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Mit dem Frühjahr 2013 verband sich die Hoffnung, dass sich die schwache Konjunktur im Eurogebiet erholen könnte. Die neuesten Trends lassen aber keine nennenswerte Entspannung der Situation erkennen. Angesichts dieser Entwicklung und der nach wie vor prekären Lage der südlichen Mitgliedstaaten des Eurogebiets wurde der Ruf nach einer Zinssenkung in Europa wieder lauter. Die EZB hat am 2. Mai reagiert und die Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte auf den historischen Tiefstand von 0,5% abgesenkt. In Deutschland ist erhebliche Kritik an diesem Schritt laut geworden. Kann die Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft eine klare Antwort auf die Frage geben, ob die Zinssenkung richtig war oder nicht? Ich fürchte nein! Insbesondere in Zeiten der Krise fällt es Wirtschaftsforschern schwer, eindeutige wirtschaftspolitische Empfehlungen zu geben. Krisenzeiten sind typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass vertraute ökonomische Erfahrungsmuster teilweise außer Kraft treten. Gleichzeitig ist eine ernsthafte wissenschaftliche Analyse der neuen Situation häufig erst mit großem zeitlichem Abstand möglich.

Aber der Nachfrage nach wirtschaftspolitischer Beratung können wir uns als akademische Ökonomen kaum entziehen, denn letztlich würden wir damit die Nützlichkeit des Faches und unsere eigene Kompetenz in Frage stellen. Als Wissenschaftler greifen wir daher regelmäßig auf Ad-hoc-Empfehlungen zurück, die sich einmal als hilfreich erweisen und einmal eben nicht. Leider gibt dann die folgende tatsächliche Entwicklung nicht einmal Aufschluss darüber, ob unsere zugrundeliegende Analyse richtig gewesen ist. Denn solange wir nicht in der Lage sind, die Entwicklung der nicht gewählten Politikalternative überzeugend abzubilden, lässt sich eine wissenschaftliche Bewertung wirtschaftspolitischer Entscheidungen kaum vornehmen. Ich plädiere daher dafür, die tatsächliche Rolle der Wissenschaft in der ökonomischen Politikberatung nicht übertrieben darzustellen und damit überzogene Erwartungen an den Grad ihrer Fundierung aufzubauen. Eine Analyse aktueller wirtschaftspolitischer Fragestellungen ist immer eine Mischung aus fachlicher Expertise und viel Bauchgefühl.

Wenn wir nun Wissenschaft und Bauchgefühl kombinieren, was spricht für und was gegen eine Zinssenkung? Dafür spricht, dass wir nach dem etablierten Wissen zur Geldpolitik eine Stimulierung der wirtschaftlichen Tätigkeit erwarten würden. Die Stimulierung von Investitionen und die intertemporale Verschiebung von Konsumausgaben auf die Gegenwart sollten die Nachfrage stärken. Die tendenzielle Abwertung des Wechselkurses könnte die Nettoexporte erhöhen und damit die Produktion. Durch Umstrukturierung der Vermögensportfolios wird es relativ attraktiver Aktien zu halten, und ein größerer Aktienwert macht Investitionen lohnender. Die Erwartung steigender Preise als Folge dauerhaft erhöhter Liquidität und Nachfrage könnte Unternehmen anregen, mehr Arbeitnehmer einzustellen. Schließlich steigt der diskontierte Unternehmenswert, was bei der externen Finanzierung und der Lösung möglicher Kreditklemmen helfen sollte.

Gegen eine Zinssenkung könnte die Gefahr sprechen, dass die niedrigen Zinsen zu Immobilienblasen und Kreditexzessen führen. Anders formuliert: Kann es sinnvoll sein, durch niedrige Zinsen die Verschuldung von Haushalten und Staaten noch weiter anzuregen? Möglicherweise führt die ohnehin schon sehr lockere Geldpolitik der letzten Jahre damit endgültig zu steigender Inflation. Die Finanzierungskosten von Banken und Unternehmen waren, zumindest in den Kernländern der Eurozone, bereits vor der Senkung schon sehr gering. Sollte man jetzt schon den letzten verbleibenden Zinssenkungsspielraum ausschöpfen, die Zinsnullgrenze erreichen und das endgültige Ende konventioneller Geldpolitik einläuten? Auch könnte es bedenklich sein, Risikoprämien abschmelzen zu lassen und damit sehr risikoträchtige Anlagen attraktiv werden zu lassen. Schließlich kann man argumentieren, dass die Bereitstellung exzessiver Liquidität durch die Zentralbanken zur Entstehung der Finanzkrise beigetragen hat und wir sicherlich nicht an einer Wiederholung interessiert sind.

