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Die Nettozuwanderung nach Deutschland nimmt seit 2010 deutlich zu. Der maßgebliche Faktor hierfür dürfte die konjunkturelle Sondersituation in Europa sein, die sich durch einen Arbeitsmarktboom in Deutschland und eine stark gestiegene Arbeitslosigkeit in anderen Teilen Europas auszeichnet. Wanderungssalden in der aktuellen Größenordnung sind gesamtwirtschaftlich relevant, sie erhöhen das Produktionspotenzial, dämpfen den Lohn- und Preisauftrieb und haben möglicherweise Auswirkungen auf die Sozialversicherungen.

Seit 2010 steigt die Nettozuwanderung nach Deutschland deutlich beschleunigt. Hatte der Saldo aus der Zahl der Zuzüge nach und der Fortzüge aus Deutschland zwischen 2004 und 2009 nur durchschnittlich 26 000 Personen pro Jahr betragen,1 so stieg er danach kräftig an. 2010 kamen netto 128 000 mehr Zu- als Abwanderer und 2011 waren es schon 279 000. Für 2012 liegen noch keine Zahlen vor, doch kamen allein bis Oktober 342 000 Personen, was auf eine weitere merkliche Zunahme des Wanderungssaldos im abgelaufenen Jahr hindeutet.

Wanderungssalden in der zuletzt beobachteten Größenordnung sind gesamtwirtschaftlich relevant. Angesichts eines Erwerbspersonenpotenzials von derzeit rund 41,5 Mio. Personen bedeutet ein Wanderungssaldo in Höhe der dieses Jahr möglichen 400 000 Personen eine Erhöhung dieses Potenzials um knapp 1%. Das Erwerbs­personenpotenzial seinerseits ist eine maßgebliche Determinante des Produktionspotenzials. Bliebe der Wanderungssaldo über einen längeren Zeitraum auf dem erhöhten Niveau, wären Projektionen für das Wachstum des Produktionspotenzials entsprechend anzuheben. Aber auch auf kürzere Sicht gesehen ergibt sich aus größeren Veränderungen beim Wanderungssaldo eine Reihe von gesamtwirtschaftlichen Anpassungen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und bei der Lohn- und Preissetzung.

Hintergründe des Wanderungssaldos

Internationale Wanderungsbewegungen werden durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Neben der geographischen und kulturellen Distanz zwischen Ländern spielen politische und rechtliche Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Wanderungsbewegungen unterliegen, anders als große Teile des internationalen Kapitalverkehrs, weltweit nach wie vor relativ strengen Beschränkungen. So wurde die letzte große Zuzugswelle nach Deutschland mit den politischen Umwälzungen in den damals noch sozialistischen Ländern Ende der 1980er ausgelöst. Ebenso gingen in den 1960er Jahren der Anwerbung von Gastarbeitern in Südeuropa und in der Türkei umfangreiche politische Konsultationen voraus, bevor die rechtlichen Voraussetzungen für den Zuzug geschaffen werden konnten. Ungeachtet der Bedeutung dieser Faktoren, dürften bei der Erklärung von Wanderungsbewegungen von und nach Deutschland wirtschaftliche Ursachen eine Hauptrolle spielen. Dies gilt umso mehr für die EU, der wichtigsten Quell- und Zielregion für Wanderungsbewegungen nach und von Deutschland (vgl. Abbildung 1). Mit den meisten anderen Mitgliedstaaten besteht schon seit vielen Jahren vollständige Freiheit bei der Wohnsitzwahl.2

Abbildung 1
Anteile ausgewählter Regionen an der Wanderung Nichtdeutscher von und nach Deutschland
in %
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Anmerkungen: Jahresdaten; Anteil der jeweiligen Regionen an der Summe aus Fortzügen und Zuzügen Nichtdeutscher ins Bundesgebiet im jeweiligen Jahr; Jahr 2012: Januar bis Oktober.

Quellen: Statistisches Bundesamt; Prognose Kiel Economics.

