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Ziel des Europäischen Verfahrens zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ist es, gesamtwirtschaftliche Fehlentwicklungen in der EU und im Euroraum frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren. Wie sind die bisherigen Erfahrungen mit diesem Prozess und wie kann er noch wirksamer dazu beitragen, Divergenzen bei der Wettbewerbsfähigkeit zu vermeiden und zu korrigieren?

Im März 2014 bewertete die Europäische Kommission den deutschen Leistungsbilanzüberschuss als ungleichgewichtig.1 Sie forderte Deutschland auf, durch zunehmende Investitionen die Binnennachfrage zu stärken, um den Überschuss abzubauen und die derzeitige Anpassung im Euro-Währungsgebiet zu erleichtern. Die Bundesregierung reagierte erleichtert, dass die EU-Kommission keinen Anlass für eine vertiefte Überwachung sah. Sie räumte ein, dass gerade bei öffentlichen Investitionen Nachholbedarf bestehe und betonte, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen ein wichtiger Stützpfeiler für die gesamte Wirtschafts- und Währungsunion sei, wobei relativ niedrige Preise für das Anwachsen der deutschen Handelsbilanz nur eine untergeordnete Rolle spielten. Deutschland sei dank seiner Beschäftigten, seiner wettbewerbsfähigen Wirtschaft und seiner weltweit gefragten Produkte exportstark.2

Leistungsbilanzungleichgewichte und Divergenzen in der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euroraums werden seit Längerem als eine wesentliche (Mit-)Ursache der Eurokrise diskutiert. Vor diesem Hintergrund wurde unter anderem bereits 2011 das Europäische Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (Macroeconomic Imbalance Procedure, MIP) eingeführt. Es soll helfen, makroökonomische Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren. Der vorangestellte Dialog zwischen EU-Kommission und Bundesregierung, der dem MIP-Prozess entstammt, beleuchtet schlaglichtartig eine Reihe von Fragen: Was sind die Ursachen der divergierenden Entwicklungen im Euroraum? In welchem Maß haben sie zur Eurokrise beigetragen? Worauf ist insbesondere die starke deutsche Wettbewerbsfähigkeit zurückzuführen? Welche Rolle spielen dabei Faktoren der preislichen und nicht-preislichen Wettbewerbsfähigkeit? Welche Rolle spielt die Wirtschaftspolitik? Wie kann man Wettbewerbsfähigkeit messen? Welche Fortschritte beim „Rebalancing“ im Euroraum wurden schon erzielt? Wie groß ist der derzeit noch verbleibende Korrekturbedarf? Kann der MIP-Prozess Divergenzen in der Wettbewerbsfähigkeit künftig vermeiden? Kann und muss er noch effektiver werden?

Geburtsfehler der EWWU-Governance

Nationale Autonomieeinbußen bei der makroökonomischen Steuerung gehen in einer Währungsunion mit steigenden wirtschaftlichen Interdependenzen einher. Dabei können sich makroökonomische Politiken von Mitgliedstaaten und Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene asymmetrisch auf die jeweiligen Mitgliedstaaten auswirken. Dies stellt hohe Anforderungen an die wirtschaftspolitische Koordinierung, deren grundsätzliche Notwendigkeit vor Einführung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) unstrittig war. Architektur und konkrete praktische Ausgestaltung dieser Koordinierung blieben aber seit Beginn der EWWU stets umstritten und im Fluss.

Art. 103 des Vertrags von Maastricht schreibt vor, dass die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse betrachten und koordinieren. Die Maastricht-/Lissabon-Architektur sah insbesondere vor:

  • Innerhalb der EWWU sollte die einheitliche, unabhängige Geldpolitik Preisstabilität sichern und im Einklang mit dem Ziel der Preisstabilität die gesamtwirtschaftliche Politik der anderen Akteure unterstützen.
  • Die dezentralen Finanzpolitiken sollten sich zum Erhalt der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen innerhalb der Vorgaben des Maastrichtvertrags und des Stabilitäts- und Wachstumspakts bewegen.
  • Die Lohnentwicklungen in den Mitgliedstaaten sollten mit Blick auf Beschäftigung und Verteilung sowie zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit im Einklang mit Preisstabilität und Produktivitätsentwicklungen stehen.
  • Strukturpolitiken (insbesondere Wettbewerbs- und Industriepolitik, Arbeitsmarktpolitik, Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik, Deregulierung und Entbürokratisierung) sollten das Beschäftigungspotenzial ausschöpfen und das langfristige Potenzialwachstum stärken.

Überwacht wird die Wirtschaftspolitik auf der Grundlage der „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“3. Bei der praktischen Umsetzung der Architektur lag das Schwergewicht eindeutig auf der Reformagenda. Für die makroökonomische Stabilisierung und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit vertraute man dagegen weitgehend auf Marktkräfte. Die makroökonomische Politik im Euroraum war hauptsächlich auf die Sicherung der Preisstabilität und die Verbesserung der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ausgerichtet. Die Optimierung des Zusammenwirkens von Geldpolitik, Fiskalpolitiken und Lohnentwicklungen zur Erreichung der gesamtwirtschaftlichen Ziele gemäß Art. 3 EUV wurde zwar – insbesondere im Rahmen des 1999 eingerichteten Makroökonomischen Dialogs auf europäischer Ebene – gerne beschworen, aber nie mit Nachdruck umgesetzt.

