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Der diesjährige Nobelpreis für Ökonomie ging an einen Wirtschaftswissenschaftler, der sich mit dem Wettbewerb auf Märkten und der Regulierung von Unternehmen befasst und dies solide – auch spieltheoretisch – fundiert. Jean Tirole hat allerdings ein sehr breites Forschungsspektrum, das Fragen der Informationstechnik, Patente, Standards, die Finanzintermediation und die Institutionenökonomie einschließt. Sein Einfluss auf die Ökonomik zeigt sich unter anderem an der Fülle von Zitationen, die ihn in verschiedenen Rankings auf die vordersten Plätze brachte.

Erstmals seit über 30 Jahren ist der Nobelpreis für Ökonomie – bzw. genauer gesagt der von der Schwedischen Reichsbank gestiftete Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften – wieder an einen Ökonomen verliehen worden, der sich im Kern seiner Arbeiten mit dem Wettbewerb auf Märkten und der Regulierung von Unternehmen befasst. Zuletzt hatte 1982 George Stigler, einer der Hauptvertreter der sogenannten Chicago School, den Preis für seine bahnbrechenden Arbeiten über die Funktionsweise von Marktprozessen und über die Ursachen und Auswirkungen staatlicher Regulierung erhalten.1 Stigler war – ganz typisch für die Chicago School – ein Skeptiker staatlicher Regulierung; er vertraute im Wesentlichen auf die Selbstheilungskräfte von Wettbewerbsprozessen, solange Märkte nicht kartelliert sind.

Der diesjährige Nobelpreisträger, Jean Tirole (Direktor des Institut d‘économie industrielle IDEI an der Universität Toulouse I), hat den Preis – fast wortgleich zu Stigler – für seine Analysen von Marktmacht und Regulierung erhalten.2 Jean Tirole symbolisiert wie vermutlich kaum ein anderer die sogenannte Post-Chicago School der Wettbewerbs- und Regulierungsökonomie, die sich – grob zusammengefasst – dadurch auszeichnet, weniger Daumenregeln zu betrachten, sondern die Umstände jedes einzelnen Falles im Detail zu analysieren und dabei insbesondere zu berücksichtigen, dass es Informationsdefizite auf Seiten der staatlichen Aufsichtsbehörden gibt. Im Großen und Ganzen kann durch intelligente Staatseingriffe und Regulierung die Effizienz von Marktprozessen verbessert und die Wohlfahrt gesteigert werden, so die durchaus optimistische Botschaft Tiroles.

Eine moderne, theoretische Industrieökonomik

Die unterschiedlichen Sichtweisen von Stigler und Tirole werden zum einen durch ihre persönlichen Werdegänge reflektiert. George Stigler wurde stark von seinem Doktorvater und (Mit-)Gründer der Chicago School, Frank Knight, beeinflusst, der aufgrund der begrenzten menschlichen Intelligenz sehr skeptisch gegenüber staatlichen Eingriffen in das Marktgeschehen war. Jean Tirole hingegen hat zunächst in Paris Ingenieurswissenschaften und Mathematik studiert. Er wurde dann 1981 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) promoviert. Sein Doktorvater war Eric Maskin, der 2007 selbst (zusammen mit Leonid Hurwicz und Roger Myerson) den Ökonomie-Nobelpreis für Arbeiten über die Grundlagen der Mecha­nismus-Design-Theorie erhalten hat.3 Während Stiglers gesamtes Werk noch durch eine sehr kritische Haltung gegenüber staatlicher Regulierung gekennzeichnet war, ist Tirole diesbezüglich optimistischer. So gesehen mögen die Sozialisierung in Frankreich, eine ingenieurswissenschaftliche Ausbildung und auch die Ausbildung am MIT, also einer sehr technisch ausgerichteten Universität (im Vergleich etwa zur University of Chicago), die Forschungsrichtung Tiroles durchaus erklären helfen.