Die Zuzüge nach Deutschland dürften die Fortzüge aus Deutschland tendenziell immer dann übertreffen, wenn sich hierzulande bessere Einkommen als im Ausland erzielen lassen. Maßgeblich hierfür ist, wie sich die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Vergleich zum Ausland darstellt, denn die Arbeitsmarktsituation entscheidet nicht nur über die Chance, überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen oder als Selbständiger erfolgreich Leistungen anbieten zu können, sondern auch über das durchschnittliche Lohn- oder Einkommensniveau, das dabei erzielt werden kann.

Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren für den deutschen Wanderungssaldo lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass diese Größe über die vergangenen 50 Jahre ein klares Muster aufweist, das eng mit dem Konjunkturzyklus zusammenhängt (vgl. Abbildung 2). In Phasen des konjunkturellen Aufschwungs ist der Wanderungssaldo typischerweise positiv, mit steigender Tendenz. Rezessionen sind dagegen mit einem fallenden Wanderungssaldo verbunden, gelegentlich übersteigen in der Rezession die Fortzüge aus Deutschland die Zuzüge sogar. Dieses Muster ist plausibel. Danach führen die Verbesserung am Arbeitsmarkt und der raschere Anstieg der Löhne im Zuge des konjunkturellen Aufschwungs zu einem Anstieg der Nettozuwanderung. In der Rezession verschlechtern sich die Arbeitsplatzaussichten – möglicherweise für Zugewanderte sogar stärker als für die heimische Bevölkerung – daher kehren einige Zuwanderer Deutschland wieder den Rücken.

Abbildung 2
Nettozuwanderung nach Deutschland
in 1000 Personen
31283.png

Anmerkungen: Jahresdaten; Phasen der Rezession in Deutschland grau hinterlegt; Jahr 2012: Januar bis Oktober.

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Zudem wird auch für die heimische Bevölkerung die Abwanderung wirtschaftlich attraktiver. Der skizzierte Zusammenhang zwischen Wanderungssaldo und Arbeitsmarktlage in Deutschland und im Ausland lässt sich mithilfe eines einfachen Modells beschreiben. Dazu regressieren wir im Rahmen eines dynamischen ökonometrischen Ansatzes den Wanderungssaldo der vergangenen 50 Jahre auf eine Konstante und auf die Differenz zwischen den Arbeitslosenquoten in Deutschland und im „relevanten Ausland“. Das „relevante Ausland“ bilden wir näherungsweise durch die Arbeitslosenquoten im übrigen Euroraum (Euroraum ohne Deutschland) und in Großbritannien ab.3 Obwohl einfach, dürfte diese Spezifikation geeignet sein, auch die Zuwanderung aus anderen Regionen als dem übrigen Euroraum oder Großbritannien mit abzubilden, insbesondere auch die aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU, dem wichtigsten Herkunftsland von Zuwanderern nach Deutschland. Denn sie quantifiziert auch die Attraktivität Deutschlands für Zuwanderer aus diesen Regionen, wobei die Konstante der Gleichung das – unabhängig vom Konjunkturzyklus – höhere Einkommensniveau in Deutschland „modelliert“, während die Differenz zwischen den Arbeitslosenquoten die Attraktivität Deutschlands in Relation zum übrigen Euroraum und Großbritannien, also anderen Hocheinkommensländern, auffängt.

Erste Schätzungen zeigen, dass die Differenz der Arbeitslosenquoten tatsächlich einen hochsignifikanten Einfluss auf den Wanderungssaldo hat, wenn man zusätzlich für Rezessionsphasen kontrolliert, die regelmäßig zu einem Rückgang des Wanderungssaldos führen, der durch die Differenz der Arbeitslosenquoten allein nicht zu erklären ist. Wir führen deshalb als zusätzliche Kontrollvariable die Kurzarbeiterquote (Zahl der Kurzarbeiter je Beschäftigte) ein; diese Größe springt in Rezessionen hoch, ist sonst aber sehr niedrig. Außerdem lässt sich die Stabilität der Beziehung durch die Berücksichtigung spezieller politisch-institutioneller Sonderphasen verbessern. Zu diesen Sonderphasen zählt neben der Gastarbeiteranwerbung von 1962 bis 1973 die Zeit von 1988 bis 1993, als verstärkt sogenannte Spätaussiedler aus Osteuropa und Asylsuchende nach Deutschland zuzogen.4 Wir berücksichtigen die Gastarbeiteranwerbung, indem wir mit der Schätzung erst 1975 beginnen und nehmen in die Regression eine Sprungvariable S1 für die Spätaussiedlerwelle auf, die von 1988 bis 1993 den Wert 1 annimmt und sonst 0 ist.