Divergierende Lohn- und Preisentwicklungen

Während die Geldpolitik ihr Primärziel (bezogen auf den Euroraum insgesamt) in den ersten Jahren der EWWU weitgehend erreichen und die Finanzpolitik bis zum Ausbruch der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zumindest in der Tendenz Verbesserungen bei der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen erzielen konnte, kam es bei den Lohn- und Preisentwicklungen und damit bei der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euroraums zu gravierenden Divergenzen. Aus den divergierenden Lohn- und Preisentwicklungen innerhalb des Euroraums resultierten erhebliche wirtschaftliche Fehlentwicklungen. In Deutschland gab es niedrige Lohn- und Preissteigerungen, zugleich aber eine ausgeprägt schwache Binnendynamik, hohe Arbeitslosigkeit und Probleme mit der Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Aufgrund der schwachen Binnennachfrage und der sich permanent verbessernden Wettbewerbsfähigkeit stiegen die Überschüsse der Leistungsbilanz. Trotz steigender Exporte blieb die Gesamtnachfrage aber lange Zeit gedämpft. Von den Marktkräften gingen keine ausreichenden Impulse zur Korrektur dieser Fehlentwicklung aus.

Spiegelbildlich wirkten sich überhöhte Lohn- und Preissteigerungen in anderen Mitgliedstaaten zunächst positiv auf Wachstum und Beschäftigung aus. In diesen Euroländern sanken bereits mit der Einführung des Euro die Nominalzinsen, da Abwertungserwartungen wegfielen und Bonitätszweifel zunächst praktisch keine Rolle spielten. Eine nicht zu unterschätzende Rolle dürfte auch gespielt haben, dass fast alle Experten die hohe wirtschaftliche Dynamik in diesen Ländern als strukturbedingt hohes Potenzialwachstum und damit als langfristiges Phänomen interpretierten. Auch die internationalen Organisationen wie IWF, OECD und EU-Kommission attestierten diesen Ländern ausgesprochen hohe Potenzialwachstumsraten.4 Die Angleichung bei den Nominalzinsen führte in den Boomländern teilweise zu negativen Realzinsen, die Binnennachfrage und damit Lohn- und Preisentwicklungen antrieb. Insbesondere im Immobiliensektor kam es z.B. in Spanien und Irland zu spekulativen Übertreibungen. Der Euro hat damit das Wachstum in Ländern mit überhöhten Lohn- und Preissteigerungen enorm angetrieben und teilweise sogar erhebliche Haushaltsüberschüsse ermöglicht. Die sich von Jahr zu Jahr aufbauenden Einbußen an preislicher Wettbewerbsfähigkeit führten zu wachsenden Leistungsbilanzdefiziten, die aufgrund einer dynamischen Binnennachfrage lange Zeit keinen Problemdruck erzeugten. Marktendogene Korrekturmechanismen konnten auch hier lange Zeit kaum Wirkungen entfalten.

Die starken und persistenten Wachstums- und Inflationsdifferenzen stellten die makroökonomischen Akteure im Euroraum vor kaum zu bewältigende Aufgaben: Da sich die EZB nur am Durchschnitt des Euroraums orientieren kann, war die einheitliche Geldpolitik für Länder mit hoher Inflation zu expansiv, für die mit niedriger Inflation zu restriktiv. In einigen Ländern, z.B. in Deutschland, erschwerten es diese Fehlentwicklungen, die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstums­paktes einzuhalten. Als Folge der Inflationsdifferenzen war es nicht möglich, die Wettbewerbsfähigkeit aller Euroländer dauerhaft auf einem annähernd einheitlichen Niveau zu halten, vielmehr bauten sich gravierende makroökonomische Ungleichgewichte innerhalb der EWWU auf. Zusammen mit den wirtschaftlichen und fiskalpolitischen Folgen der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ergaben sich daraus erhebliche Spannungen innerhalb der EWWU, die seit Beginn der Eurokrise im Mai 2010 ihren Bestand gefährden.

Die divergierenden Entwicklungen bei der Wettbewerbsfähigkeit im Euroraum basieren auf Verstößen gegen die lohnpolitischen Empfehlungen der Grundzüge. Man kann diese Fehlentwicklungen zum Teil mit den von der Euroeinführung ausgehenden asymmetrischen Nachfrage- und Preisschocks erklären. Eurokritiker sehen deshalb im Euro die Wurzel des Übels.5 Bei Beachtung der lohnpolitischen Vorgaben der Grundzüge wäre es aber im Euroraum weder zu gravierenden Leistungsbilanzungleichgewichten noch zu der damit zwangsläufig einhergehenden exzessiven Auslandsverschuldung der weniger wettbewerbsfähigen Länder gekommen. Erst die makroökonomischen Ungleichgewichte haben den Euroraum an den Rand des Abgrundes gebracht, nicht der Euro an sich. Die Einsicht in diese Diagnose – die nicht als Schuldzuweisung an die Arbeitnehmer verstanden werden sollte6 – ist zentral, um derartige Fehlentwicklungen künftig zu vermeiden bzw. frühzeitig zu korrigieren und den Euro im Interesse Europas zu erhalten. Aus gutem Grund definieren die Grundzüge den lohnpolitischen Spielraum auf der Basis von EZB-Preisziel und Produktivitätsfortschritt, also unabhängig von der aktuellen Inflationsrate. Unbestritten impliziert die Lohnregel, dass Arbeitnehmer in bestimmten Situationen auf am Markt durchsetzbare Lohnerhöhungen verzichten. Sie kann aber in anderen Situationen spiegelbildlich die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer auch verbessern. Entscheidend für die Legitimation der lohnpolitischen Vorgabe der Grundzüge ist aber am Ende das Gemeinschaftsinteresse. Von den bei Beachtung der Vorgaben zu erwartenden Verbesserungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen im Euroraum profitieren sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber. Nur die Beachtung dieser Vorgaben unter Abkehr von einer prozyklischen Lohnbildung wäre der sichere Weg zur Vermeidung der eingetretenen Fehlentwicklungen gewesen.7