Zum anderen erklären natürlich 30 Jahre wissenschaftlichen Fortschritts die Unterschiede in der Ausrichtung. Jean Tirole gehört zu den methodologischen Wegbereitern der modernen, theoretischen Industrieökonomik. Das Forschungsfeld der Industrieökonomik war in den 1950er und 1960er Jahren ein weitgehend empirisches Feld, das oft ohne maßgebende Theorie Branchenstudien oder Querschnittsanalysen hervorbrachte. In den 1980er Jahren änderte sich das grundlegend: Fortschritte in der Spieltheorie (etwa bei dynamischen Spielen und Spielen mit unvollständiger Information) ermöglichten es, eine Vielzahl von Phänomenen präziser zu analysieren und zu neuen und wichtigen Einsichten zu kommen (weiter unten diskutieren wir z.B. ausführlich Tiroles Beiträge zu vertikalen Fusionen und zu Verdrängungspreisen). Wie dramatisch und kontrovers der Wandel damals war, lässt sich in einer lesenswerten Debatte von 1989 im RAND Journal nachvollziehen. Der damalige MIT-Professor Franklin Fisher äußerte sich unter dem Titel „Games Economists Play“ skeptisch über die neue theoretische Orientierung.4 Carl Shapiro – wie Jean Tirole etwa 20 Jahre jünger als Fisher – führte die Vorteile der spieltheoretischen Fundierung an.5 Heute beginnt sich die Industrieökonomik nun – nach Jahrzenten der Dominanz der Theorie – wieder stärker der Empirie zuzuwenden. Allerdings sind wegweisende empirische Arbeiten inzwischen solide theoretisch fundiert. Die spieltheoretische Ausrichtung der Industrieökonomik durch Tirole und andere ist nicht wieder umkehrbar.

Bedeutende Arbeiten

Was ist nun das wirklich Bedeutende an den Arbeiten von Jean Tirole? Es ist weniger eine einzige brillante Idee oder Hypothese wie sie vielleicht die Arbeiten anderer Nobelpreisträger wie Oliver Williamson, Elinor Ostrom, Eugene Fama oder auch des zuvor letzten europäischen Ökonomie-Nobelpreisträgers Christopher Pissarides auszeichnet. Es ist auch nicht die Entdeckung einer neuen Methode wie etwa bei Christopher Sims oder Lars Peter Hansen. Es dürfte vielmehr die unglaubliche Anzahl sehr bedeutender, wirklich wichtiger Arbeiten sein und der Einfluss auf die Arbeiten anderer Ökonomen, der sich daraus ergeben hat.

Tiroles Lebenslauf listet über 200 Beiträge in Fachzeitschriften auf, davon sind 57 in den fünf weltweit führenden Journalen veröffentlicht. Das allein ist ein unerhörter Wert: Schon eine einzige Publikation in den sogenannten Top-5-Zeitschriften kann eine akademische Karriere sichern. Zum Vergleich: Die im Handelsblatt-Ranking von 2013 aufgeführten Top 10 der Ökonomen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen zusammen nach unserer eigenen Recherche in der Datenbank SCOPUS auf 44 Publikationen in den Top-5-Zeitschriften (und davon fallen allein 23 auf Ernst Fehr).6 Dies macht deutlich, welche Kreativität und Leistung sich hinter den 57 Top-5-Publikationen von Jean Tirole verbirgt. Der Kreis der Ökonomen, die so regelmäßig in diesen Journalen veröffentlichen, ist weltweit sehr, sehr überschaubar.7

Jean Tirole hat die Ökonomie aber nicht nur durch viele Einzelbeiträge beeinflusst, sondern auch zehn Bücher – teilweise mit Koautoren – verfasst. Das bekannteste dürfte sein Lehrbuch „The Theory of Industrial Organization“ sein, mit dem er die Industrieökonomik grundlegend und nachhaltig geprägt hat.8 Das Verfassen von erfolgreichen Lehrbüchern gehört zwar eher nicht zu den nobelpreisverdächtigen Aktivitäten, aber hier liegt der Fall anders. Tirole hat das Buch bereits wenige Jahre nach seiner Promotion publiziert und damit die spieltheoretische Fundierung der Industrieökonomik maßgeblich geprägt. „The Theory of Industrial Organization“ ist eines der meistzitierten Ökonomie-Lehrbücher überhaupt – laut Google Scholar 12 608 mal (Stand: 26.11.2014), fast fünfmal häufiger als sein am meisten zitierter Journal-Aufsatz. Auch seine weiteren Lehrbücher zur Spieltheorie (mit Drew Fudenberg),9 zur Theorie der Regulierung (mit Jean-Jacques Laffont),10 zur Bankenregulierung (mit Mathias Dewatripont),11 Wettbewerb auf Telekommunikationsmärkten (ebenfalls Jean-Jacques Laffont),12 zur Theorie der Unternehmensfinanzierung13 sowie zu weiteren Themen haben sich zu internationalen Standardwerken entwickelt, die zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.

