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Die EZB-Targetsalden der Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion haben sich im Verlauf der Schuldenkrise sehr unterschiedlich entwickelt. Vor allem Deutschland ist hier in eine Gläubigerposition geraten, während die Krisenländer hohe Defizite aufweisen. Der Autor untersucht hier nicht ihre fiskalischen (Haftungs-)Wirkungen, sondern ihre geld- und währungspolitischen Konsequenzen.

Die Krisenpolitik der EZB, insbesondere ihre Vollzuteilungspolitik1 sowie der Ankauf von Staatsanleihen der Krisenländer am Sekundärmarkt, hat in der Eurozone ein zweifaches Schuldenproblem ausgelöst. Einerseits hat sie die EZB in eine indirekte, demokratisch nicht legitimierte Staatsfinanzierung der Krisenländer geführt. Andererseits hat sie maßgeblich dazu beigetragen, eine hohe externe Verschuldung der Peripherie­länder gegenüber den Kernländern aufzubauen, die sich in den „Target2-Salden“ des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) widerspiegelt. Ausgelöst durch die Kritik von H.-W. Sinn2 an diesen Target2-Salden wurde in der Literatur bereits ausführlich über deren Haftungs- und Umverteilungsrisiken für den deutschen Steuerzahler diskutiert. Target2-Salden sind Forderungen und Verbindlichkeiten einzelner, am elektronischen Verbuchungssystem „Target2“ des ESZB teilnehmender nationaler Zentralbanken gegenüber der EZB. Sie entstehen aus Leistungs- oder Kapitalbilanzungleichgewichten, also grenzüberschreitenden (Güter- und Kapital-)Transaktionen, der Mitgliedsländer. Nach dem krisenbedingten Ausfall der Finanzierung solcher Ungleichgewichte über den privaten Finanzsektor übernahm die EZB de facto deren Finanzierung über den Aufbau von „Guthaben“ und „Verbindlichkeiten“ auf ihren Target2-Konten. „De facto“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das ESZB den Geschäftsbanken ihrer Mitglieder seit Beginn der Krise in unbegrenztem Umfang Liquidität zur Geldschöpfung bereitstellt. In dem Maße, in dem dieses Geld für grenzüberschreitende Transaktionen genutzt wird, entstehen Target2-Salden.

Im zwischenstaatlichen Ausgleichssystem der USA werden diese Salden zwischen den Distrikt-Zentralbanken einmal jährlich mittels zinstragender, marktfähiger Wertpapiere aus dem Offenmarktportfolio getilgt.3 Dagegen gibt das Targetsaldensystem der EZB ihren Mitgliedsländern die Möglichkeit, Targetsalden zu akkumulieren. Bei den Überschussländern lösen diese Salden jährlich steigende Forderungen gegenüber dem ESZB und damit die oben genannten Haftungs- und Umverteilungsrisiken aus.4 In dem Maße, in dem die Kapitalbilanzungleichgewichte durch Kapitalflucht aus den Defizit- in die Überschussländer entstanden sind, haften die Überschussländer sogar für das Fluchtkapital der Defizitländer.5

Zwar beziehen sich diese Risiken – so wie auch die zugrundeliegenden Forderungen und Verbindlichkeiten – zunächst auf die EZB als originäre Schuldnerin (Gläubigerin) der Überschuss-(Defizit-)Länder. Da jeder Forderung der Überschussländer in den Büchern der EZB entsprechende Verbindlichkeiten der Defizitländer gegenüberstehen, verrechnet die EZB diese Targetsalden bilanzseitig. Geht man davon aus, dass die Verbindlichkeiten hinreichend „werthaltig“ sind und regelmäßig getilgt werden, ist eine solche Verrechnung durchaus plausibel. Kommt es jedoch zu einer Akkumulation bonitätsschwacher Verbindlichkeiten, die das Risiko ihres Ausfalls bzw. eines Austritts der Schuldnerländer in sich tragen, so stellt sich die Frage, wer dann für deren Ausgleich aufkommt. Verweigern die Schuldnerländer der EZB die Rückzahlung, so fällt dieser Forderungsausfall indirekt auf ihre Mitgliedsländer zurück. Im besten Fall müssen letztere nach Maßgabe ihrer anteiligen Kapitaleinlagen bei der EZB dafür aufkommen. Für Deutschland beträgt dieser Kapitalanteil derzeit 27%.6 Im schlechtesten Fall bräche das ESZB insgesamt auseinander und jedes Mitgliedsland bliebe zu 100% auf seinen eigenen Forderungen sitzen, was Deutschland in der Spitze (vgl. Abbildung 1) mit rund 750 Mrd. Euro (rund 30% seines BIP) belastet hätte. De facto haben die Steuerzahler der Forderungsländer damit die Ausfallrisiken übernommen, die der private Finanzsektor nicht mehr tragen wollte. Auch wenn sich die Target2-Salden seit Anfang 2013 abzubauen scheinen,7 bedeuten sie für den deutschen Steuerzahler, der die EZB gegebenenfalls rekapitalisieren müsste, nach wie vor ein enormes Haftungs- und damit auch Umverteilungsrisiko.8

Abbildung 1
Nettobilanz im Eurosystem/Target
in Billionen Euro
31843.png

Quelle: Euro Crisis Monitor, Institute of Empirical Economic Research, Universität Osnabrück, Stand 3/2013.

Drei Konstruktionsfehler

Aus Sicht der europäischen Währungspolitik begründen die Target2-Salden des ESZB letztlich den dritten grundlegenden Konstruktionsfehler der EWU: Neben (1) der Missachtung der Regeln optimaler Währungsgebiete bei der Auswahl der Mitgliedsländer und (2) dem Versäumnis, den zur Sicherstellung fiskalischer Disziplin abgeschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt angemessen institutionell zu verankern, neutralisieren (3) die Target2-Salden die für das Funktionieren eines Fix-Kurssystems essentiellen Zahlungsbilanzausgleichsmechanismen, nämlich den Geldmengenpreis- und den Geldmengenzinsmechanismus. Die fatalen Folgen dieses Regelverstoßes sind bereits aus den Vorläufersystemen der EWU, der sogenannten „Währungsschlange“ (1974 bis 1978) und dem Europäischen Währungssystem „EWS 1“ (1979 bis 1998), bekannt. Damals waren es jedoch die noch mit eigenen Währungen operierenden nationalen Zentralbanken der Defizitländer, die mit ihrer nationalen Geldpolitik diese Ausgleichsmechanismen regelwidrig aushebelten, zumeist aus beschäftigungspolitischen Gründen. Die Einführung einer Gemeinschaftswährung mit einer gemeinsamen, unabhängigen Zentralbank sollte dieses nationale Fehlverhalten im Eurosystem eigentlich verhindern. Mit ihren Targetsalden hat die EZB genau das Gegenteil bewirkt. Sie hat diese kritische Neutralisierungspolitik – in anderer Form – wieder aufleben lassen. Folgerichtig steht die EWU heute da, wo die Währungsschlange schon 1978 und das EWS 1 bereits 1993 stand: vor dem Zusammenbruch.9 In diesen Vorläufersystemen ließ sich solches Fehlverhalten noch durch Abwertung der nationalen Währung oder durch Austritt der Defizitländer aus der Union korrigieren. Beides geschah seinerzeit auch – in der „Währungsschlange“ sogar beeindruckend häufig. In einer Währungsunion sind solche „Ausweichstrategien“ dagegen nicht mehr möglich. Hier entsteht vielmehr die Versuchung, diesen Zusammenbruch durch Haftungstransfers innerhalb des Zentralbankensystems zu verhindern, und zwar in Form einer Akkumulation ausfallbedrohter Targetsalden, gegen die sich die stabilen Länder der Währungsunion nicht wehren können.