Ursächlich für makroökonomische Ungleichgewichte in der Eurokrise waren also insgesamt nicht primär fehlende oder unklare Regeln, sondern die Nichteinhaltung von Regeln und die Nichtsanktionierung von Regelverstößen. Deshalb wurde bereits 2011 der MIP-Prozess mit einer Präzisierung der Regeln zur Überwachung eingeführt. Prinzipiell können im Rahmen des Prozesses auch lohnpolitische Empfehlungen abgegeben werden. Neu ist unter anderem auch die Überwachung auf der Grundlage präzise definierter Indikatoren (z.B. Lohnstückkostenentwicklungen, reale effektive Wechselkurse), die explizite Feststellung makroökonomischer Ungleichgewichte, gegebenenfalls deren Einstufung als „übermäßig“ und die Präzisierung der Verfahren zur „vertieften Überwachung“ (korrektiver Arm).

Diese Weiterentwicklungen der Maastricht/Lissabon-Architektur aufgrund einer (leider reichlich späten) Einsicht in die schädlichen Wirkungen einer Vernachlässigung der lohnpolitischen Vorgaben der Grundzüge und der erkennbare Wille zur Korrektur dieser Fehlentwicklungen sind zweifellos ein Fortschritt. Im Rahmen des MIP hat die EU-Kommission im März 2014 auch den deutschen Leistungsbilanzüberschuss aufgegriffen. Deren vertiefte Analyse sieht als eine der Ursachen für die Ungleichgewichte das signifikante Zurückbleiben der Lohnentwicklungen in Deutschland im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten. Auch in ihrem Bericht „Macroeconomic Imbalances – Germany 2014“8 vom März 2014 legt die EU-Kommission ein besonderes Gewicht auf die Lohn­entwicklungen und die Einkommensverteilung. Der MIP-Prozess ist damit grundsätzlich geeignet, unter anderem die Überwachung der lohnpolitischen Vorgaben der Grundzüge zu verbessern und damit substanzielle Beiträge zur Überwindung der Eurokrise zu leisten. Der MIP-Prozess selbst weist jedoch noch erhebliche Schwächen auf, die korrigiert werden sollten.

Defizite bei der Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit

Eine Schwäche des MIP ist, dass bei zentralen Indikatoren zur Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit nur auf Änderungsraten, nicht auf Abweichungen von Zielgrößen oder Referenzwerten abgestellt wird. So bleibt zumindest auf der Ebene der Indikatoren zunächst unklar, ob beobachtete Veränderungen als Bewegungen in Richtung auf ein Gleichgewicht oder als Fehlentwicklungen anzusehen sind. Die eingehende Überprüfung mag ergänzende Informationen bereitstellen, bringt aber auch ein Element der Willkür und Intransparenz in den Prozess. Auch die lohnpolitischen Empfehlungen der Grundzüge wären als Grundlage für eine Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit nur unter zwei Bedingungen hinreichend:

  • In der Ausgangslage, also zum Zeitpunkt des Eintritts eines Landes in die Währungsunion, ist dieses Land auf dem gleichen Niveau der Wettbewerbsfähigkeit wie alle anderen EWWU-Länder.
  • Der gleichgewichtige – also der langfristig mit einer ausgeglichenen Leistungsbilanz vereinbare – reale effektive Wechselkurs entwickelt sich in allen EWWU-Mitgliedstaaten im weiteren Verlauf parallel.

Beide Bedingungen waren und sind vermutlich nicht gegeben. Vielmehr dürfte eine Reihe von Ländern bereits mit erheblich über- oder unterbewerteten Währungen in die Währungsunion eingetreten sein. Hinzu kommt, dass sich vermutlich auch die gleichgewichtigen realen effektiven Wechselkurse seit Beginn der Währungsunion verschoben haben. Weitere gravierende Schwächen des MIP-Prozesses sind:

  • Bevor die Indikatoren einen Handlungsbedarf erkennen lassen, können sich schon erhebliche Ungleichgewichte aufgebaut haben, z.B. signalisiert der MIP-Scoreboard-Indikator „realer effektiver Wechselkurs“ erst einen Anfangsverdacht, wenn Änderungsraten nach drei Jahren 5% oder mehr betragen, beim Indikator „Exportmarktanteile“ nach fünf Jahren 6% oder mehr. Schwächere, aber lang anhaltende Fehlentwicklungen werden so möglicherweise gar nicht oder erst sehr spät erkannt.
  • Korrekturempfehlungen im Rahmen des MIP richten sich jeweils nur an die Adresse derjenigen Länder, bei denen makroökonomische Ungleichgewichte festgestellt werden. Maßnahmen zur Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte sind aber in einer Währungsunion grundsätzlich im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 121 AEUV. Die gemeinsame Korrektur von Fehlentwicklungen ist deshalb grundsätzlich eine Aufgabe aller Akteure. Die Optimierung der Anpassung kann ebenso wie die Minimierung von entsprechenden Lasten nur im Zusammenwirken gelingen.
  • Die Korrekturempfehlungen im Rahmen des MIP beziehen sich sowohl auf makroökonomische als auch auf strukturelle Maßnahmen. Das macht den Prozess unnötig schwerfällig. Strukturelle Reformmaßnahmen – z.B. zur Steigerung des Produktivitätswachstums – sind in den seltensten Fällen zur Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte geeignet. Sie benötigen in der Regel viel Zeit zur Umsetzung und wirken meist nur langfristig. Ihre Wirksamkeit ist überwiegend unabhängig von der jeweiligen konjunkturellen Situation. Reformen, die Effizienz, Produktivität und Wachstumspotenzial steigern, sollten unabhängig von makroökonomischen Ungleichgewichten auf der Agenda stehen. Zur Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und der Wettbewerbsfähigkeit sind sie ungeeignet.