Marktmacht und Regulierung

Kommen wir zu den mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Inhalten, die das Nobelpreiskomitee unter dem Titel „Marktmacht und Regulierung“ zusammengefasst hat. Zumindest im akademischen Bereich zählt das sogenannte Laffont-Tirole-Modell der Regulierung sicher zu den prominentesten Arbeiten.14 Wie viele von Tiroles Beiträgen wurde auch dieser gemeinsam mit Jean-Jacques Laffont verfasst, mit dem Jean Tirole den Nobelpreis vielleicht geteilt hätte, wäre Laffont nicht 2004 sehr früh verstorben. In dem Modell geht es um die Frage, welchen Vertrag ein öffentlicher Auftraggeber einem Auftragnehmer anbieten soll, wenn der Auftraggeber die Kosten des Auftragnehmers nicht kennt und diese Kosten zugleich davon abhängen, wie viel Mühe sich der Auftragnehmer gibt, die Kosten niedrig zu halten. Dieses Problem stellt sich z.B. bei öffentlichen Bauaufträgen oder auch bei Rüstungsprojekten, bei denen die öffentliche Hand zum einen nicht zu viel zahlen will, zum anderen die Kosten vom Verhalten des Auftragnehmers abhängen. Einerseits will der Auftraggeber starke Anreize zur Kostendisziplin und zur Verbesserung der Produktivität geben (wie etwa bei der sogenannten Anreizregulierung), andererseits will er auch so wenig wie möglich zahlen (wie etwa bei einer kostenbasierten Regulierung). Wie Laffont und Tirole nun zeigen,15 lässt sich das Problem lösen, indem potenziellen Auftragnehmern verschiedene Verträge zur Auswahl angeboten werden, bei denen die fixen und variablen Komponenten der Entlohnung variieren. Der Ansatz lässt sich prinzipiell auf die Regulierung natürlicher Monopole übertragen, ist allerdings in der regulatorischen Praxis doch nur in relativ geringem Umfang zur Anwendung gelangt.16 Dies mag daran liegen, dass es komplex ist, ein Menu an optimalen Verträgen zu kalkulieren, aber auch daran, dass der Auftraggeber sehr gute Informationen über die Kosten der Effizienzsteigerung haben muss. In der Praxis werden daher sowohl bei öffentlichen Ausschreibungen als auch bei staatlicher Regulierung den Auftragnehmern kaum mehrere Verträge oder Regulierungsoptionen zur Auswahl vorgelegt. Der Einfluss des Modells, auf dem in verschiedenen Variationen nahezu das gesamte Lehrbuch von Laffont und Tirole zur Theorie der Regulierung beruht,17 dürfte eher subtiler sein. Beim Entwurf guter Regulierung wird heute wesentlich stärker als bis in die 1980er Jahre hinein berücksichtigt, dass die Kosten der regulierten Unternehmen endogen sind und Anreize zur Kostensenkung daher wichtig, zugleich jedoch Aufsichtsbehörden mit Informationsproblemen zu kämpfen haben.

In diversen weiteren Beiträgen setzte sich Tirole mit den Problemen der fehlenden Selbstbindung durch die Regulierungsbehörden und möglichen Lösungsansätzen auseinander.18 Auch diese Überlegungen fließen heute in das Design guter Regulierung ein, z.B. bei der Frage, wie lange ein regulierter Preis Gültigkeit haben soll.

Noch einflussreicher auf die praktische Regulierung dürften die teils mit Patrick Rey und Jean-Jacques Laffont verfassten Arbeiten zur Regulierung von Telekommunikationsnetzen sein.19 Sie basieren auf Vorlesungen in München und mündeten ebenfalls in ein kleines Lehrbuch.20 In den Beiträgen arbeiten Laffont und Tirole die Notwendigkeit einer Regulierung der Netznutzungsentgelte heraus, um eine Kartellierung des Marktes zu verhindern. Zudem zeigen sie, dass sich bei einer Regulierung von Preiskörben (an Stelle einer Einzelpreisgenehmigung) in der Struktur wohlfahrtssteigernde Ramsey-Preise ergeben – ein Befund, der in diversen Regulierungsverfahren immer wieder eine erhebliche Rolle gespielt hat und heute z.B. im Postmarkt Anwendung findet. Zudem thematisieren Laffont und Tirole21 den Trade-off zwischen effizientem Markteintritt einerseits und effizienten Investitionen in eigene Infrastrukturen durch Wettbewerber andererseits – ein Thema, das z.B. beim Breitbandausbau noch immer aktuell ist.22

In der deutschen Wettbewerbspolitik hat eine andere Arbeit Jean Tiroles vor Kurzem erhebliche Aufmerksamkeit erfahren. Gemeinsam mit seinem Doktorvater Eric Maskin hat Tirole spieltheoretisch modelliert, wie es zu sogenannten Edgeworth-Zyklen auf Märkten kommt, bei denen Preise immer wieder schlagartig nach oben schnellen, um dann erst langsam wieder schrittweise zu fallen. Das Bundeskartellamt23 hat das Modell von Maskin und Tirole24 ausführlich diskutiert, um die Preisbewegungen an deutschen Tankstellen zu analysieren.