Um die Auswirkungen einer gegen die Regeln verstoßenden Neutralisierung von Zahlungsbilanzausgleichsmechanismen in den Gesamtkontext der bestehenden Eurokrise stellen zu können, sei hier zunächst kurz auf die beiden anderen Kon­struktionsfehler des Eurosystems eingegangen.

Erstens: Verstoß gegen die Grundregeln optimaler Währungsgebiete

Die Basis eines funktionsfähigen Fixkurssystems besteht in der sachgerechten Auswahl ihrer Mitglieder. Schon vor Einführung des Euro haben Wirtschaftswissenschaftler darauf verwiesen, dass die Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien keine ausreichende Voraussetzung für den Erfolg der Europäischen Währungsunion (EWU) darstellt. Aus der von Robert Mundell begründeten „Theorie optimaler Währungsgebiete“ (OWG) heraus wurde argumentiert, dass die Eurozone einige grundlegende, ihre Güter- und Faktormärkte betreffende Kriterien10 nicht erfülle und damit zum Scheitern verurteilt sei. Die Erfahrung mit der Eurokrise hat uns gelehrt, dass diese Kritik berechtigt war. Die OWG-Kriterien beziehen sich auf Eigenschaften, die eine Währungsunion vor asymmetrischen Schocks bewahren bzw. diese gegebenenfalls wirksam abfedern sollen. So lässt sich durch eine möglichst große Übereinstimmung (Symmetrie) und einen möglichst hohen Diversifikationsgrad der Produktionsstrukturen aller Mitgliedsländer ausschließen, dass exogene Schocks nur einzelne Länder, diese aber besonders hart treffen (Kenen-Kriterium11). Des Weiteren sollten Währungsunionen nur offene, also sehr handelsorientierte Volkswirtschaften enthalten (McKinnon-Kriterium12). Hierdurch werden ein hoher Konkurrenzdruck und ein entsprechend hoher Preiswettbewerb in der Union sichergestellt, die wiederum ausreichende Preisanpassungen auch ohne Flexibilität der Wechselkurse gewährleisten. Sollte es dennoch zu asymmetrischen Schocks in einzelnen Unionsländern kommen, sollte eine hohe grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitskräfte dafür sorgen, divergierende Wachstums- und Beschäftigungsentwicklungen durch Arbeitskräftewanderungen innerhalb der Union auszugleichen (Mundell-Kriterium13).

Die sogenannten „Peripherieländer“ der Eurozone, allen voran Griechenland, haben mit der Erfüllung dieser Kriterien besondere Probleme. So ist z.B. die niedrige industrielle Basis Griechenlands (15% des BIP), verbunden mit einem relativ gering diversifizierten, krisenanfälligen Exportsektor (Landwirtschaft, Tourismus, Seetransport) und einem entsprechend geringen Offenheitsgrad (Griechenland exportiert nur rund 22% seines BIP) ein deutlicher Hinweis auf die Anfälligkeit für asymmetrische Schocks.14 Letztlich hat sich auch das Mundell-Kriterium als für diese Krisenländer nicht hilfreich erwiesen: Die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitskräfte in der Eurozone war immer schon deutlich niedriger als die anderer, vergleichbarer Währungszonen wie etwa der USA.15 Daran hat offensichtlich auch der immense Unterbeschäftigungsdruck in den Krisenländern nichts geändert.

So verbleibt als ultimativ letztes Erfolgskriterium einer Währungsunion nur noch das sogenannte „Transfer-Kriterium“16: Sind die anderen OWG-Kriterien nicht erfüllt, so müssen die starken Mitgliedsländer bereit und in der Lage sein, ihre schwachen Partnerländer durch Transfers zu unterstützen – ähnlich einem nationalen Länderfinanzausgleich. Die No-Bailout-Klausel des Artikels 125 des „Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ schließt solche Transfers jedoch explizit aus.

Damit stellt sich bereits auf der Ebene der ersten Grundsatzentscheidung der EWU, der Auswahl geeigneter Mitgliedsländer, die Frage nach dem Revisionsbedarf. Sie bezieht sich natürlich insbesondere auf die GIIPSZ-Länder Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien und inzwischen auch Zypern. Die Austrittsoption zu tabuisieren, wie es derzeit von politischer Seite geschieht, ist schon deshalb ökonomisch irrational, weil dies einen Widerspruch zur No-Bailout-Klausel darstellt. Vielmehr müsste jedes Land für sich genommen einer makroökonomischen (Schock-)Analyse unterzogen werden, ähnlich den „Stresstests“ im Finanzsektor. Da die Länder der GIIPSZ-Zone hinsichtlich der OWG-Kriterien sehr unterschiedliche Eigenschaften aufweisen, ist der Ausgang solcher Tests durchaus offen.

Zweitens: Fehlende Sanktionsmechanismen der Stabilitätskriterien

Sinnvollerweise übertrug das Maastrichter Vertragswerk den fiskalpolitischen Teil der oben genannten Konvergenzkriterien in den sogenannten „Stabilitäts- und Wachstums­pakt“. So sollte eine stabilitätsorientierte Fiskalpolitik der Mitgliedsländer auch nach ihrem Beitritt langfristig gewährleistet werden. Die Problematik dieses Pakts lag bekanntermaßen nicht in der Ausgestaltung der Kriterien selbst, sondern in ihrer Durchsetzung. Die fehlende Sanktionierung von Verstößen gegen den Pakt stellt ein institutionelles Problem dar, das nach wie vor nicht zufriedenstellend gelöst ist. Hieran hat auch das am 13.12.2011 als sogenanntes „Sixpack“ in Kraft getretene, verschärfte Regelwerk nur wenig geändert.

