenschaftlichen Politikberatung von der Nachfrage- wie von der Angebotsseite befördert.

Dass es möglich sein kann (und vermutlich häufig auch möglich ist), selbst mit den gleichen Daten und Verfahren bei seriöser Arbeit zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen, führt fast zwangsläufig dazu, dass die Wissenschaftler Ergebnisse veröffentlichen bzw. in Gutachten präsentieren, die mit ihren eigenen politischen Vorstellungen kompatibel sind. Wenn er von einer bestimmten Sache überzeugt ist und entsprechende empirische Ergebnisse, die zudem noch statistisch gut abgesichert erscheinen, findet, hat auch der seriöse Wissenschaftler in aller Regel wenig Anlass, weiter nach Ergebnissen zu suchen, die dem widersprechen. So können unterschiedliche politische Einstellungen infolge selektiver Wahrnehmung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dies muss sich nicht auf Gutachten beschränken, sondern kann auch für rein wissenschaftliche Arbeiten ohne finanzielle Anreize gelten. Dies besagt nicht, dass die Ergebnisse beliebig sind. Auch bei unterschiedlichen Stellungnahmen kann es eine kritische Diskussion geben, die Fehler und Kunstgriffe einzelner Gutachter aufdeckt und so eine objektivere Beurteilung der Situation erlaubt. Die wesentliche Funktion einer solchen Diskussion ist es, mögliche Interessengebundenheiten der vorgebrachten Argumente aufzuzeigen, auch wenn diese mit der Rhetorik des Allgemeinwohls verbrämt werden. Eine solche aufklärerische Argumentation wird nicht das Wohlgefallen aller Betroffenen finden. Dennoch kann sie unabhängigen Dritten und insbesondere den politischen Entscheidungsträgern dabei helfen, „vernünftige“ politische Entscheidungen zu treffen.

Will man erreichen, dass in diesem Prozess bzw. mit diesen Gutachten trotz einer Interessengebundenheit der Beteiligten auch politisch verwertbare Information vermittelt wird, ist deshalb vor allem darauf hinzuwirken, dass eine solche kritische Diskussion öffentlich stattfinden kann und dass die Grundlagen für die wirtschaftspolitischen Aussagen offengelegt werden. Dazu gehört auch, dass die Gutachten wissenschaftlichen Standards entsprechen und alle Quellen genannt werden. Bei empirischen Aussagen bedingt dies darüber hinaus die genaue Angabe der verwendeten Daten sowie die Offenlegung ihrer Quellen.26 Nur dann haben konkurrierende politische Richtungen und Interessengruppen sowie die Öffentlichkeit die Möglichkeit, die gemachten Aussagen kritisch zu hinterfragen. Dies aber ist notwendig, wenn es möglich sein soll, durch öffentliche Diskussion sachliche Information und politische Meinungsäußerung voneinander zu trennen. Beides hat selbstverständlich im politischen Diskurs seinen legitimen Platz, aber es sollte immer die Möglichkeit bestehen, beides voneinander zu trennen, so schwierig dies im Einzelfall auch sein mag. Dazu ist es nicht erforderlich, dass die Gutachter der verschiedenen Seiten im Verlauf dieser Diskussion zu einem Konsens finden. Im Gegenteil: Es kann für die politische Diskussion und die sich anschließende politische Entscheidung durchaus förderlich sein, wenn die Gutachter versuchen, die Argumente ihrer jeweiligen Seite zu stärken. So wie es im wissenschaftlichen Diskurs dem Fortschritt abträglich sein kann, wenn eine Theorie „zu schnell“ fallen gelassen wird, ist es in einer politischen Konfliktsituation sinnvoll, wenn beide Seiten wirklich alle ihre Argumente auf den Tisch legen. Nur dann wissen die Stimmbürger (bzw. die von ihnen beauftragten Parlamentarier) wirklich, worüber sie zu befinden haben.

Abschließende Bemerkungen

Geht man davon aus, dass Wissenschaftler – und damit auch die Ökonomen – keine Heiligen, sondern normale Menschen mit Fehlern und Schwächen sind, wird man nicht verhindern können, dass Ideologie und Eigeninteresse den politischen Beratungsprozess mitbeeinflussen und auch nicht völlig ausgeschaltet werden können. Dennoch aber ist Objektivität nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt, solange dieser Prozess offen und transparent vor sich geht. Schließlich folgt auch die rein wissenschaftliche Diskussion nicht immer den Idealen eines nur auf Wahrheit hin orientierten herrschaftsfreien Diskurses, und für politische Debatten darf dies noch viel weniger erwartet werden. In beiden Diskursen aber sind Erkenntnisfortschritte umso wahrscheinlicher, je offener dieser Diskurs geführt wird, und es bleibt Aufgabe der Politik, aber auch der Wissenschaftsorganisationen, dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen entsprechend ausgestaltet werden.