Wettbewerbsfähigkeit: Identifizierung von Handlungsbedarf

Ein Prozess zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte bedarf eines transparenten Verfahrens zur Diagnose von Fehlentwicklungen und eines möglichst breiten Konsenses über adäquate wirtschaftspolitische Reaktionen bei identifiziertem Handlungsbedarf. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des MIP-Prozesses, dass er in puncto Wettbewerbsfähigkeit keinen klaren Analyserahmen vorgibt. Unter den MIP-Scoreboard-Variablen gibt es nicht weniger als fünf Indikatoren (Leistungsbilanzsaldo, Nettoauslandsvermögen, Exportmarktanteile, nominale Lohnstückkosten, realer effektiver Wechselkurs), die mit Wettbewerbsfähigkeit in Zusammenhang gebracht werden können. Auf der Ebene der Indikatoren bleibt aber unklar, wie Wettbewerbsfähigkeitsprobleme identifiziert werden, welches Ausmaß und welche Ursache sie haben und wie sie wirtschaftspolitisch korrigiert werden können.

Zieht man als Wettbewerbsfähigkeitsindikator verschiedene reale effektive Wechselkurse (REER) heran, ergibt sich ein diffuses Bild. Der im MIP-Scoreboard herangezogene Indikator REER 42 (Verbraucherpreisrelationen gegenüber 42 Ländern) ist z.B. für Griechenland, einem Land mit gravierenden Leistungsbilanzproblemen, über den gesamten Zeitraum relativ unauffällig. Dagegen fällt 2008 der Befund für Irland, das im fraglichen Zeitraum keine Probleme mit der Leistungsbilanz hatte, besonders alarmierend aus. Bezogen auf Deutschland schlägt der Indikator 2012 mit einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit um fast 9% Fehlalarm. 2004 signalisiert der Indikator dagegen eine kaum erklärliche Verschlechterung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit um 7,5%. Auch mit Blick auf den deutlichen Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte im Euroraum („Rebalancing“) seit 2008 (vgl. Abbildung 1) geben verschiedene Indikatoren der preislichen Wettbewerbsfähigkeit erheblich voneinander abweichende Signale.9

Abbildung 1
Leistungsbilanzsalden in Relation zu Exporten, ausgewählte Euroländer
35763.png

1 EA18 = Euroraum.

Quelle: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.

Wegen der stets willkürlichen Wahl des Basisjahres bzw. des Fehlens von Referenzwerten bleiben bei den Indikatoren auf der Grundlage realer effektiver Wechselkurse oder von Lohnstückkosten die schon erzielten Anpassungsfortschritte ebenso offen wie die noch verbleibenden Anpassungserfordernisse. Es bleibt sogar offen, ob Veränderungen der Indikatoren eine positive Anpassung oder einen wachsenden Korrekturbedarf signalisieren. Diese Indikatoren sind damit zur quantitativen Erfassung von Zielabweichungen bei der Wettbewerbsfähigkeit nicht geeignet. Vor diesem Hintergrund sollte es nicht überraschen, dass die Einschätzungen von Experten zum Korrekturbedarf bei der Wettbewerbsfähigkeit von Euroländern erheblich differieren. H.-W. Sinn forderte noch Ende 2012 Preissenkungen in Griechenland von mindestens 40%, für Portugal um 35%, für Spanien und Frankreich um jeweils 20%. Bundesbank, Sachverständigenrat und das Institut der deutschen Wirtschaft sind aufgrund der erzielten Fortschritte beim „Rebalancing“ deutlich optimistischer. Ob es aber bereits dauerhafte Verbesserungen bei der Wettbewerbsfähigkeit gab, ist umstritten. Eher kürzerfristige Effekte aufgrund der krisenbedingt gedämpften Importnachfrage könnten eine womöglich unterschätzte Rolle spielen.

Die Bundesregierung stellt in ihrem Nationalen Reformprogramm 2014 mit Befriedigung fest, dass „die preisliche Wettbewerbsfähigkeit als Erklärung für das Anwachsen der deutschen Handelsbilanz nur eine untergeordnete Rolle spielt“10. Eine Studie von Mitarbeitern des Sachverständigenrates zeige zudem,11 „dass die Preiselastizität deutscher Exporte vergleichsweise gering ist; deutsche Exporte reagieren eher auf Änderungen der Weltnachfrage.“12

Die EU-Kommission hat 2012 eine umfassende Analyse der Ursachen der Leistungsbilanzungleichgewichte in der EU und im Euroraum vorgelegt. Kernaussage der Studie ist, dass Lohnentwicklungen keine wesentliche Rolle gespielt hätten.13 Als wichtigste Ursache der Leistungsbilanzungleichgewichte im Euroraum identifiziert die EU-Kommission Nachfrageeffekte, die von der Zinsangleichung bei Einführung des Euro ausgingen. Diese hätten länderspezifisch entsprechende Lohn- und Preisanpassungen bewirkt.14 Aus diesem (für sich genommen unstrittigen) Befund wird gefolgert, dass Lohnanpassungen nicht zum Aufbau der makroökonomischen Ungleichgewichte beigetragen haben. Überspitzt formuliert, argumentiert die EU-Kommission etwa so: Da es innerhalb der EWWU keine nennenswerten exogenen Lohnschocks und kaum wirtschaftspolitische Einflussnahme auf die Lohn­entwicklungen gab, können Lohnentwicklungen auch nicht substanziell zu makroökonomischen Ungleichgewichten beigetragen haben. Daraus spricht ein tiefer Glaube daran, dass sich die Wirtschaftspolitik bei der gesamtwirtschaftlichen Steuerung enthalten sollte. Statt den naheliegenden Schluss zu ziehen, dass Marktkräfte erwiesenermaßen nicht ausreichen, um gesamtwirtschaftliche Fehlentwicklungen in der EWWU zu vermeiden und zu korrigieren, wird gefolgert, dass Lohnentwicklungen – soweit ökonomisch erklärbar – niemals Fehlentwicklungen verursachen können. Die wirtschaftspolitisch entscheidende Frage, ob bei geeigneter makroökonomischer Koordinierung unter Einschluss der Lohnentwicklungen wirtschaftlich bessere Ergebnisse erreichbar wären, braucht damit weder gestellt noch beantwortet zu werden.