Drittens: Neutralisierungspolitik durch Target2-Salden

Während die fiskalischen Stabilitätskriterien überwiegend die Regierungen der Mitgliedsländer in die Pflicht nehmen, sind es deren Zentralbanken, die die geld- und währungspolitischen Grundregeln eines Fixkurssystems einzuhalten haben. In der Eurozone hat hierfür das ESZB zu sorgen, das aus der EZB selbst sowie den nationalen Zentralbanken der Euroländer besteht. Das grundlegende Problem jeder Wechselkurs- oder Währungsunion stellt hierbei der Umgang des Zentralbankensystems mit divergierenden Inflationsraten und Wettbewerbsfähigkeiten der Mitgliedsländer dar. Langfristig führen diese Divergenzen zu strukturellen Leistungsbilanzungleichgewichten und damit – in Wechselkursunionen – zu einem massiven Ab-/Aufwertungsdruck. In Währungsunionen wie der EWU bewirken sie eine steigende externe Verschuldung bis hin zur Zahlungsunfähigkeit der Defizitländer. So kam es in der Eurozone zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Peripheriestaaten im Wesentlichen durch deren überdurchschnittlich stark ansteigenden Löhne und Preise. Im Gegenzug blieben die Löhne und Preise der heute als stabil geltenden Länder hinter dem Durchschnitt des Euroraums zurück. Die hieraus resultierende Wachstumsschwäche der Defizitländer trägt letztlich auch Mitschuld an der steigende Staatsverschuldung, woraus deutlich wird, dass die Eurokrise primär eine Zahlungsbilanzkrise und erst sekundär eine Staatsschuldenkrise ist.17

In dieser Situation sind die geldpolitischen Institutionen der EWU gefordert, die Regeln funktionsfähiger Fixkurssysteme einzuhalten. Um das Auseinanderdriften nationaler Wettbewerbsfähigkeiten wieder auszugleichen, müssen sie die natürlichen Zahlungsbilanzausgleichsmechanismen wirken lassen, nämlich den Geldmengenpreis- und den Geldmengenzinsmechanismus. Leistungsbilanz- und Kapitalbilanzungleichgewichte innerhalb einer Währungsunion verursachen grenzüberschreitende Geldströme von den Defizit- zu den Überschussländern, die auf beiden Seiten entsprechend gegenläufige Liquiditäts-, Zins- und Preiseffekte auslösen: Die Defizitländer deflationieren (entspricht einer realen Abwertung), die Überschussländer inflationieren (reale Aufwertung), bis die Wettbewerbsfähigkeit der Defizitländer wieder hergestellt ist. Das ESZB muss diese Verschiebung der Geldversorgung innerhalb der EWU bedingungslos akzeptieren, sie muss die „Endogenisierung“ der Geldmenge zulassen. Nur so kann es zu einem Ausgleich der Zahlungsbilanzen der Unionsländer kommen.

Im Grunde tritt in Systemen fixer Wechselkurse die Flexibilisierung der Geldmenge in den einzelnen Mitgliedsländern an die Stelle flexibler Wechselkurse. In der Sprache der Politik wird der Preis eines Fixkurssystems deshalb häufig damit umschrieben, dass die Mitgliedsländer „auf ihre nationale Geldpolitik verzichten müssen“, in der Regel zulasten nationaler Beschäftigungsziele. Die „Endogenisierung“ der Geldmenge bedeutet jedoch viel mehr. Die EZB hat auf jede geldpolitische Maßnahme zu verzichten, die die relative Geldversorgung einzelner Mitglieder (im Verhältnis zu anderen) beeinflusst. Sie darf die Geldmenge der Eurozone nur noch als Ganzes steuern – mit dem Ziel interner (Preis-) und externer (Wechselkurs-)Stabilität der Gemeinschaftswährung als Ganzes. Mit dem Aufbau von Targetsalden hat die EZB den Geldfluss von (hochpreisigen) Defizitländern in (preisstabile) Überschussländer ausgehebelt. Sie hat damit den systemimmanenten Ausgleich der relativen Löhne und Preise verhindert und aktiv strukturelle Leistungsbilanzungleichgewichte der Union verfestigt.

Der „Sündenfall“ Griechenland

In Griechenland ergab sich der Mangel an Wettbewerbsfähigkeit sicherlich zum einen aus der unvorteilhaften Produktionsstruktur, die eine niedrige Export- (22%) und eine hohe Importquote (35% des BIP) erzeugt. Zum anderen haben die hohen Kapitalzuflüsse aus den damals schwächelnden Kernländern (z.B. Deutschland) in die nunmehr vom Wechselkursrisiko befreiten, mit hohen Wachstumserwartungen bedachten Peripherieländer dazu beigetragen.18 Diese Kapitalzuflüsse ließen in Griechenland das Lohn- und Preisniveau deutlich stärker ansteigen als z.B. in Deutschland. Da das Wachstum der Arbeitsproduktivität Griechenlands mit seiner Lohnentwicklung nicht mithalten konnte, stiegen die Lohnstückkosten dort zwischen 2000 und 2009 um ca. 37% (in Deutschland dagegen um 5%). Während sich ein Teil der Lohn- und Preissteigerungen geringer entwickelter Volkswirtschaften über den „Nachholeffekt“ (Balassa-Samuelson-Effekt) erklären lässt, besteht der Rest in einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, der in Systemen flexibler Wechselkurse zu entsprechenden nominalen Abwertungen der nationalen Währung geführt hätte.19 Schätzungen der Investmentbank Goldman Sachs gehen für Griechenland von einem Abwertungsbedarf von rund 30% aus (zum Vergleich: Portugal rund 35%, Spanien und Frankreich je 20%, Italien 10%-15%).20 In einer Währungsunion ohne Chance auf nominale Abwertung (externe Anpassung) muss das System mit realer Abwertung (interne Anpassung) reagieren. Die Preise und Löhne Griechenlands müssen also sinken.

Der oben erwähnte Geldmengenpreismechanismus hätte eigentlich genau diese Preissenkungen bewirken müssen. Die griechischen Importüberschüsse und Kapitalabflüsse hätten dort eine Liquiditätsverknappung generiert, während sich in Deutschland ein Liquiditätsüberschuss aufgebaut hätte. Mittelfristig hätten diese Liquiditätseffekte in Deutschland zu einer stärkeren Inflation, in Griechenland zu Deflation führen müssen. Die relativen Preise und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit beider Handelspartner hätten sich wieder aneinander angepasst, die Leistungsbilanzen hätten sich ausgeglichen.