Beispiele für spieltheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik

Exemplarisch für Tiroles spieltheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik ist auch seine Arbeit mit Oliver Hart zum Thema vertikale Fusionen (also einem Zusammenschluss z.B. zwischen einem Hersteller und einem Einzelhändler).25 Im Gegensatz zu horizontalen Fusionen (bei der sich Unternehmen auf derselben Ebene der Wertschöpfungskette zusammenschließen) wird eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung von vertikalen Fusionen oft generell verneint. Dafür hatten Vertreter der Chicago School in den 1970er Jahren sehr gute Argumente geliefert. Sie hatten darüber hinaus argumentiert, dass vertikale Fusionen oftmals effizienzsteigernd sein können.

Tirole hingegen zeigt, dass die effizienzsteigernden Effekte sich – zumindest theoretisch – auch durch einfache Verträge erzielen lassen, ein Zusammenschluss ist dann also nicht erforderlich. Die Effizienzgewinne sind nicht fusionsspezifisch, wie es z.B. die europäischen Fusionsrichtlinien im Rahmen der sogenannten Effizienzverteidigung verlangen. Vertikale Fusionen können nach Tirole aber durchaus wettbewerbsbeschränkendes Potenzial haben. Verkauft ein monopolistischer Produzent sein Gut an zwei oder mehr Zwischenhändler, so gestaltet er seine Angebote opportunistisch. Er wird versuchen, einen Händler gegen den anderen auszuspielen, um so einen noch höheren Gewinn zu erzielen. Im spieltheoretischen Gleichgewicht antizipieren die Händler allerdings dieses opportunistische Verhalten und der monopolistische Hersteller erreicht nicht einmal den einfachen Monopolgewinn. Fusioniert nun der Monopolist mit einem der Händler, verschwindet der Anreiz zum Opportunismus; schließlich ist das vertikal integrierte Unternehmen nun sowohl als Hersteller als auch als Händler aktiv. Ein opportunistisches Angebot an den nicht-integrierten Händler würde also seinen eigenen Gewinn mindern. Die vertikale Fusion ermöglicht die Wiedererlangung des Monopolgewinns und ist somit wettbewerbsbeschränkend. Diese Arbeit ist beispielhaft für die moderne, theoretische Industrieökonomik und somit das Werk Tiroles: Sie ist spieltheoretisch sauber fundiert (und auf dem Weg zu diesem Ergebnis galt es, einige theoretische Hürden zu nehmen); sie reißt vermeintliche Gewissheiten ein (die der Chicago School) und bestätigt wiederum im Endeffekt ältere Theorien (hier die Leverage-Theorie), die man längst widerlegt glaubte.

Ähnliches gilt für Tiroles Ansatz über die Möglichkeit einer rationalen Verdrängungspreissetzung.26 Nachdem die Chicago School dargelegt hatte, dass sich die Wettbewerbspolitik besser anderen Problemen zuwenden sollte, da Verdrängungspreise bei rational agierenden Unternehmen kaum vorkommen dürften (vgl. exemplarisch Bork: „A phenomenon that probably does not exist”27) und dies auch spieltheoretisch durch den bislang einzigen deutschen Nobelpreisträger, Reinhard Selten, im Rahmen des Chain-Store-Paradoxons28 gezeigt werden konnte, belegten Fudenberg und Tirole,29 dass Verdrängungspreise sehr wohl eine rationale Strategie etablierter Anbieter sein können. Kern der Überlegungen ist wiederum ein Informationsproblem: Wenn neue Anbieter weniger gut über die Marktbedingungen (Produktionskosten der Konkurrenz, Ausmaß der Nachfrage) informiert sind, kann ein etablierter Anbieter durch gezielte Preissenkungen neue Anbieter zu dem Glauben verleiten, die Marktbedingungen wären schlechter als vermutet, sodass die Neulinge den Markt gegebenenfalls wieder verlassen. Diese Arbeit war – gemeinsam mit anderen – wichtig, um darzulegen, dass Verdrängungspreise sehr wohl ein wettbewerbspolitisches Problem darstellen können.