S. Breuer und J. Klose vom Stab des Sachverständigenrates schätzen die längerfristigen Auswirkungen von Lohn- und Preisanpassungen auf außenwirtschaftliche Ungleichgewichte, wobei die langfristigen Export- und Importelastizitäten von Euroländern dabei überraschend niedrig ausfallen. Nur für Frankreich und Portugal liegen die Summen der geschätzten Export- und Importelastizitäten absolut über eins und erfüllen damit die sogenannte Marshall-Lerner-Bedingung für „normale“ außenwirtschaftliche Reaktionen auf Veränderungen des realen Wechselkurses (also eine Verbesserung der Handelsbilanz bei Abwertung und eine Verschlechterung bei Aufwertung).15 Wirtschaftspolitisch würde das bedeuten, dass Leistungsbilanzungleichgewichte nicht oder allenfalls in begrenztem Maß über Lohn- und Preisanpassungen korrigiert werden könnten.

Auch wenn am Ende die Daten das letzte Wort haben müssen, sind diese Ergebnisse zumindest unplausibel.16 Eine mögliche Erklärung für die niedrigen Schätzwerte könnte die hohe Interdependenz zwischen Binnennachfrage und Lohnentwicklung sein. Eine schwache Binnennachfrage (importdämpfend) drückt zugleich die Lohnentwicklung. Umgekehrt dämpft eine schwache Lohnentwicklung auch die Binnennachfrage. Das erschwert es, ökonometrisch die jeweiligen Wirkungen auf die Handels- und Leistungsbilanzen zu separieren.

Welches Zwischenfazit ist mit Blick auf den MIP-Prozess im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit zu ziehen? Die Krisen seit 2008 haben gezeigt, dass aus anhaltenden Leistungsbilanzungleichgewichten, insbesondere bei aufkommenden Zweifeln hinsichtlich der Tragfähigkeit von Auslandsverschuldung, erhebliche Gefahren für die Stabilität der internationalen Finanzmärkte resultieren können. Dies spricht dafür, am wirtschaftspolitischen Ziel langfristig ausgeglichener Leistungsbilanzen festzuhalten. Wie kann man aber Wettbewerbsprobleme und Korrekturbedarf identifizieren und wie können diese Probleme vermieden bzw. korrigiert werden? Leistungsbilanzsalden können vorübergehend von Nachfrageschwankungen dominiert werden, kurzfristig sind die Salden selbst deshalb kein guter Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit. Einbrüche bei der heimischen Nachfrage haben insbesondere zu dem seit 2008 zu beobachtenden „Rebalancing“ vermutlich in erheblichem Maß beigetragen. Neben den Leistungsbilanzsalden sollte deshalb zusätzlich auch ein geeigneter Indikator der preislichen Wettbewerbsfähigkeit herangezogen werden. Unerlässlich ist darüber hinaus, Veränderungen im Bereich der nichtpreislichen Wettbewerbsfähigkeit angemessen zu berücksichtigen.


Welcher Korrekturbedarf bei der Wettbewerbsfähigkeit?

Ein Indikator zur quantitativen Erfassung von Zielabweichungen bei der Wettbewerbsfähigkeit sollte insbesondere folgenden Kriterien genügen:

  • theoretische und empirische Fundierung,
  • Einfachheit und Transparenz,
  • Erfassung preislicher und nicht-preislicher Komponenten,
  • Erfassung von Korrekturbedarf als quantitative Abweichung von einem eindeutig definierten Referenzwert.


Als Indikator zur Erfassung des Korrekturbedarfs bei der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euroraums wird folgender Ansatz vorgeschlagen:

(LB / EX) = c (REER - REER*)

Mit LB = Leistungsbilanzsaldo, EX = Exporte, REER = Realer effektiver Wechselkurs, REER* = Gleichgewichtiger realer effektiver Wechselkurs17.

Als Grundhypothese wird also postuliert, dass der jeweilige Leistungsbilanzsaldo eines Landes bezogen auf die Exporte langfristig von der jeweiligen Abweichung des tatsächlichen realen effektiven Wechselkurses vom (unbekannten) gleichgewichtigen Wechselkurs abhängt.

Der Bezug auf die Exporte eliminiert längerfristig Effekte, die von einem trendmäßigen Anstieg des Welthandels ausgehen. Vom Welthandelstrend unabhängige Nachfrageeffekte werden indirekt über die Wechselkurse erfasst. Dem liegt die „Arbeitshypothese“ eines engen wechselseitigen Zusammenhangs zwischen Binnennachfrage und Lohnentwicklung zugrunde. Zur Vermeidung bzw. Korrektur von Wettbewerbsfähigkeitsdivergenzen innerhalb des Euroraums wird normativ davon ausgegangen, dass Lohnentwicklungen in eine makroökonomische Koordinierung innerhalb des Euroraums eingebunden werden können.18 Der gleichgewichtige Wechselkurs REER* ist der Wechselkurs, der langfristig mit einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht vereinbar ist. Er ist damit die gesuchte Ziel- und Referenzgröße, die aber aufgrund der Gesamtheit aller Effekte, die von Veränderungen im Bereich der nicht-preislichen Wettbewerbsfähigkeit ausgehen, zeitlich variant ist.