Da die Preisniveaus der betroffenen Länder für diese Anpassungen mehrere Jahre benötigen, gehen solche Liquiditätsverschiebungen in der Regel allerdings kurzfristig zunächst mit Zinseffekten einher: Im Defizitland (Griechenland) steigen die Zinsen, im Überschussland (Deutschland) fallen sie. Über die ersten – wachstumsgeprägten – Jahre der Währungsunion hinweg wurden die Liquiditätsabflüsse Griechenlands zunächst durch Kapitalzuflüsse aus den weiter entwickelten Unionsländern kompensiert, die griechischen Leistungsbilanzdefizite wurden durch externe Verschuldung finanziert. In Deutschland entstanden hierdurch neue Auslandsforderungen. Mit der Übertragung der aus den USA importierten Finanzkrise auf die europäischen Geld- und Kapitalmärkte versiegte dann jedoch der Kapitalstrom in die nunmehr als insolvenzgefährdet geltenden GIIPSZ-Länder – allen voran Griechenland. Spätestens jetzt hätte der natürliche Geldmengenzinsmechanismus über den realen Sektor einsetzen müssen: Die durch Liquiditätsverknappung steigenden Zinsen hätten über eine Kontraktion der Konsum- und Investitionsgüternachfrage zunächst das griechische Einkommen und damit auch die griechischen Importe reduzieren und so bereits kurzfristig eine Verbesserung der Leistungsbilanz bewirken müssen. Natürlich geht ein solcher kurzfristiger Kontraktionsprozess mit Beschäftigungsverlusten einher, die aber mittel- und langfristig über die Anpassung der Preise und damit der Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft wieder zurückgedrängt werden.

Mit dem Argument, die Stabilität des Finanzsystems nicht gefährden zu wollen, hat die EZB einen solchen Abfluss von Liquidität aus den Krisenländern nicht zugelassen.21 Sie hätte hierzu ihre Vollzuteilungspolitik gegenüber den Banken aufgeben müssen, was sie den durch hohe Bestände an griechischen Staatsanleihen geschwächten griechischen Banken wohl nicht zumuten wollte. Auch die weitere Refinanzierung der öffentlichen Haushalte der Krisenstaaten über den Bankensektor wäre kompromittiert worden. Möglicherweise wollte sie auch die bereits geschwächte griechische Wirtschaft nicht zusätzlich mit den Liquiditätseffekten ihres Zahlungsbilanzungleichgewichts belasten. So konnten sich die griechischen Importeure über ihre Banken immer neues Geld von der griechischen Zentralbank verschaffen, die im gleichen Umfang ihr (Target2-)Konto bei der EZB belastete. Die EZB hat dies zugelassen und so die Liquiditätseffekte der weiterhin hohen Importüberschüsse über den Aufbau von „Target-Verbindlichkeiten“ im ESZB-Zahlungssystem neutralisiert.

Würde die EZB Kreditvergaben über Target-Verbindlichkeiten einseitig durchführen, so entstände hierdurch de facto eine Geldmengenausweitung in der Eurozone als Ganzes. Erlaubt es die EZB jedoch den Überschussländern, deren Zuflüsse ebenfalls zu neutralisieren, wird auch der Effekt auf die Gesamtgeldmenge der Union neutralisiert. Überschussländer wie Deutschland könnten ein unmittelbares Interesse an einem solchen Zugeständnis haben, da sich so die inflationären Effekte ihrer Exportüberschüsse (Liquiditätszufluss) vermeiden lassen. Man muss der deutschen Bundesbank allerdings zugutehalten, dass sie diesen Regelverstoß neutralisierender, d.h. kontraktiver Geldpolitik gar nicht aktiv betrieben hat. Er ergab sich daraus, dass die deutschen Geschäftsbanken mit den ihnen aus den Außenhandelsüberschüssen resultierenden Liquiditätszuflüssen nichts mehr anfangen konnten und sie zur Rückzahlung ihrer Refinanzierungsgeschäfte mit der Bundesbank einsetzten – gegen Rückerstattung ihrer als Sicherheit hinterlegten Bundesanleihen. Später deponierten die Geschäftsbanken das ihnen zufließende Geld sogar auf ihren Konten bei der Bundesbank. Das so eingezogene Geld verhinderte eine Anpassung der relativen Preise (Inflation) in Deutschland. Es führte allerdings bei der Bundesbank zu einem weitgehenden Austausch von werthaltigen, deutschen Vermögenstiteln (Sicherheiten) gegen Target-Forderungen gegenüber der EZB, die wiederum nur durch bonitätsschwache Sicherheiten der Zentralbanken der Krisenländer gedeckt sind. Der deutsche Bargeldumlauf ist heute weitgehend durch mit hohen Ausfallrisiken behaftete Schuldtitel öffentlicher und privater Emittenten der Peripherieländer abgesichert.22 Statt einer Werterosion über eine quantitative Ausdehnung der Geldmenge hat also eine qualitative Werterosion der Geldmenge stattgefunden. Die Gefahr, die hiervon für Deutschland ausgeht, besteht deshalb nicht in Inflation, sondern in den potenziellen Steuererhöhungen zur Rekapitalisierung des ESZB im Falle eines Forderungsausfalles.

Indem sie den Aufbau dieser Targetsalden zuließ, hebelte die EZB demnach den entscheidenden Ausgleichmechanismus des Euro-Fixkurssystems aus. Dies kann nicht unbewusst geschehen sein, da der Verstoß gegen das geldpolitische Neutralisierungsverbot bereits in der europäischen Währungsschlange und später auch im EWS 1 zum Zusammenbruch dieser Systeme geführt hatte. Ohne diese „Entscheidung zur Toleranz“23 wären die notwendigen, automatischen Anpassungsprozesse in den Defizitländern viel früher in Gang gekommen.24 Die Akzeptanz nachhaltiger Targetsalden stellt also eine der Ursachen der Eurokrise dar, nicht aber ihre Lösung. Die nunmehr strukturellen Zahlungsbilanzprobleme dieser Länder wären ohne Targetsalden verhindert oder zumindest deutlich abgemildert worden. Heute müssen die den Krisenländern extern auferlegten Reformen diesen Fehler der EZB kompensieren. Der von der Troika aus IWF, EU und EZB aufgezwungene Reformprozess hat die stabilen Euroländer der politischen Kritik der Krisenländer ausgesetzt und dem Gedanken der europäischen Integration schwer geschadet. Schwerer noch wiegt jedoch die Tatsache, dass alle bisher durchgesetzten Reformen, die auf der Kostenseite (Arbeitskosten) ansetzen, die automatischen Preisausgleichsmechanismen nicht ersetzen konnten.