Für die Wettbewerbspolitik hochgradig bedeutsam sind natürlich auch die mit Rochet verfassten Arbeit über sogenannte mehrseitige Märkte.30 Sie zeigen, wie kompliziert die Preisbildung auf mehrseitigen Plattformen ist, bei denen die Attraktivität der Plattform für eine Marktseite von der Teilnehmerzahl auf der gegenüberliegenden Marktseite abhängt. Beispiele für die Relevanz dieser Modelle sind alte und neue Medien, Kartenzahlsysteme oder auch zahlreiche Internetplattformen wie Google, eBay, Amazon, Facebook, Uber, Expedia, HRS etc. Aber auch ein traditionelles Einkaufszentrum und ein Outlet-Center weisen Eigenschaften eines zweiseitigen Marktes auf. Typisch ist auf diesen Märkten, dass die eine Marktseite (etwa die Leser einer Nachrichtenseite oder die Kreditkartenkunden) durch die andere Marktseite (also die Werbekunden der Nachrichtenseite oder die Händler) quersubventioniert werden. Diese besondere Form der Quersubventionierung ist jedoch häufig effizient und nicht etwa ein Anzeichen für wettbewerbswidriges Verhalten. Die Beiträge von Jean Tirole haben hier nicht nur erheblich dazu beigetragen, die Preispolitik auf diesen Märkten besser zu verstehen und wettbewerbspolitisch beurteilen zu können, sie haben auch den Anstoß für zahlreiche weitere Forschungsarbeiten gegeben. Der 2003er Beitrag gehört sowohl Google Scholar als auch der Datenbank SCOPUS31 zufolge zu den fünf am meisten zitierten Arbeit von Jean Tirole.

Neben dieser wichtigen Arbeit über Plattformmärkte bilden laut Google Scholar das oben genannte Lehrbuch zur Industrieökonomik sowie die folgenden drei Aufsätze Tiroles seine fünf am meisten zitierten Werke: (1) der 1997 zusammen mit Philippe Aghion im Journal of Political Economy publizierte Aufsatz über „Formal and Real Authority in Organizations“,32 (2) der 2002 mit Josh Lerner verfasste Aufsatz über „Some Simple Economics of Open Source“ im Journal of Industrial Economics33 sowie (3) der ebenfalls 1997 mit Bengt Holmstrom publizierte Aufsatz über „Financial Intermediation, Loanable Funds, and the Real Sector“ aus dem Quarterly Journal of Economics.34

 

Breites Forschungsspektrum

Auch über diese Forschung von Jean Tirole, für die er den Nobelpreis nicht bekommen hat, lohnt sich zu berichten. Bei Aghion und Tirole35 geht es um den Unterschied zwischen formeller Autorität (das Recht, Entscheidungen zu treffen) und echter Autorität (die effektive Kontrolle über die Entscheidungen) in Organisationen. Echte Autorität wird durch Informationsflüsse bestimmt, die wiederum von der formellen Autorität abhängen. Ein Anstieg in der echten Autorität von Untergebenen steigert zwar deren Initiative, bedeutet aber einen Kontrollverlust für die Vorgesetzten. Aghion und Tirole zeigen dann unter anderem, welche Faktoren die echte Autorität von Untergeordneten beeinflussen und wie Informationsflüsse in Organisationen von der Zuweisung formeller Autorität abhängen.36

Zusammen mit Josh Lerner forscht Tirole seit geraumer Zeit über Open Source, Patente und Standards.37 In dem Aufsatz über Open Source von 2002 geht es um die Frage, warum Open-Source-Programmierer und auch kommerzielle Unternehmen ohne direkte Entlohnung die Mühen der (Weiter-)Entwicklung von Open-Source-Programmen auf sich nehmen. Wie Lerner und Tirole zeigen, lässt sich dieses Verhalten durchaus ökonomisch erklären, sobald Karriereperspektiven und Geschäftsmodelle im Software-Markt berücksichtigt werden.38

Auch zur Theorie der Finanzintermediation, der Unternehmensfinanzierung und der Bankenregulierung hat Jean Tirole bedeutend beigetragen, in jüngerer Zeit vor allem gemeinsam mit Emmanuel Farhi.39 Am meisten zitiert wird hier jedoch sein 1997 mit Bengt Holmstrom verfasster Beitrag aus dem Quarterly Journal of Economics.40 Bei Holmstrom und Tirole geht es darum, wie die Verteilung von Vermögen zwischen Unternehmen, Intermediären (wie z.B. Banken) und schlechter informierten Investoren Investitionen und Zinssätze beeinflusst, wenn Unternehmen und Banken nur begrenzt Kapital zur Verfügung haben.