Der vorgeschlagene Ansatz erlaubt grundsätzlich sowohl Schätzungen der Summe der Absolutwerte von Import- und Exportelastizitäten,19 als auch der Entwicklung von REER* im Zeitverlauf. Der Zusammenhang zeigt, dass bei einer Verbesserung des gleichgewichtigen realen Wechselkurses ein Land real aufwerten kann (also eine Terms-of-Trade-Verbesserung durchsetzen), ohne das außenwirtschaftliche Gleichgewicht zu gefährden. Alternativ kann es bei konstantem realen Wechselkurs mehr ausländische Güter importieren. Bei konstantem REER* bewegt sich das Land dagegen sozusagen auf einer gegebenen Preis-Absatz-Kurve. Es könnte dann z.B. den realen Wechselkurs einsetzen, um Exporte unter Inkaufnahme einer Terms-of-Trade-Verschlechterung anzukurbeln („Beggar-Thy-Neighbour-Politik“).

Die Bedingungen für den intertemporalen Tausch von heimischen Gütern gegen Ansprüche auf künftige Importe hängen von den Elastizitäten ab. Bei einer Elastizitätssumme von absolut 1 (also bei c = 0) verändert sich der Leistungsbilanzsaldo nicht, es gibt keine zusätzlichen künftigen Ansprüche an das Ausland (Randlösung der Marshall-Lerner-Bedingung). Das Land muss aber bei einer Abwertung real mehr für die gleiche reale Menge an Importen exportieren, es macht also rein güterwirtschaftlich gesehen ein schlechtes Geschäft. Nur bei vergleichsweise hohen Export- und Importpreiselastizitäten (ab einer Elastizitätssumme von absolut größer als 2) wird der Wert der zusätzlichen Auslandsforderungen größer als der Verlust aus der Verschlechterung der Terms-of-Trade. Noch schlechter fällt die Bilanz unter Berücksichtigung von Unsicherheiten von Ansprüchen auf künftige Importe aus. Wenn Auslandsforderungen abgewertet oder ganz abgeschrieben werden müssen, hat ein Land seine Exporte ganz oder teilweise an das Ausland verschenkt.

Natürlich könnte man einwenden, dass Impulse von der Auslandsnachfrage mit positiven Sekundäreffekten und damit langfristig mit höherem Wachstum und mehr Beschäftigung verbunden sind. Das gilt aber nur dann, wenn der Wirtschaftspolitik die naheliegende Alternative einer entsprechenden Stärkung der Binnennachfrage ohne Gefährdung der Preisstabilität aus irgendeinem Grund verschlossen sein sollte. Theoretisch gesehen gibt es dafür aber kaum einen Grund: Wenn zusätzliche Auslandsnachfrage mehr Wachstum und Beschäftigung schafft, kann das gleiche Ergebnis grundsätzlich auch via Stärkung der Binnennachfrage erreicht werden.20 Die Attraktivität einer Beggar-Thy-Neighbour-Politik lebt also allein von einer wirtschaftspolitischen Unfähigkeit, stabilitätsverträglich Binnennachfrage zu generieren. Diese Unfähigkeit ist die Folge unzureichender makroökonomischer Koordinierung, also gewissermaßen selbst auferlegt.

Beggar-Thy-Neighbour-Politiken passen nicht in eine Währungsunion. Sie verstoßen gegen das Gemeinschaftsinteresse. Viel spricht zwar dafür, dass schon die Bezeichnung Beggar-Thy-Neighbour-Politik irreführend ist. Vermutlich verlieren vor allem die Länder, die diese Politik verfolgen. Entscheidend ist aber, dass es in einer Währungsunion am Ende nur Verlierer gibt, wenn auch nur ein substanzieller Teil der Länder einer Währungsunion Beggar-Thy-Neighbour-Politiken verfolgt. Makroökonomische Ungleichgewichte sind in diesem Fall unausweichlich. Umso wichtiger ist es, innerhalb einer Währungsunion solche Politiken frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren. REER und REER* sollten deshalb bei allen Euroländern permanent überwacht werden. Gegebenenfalls sind Fehlentwicklungen wirtschaftspolitisch durch REER-Anpassung zu korrigieren.

Abbildung 2
Anpassungsbedarf der realen effektiven Wechselkurse, ausgewählte Euroländer
Abweichung vom Referenzwert REER-EA181 in Prozentpunkten
35772.png

1 EA18 = Euroraum.

Quelle: EU-Kommission, eigene Berechungen.