De facto hat die Targetsalden-Politik der EZB dazu beigetragen, dass die Preisniveaus aller Krisenländer außer Irlands über Jahre hinweg nicht gesunken, sondern konstant geblieben oder, wie im Fall Griechenlands, sogar noch gestiegen sind. Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder hat sich also trotz massiven Reformdrucks nicht verbessert. Hier nützt auch der Hinweis auf die stark gesunkenen durchschnittlichen Lohnstückkosten dieser Länder nichts. Zum einen ist dieser Effekt zumindest teilweise der statistischen Erfassung der Lohnstückkosten zu verdanken, die mit steigender Arbeitslosigkeit schon rein rechnerisch sinken.25 An den effektiven Lohnstückkosten einzelner (Export-)Produkte ändert dies zunächst nichts. Zum anderen werden solche Kostensenkungen, wenn sie denn auf realisierten Lohnsenkungen beruhen, von den Unternehmen nicht automatisch an die Endproduktpreise weitergereicht. Die Abbildungen 2a bis c zeigen, dass sich die Exportpreise und -volumina Griechenlands trotz statistisch gesunkener Lohnstückkosten bis Ende 2012 nicht positiv entwickelt haben. Auch der Hinweis auf sich zwischenzeitlich verbessernde Leistungsbilanzen führt hier nicht weiter: diese Effekte sind – bedingt durch die wirtschaftliche Kontraktion – auf der Importseite entstanden und weder nachhaltig noch wettbewerbsrelevant. An dieser Erkenntnis ändert auch das seit März 2013 beobachtbare Absinken der griechischen Verbraucherpreise nichts. Da die stabilen Länder nicht inflationieren, würde Griechenland, selbst wenn sich der deflationäre Trend fortsetzen ließe, viele Jahre benötigen, um die erforderliche reale Abwertung von 30% zu bewirken. Erschwerend kommen die von stabilen Exportländern wie Deutschland ausgelösten Aufwertungen des Euro gegenüber dem US-Dollar hinzu, die Griechenlands Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Drittländern weiter verschlechtern. Hier zeigt sich wieder, dass die Eurozone eben kein optimales Währungsgebiet ist.

Abbildung 2
Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanz
31822.png

Quellen: zu a. Eurostat; zu b. European Commission; zu c. European Commission: Economic and Financial Affairs.

Wenn jetzt die EZB, wie es die jüngere Entwicklung der Targetsalden erkennen lässt, dennoch endlich deren Abbau in Angriff nimmt, ist dann damit zu rechnen, dass die Krisenländer zumindest langfristig – über Exportpreisanpassungen – ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen? Die Targetsalden stellen leider eben nur einen von drei Konstruktionsfehlern der Währungsunion dar. Die Erkenntnisse von IWF und OECD26 lassen befürchten, dass sich die relativen Preise Griechenlands auch in Zukunft nicht ausreichend verbessern werden, da die griechischen Märkte durch Protektionismus und Überregulierung praktisch „eingefroren“ sind. Selbst die großen Opfer der griechischen Lohn- und Gehaltsempfänger ändern daran offensichtlich nichts. Vielmehr bewirken diese Lohn- und Kostensenkungen lediglich weitere Umverteilungseffekte von den breiten, ärmeren Bevölkerungsschichten hin zu den alten und neuen Profiteuren des griechischen „Systems“. Ohne Eingriffe in die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen Griechenlands ist mit einer nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Landes nicht zu rechnen.

Dieser ordnungspolitische Aspekt des Problems wirft die Frage auf, ob die Staatengemeinschaft der EWU überhaupt berufen und in der Lage ist, durch entsprechenden Reformdruck in die nationalen Souveränitätsrechte eines Mitgliedslandes einzugreifen. Im Falle Griechenlands steht sogar zu vermuten, dass die mit den Reformauflagen der Troika verbundenen finanziellen Hilfen die Umsetzung notwendiger Reformen noch verschleppt haben. Die Lösung der griechischen Krise sollte deshalb von Seiten der griechischen Bevölkerung selbst kommen – und zwar wie in jedem demokratisch legitimierten Land durch ihre Wahlentscheidungen.

Der Weg aus der Krise – ein Neustart

Die Europäische Währungsunion enthält also auf allen drei Ebenen ihrer Struktur (Teilnehmerschaft, Handhabung des fiskalischen Stabilitätspakts, geldpolitische Disziplin) grundlegende Konstruktionsfehler, die aus ökonomischer Sicht eine Art „Re-Set“ der Rahmenbedingungen der Währungsunion erforderlich machen.

Auf der Ebene der Teilnehmerschaft wäre der – zumindest temporäre – Austritt besonders gefährdeter Mitgliedsländer aus der Währungsunion institutionell und rechtlich abzusichern. Umsetzungsseitig wäre das von H.-W. Sinn vorgeschlagene Modell der „offenen Währungsunion“ sicherlich ein bedenkenswerter Lösungsweg.27 Länder, deren Wettbewerbs­probleme nicht mehr zu akzeptablen Kosten mit internen Anpassungen lösbar sind, könnten mittels temporärer Wiedereinführung ihrer lokalen Währung eine externe Anpassung (Abwertung) herbeiführen. Die Aussicht auf den späteren Wiedereintritt dürfte auch die politische Akzeptanz eines Austritts erhöhen. Allerdings reicht es in Ländern wie z.B. Griechenland nicht, ihre akuten Wettbewerbsprobleme durch Abwertung zu lösen. Es geht auch darum, die Produktionsstrukturen und Märkte solcher Länder durch Diversifizierung und Liberalisierung resistenter gegen exogene Schocks zu machen und die in einigen Ländern bestehenden fiskalen Ineffizienzen auf der Ein- und Ausgabenseite zu beseitigen. Dies alles kann gegebenenfalls viele Jahre dauern. Die technischen Probleme der Neueinführung einer Landeswährung wären dagegen durchaus auch kurzfristig lösbar, z.B. mittels temporärer Weiternutzung des Euro im reinen Bargeldverkehr (Parallelwährung).

Die offensichtlich mit einem solchen Schritt verbundenen ökonomischen Kosten für die betroffenen Sektoren der Defizitländer (Staat, Banken, Unternehmen, Haushalte) würden leichtfertige Austritte verhindern. Die Verteilung dieser (Abwertungs-)Kosten zwischen Gläubigern und Schuldnern ist ein schwieriges juristisches Thema, aber keines, das sich nicht lösen lässt.28 Entscheidend ist dabei die Frage, ob die Schuldtitel nach der Einführung der lokalen Währung weiterhin in Euro denominiert bleiben oder in die neue nationale Währung umgerechnet werden. Im ersten Fall trägt der Schuldner die Abwertungslast, im zweiten Fall der Gläubiger. Solche Überlegungen sollten sich grundsätzlich nur bei internationalen Gläubiger-Schuldner-Beziehungen ergeben, da die rein nationalen Verträge vollständig umgerechnet werden dürfen. Für öffentliche Schulden betrifft dies die bei internationalen Investoren liegenden Staatsschuldentitel. Für private Schulden sind hier zuerst die inländischen Banken und ihre ausländischen Refinanzierungsquellen/Investoren betroffen. Die in die neue Währung umzurechnenden Bankbilanzen riskieren, sich durch die abwertungsbedingte Wertberichtigung ihrer Auslandsverbindlichkeiten zu überschulden. Zur Abwendung der hieraus resultierenden Konkurse schlägt Sinn eine Rekapitalisierung der Banken durch Debt-Equity-Swaps vor.29 Diese Lösung bietet sich grundsätzlich auch für die Auslandsverbindlichkeiten (in Euro) der inländischen Unternehmen an. Es bleibt allerdings die Frage zu klären, wie stark die privaten Haushalte in internationale Schuldnerbeziehungen verstrickt sind.