Gemeinsam mit Mathias Dewatripont hat Tirole zudem auch institutionenökonomisch gearbeitet. Exemplarisch sei hier eine Arbeit über „Advokaten“ genannt:41 In dem Beitrag geht es um die Frage, warum und wann es eigentlich sinnvoll ist, dass nicht die Entscheidungsinstanz selbst ermittelnd die Sachverhaltsaufklärung vornimmt, sondern diese Rolle an sogenannte „Advokaten“, also Anwälte des jeweiligen Anliegens, übertragen wird. Warum ermittelt der Richter nicht selbst in einem Fall, sondern lässt Staatsanwalt und Verteidigung als „Advokaten“ ihrer jeweiligen Anliegen auftreten? Ist es gut, dass das Bundeskartellamt als Entscheidungsinstanz selbst die Ermittlungen durchführt oder sollte eine stärkere Trennung zwischen ermittelnden Instanzen und Entscheidungsinstanzen vorgenommen werden, die wie etwa im Fall der österreichischen Wettbewerbsbehörden die Fälle erst vor Gericht bringen müssen? Dewatripont und Tirole42 zeigen nun, dass eine Trennung von Ermittlungen und Entscheidungsfindung zwei Vorteile hat: Die Anreize von Interessenvertretern an der Informationsbeschaffung und -darlegung sind ungleich höher als die einer Behörde und eine Trennung steigert die Integrität der Entscheidungsfindung. Aus diesem Grunde würden viele Organisationen bei der Vorbereitung von Entscheidungen ganz bewusst die konkurrierenden Sichtweisen verschiedener Interessenvertreter einfordern.

In den letzten zehn Jahren hat Tirole nun die orthodoxen Pfade etwas verlassen und mit dem Psychologen Roland Bénabou über die Rolle von sozialen Normen und Werten sowie pro-sozialem Verhalten gearbeitet,43 dabei aber stets das Handwerkszeug der modernen Mikroökonomik verwendet. Bénabou und Tirole44 nutzen als Ausgangspunkt die Beobachtung, dass Menschen an eine gerechte Welt glauben wollen, aber solche Erwartungshaltungen stark über Länder und Kontinente hinweg variieren. Solide soziale Sicherungssysteme und die entsprechende politische Ideologie können diese Erwartungen bestätigen, bringen aber die Menschen dazu, weniger hart zu arbeiten und weniger Eigeninitiative zu zeigen. Möglich ist jedoch ein anderes Gleichgewicht von Erwartungen und politischer Ideologie („das amerikanische Gleichgewicht“): Hier wird den politischen Institutionen und dem sozialen Netz weniger vertraut, man setzt eher auf Eigeninitiative. Sehr oft zitiert wird auch der Beitrag von Bénabou und Tirole45 über intrinsische und extrinsische Motivation sowie der, in dem die beiden Autoren ein verhaltenswissenschaftliches Modell entwickeln,46 demzufolge Individuen sich in ihrem unterschiedlich starkem Maß an Altruismus und Gier unterscheiden, aber auch um ihre gesellschaftliche Reputation besorgt sind.

Das Spektrum der Forschung von Jean Tirole ist somit ungeheuer breit, wie der Überblick über diesen kleinen Ausschnitt aus seiner Forschung zeigt. Der Einfluss von Jean Tirole zeigt sich auch darin, dass er im RePEc-Ranking unter weltweit über 40 000 Ökonomen auf Platz 8 liegt.47 Von den sieben Ökonomen vor ihm im Ranking, haben drei (James Heckman, Joesph Stiglitz und Robert Lucas) bereits den Nobelpreis bekommen, die anderen vier (Andrei Shleifer, Robert Barro, Daron Acemoglu und Peter Phillips) gelten als heiße Anwärter auf den Preis. Daher war den allermeisten Ökonomen seit geraumer Zeit auch klar, dass Jean Tirole den Nobelpreis bekommen würde. Fraglich war lediglich, wann dies geschehen würde. Es ist gut, dass das Nobelpreiskomitee die Zeit nun für reif angesehen hat. Der Forschung über Wettbewerb und Regulierung wird die Würdigung Tiroles hoffentlich weiteren Auftrieb geben.


Eine um rund die Hälfte gekürzte Fassung dieses Beitrags erscheint parallel in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 12/2014.