Die Schätzung der Regressionsgleichung für den Wanderungssaldo W in Fehlerkorrekturspezifikation anhand von Jahresdaten für Westdeutschland (bis 1990) bzw. Deutschland (ab 1991) über den Zeitraum von 1975 bis 2011 (t-Statistiken in Klammern unter den Koeffizienten):

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Dabei stehen U und U* für die Arbeitslosenquote in Deutschland respektive im „relevanten Ausland“ und k für die Kurzarbeiterquote und der Δ-Operand bezeichnet die Veränderung einer Variablen gegenüber dem Vorjahr.5 Die marginalen Signifikanzniveaus der Tests auf Autokorrelation erster und vierter Ordnung (AR(1), AR(4)), zeigen keine dynamische Fehlspezifikation an. Der Andrews-Ploberger-Test auf Strukturbruch zu einem unbekannten Zeitpunkt (AP) erreicht sein Maximum 1978, ist aber klar insignifikant. Die Gleichung kann demnach als wohlspezifiziert betrachtet werden. Den Schätzergebnissen zufolge ist Deutschland in konjunkturell „normalen“ Zeiten, also wenn die Arbeitslosenquote hierzulande dem gewichteten Durchschnitt der Arbeitslosenquoten des übrigen Euroraums und Großbritanniens entspricht, ein Nettozuwanderungsland. Dies ist plausibel, immerhin hat Deutschland weltweit eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen. Die Nettozuwanderung beträgt in konjunkturell normalen Zeiten 252 710 Personen pro Jahr. Für jeden Prozentpunkt, um den die deutsche Arbeitslosenquote unter der Arbeitslosenquote im „Ausland“ liegt, erhöht sich der Wanderungssaldo langfristig um 60 890 Personen. Anders in Rezessionszeiten: Wenn die im Zuge der konjunkturell bedingten Entlassungen die Kurzarbeiterquote emporschnellt, sinkt der Wanderungssaldo dramatisch. Typischerweise steigt die Kurzarbeiterquote in der Rezession von dem sonst beobachtbaren Wert von nahe 0 auf 3. Dem geschätzten Koeffizienten der Kurzarbeiterquote in der Gleichung zufolge sinkt der Wanderungssaldo dadurch im gleichen Jahr um 223,51 · 0,53 · 3 = 355 000 Personen.

Perspektiven für die Nettozuwanderung

Oben war bereits darauf hingewiesen worden, dass die Nettozuwanderung nach Deutschland in der vergangenen Dekade ungewöhnlich niedrig war. Sieht man sich die Entwicklung der Arbeitslosenquoten in Deutschland im Vergleich zu den Quoten im übrigen Euroraum und in Großbritannien an, so wird klar, warum dies so war. Seit Einführung des Euro 1999 bis 2007 lag die Arbeitslosenquote in Deutschland merklich oberhalb der Arbeitslosenquote im übrigen Euroraum. Gegenüber Großbritannien ergab sich die Differenz schon Mitte der 1990er Jahre und war zudem ausgeprägter als gegenüber der Eurozone (vgl. Abbildung 3). In jedem Fall war der Anreiz für eine Zuwanderung nach Deutschland stark vermindert, während gleichzeitig erhebliche Anreize zur Abwanderung aus Deutschland bestanden.

Abbildung 3
Arbeitslosenquoten in Deutschland, im übrigen Euroraum und in Großbritannien
in %
31424.png

Anmerkung: Jahresdaten.