Auf der Ebene des fiskalischen Stabilitätspakts ist eine institutionelle Entpolitisierung der Entscheidungsträger unumgänglich. Das „Sixpack“ stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar, schwächt den Konstruktionsfehler des Art. 126 AEUV aber lediglich ab. Die europäischen Sanktionsmechanismen dürfen nicht Gremien wie dem politisch besetzten EU-Ministerrat überlassen bleiben, dessen Mitglieder selbst für die Verstöße gegen den Pakt verantwortlich sind. Die Verfahrensentscheidung vollständig vom Rat auf die (eher technokratische) Europäische Kommission zu übertragen, dürfte ebenfalls nicht ausreichen. Dies lässt sich schon aus dem letztjährigen Zugeständnis der Kommission ableiten, Frankreich trotz unzureichender Reformbemühungen einen Aufschub bei der Erfüllung der Defizitkriterien zu gewähren. Die Sanktionsentscheidungen sollten vielmehr einem rechtsverbindlichen Automatismus folgen. Dessen Überwachung und Umsetzung sollte auf einen Entscheidungsträger verlagert werden, der selbst von einem zu laschen Umgang mit dem Defizitverfahren ökonomisch betroffen wäre. Hier bietet sich insbesondere der ESM an.

Auf der Ebene der geldpolitischen Reformen schließlich wären die Aufgabenstellung des ESZB zu präzisieren und seine Entscheidungsverfahren grundlegend zu überarbeiten. Aufgabenseitig sind system-inkonforme Transaktionen wie die Akkumulation von Targetsalden institutionell auszuschließen. Ein Fixkurssystem, dessen Funktionsfähigkeit auf der Einhaltung klarer Grundregeln besteht, muss diese beachten, umso mehr in einer Währungsunion, in der die Folgen eines Regelbruchs von den anderen Mitgliedern mitgetragen werden müssen.

Normalisierung der Geldpolitik

Um dies zu erreichen, geht der geldpolitische Reformbedarf allerdings weit über die Lösung der Targetsalden-Problematik hinaus, die für sich genommen nur ein Symptom für einen viel tiefergehenden Systemfehler darstellt. Die Wurzel des Targetsalden-Problems liegt in der Vollzuteilungspolitik der EZB, d.h. der unbegrenzten Liquiditätsbereitstellung gegen minderwertige Sicherheiten. Es ist diese, eigentlich im Zuge der Finanzkrise und nicht der Eurokrise getroffene Entscheidung,30 mit der die EZB „den Rubikon überschritten“ hat. Die zeitliche Ausdehnung dieses Instruments von der Finanz- auf die Eurokrise hat die weiteren Zahlungsbilanz- und Verschuldungsprobleme zwischen den Euroländern nach sich gezogen. Dies gilt für die Target2-Salden ebenso wie für die zinsgünstige und unbegrenzte EZB-Refinanzierung der Staatsanleihekäufe des Bankensektors. Mit diesen unter ihre „non-standard measures“ fallenden Instrumenten hat die EZB ihren vorgegebenen geldpolitischen Rahmen verlassen und die Grundregeln funktionsfähiger Fixkurssysteme gebrochen. Ihr anschließender eigener Aufkauf von Staatsanleihen (das „Securities Markets Program“ – SMP sowie die bisher nur angekündigten „Outright Monetary Trans­actions“ – OMT) zeigt darüber hinaus, dass die positiven Wirkungen selbst solch radikaler Maßnahmen wie der Vollzuteilungspolitik angesichts ungelöster struktureller Probleme der Krisenländer begrenzt sind.

Nach nunmehr fünf Jahren ist eine Rechtfertigung dieser erweiterten geldpolitischen Maßnahmen als kurzfristig alternativlose Krisenpolitik kaum noch nachzuvollziehen. Es geht der EZB offensichtlich darum, die interne (öffentliche) und externe (zahlungsbilanzseitige) Überschuldung der Peripherieländer längerfristig abzufedern. Darüber hinaus kommuniziert sie ihre Vollzuteilungspolitik zu historisch niedrigen Zinssätzen inzwischen auch offen als konjunkturpolitische Maßnahme mit dem Ziel, die Kreditklemme in den Krisenländern (und somit deren Beschäftigungsprobleme) zu lösen. Der Art. 127 AEUV, der es der EZB grundsätzlich erlaubt, die „allgemeine Wirtschaftpolitik der Union zu unterstützen, soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist“, stellt aus mehreren Gründen keine geeignete Rechtfertigung dieses Krisenmanagements dar. Zwar erscheint die Preisstabilität des Euroraumes insgesamt, gemessen am „Harmonisierten Verbraucherpreisindex“ aller Mitgliedsländer (HVPI), nicht gefährdet zu sein. Jedoch setzt die EZB mit ihrer Politik sehr wohl die interne Preisstabilität des Währungsraumes aufs Spiel, weil ihr Angebot unbegrenzter Kreditschöpfung die Geldmengenverschiebungen innerhalb der Union neutralisiert und so die notwendigen Anpassungen der relativen Preise in der Union verhindert. Darüber hinaus stellt eine Geldpolitik, die auf konjunkturelle Wirkungen einzelner Länder/Regionen des Währungsgebiets fokussiert ist, keine „allgemeine Wirtschaftspolitik der Union“ dar. Es handelt sich vielmehr um einen klaren Verstoß gegen die Regel fixer Wechselkurssysteme, auf Geldpolitik zugunsten konjunkturpolitischer Anreize in einzelnen Mitgliedsländern zu verzichten. Diese Argumente allein reichen schon aus, der EZB die notwendigen geldpolitischen „Zügel“ anzulegen. Hinzu kommt jedoch, dass sich die Zinspolitik der EZB in den Euro-Krisenländern bisher als wachstums- und beschäftigungspolitisch wirkungslos erwiesen hat. Die strukturellen, ordnungspolitischen Probleme Griechenlands, Spaniens, Italiens oder Portugals (bzw. inzwischen auch Frankreichs) lassen sich eben nicht mit konjunkturpolitischer „Symptomtherapie“ auf der Nachfrageseite behandeln.