  • 1 Vgl. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1982/press.html.
  • 2 Vgl. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/2014/press.html.
  • 3 Vgl. dazu B. Hehenkamp: Die Mechanism-Design-Theorie, in: Wirtschaftsdienst, 87. Jg. (2007), H. 11, S. 768-772, http://www.wirtschaftsdienst.eu/downloads/getfile.php?id=1323 (8.12.2014).
  • 4 F. M. Fisher: Games Economists Play: A Noncooperative View, in: RAND Journal of Economics, 20. Jg. (1989), H. 1, S. 113-124.
  • 5 C. Shapiro: The Theory of Business Strategy, in: RAND Journal of Economics, 20. Jg. (1989), H. 1, S. 125-137. Mit einer gewissen Verwunderung nimmt man eine Forschergeneration später vieles aus dieser Debatte zur Kenntnis: So hielt es Fisher für erwähnenswert und wenig erfreulich, dass wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten überhaupt Spieltheoretiker einstellen. Für die Analyse von Oligopolen erachtete Fisher die Spieltheorie als völlig ungeeignet, und die Anwendung des Cournot-Modells auf einen realen wettbewerbspolitischen Fall hielt er für einen „theoretischen Amoklauf“, vgl. F. M. Fisher, a.a.O., S. 115. Fishers Polemik zeigt, wie nachhaltig sich die Industrieökonomik in jenen Jahren änderte.
  • 6 Die Top-10-Ökonomen, gemessen an der Publikationsleistung über ihr gesamtes bisheriges Lebenswerk, waren 2013: Bruno Frey, Martin Hellwig, Roman Inderst, Oded Stark, Ernst Fehr, Kai Konrad, Helmut Lütkepohl, Hans-Werner Sinn, Gerard van den Berg und Enno Mammen, vgl. http://tool.handelsblatt.com/tabelle/index.php?id=132&so=1a&pc=50.
  • 7 Als Ergänzung: Wer bei Google Scholar „Jean Tirole“ eingibt, erhält atemberaubende 81 182 Zitationen (Stand: 26.11.2014). Sage und schreibe 115 seiner Werke sind 115 Mal oder häufiger zitiert worden (h-Index). Dieser Umfang an Arbeiten und Zitationen ist, auch verglichen mit anderen Nobelpreisträgern oder -anwärtern, enorm.
  • 8 J. Tirole: The Theory of Industrial Organization, Cambridge MA 1988, ins Deutsche übersetzt von B. Schönfelder: Industrieökonomik, 2. Aufl., München 1999.
  • 9 D. Fudenberg, J. Tirole: Game Theory, Cambridge MA 1991.
  • 10 J.-J. Laffont, J. Tirole: A Theory of Incentives in Procurement and Regulation, Cambridge MA 1993.
  • 11 M. Dewatripont, J. Tirole: The Prudential Regulation of Banks, Cambridge MA 1994.
  • 12 J.-J. Laffont, J. Tirole: Competition in Telecommunications, Cambridge MA 2000.
  • 13 J. Tirole: The Theory of Corporate Finance, Princeton 2006.
  • 14 Vgl. J.-J. Laffont, J. Tirole: Using Cost Observation to Regulate Firms, in: Journal of Political Economy, 94. Jg. (1986), H. 3, S. 614-641.
  • 15 Ebenda.
  • 16 Eine Ausnahme sind z.B. die Regulierung von Strom- und Gasnetzen durch den britischen Energieregulierer Ofgem sowie von Wasserversorgern durch die britische Regulierungsbehörde Ofwat, deren Regulierungsansatz prinzipiell auf den Ideen von Laffont und Tirole beruht.
  • 17 J.-J. Laffont, J. Tirole: A Theory of Incentives …, a.a.O.
  • 18 J. Tirole: Procurement and Renegotiation, in: Journal of Political Economy, 94. Jg. (1986), H. 2, S. 235-259; J.-J. Laffont, J. Tirole: The Dynamics of Incentive Contracts, in: Econometrica, 56. Jg. (1988), H. 5, S. 1153-1175; dies.: Adverse Selection and Renegotiation in Procurement, in: Review of Economic Studies, 75. Jg. (1990), H. 4, S. 597-626.
  • 19 J.-J. Laffont, J. Tirole: Creating Competition through Interconnection: Theory and Practice, in: Journal of Regulatory Economics, 10. Jg. (1996), H. 3, S. 227-256; J.-J. Laffont, P. Rey, J. Tirole: Network Competition: I. Overview and Nondiscriminatory Pricing, in: RAND Journal of Economics, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 1-37; dies.: Network Competition: II. Price Discrimination, in: RAND Journal of Economics, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 38-56.
  • 20 J.-J. Laffont, J. Tirole: Competition in Telecommunications …, a.a.O.
  • 21 Ebenda.
  • 22 Vgl. C. Matthews: Nobel Prize-Winner Jean Tirole’s Ideas Could Make Your Internet Cheaper, in: Fortune, 13.10.2014, http://fortune.com/2014/10/13/nobel-prize-jean-tirole-cheap-internet/.
  • 23 Bundeskartellamt: Sektoruntersuchung Kraftstoffe, Abschlussbericht gemäß §32e GWB, Bonn 2011, S. 115 ff.