Quellen: Statistisches Bundesamt; Europäische Kommission; Prognose Kiel Economics.

Seit 2007 hat sich die Situation aber deutlich verändert. Zum einen ist die Arbeitslosenquote in Deutschland seit 2006 durch die Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“ deutlich gesunken. Seit ihrem Höhepunkt 2005 hat sie reichlich 5 Prozentpunkte verloren. Zum anderen ist im Zuge der großen Rezession und der Schuldenkrise im Euroraum die Arbeitslosenquote in Großbritannien und vor allem im übrigen Euroraum deutlich gestiegen. Diese dramatischen Veränderungen auf den Arbeitsmärkten in Europa spiegeln sich nicht zuletzt im deutschen Wanderungssaldo. Für 2012 lässt die obige Gleichung auf der Basis der Arbeitslosenquoten eine Nettozuwanderung in Höhe von 389 000 Personen erwarten. Dies bedeutet eine leichte Beschleunigung gegenüber der ersten Jahreshälfte, was angesichts der weiteren Eintrübung der Konjunktur im übrigen Euroraum und in Großbritannien im Jahresverlauf plausibel erscheint. Die weitere Entwicklung des Wanderungssaldos hängt davon ab, wie sich die Lage auf den europäischen Arbeitsmärkten in den kommenden Jahren gestalten wird. Für Deutschland ist 2013 mit einer Stagnation der Arbeitslosenquote bei 6,8% und 2014 mit einem Rückgang auf 5,3% zu rechnen.6 Im übrigen Euroraum dürfte die Arbeitslosenquote hingegen steigen. Hier sind für 2013 und 2014 jeweils Quoten jenseits von 14% zu erwarten. Die Arbeitslosenquote in Großbritannien dürfte in beiden Jahren weiter über 8% liegen.

Vor diesem Hintergrund ist für 2013 und 2014 mit einem weiteren Anstieg des Wanderungssaldos zu rechnen, zumal 2014 die letzten Arbeitnehmerfreizügigkeitsbeschränkungen in der EU, für Bulgarien und Rumänien, aufgehoben werden. Für 2013 und 2014 prognostiziert das obige Modell eine Nettozuwanderung von 395 000 bzw. 420 000 Personen. Mittelfristig dürften die Wanderungssalden zunächst sogar noch etwas höher liegen. Für den übrigen Euroraum ist 2015 und 2016 noch nicht mit einer deutlichen Verringerung der Arbeitslosigkeit zu rechnen. Ähnlich verhält es sich mit Großbritannien. Dagegen dürfte die Arbeitslosigkeit in Deutschland, nicht zuletzt wegen der sehr niedrigen Zinsen, die die EZB in Reaktion auf die Schwäche des übrigen Euroraums setzt, weiter niedrig bleiben oder sogar sinken. Erst zum Ende der Dekade dürfte sich die Lage auf den Arbeitsmärkten im übrigen Euroraum und in Großbritannien wieder merklich bessern. Aus der Modellgleichung oben folgen vor diesem Hintergrund für 2015 bis 2017 Wanderungssalden in Höhe von ungefähr 500 000 Personen. Die Bevölkerung in Deutschland dürfte sich wanderungsbedingt bis 2017 um reichlich 2 Mio. erhöhen.

Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft

Wanderungsbewegungen in dieser Größenordnung bleiben nicht ohne gesamtwirtschaftliche Rückwirkungen. Die damit einhergehende Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials impliziert eine Zunahme des Produktionspotenzials. Da sich der Kapitalstock langfristig endogen an Veränderungen des Arbeitseinsatzes und der trendmäßigen Zunahme der Arbeitsproduktivität anpassen dürfte, geht eine Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials um 1% in der langen Frist mit einer ebensolchen Steigerung des Produktionspotenzials und des Bruttoinlandsprodukts einher. Letzteres gilt allerdings nur, sofern die Zuwanderung die Höhe des Arbeitseinsatzes nicht noch über andere Kanäle oder aber die Zunahme der Arbeitsproduktivität beeinflusst.