Der erste Schritt in die „Normalisierung der Geldpolitik“ bestände demnach in der Aufgabe der Vollzuteilungspolitik, um die Geldmenge wieder steuerbar zu machen. Die Targetsalden-Problematik hat darüber hinaus gezeigt, dass sich die notwendige Kontrolle der Geldmenge nicht nur auf ihre absolute Höhe, sondern auch auf ihre relative Verteilung innerhalb der Eurozone beziehen muss. Die EZB trägt nicht nur für die durchschnittliche Preisentwicklung in der Eurozone als Ganzes (gemessen durch den HVPI), sondern auch für die relative Preisentwicklung ihrer einzelnen Mitgliedsländer die Verantwortung. Hierzu ist die Euro-Geldmenge im Innenverhältnis zu „endogenisieren“, z.B. über die Einführung eines regelmäßigen Ausgleichs der Targetsalden über einen Transfer werthaltiger, d.h. nach den ursprünglichen EZB-Standards klassifizierter Wertpapiere aus dem Offenmarktportfolio (etwa nach dem Vorbild des US-amerikanischen Verfahrens).

Um den Peripherieländern außerhalb der Marktmechanismen zu historisch niedrigen Leitzinsen unbegrenzt Geld zur Verfügung stellen zu können, nimmt die EZB derzeit massive unionsinterne Umverteilungswirkungen in Kauf. Die Zinsvorteile der Kreditversorgung in den Peripherieländern werden letztlich von den anonymen Kleinsparern der stabilen Kernländer finanziert, deren Realvermögen durch die seit Jahren negativen Realzinsen auf Spareinlagen und privaten Altersvorsorge­investitionen (wie z.B. kapitalbildende Lebens- und Krankenversicherungsbeiträge) beständig sinkt. Die EZB-Zinspolitik wirkt so in den stabilen Ländern wie eine indirekte Vermögensteuer, die allerdings nicht von parlamentarisch kontrollierten Regierungen, sondern von einer supranationalen Organisation (EZB) ohne demokratische Entscheidungsstrukturen erhoben wird. Mit den Targetsalden und den Anleihekäufen der EZB verhält es sich nicht anders: Die hiermit einhergehenden Haftungsrisiken sind handelbar, haben also einen Marktwert. Ihre Übernahme durch die EZB stellt somit bereits jetzt einen parlamentarisch unkontrollierten Transfer dar. Gleichzeitig greift die EZB mit ihrer Geldpolitik auch allokativ in die Struktur der Finanzmärkte ein. Um das Überleben des Bankensektors zu sichern, wird eine massive Beeinträchtigung des Versicherungssektors billigend in Kauf genommen, von der Verschleppung eines notwendigen Bereinigungs- und Schrumpfungsprozesses im Bankensektor selbst ganz zu schweigen. Die EZB-Krisenpolitik mag die Finanzmärkte stabilisiert haben, sie ist jedoch alles andere als kostenlos. Dass sie auch nicht alternativlos ist, haben entsprechende Vorschläge in der Literatur bereits nachgewiesen.31

Demokratische Unterlegung

Man kann gegen solche Argumente einwenden, dass jede Leitzinspolitik der EZB den Kapitalmarktzins beeinflusst und damit zwingend auch verteilungs- und allokationspolitisch wirksam wird. Jede Zinssenkung schadet den Sparern und hilft den Schuldnern und vice versa. Der entscheidende Unterschied zwischen dem „normalen“ Mandat der EZB und dem, was sie derzeit tut, ist die Zielsetzung hinter der Maßnahme: dient sie der Geldwertstabilität, so muss man die damit einhergehenden, in der Regel moderaten Allokations- und Verteilungseffekte akzeptieren. Die Krisenmaßnahmen waren aber nicht geldpolitisch motiviert. Die expansiven Geldmengeneffekte der EZB-Anleihekäufe werden sogar explizit durch kontraktive Offenmarkt-Operationen neutralisiert. Sie dienten also anderen, letztlich hoheitlichen (Bankenrettung), fiskalischen (Budgetfinanzierung) oder außenhandelspolitischen (targetsaldenfinanzierte Importdefizite) Zielen.

Aus polit-ökonomischer Sicht stellt sich damit die grundsätzliche Frage, inwieweit die mit solchen verteilungs- und allokationspolitischen Wirkungen behafteten Krisenmaßnahmen der EZB ohne demokratische Unterlegung überhaupt verfassungskonform sind. Diese Frage wiegt umso schwerer, als die EZB mit ihren Entscheidungen auch noch die verfassungsgerechten Versuche der Kernländer aushebelt, mittels Schuldenbremse ihrer fiskalischen Verantwortung nachzukommen. Sie macht diese damit – wie Carl Christian von Weizsäcker es ausdrückt – zu „Augenwischerei“.32

Unabhängig vom Ausgang der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht bleibt diese Frage weiterhin ökonomisch relevant, weil die derzeitige, nicht demokratisch unterlegte Entscheidungsstruktur der EZB offensichtlich Fehlanreize für geldpolitische Entscheidungen setzt.33 Geht man davon aus, dass die EZB ein Interesse daran hat, den Euro und damit sich selbst zu retten, stellt systeminkonformes Verhalten für die EZB eine rationale Handlungsoption dar. Ein solches Verhalten wird durch das bestehende Entscheidungsverfahren im EZB-Rat gefördert, das jedem nationalen Ratsmitglied, unabhängig von Größe, Bevölkerungsanteil und Kapitalquote seines Landes, das gleiche Stimmrecht zugesteht. Wenn diejenigen Vertreter des EZB-Rats, auf deren Länder größenbedingt die Mehrheit des Kapitals und damit auch der Kosten seiner Entscheidungen entfallen, auch die Mehrheit der Stimmrechte hielten, würden wohl in stärkerem Maße objektive Kosten-Nutzenabwägungen in die Ratsentscheidungen einfließen. Sie würden dem Selbsterhaltungstrieb der EZB ein demokratisch unterlegtes Gegengewicht gegenüberstellen. Das bestehende Entscheidungsverfahren gleicher, größenunabhängiger Stimmengewichte hat dagegen die Machtverhältnisse im EZB-Rat längst zugunsten der Überzahl der (aktuellen und potenziellen) Krisenländer verschoben, für die das Überleben der Eurozone in der bestehenden Form, d.h. mit Hilfe von Transfermechanismen der Geldpolitik, ökonomisch vorteilhaft ist.34 Eine demokratischere Stimmengewichtung beinhaltet im Übrigen auch keinen Angriff auf die politische Unabhängigkeit der EZB. Dies zeigt schon das Beispiel anderer supranationaler Organisationen wie IWF oder Weltbank. Gleiche Stimmengewichte für alle Ratsmitglieder mit dem Argument politischer Unabhängigkeit zu verteidigen, ist auch eine Form der Augenwischerei.