  • 24 E. Maskin, J. Tirole: A Theory of Dynamic Oligopoly: II: Price Competition, Kinked Demand Curves, and Edgeworth Cycles, in: Econometrica, 56. Jg. (1988), H. 3, S. 571-599.
  • 25 O. Hart, J. Tirole: Vertical Integration and Market Foreclosure, Brookings Papers on Economic Activity (Microeconomics), 1990, S. 205-285.
  • 26 D. Fudenberg, J. Tirole: A Signal-Jamming Theory of Predation, in: RAND Journal of Economics, 17. Jg. (1986), H. 3, S. 366-376.
  • 27 Vgl. R. Bork: The Antitrust Paradox: A Policy at War with Itself, New York 1978, S. 154.
  • 28 Vgl. R. Selten: The Chain Store Paradox, in: Theory and Decision, 9. Jg. (1978), H. 2, S. 127-159.
  • 29 D. Fudenberg, J. Tirole: A Signal-Jamming Theory …, a.a.O.
  • 30 Vgl. J.-C. Rochet, J. Tirole: Platform Competition in Two-Sided Markets, in: Journal of the European Economic Association, 1. Jg. (2003), H. 4, S. 990-1029; dies.: Two-sided Markets: A Progress Report, in: RAND Journal of Economics, 37. Jg. (2006), H. 3, S. 645-667.
  • 31 SCOPUS ist eine Datenbank des Elsevier-Verlages und die größte Zitat- und Abstract-Datenbank der Welt mit 21 000 Zeitschriften, darunter viele europäische, sowie einer Reihe von Sammelbänden. Die Datenbank wird z.B. auch für das FAZ-Ökonomen-Ranking genutzt, vgl. J. Haucap, T. Thomas: Wissenschaftliche Politikberatung: Erreicht der Rat von Ökonomen Politik und Öffentlichkeit?, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 180-186.
  • 32 P. Aghion, J. Tirole: Formal and Real Authority in Organizations, in: Journal of Political Economy, 105. Jg. (1997), H. 1, S. 1-29.
  • 33 J. Lerner, J. Tirole: Some Simple Economics of Open Source, in: Journal of Industrial Economics, 50. Jg. (2002), H. 2, S. 197-234.
  • 34 B. Holmstrom, J. Tirole: Financial Intermediation, Loanable Funds, and the Real Sector, in: Quarterly Journal of Economics, 112. Jg. (1997), H. 3, S. 663-691.
  • 35 P. Aghion, J. Tirole, a.a.O.
  • 36 Ebenda.
  • 37 Vgl. z.B. J. Lerner, J. Tirole: Some Simple Economics …, a.a.O.; dies.: A Better Route to Tech Standards, in: Science, 343. Jg. (2014), Nr. 6174, S. 972-973; dies.: Standard-Essential Patents, erscheint in: Journal of Political Economy, 2015.
  • 38 J. Lerner, J. Tirole: Some Simple Economics …, a.a.O.
  • 39 Vgl. E. Farhi, J. Tirole: Leverage and the Central Banker’s Put, in: American Economic Review, 99. Jg. (2009), H. 2, S. 589-593; dies.: Collective Moral Hazard, Maturity Mismatch, and Systemic Bailouts, in: American Economic Review, 102. Jg. (2012), H. 1, S. 60-93; dies.: Bubbly Liquidity, in: Review of Economic Studies, 79. Jg. (2012), H. 2, S. 678-706; dies.: Liquid Bundles, erscheint in: Journal of Economic Theory.
  • 40 B. Holmstrom, J. Tirole, a.a.O.
  • 41 M. Dewatripont, J. Tirole: Advocates, in: Journal of Political Economy, 107. Jg. (1999), S. 1-39.
  • 42 Ebenda.
  • 43 Vgl. etwa R. Bénabou, J. Tirole: Intrinsic and Extrinsic Motivation, in: Review of Economic Studies, 70. Jg. (2003), H. 2, S. 489-520; dies.: Belief in a Just World and Redistributive Politics, in: Quarterly Journal of Economics, 121. Jg. (2006), H. 2, S. 699-746; dies.: Incentives and Prosocial Behavior, in: American Economic Review, 96. Jg. (2006), H. 5, S. 1652-1678.
  • 44 R. Bénabou, J. Tirole: Belief in a Just World …, a.a.O.
  • 45 R. Bénabou, J. Tirole: Intrinsic and Extrinsic Motivation ..., a.a.O.
  • 46 R. Bénabou, J. Tirole: Incentives and Prosocial Behavior ..., a.a.O.
  • 47 Vgl. https://ideas.repec.org/top/top.person.all.html.

Title:Jean Tirole – Winner of the Nobel Prize for Economics 2014

Abstract:This article summarises some of the most important works of Jean Tirole, the first economist in more than 30 years – following George Stigler in 1982 – to win the Nobel Prize for his work in industrial economics. The article argues that Jean Tirole has revolutionised the field of industrial organisation – not only through his articles, but even more so through his textbook – by providing a solid game­theoretic underpinning, emphasising the role of asymmetric information.

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DOI: 10.1007/s10273-014-1767-6