  • 1 Vgl. http://www.cicero.de/kapital/die-schuldenbremse-ist-nutzlos-verschuldet-euch/46204 (29.1.2013).
  • 2 R. Koo: Balance Sheet Recession as the Other Half of Macroeconomics, mimeo, Nomura Research Institute, Tokyo, 14.10.2012, http://www.boeckler.de/pdf/v_2012_10_25_koo.pdf (29.1.2013).
  • 3 Siehe hierzu auch R. Koo: The Holy Grail of Macroeconomics: Les­sons from Japan’s Great Recession, Singapur 2008.
  • 4 Vgl. http://faz-community.faz.net/blogs/fazit/archive/2012/09/13/leben-deutsche-oekonomen-auf-einem-anderen-planeten.aspx (29.1.2013).
  • 5 T. v. Ungern-Sternberg: Die kantonalen Gebäudeversicherungen: Eine ökonomische Analyse. Cahiers de recherches économiques, Nr. 9405, Département d’économétrie et économie politique, Université de Lausanne, Juni 1994.
  • 6 B. Schips: Ökonomische Argumente für wirksamen Wettbewerb auch im Versicherungszweig, Gebäudefeuer- und Gebäudeelementarschäden, St. Gallen, Januar 1995.
  • 7 T. v. Ungern-Sternberg, a.a.O.
  • 8 Siehe hierzu auch G. Kirchgässner: Ideologie und Information in der Politikberatung: Einige Bemerkungen und ein Fallbeispiel, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Bd. 41, 1996, S. 9-41.
  • 9 M. Weber: Wissenschaft als Beruf, München, Leipzig 1919.
  • 10 K. R. Popper: Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 14. Jg. (1962) H. 1, S. 233-248; abgedruckt in und zitiert nach: T. W. Adorno et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969, S. 103-123, insbesondere S. 112.
  • 11 Siehe hierzu z.B. J. Scheide: Makroökonomische Theorie und wirtschaftspolitische Beratung, in: Die Weltwirtschaft, 2005, H. 4, S. 432-448; oder J. Kruse: Das Governance-Dilemma der demokratischen Wirtschaftspolitik, in: R. Ohr (Hrsg.): Governance in der Wirtschaftspolitik, Berlin 2010, S. 41-71.
  • 12 Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik siehe auch G. Kirchgässner: Wissenschaft und Politik: Chancen und Gefahren einer unvermeidlichen Allianz, in: W. Berka, H. Schmidinger (Hrsg.): Vom Nutzen der Wissenschaften, Wien u.a.O. 2007, S. 183-219.
  • 13 Siehe hierzu explizit J. Tinbergen: Economic Policy: Principles and Design, North-Holland, Amsterdam 1956; deutsche Übersetzung: Wirtschaftspolitik, Freiburg 1968, S. 50.
  • 14 Siehe hierzu als besonders krasses Beispiel H. Hesse: Als Wissenschaftler in der Politik?, in: Universität Hannover (Hrsg.): Vorträge im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Bd. 20, Hannover 1994, S. 18.
  • 15 Siehe z.B. J. Frankel: What an Economic Advisor Can Do When He Disagrees with the President, in: Challenge, 43. Jg. (2003), H. 3, S. 29-52.
  • 16 K. J. Arrow: Social Choice and Individual Values, New York 1951, 2. Aufl. 1963.
  • 17 A. Down: An Economic Theory of Democracy, New York 1957; deutsche Übersetzung: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968.
  • 18 J. M. Buchanan, G. Tullock: The Calculus of Consent: Logical Foun­dations of Constitutional Democracy, Ann Arbor 1962.
  • 19 Siehe hierzu die Beispiele in C. H. Ferguson: Predator Nation: Corporate Criminal, Political Corruption, and the Hijacking of America, New York 2012, S. 240 ff.
  • 20 Zum Kodex des Vereins für Socialpolitik siehe http://www.socialpolitik.org/inhalte/Ethikkodex_final.pdf (14.11.2012).
  • 21 E. E. Leamer: Specification Searches: Ad Hoc Inference from Non-Experimental Data, New York 1978.
  • 22 Siehe hierzu G. Kirchgässner: Ökonometrische Schätz- und Testergebnisse, empirisch gehaltvolle Aussagen und wirtschaftspolitische Beratung, in: Konjunkturpolitik, 47. Jg. (2001), H. 2, S. 110.
  • 23 I. Ehrlich: The Deterrent Effect of Capital Punishment: A Question of Life and Death, in: American Economic Review, 65. Jg. (1975), S. 397-417.
  • 24 Siehe hierzu B. Gerritzen, G. Kirchgässner: Ideology or Facts: What determines the Results of Econometric Estimates of the Deterrence Effect of Death Penalty?, mimeo, Universität St. Gallen 2012; aber auch G. Kirchgässner: Econometric Estimates of Deterrence of the Death Penalty: Facts or Ideology?, in: Kyklos, 64. Jg. (2001), H. 3, S. 448-478.
  • 25 O. E. Williamson: The Economic Institutions of Capitalism: Firms, Markets, Relational Contracting, New York 1985, S. 54, zitiert nach der deutschen Übersetzung: Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, Unternehmen, Märkte, Kooperationen, Tübingen 1990.
  • 26 Sollten die Daten vertraulich sein und z.B. wegen des Datenschutzes nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen, kann man sie zumindest für Nachschätzungen zur Verfügung stellen, wobei die Vertraulichkeit selbstverständlich zu wahren ist.

Title:On the Political Economy of Economic Policy Advice

Abstract:After providing some examples of contradictory economic policy advice, we characterise different conceptions of policy advice. This is possible because, in many situations, neither economic theory nor empirical analyses provide unambiguous answers to policy questions. Thus, contradictory advice by different economists is often possible without violating scientific standards. Thus, in the process of seeking policy advice, politicians and interest groups will engage scientists with similar political ideologies. In this situation, the objectivity of political advice is still possible, but only if there is an open discussion and, in the case of empirical analyses, if data are available for re-estimations.


DOI: 10.1007/s10273-013-1508-2