Schätzung von Elastizitäten

Es ist hier nicht der Anspruch, valide Schätzungen für Elastizitäten und REER* vorzulegen. Schätzungen auf Basis von Jahreswerten mit einfachen OLS-Regressionen lassen aber folgende Vermutungen zu:

  • Besonders eng sind bei fast allen Euroländern nach Fixierung der Wechselkurse (für die Gründungsmitglieder der EWWU also faktisch seit etwa 1995) die Zusammenhänge zwischen LB/EX und REER-EA18 auf Lohnstückkostenbasis. Eine Ausnahme stellen die Niederlande dar.
  • Die Summen der Absolutwerte von Export- und Import­elastizitäten sind für alle Länder deutlich größer als eins und erfüllen damit die Marshall-Lerner-Bedingung. Vergleichsweise niedrig sind die Werte von Irland (1,4), Deutschland (1,7) sowie Belgien und Italien (jeweils 1,9). Am oberen Ende liegen Griechenland (4,6), Frankreich (4,9) und Portugal (6,4).
  • Veränderungen der nicht-preislichen Wettbewerbsfähigkeit (REER*) spielen für einige Länder eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Erhebliche Verbesserungen weisen im Zeitraum 1995 bis 2013 die „catching-up-Länder“ Estland und Slowakei (durchschnittlicher jährlicher Anstieg von jeweils 3,9%), Lettland (3,8%), Malta (1,0%) und Slowenien (0,7%) auf. Einen leichten Anstieg verzeichnet Irland (Anstieg im Gesamtzeitraum von ca. 7,7%). Größere Einbußen gab es nur in Belgien (Rückgang im Gesamtzeitraum um 3,1%) und Finnland (5,7%). Für alle übrigen Euroländer ergeben sich keine nennenswerten Veränderungen. Auch für Deutschland ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine Verbesserung der nicht-preislichen Wettbewerbsfähigkeit im fraglichen Zeitraum (Anstieg im Gesamtzeitraum um 0,1%).
  • Der 2013 noch verbliebene Korrekturbedarf zum Ausgleich der jeweiligen Differenzen zwischen REER und REER* war für alle Krisenländer mit Ausnahme Italiens (Korrekturbedarf 2013: 8,1%) vergleichsweise gering (vgl. Abbildung 2). Zum Zeitpunkt der maximalen Divergenz lag der Anpassungsbedarf bei Griechenland, Spanien und Irland knapp unter 20%. Der größte Teil der Anpassung war aber schon 2012 vollzogen. Selbst für Griechenland verblieb 2012 nur noch ein Korrekturbedarf von 9,1%, 2013 war die Anpassung mit einem Korrekturbedarf von nur noch 1,7% praktisch abgeschlossen. Neben Italien hat auch in Deutschland seit 2008 fast keine Anpassung stattgefunden. 2008 lag der Anpassungsbedarf bei 20,6%. Fünf Jahre später lag er immer noch bei 17,7%.
  • Da Wettbewerbsfähigkeit ein relatives Konzept ist, heißt das nicht, dass eine Korrektur allein im Wege der Anpassung des jeweiligen Landes zu erfolgen hat. Deutschland kann sich grundsätzlich ebenso auf den Durchschnitt der anderen Euroländer hin entwickeln wie sich umgekehrt die anderen Euroländer auf Deutschland zubewegen können.

Fazit

Die wichtigste wirtschaftspolitische Lehre aus der Eurokrise ist, dass marktendogene Anpassungsprozesse allein nicht ausreichen, um das Entstehen gravierender und dauerhafter makroökonomischer Ungleichgewichte in der EWWU zu verhindern. Die Divergenzen bei Binnennachfrage und Lohn- und Preisentwicklungen haben sich nach Einführung des Euro zu makroökonomischen Ungleichgewichten hochgeschaukelt. Dieser Teufelskreis muss über eine bessere Koordinierung der makroökonomischen Politiken durchbrochen werden, um Ungleichgewichte zu vermeiden und zu korrigieren. Die Vermeidung und Korrektur von makroökonomischen Fehlentwicklungen kann nicht allein von den Marktkräften erwartet werden. Hierzu bedarf es deshalb einer umfassenden Koordinierung der makroökonomischen Politiken innerhalb der EWWU unter einer Einbindung der Lohnpolitik. Punktuelle Eingriffe und Korrekturempfehlungen an die Adresse einzelner Mitgliedstaaten, wie sie bestenfalls aus dem MIP-Prozess resultieren könnten, reichen vor diesem Hintergrund zur Wiederherstellung und Sicherung der vollen Funktionsfähigkeit der EWWU nicht aus. Zur Erreichung der Ziele nach Art. 3 EUV bedarf es vielmehr einer ständigen Adjustierung des optimalen Zusammenwirkens aller makroökonomischen Akteure innerhalb der EWWU auf der Grundlage einer permanenten Überwachung und gegebenenfalls Korrektur der makroökonomischen Entwicklungen. Der MIP-Prozess sollte deshalb zu einer umfassenden makroökonomischen Koordinierung im Euroraum ausgebaut werden.