  • 1 Unter „Vollzuteilungspolitik“ versteht man die unbegrenzte Bereitstellung von Zentralbankgeld (über das Mengentenderverfahren) als Teil des 2008 aufgelegten „enhanced credit support programs“.
  • 2 Vgl. hierzu H.-W. Sinn: Die Target-Falle, München 2012.
  • 3 Vgl. hierzu H.-W. Sinn: Verantwortung der Staaten und Notenbanken in der Eurokrise, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 7, S. 452.
  • 4 Eine gute Darstellung des Wesens von Targetsalden und der mit ihnen verbundenen Haftungsrisiken findet sich in S. Homburg: Anmerkungen zum Target2-Streit, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 8, S. 526 ff.
  • 5 Vgl. O. Berg, K. Carstensen: Funktionswandel der EZB?, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 2, S. 80.
  • 6 Sinn geht davon aus, dass dieser Anteil bis auf 43% ansteigen kann, da der relative Anteil Deutschlands mit dem Ausscheiden einzelner oder aller GIIPSZ-Länder aus der Eurozone zunimmt. Vgl. H.-W. Sinn: Die Target-Falle ..., a.a.O., S. 204 f.
  • 7 J. Boysen-Hofgrefe: Target2-Positionen nähern sich (vorerst) wieder an, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 4, S. 272-274.
  • 8 Einen guten Überblick über die kontroversen Absichten zu dieser Target2-Problematik bietet ein Artikel von Georg Quaas. G. Quaas: Ein kritisches Resümee des Target2-Problems, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 12, S. 834-842.
  • 9 Um das EWS 1 zu retten, mussten die Bandbreiten dieses Fixkurssystems 1993 von +/-2,25% auf +/-15% erweitert werden, was letztlich einer weitgehenden Aufgabe fixer Wechselkurse gleichkam.
  • 10 Eine Zusammenstellung dieser Kriterien enthält z.B. das Lehrbuch von R. Baldwin, C. Wyplosz: The Economics of European Integration, 4. Aufl., 2012, S. 401 ff.
  • 11 P. Kenen: The Theory of Optimum Currency Areas: An Eclectic View, in: R. Mundell, A. Swoboda (Hrsg.): Monetary Problems of the International Economy, Chicago, London 1969, S. 41-59.
  • 12 R. McKinnon: Optimum Currency Areas, in: The American Economic Review, 53. Jg. (1963), S. 717-724.
  • 13 R. Mundell: A Theory of Optimum Currency Areas, in: The American Economic Review, 51. Jg. (1961), Nr. 4, S. 657-665.
  • 14 V. Monastiriotis: A Very Greek Crisis, in: Intereconomics, 48. Jg. (2013), H. 1, S. 4 ff.
  • 15 J. Jager, K. Hafner: The Optimum Currency Area Theory and the EMU, in: Intereconomics, 48. Jg. (2013), H. 5, S. 319.
  • 16 R. Baldwin, C. Wyplosz, a.a.O., S. 415.
  • 17 G. Horn: Die EZB als Gläubigerin der letzten Instanz, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 2, S. 83.
  • 18 A. Belke, C. Dreger: Current Account Imbalances in the Euro Area: Catching Up or Competitiveness, Ruhr Economic Papers, Nr. 241, 2011, S. 4 ff.; H.-W. Sinn: Die Target-Falle ..., a.a.O., S. 64 ff.
  • 19 A. Belke, C. Dreger, a.a.O., S. 15 f.
  • 20 Goldman Sachs Global Economics: European Economics Analyst, 15.3.2012, Nr. 1, zitiert aus: H.-W. Sinn: Die Target-Falle, a.a.O., S. 110.
  • 21 Zum Wandel der EZB-Geldpolitik von einer geldmengenbasierten Inflationssteuerung zu einer Finanzmarkt-Stabilisierungsfunktion vgl. auch G. Schnabl: Der finanzmarktdominierte Funktionswandel in der globalen und europäischen Geldpolitik, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 2, S. 89 ff.
  • 22 H.-W. Sinn: Verantwortung der Staaten und Notenbanken in der Eurokrise, in: ifo Schnelldienst, 12.6.2013, S. 5 f.; H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser: Targetkredite, Leistungsbilanzsalden und Kapitalverkehr: Der Rettungsschirm der EZB, in: ifo Schnelldienst, Sonderausgabe, Juni 2011, S. 10.
  • 23 W. Kohler: Zahlungsbilanzkrisen im Eurosystem: Griechenland in der Rolle des Reservewährungslandes, in: ifo Schnelldienst, Nr. 16/2011, S. 19.
  • 24 Vgl. hierzu auch H.-W. Sinn: Die Targetfalle ..., a.a.O., S. 252.
  • 25 T. Niechoj, U. Stein, S. Stefan, R. Zwiener: German Labor Cost: A source of instability in the euro area, IMK report, Nr. 68, Dezember 2011, S. 11; H.-W. Sinn: Die Target-Falle ..., a.a.O., S. 111 f.
  • 26 OECD: Better Regulation in Europe: Greece 2012, OECD 2012.
  • 27 H.-W. Sinn: Die Target-Falle..., a.a.O., S. 376 ff.
  • 28 Eine Analyse der durch die unmittelbare Abwertung einer neu einzuführenden griechischen Währung entstehenden Kosten und ihrer Verteilung findet sich in S. Xouridas: Ein differenzierter Blick auf einen Euro-Austritt Griechenlands, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 6, S. 379 ff.
  • 29 H.-W. Sinn: Die Target-Falle ..., a.a.O., S. 379.
  • 30 Vgl. hierzu auch A. Winkler: EZB-Krisenpolitik: OMT-Programm, Vollzuteilungspolitik und Lender of Last Resort, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 10, S. 679 f.
  • 31 D. Snower et al.: Kieler Krisenkompass: ein Gesamtpaket zur Überwindung der Krise im Euroraum, Kiel Policy Brief, Nr. 58, Jan. 2013, S. 6 f.; H. Reimers: Europäischer Zinslastenausgleich – eine sinnvolle Alternative zu EZB-Anleihekäufen, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 2, S. 120 ff.
  • 32 C. C. von Weizsäcker: Grenzen des Konzepts einer unabhängigen Zentralbank, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 2, S. 94.
  • 33 M. J. Lamla, J.-E. Sturm: Die EZB und ihre politische Unabhängigkeit, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 2, S. 88.
  • 34 Vgl. hierzu auch G. Schnabl, a.a.O., S. 90.

Title:Target Balances: Much More Than Just Liability Risk

Abstract:The Target2 balances of the ESCB have become a focus of scholarly discussion. Triggered by a loss of international competitiveness and subsequent current account deficits in the EMU’s periphery states, they now constitute a default risk for the core states. But there is more to it: balance of payment disequilibria in a currency union are supposed to trigger money supply flows from surplus countries to deficit countries. Since they form the basis for readjustments in relative prices and competitiveness, they must not be neutralised by monetary policy. The ECB’s Target2 balances create precisely this neutralisation and thus undermine the self-adjusting mechanism of the EMU.


DOI: 10.1007/s10273-014-1638-1

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