Empirische Evidenz zur expansiven Wirkung von Zinssenkungen in normalen Zeiten zeigt eine Verzögerung von ungefähr eineinhalb Jahren, bevor die maximale Wirkung auf das Bruttoinlandsprodukt einsetzt. Darüber hinaus ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass der zentrale geldpolitische Impuls sich symmetrisch auf die Konjunktur in den Mitgliedsländern des Eurogebiets auswirkt. So hat vermutlich Deutschland stärkere Wirkungen zu erwarten als Frankreich. Die absolute Höhe der ökonomischen Wirkung ist alles andere als sicher, da die statistische Signifikanz geldpolitischer Effekte oft nur bei Annahme großer Fehlerwahrscheinlichkeiten gezeigt werden kann. Über die Wirkung von Geldpolitik in einer Kombination von Finanz- und staatlicher Schuldenkrise wissen wir im Prinzip nichts. Vielleicht könnte man am ehesten aus den Erfahrungen Japans in der Phase des „quantitative easing“ etwas lernen. Schätzungen der Wirkung von Geldpolitik deuten hier allerdings auch bei wohlwollender Interpretation nur schwache Konjunktureffekte an. Anekdotische Evidenz aus der jüngsten Vergangenheit, z.B. aus Großbritannien, kommt zum gleichen Schluss.

Bedeutet das, dass die Skeptiker einer Zinssenkung Recht haben? Nicht unbedingt. Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich die Probleme durch die geringfügige Senkung der Zinsen noch weiter vergrößern. Europa schwimmt bereits in Liquidität, und es ist durchaus denkbar, dass es keine nennenswerte Ausdehnung der Geldmenge als Folge der Zinssenkung geben wird. Selbst in Deutschland sind in der mittleren Frist Inflationsgefahren kaum erkennbar. Der IWF sieht das ähnlich und drängt nach Absenkung seiner Wachstumsprognose für das Eurogebiet auf eine Stärkung der Nachfrage durch aggressivere Maßnahmen der europäischen Geldpolitik. Wäre es denn vorzuziehen, wenn die EZB noch stärker Aspekte des „quantitative easing“ aufgreifen würde? Ich denke, solange Zinsänderungen als gut erforschtes Instrument der Geldpolitik noch zur Verfügung stehen, sollte man sie gegenüber einem Herumexperimentieren mit anderen Instrumenten vorziehen. Angesichts der Wirkungsverzögerungen geldpolitischer Impulse erscheint der Zeitpunkt der Zinssenkung aus Sicht der Stabilisierungspolitik allerdings eher zu spät als zu früh. Schließlich ist sie auch kein ordnungspolitischer Sündenfall, denn der wurde durch die Aufgabe der No-Bailout-Regeln durch Bundesregierung und EZB an anderer Stelle begangen.

Die Senkung des Leitzinssatzes sollte sich auch in einer Senkung der Zinsen auf Staatspapiere bemerkbar machen, was die staatlichen Budgets in der Eurozone ein wenig entlasten würde. Nicht zuletzt ist auch noch die politökonomische Komponente zu berücksichtigen, insbesondere angesichts des zunehmenden Vertrauensverlusts der Bevölkerungen der südlichen Mitgliedstaaten in die europäische Geldpolitik und zunehmender Kritik an ökonomischen Strukturreformen. Selbst wenn eine Zinssenkung konjunkturell wenig bringen sollte, so würde zumindest ein Signal der Hoffnung gesetzt, und vielleicht gelingt es damit den Durchhaltewillen bei der Umsetzung ökonomischer Strukturreformen etwas zu stärken.

Die Kombination aus Bauchgefühl und Wissenschaft führt mich zur Schlussfolgerung, dass die Zinssenkungsentscheidung der EZB richtig war, auch wenn sie vielleicht etwas spät kam. Allerdings wäre ich überrascht, wenn sich dadurch eine signifikante Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in Europa ergäbe. Die wirklich wichtigen Entscheidungen für die Bekämpfung der Krise werden an anderer Stelle getroffen.


DOI: 10.1007/s10273-013-1523-3

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