Das Ausmaß der Steigerung des Arbeitseinsatzes durch die Zuwanderer wird nicht zuletzt dadurch berührt, wie viele von ihnen erwerbstätig sind. Dieser Anteil dürfte zu Beginn einer konjunkturell bedingten Zuwanderungswelle hoch sein, später jedoch sinken, wenn nicht-erwerbstätige Familienangehörige den Erwerbstätigen folgen. Daneben kann die durchschnittliche Qualifikation der Zuwanderung den trendmäßigen Anstieg der Arbeitsproduktivität beeinflussen. Die Zuwanderung, die sich derzeit im Zuge der Eurokrise ergibt, dürfte hier mit zusätzlichen positiven Effekten verbunden sein, denn Neu-Zuwanderer aus dem Euroraum haben in der Regel eine abgeschlossene Berufsausbildung, häufiger sogar einen akademischen Abschluss.7

Kurz- bis mittelfristig bedeutet die mit der Zuwanderung verbundene Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials vor allem eine Störung des Gleichgewichts auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Dies war 2012 bereits zu erkennen. Die überraschend starke Zuwanderung in der ersten Jahreshälfte dürfte mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass die Arbeitslosigkeit im Jahresverlauf erstmals seit Anfang 2009 leicht gestiegen ist – bei weiter zunehmender Erwerbstätigkeit und entgegen nahezu allen Prognosen. Dieses Wiederanziehen der Arbeitslosenquote dürfte auch makroökonomische Rückwirkungen haben. Insbesondere dürften dadurch die Lohnsteigerungen in den nächsten Jahren geringer ausfallen, als es ohne die verstärkte Zuwanderung der Fall gewesen wäre. Daraus ergeben sich dann wieder Konsequenzen für den Preisauftrieb, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im Ausland etc.

Zudem dürften die Wohnungsbauinvestitionen durch die höhere Nettozuwanderung stimuliert werden, zumal die Zuwanderer hauptsächlich in die besonders prosperierenden Metropolregionen ziehen dürften. Alles in allem werden die Anpassungen dafür sorgen, dass sich die mit der Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials einhergehende Zunahme des Produktionspotenzials langfristig in einem höheren Bruttoinlandsprodukt niederschlägt. Vonseiten der Geldpolitik sind dagegen grundsätzlich keine Reaktionen zu erwarten, denn das Produktionspotenzial des Euroraums insgesamt, und damit die Inflationsperspektiven, dürften durch die Wanderungsbewegungen innerhalb der Eurozone oder durch eine Umlenkung von Zuwanderern aus Osteuropa von einer Region des Euroraums in eine andere nicht berührt werden.

Schlussfolgerungen

Deutschland dürfte in den kommenden Jahren verstärkt von einem höheren Wanderungssaldo profitieren. Dies ergibt sich vor allem aus der günstigen Lage am Arbeitsmarkt und der hohen Arbeitslosigkeit in vielen anderen Teilen Europas. Bis 2017 dürfte dadurch die Wohnbevölkerung in Deutschland um reichlich 2 Mio. Personen steigen. Langfristig erhöhen sich durch die Nettozuwanderung das Produktionspotenzial und das Bruttoinlandsprodukt. Kurzfristig dürfte sie den Lohn- und Preisauftrieb hierzulande dämpfen. Dies ist willkommen, da dadurch Überhitzungserscheinungen, die sich aufgrund eines starken Anstiegs des Bruttoinlandsprodukts in den kommenden Jahren ergeben dürften, gemildert werden.

Bei alldem darf allerdings nicht vergessen werden, dass der maßgebliche Teil der hier prognostizierten Nettozuwanderung konjunkturell motiviert ist. Sobald die Sondersituation eines Arbeitsmarktbooms in Deutschland bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit in weiten Teilen des übrigen (West-)Europas wieder verschwindet, was spätestens zum Ende der laufenden Dekade der Fall sein dürfte, wird die Zuwanderung wieder nachlassen. Typischerweise wird es sogar eine Umkehr der konjunkturellen Situation geben, die Lage am Arbeitsmarkt dürfte dann zeitweise sogar ungünstiger sein als im übrigen Europa und dafür sorgen, dass ein Teil der Zugewanderten wieder in ihre Heimat zurückkehrt. Dies dürfte insbesondere für die Zuwanderer aus den südeuropäischen Staaten zutreffen, weniger dagegen für die aus Osteuropa Zugewanderten. Auf jeden Fall wird der langfristige Nettowanderungsgewinn deutlich geringer ausfallen als es der gegenwärtige Boom Glauben machen könnte.