Der Autor gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

  • 1 Vgl. http://ec.europa.eu/deutschland/press/pr_releases/12144_de.htm.
  • 2 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi): Nationales Reformprogramm 2014 der Deutschen Bundesregierung vom 15.4.2014, http://www.bmwi.de/DE/Mediathek/publikationen,did=635360.html.
  • 3 Art. 121 AEUV (ex-Artikel 103 Maastricht­-Vertrag) sieht vor, die Vereinbarkeit der Wirtschaftspolitik mit den „Grundzügen“ zu überwachen und regelmäßig eine Gesamtbewertung vorzunehmen. Bei Fehlverhalten von Mitgliedstaaten kann der Rat entsprechende Korrekturmaßnahmen empfehlen. Damit legt der Maastricht-Vertrag von 1992 die Basis für die europäische Koordinierung des makroökonomischen Policy-Mix unter Einschluss der Lohnentwicklungen. Die Grundzüge empfehlen regelmäßig Lohnentwicklungen im Einklang mit dem Ziel der Preisstabilität und der Produktivitätsentwicklung bzw. – soweit zur Stärkung von Investitionen, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit erforderlich – Reallohnentwicklungen unterhalb des Produktivitätszuwachses.
  • 4 Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die Zinsangleichung bei den Staatsanleihen der Euroländer auch schon mit der – sich später bestätigenden – Erwartung zusammenhing, dass sich die sogenannte No-Bailout-Klausel des EU-Vertrages im Ernstfall als zahnlos erweisen würde.
  • 5 Diese Sichtweise ignoriert, dass bei angemessener wirtschaftspolitischer Koordinierung der Euro eine große Erfolgsgeschichte geworden wäre und in Zukunft noch werden kann.
  • 6 Selbst in den Boomländern ist es den Arbeitnehmern sogar ganz überwiegend im fraglichen Zeitraum noch nicht einmal gelungen, ihre Verteilungspositionen zu wahren.
  • 7 In gewissen Grenzen wäre es aber auch erfolgversprechend gewesen, den Euroraum-Divergenzen fiskalpolitisch entgegenzutreten. Fiskalpolitik kann aber eine Korrektur lohnpolitischen Fehlverhaltens nicht ersetzen.
  • 8 Vgl. Europäische Kommission: Macroeconomic Imbalances – Germany 2014, European Economy, Occasional Papers, Nr. 174, http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/occasional_paper/2014/op174_en.htm.
  • 9 Vgl. Deutsche Bundesbank: Zum Abbau der Leistungsbilanzdefizite in den Peripherieländern des Euro-Raums, Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, November 2012, S. 22-30.
  • 10 BMWi, a.a.O., Tz 26.
  • 11 Vgl. S. Breuer, J. Klose: Who gains from nominal devaluation? An empirical assessment of Euro-area exports and imports, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Working Paper, Nr. 04/2013, http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/publikationen/arbeitspapier_04_2013.pdf.
  • 12 Vgl. BMWi, a.a.O., S. 9.
  • 13 „Overall, there is no evidence that wage developments are at the root of surpluses.“, vgl. Europäische Kommission: European Economy 9/2012, S. 91.
  • 14 Speziell bezogen auf Deutschland wird z.B. festgestellt: „The impact of interest rate convergence on the trade balance operates mainly through the reduction in domestic demand and activity, which via lower factor demand also translates into a reduction in labour costs.“ ebenda, S. 87.
  • 15 Ist die Marshall-Lerner-Bedingung langfristig nicht erfüllt, könnte ein Land seine Exporte unbegrenzt verteuern und dennoch seinen Handelsbilanzüberschuss fortwährend steigern, was der Erfindung eines ökonomischen Perpetuum mobile gleichkäme.
  • 16 Die Autoren sprechen selbst von einem „puzzling result“, teilweise „in contradiction to theory“, S. Breuer, J. Klose, a.a.O., S. 17.
  • 17 Vgl. Die EU-Kommission veröffentlich regelmäßig verschiedene REER­-Indikatoren, http://ec.europa.eu/economy_finance/db_indicators/competitiveness/data_section_en.htm.
  • 18 Ob diese Arbeitshypothese realistisch ist, soll und kann hier ebenso wenig vertieft diskutiert werden wie die Frage der institutionellen Ausgestaltung einer Einbindung der Lohnpolitik in eine makroökonomische Koordinierung auf europäischer Ebene. Erinnert werden soll aber daran, dass die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite in Lohnverhandlungen nicht nur von den jeweiligen Arbeitsmarktinstitutionen abhängen dürfte, sondern insbesondere auch davon, inwieweit Arbeitnehmerforderungen in der Öffentlichkeit unterstützt werden. Arbeitnehmer können höhere Löhne durchsetzen, wenn sie darin von der Wirtschaftspolitik, führenden Wirtschaftswissenschaftlern und von der veröffentlichten Meinung unterstützt werden. Umgekehrt kann auch Lohnmoderation auf diese Weise durchgesetzt werden. Hierfür ist Deutschland das beste Beispiel. Zur institutionellen Ausgestaltung einer makroökonomischen Koordinierung unter Einschluss der Lohnpolitik vgl. W. Koll: Neue Wirtschaftsregierung und Tarifautonomie in der Europäischen Union – Makroökonomische Koordinierung im Dialog, IMK-Study, Nr. 30, März 2013.
  • 19 Es lässt sich zeigen, dass die Summe der Absolutwerte von Export- und Importelastizitäten gleich dem Betrag von c - 1 ist.
  • 20 Unterbeschäftigung in der Ausgangslage ist als Vorbedingung für eine Expansion der Nachfrage unter Wahrung der Preisstabilität in dynamischer Betrachtung nicht zwingend erforderlich. Nachfrageexpansion kann grundsätzlich über eine Stärkung der Investitionen auch das Potenzial erhöhen. Realistischerweise nehmen die Spielräume für eine stabilitätsverträgliche Nachfrageexpansion bei Annäherung an ein Vollbeschäftigungsniveau tendenziell ab. In einer Währungsunion kann eine stabilitätsverträgliche Stärkung der Binnennachfrage darüber hinaus nur bei einer entsprechenden funktionsfähigen makroökonomischen Koordinierung gelingen.

Title:The Surveillance of Competitiveness in the Economic and Monetary Union

Abstract:The euro crisis has revealed that major divergences in competitiveness and current account imbalances seriously affected the economic governance of EMU. In order to improve the proper functioning of EMU, the EU adopted the “Macroeconomic Imbalance Procedure” (MIP) in 2011, which presumably may contribute to improving EMU policy supervision. With respect to the surveillance of competitiveness divergences and current account imbalances, however, the MIP still suffers from severe shortcomings. In the interest of a better functioning EMU, the MIP should be extended to a comprehensive macroeconomic coordination mechanism. Including wage developments into macroeconomic coordination within the euro area could effectively contribute to preventing and correcting macroeconomic imbalances and help minimise the costs of adjustment.


DOI: 10.1007/s10273-014-1750-2

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