Immerhin ist der Analyse zufolge aber auch bei konjunktureller Normallage mit reichlich 220 000 Personen pro Jahr eine merkliche Zuwanderung zu erwarten. Der Wert liegt sogar leicht über jenem, der bisher in den koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes als Obergrenze bei der Zuwanderung unterstellt wurde.8 Setzt man diesen Wert als Mittelwert für die Zuwanderung in der nächsten Dekade an, so lässt sich der Schluss ziehen, dass die demografischen Probleme Deutschlands, insbesondere jene, die sich für die Sozialversicherung bei unveränderten Rahmenbedingungen für die Lebensarbeitszeit ergeben könnten, zwar durch die erhöhte Zuwanderung nicht gelöst werden, jedoch etwas geringer erscheinen als bisher erwartet.

  • 1 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Zahlen für 2008 und 2009 durch die statistische Bereinigung der Melderegister verzerrt sein dürften. Lässt man diese beiden Jahre aus der Durchschnittsbildung heraus, so ergibt sich eine mittlere Nettozuwanderung von 57 000 Personen pro Jahr.
  • 2 Eine Ausnahme von dieser Regel stellten Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn dar. Seit Mai 2011 sind die Beschränkungen aufgehoben und die Zuzüge aus diesen Ländern nach Deutschland merklich gestiegen. Für Rumänien und Bulgarien werden die Beschränkungen 2014 aufgehoben.
  • 3 Die Gewichtung erfolgt mit der Bevölkerungsgröße; Großbritannien erhält ein Gewicht von 0,18, der übrige Euroraum eines von (1-0,18) = 0,82.
  • 4 Maßgeblich für den verstärkten Zustrom der Spätaussiedler war die politische Liberalisierung in Osteuropa. 1993 wurden die Möglichkeiten für einen Zuzug nach Deutschland enger gefasst und das Asylrecht restriktiver gestaltet. Beides führte zu einem Abebben des Zustroms.
  • 5 Die 0/1-Dummies für 2008 und 2009 wurden gesetzt, um die Verzerrung der Daten zum Wanderungssaldo durch die Bereinigung der Melderegister zu berücksichtigen, der 0/1-Dummy für 1992 modelliert den Übergang von westdeutschen auf gesamtdeutsche Daten.
  • 6 Vgl. B. Alberts, J. Dovern, P. Hennecke, C.-P. Meier: Die fetten Jahre – zweiter Anlauf, in: Prognosen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland 2012-2014.
  • 7 Vgl. H. Seibert, R. Wapler: Aus dem Ausland kommen immer mehr Akademiker, in: IAB-Kurzbericht, Nr. 21/2012, S. 4-6. Die Daten beziehen sich auf Zuwanderer der Jahre 2005 bis 2009.
  • 8 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060 – 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2009.

Title:Macroeconomic Causes and Consequences of Germany’s Increased Net Immigration

Abstract:Since 2010 net immigration to Germany has risen significantly. Net immigration to Germany in 2012 is estimated to total nearly 400 000 people. Influxes of such a magnitude have significant macroeconomic implications. While in the long run they increase the domestic labour force and hence potential output, they moderate wages and prices in the short run. This article investigates the determinants of immigration to Germany and its outlook for the coming years. It shows that differences in employment opportunities in Germany and in the rest of Europe largely explain migration flows. Owing to Germany’s attractive labour market and the expected slow recovery in neighbouring Europe, cumulative immigration to Germany is likely to exceed two million by 2017.

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DOI: 10.1007/s10273-013-1549-6

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