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Der Wettbewerb im deutschen Gesundheitswesen ist – vor allem zwischen den Leistungserbringern – trotz diverser Reformen nicht sehr ausgeprägt. Inzwischen gibt es zwar die Möglichkeit, individuelle Verträge zwischen einzelnen Anbietern und den Krankenkassen abzuschließen, dies wird aber kaum genutzt. Die Ausweitung dieser sogenannten Integrierten Versorgung hätte erhebliches Wettbewerbspotenzial. Die Autoren schlagen deshalb vor, mehr Entscheidungskompetenzen über die Zahlungsströme im Gesundheitswesen an die Versicherten zu übertragen, um so deren Abhängigkeit von der gesetzlichen Krankenversicherung im Bereich der Integrierten Versorgung zu lockern.

Die zurückliegenden Reformen zur Förderung des Wettbewerbs auf dem Gesundheitsmarkt verfolgen zwei Ziele: die Effizienzsteigerung in der Versorgung vor dem Hintergrund wachsender Gesundheitsausgaben und eine stärkere Fokussierung auf die Präferenzen der Versicherten. Der Idee des „consumer-driven health care“ folgend soll der Wettbewerb zwischen den Versicherern auch auf die Leistungserbringer durchschlagen. Dies zwingt die Versicherer – so die Theorie – als „kluge Einkäufer“ von Gesundheitsleistungen im Sinne der Versicherten zu handeln.

Bislang standen die gesetzlich geschützten Kartelle auf Seiten der Leistungserbringer (Kassenärztliche Vereinigungen) und der Versicherungen (Landes- und Spitzenverbände) den Marktöffnungen im Wege. Um überhaupt erste Voraussetzungen für einen Wettbewerb der Leistungserbringer zu schaffen, wurden die weitgehend undurchlässigen Kollektivverträge zwischen Ärzteschaft und Kassen um die Möglichkeit ergänzt, individuelle Verträge zwischen einzelnen Leistungserbringern und gesetzlichen Krankenversicherern (GKV) zu schließen (Selektivverträge).1 Dies trifft insbesondere auf die Integrierte Versorgung (IV) nach § 140a SGB V zu einem deutschen Pendant zu dem aus den USA bekannten „Managed-Care-Ansatz“. Ärzte, Kliniken, pharmazeutische Unternehmen und weitere gesetzlich zugelassene Leistungserbringer können einzeln oder unter dem Dach einer Managementgesellschaft die Konditionen der Versorgung von Patientengruppen (z.B. regional oder diagnostisch abgegrenzt) mit einer Krankenkasse frei aushandeln. Die Evaluation existierender IV-Verträge zeigt, dass Einsparungen und/oder Qualitätssteigerungen gegenüber der Regelversorgung durch die Verzahnung verschiedener Leistungsbereiche (Versorgungsinnovationen) oder die Erarbeitung von Leitlinien zumindest möglich sind.2

Bisher fristet die Selektivversorgung jedoch ein Schattendasein, sodass nur ca. 1% der Gesamtausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung auf IV-Verträge entfallen.3 Aus Sicht der Krankenkassen gibt es vielfältige Probleme, die das geringe Ausmaß der Verbreitung erklären können. Hierzu zählen zu hohe Kosten des Vertragsschlusses, zu wenige Versicherte pro Vertrag, die sich einschreiben, und Anreize der Leistungserbringer, zu viele Leistungen abzurechnen (Moral Hazard). Strukturell kommen strenge vergaberechtliche Anforderungen an die Selektivversorgung sowie das bislang ungelöste Problem der Budgetbereinigung hinzu. Zudem kann das Kooperationsrecht der bisherigen Vertragspartner den Status quo uneingeschränkt auf die IV übertragen.

Gleichzeitig haben die Versicherten bisher nur wenig Souveränität in Bezug auf die IV entwickeln können. Denn vielfach dominiert die Empfehlung des Arztes oder der Versicherung die Entscheidung der Versicherten für oder wider eine IV-Einschreibung.4 Schließlich leiden die Management­gesellschaften darunter, dass bislang nur die GKV direkt auf die Zahlungsströme des Gesundheitsfonds zugreifen kann. Damit besitzt die GKV de facto ein Vetorecht gegenüber der IV, sodass die Initiative für eine IV den Management­gesellschaften damit oft schon aus finanziellen Gründen verwehrt bleibt.5 Daraus resultiert eine typische Monopolsituation: ein zu geringes und zu teures Angebot an IV.6

Fraglich ist daher, ob das Versagen des Marktes so gelöst werden kann, dass sich ein funktionierender Wettbewerb beider Systeme einstellt. Hierzu räumt unser Vorschlag den Versicherten ein Wahlrecht über „ihre“ Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds ein. Die Versicherten können dann direkt darüber entscheiden, ob der ihnen zugeordnete Zahlungsstrom aus dem Gesundheitsfonds in eine GKV ihrer Wahl oder in die integrierte (Voll-)Versorgung fließt.7 Es wird diskutiert, was der Vorschlag für einen „fairen“ Systemwettbewerb zwischen GKV und IV bedeutet und aufgezeigt, dass sich die Managementgesellschaften dabei zu gleichberechtigten Vollversorgern ähnlich einer Health Maintenance Organization (HMO) entwickeln können.8

Musterschüler Schweiz und Vorbild Niederlande?

Die Einführung selektivvertraglicher Strukturen zur Steigerung des Wettbewerbs in einem zuvor kollektivvertraglich geprägten System stellt im internationalen Vergleich kein Unikum des deutschen Gesundheitswesens dar. Insbesondere den Reformen in der Schweiz (mit einem IV-Anteil von ca. 20%) und in den Niederlanden wird eine Vorbildfunktion in der aktuellen Diskussion um die Neuausrichtung der deutschen Krankenversicherung zugeschrieben.9

Sowohl die Schweiz (1996) als auch die Niederlande (2006) haben mit einer Versicherungspflicht bei gleichzeitig freier Wahl des (privaten) Versicherers die zuvor eingeschränkte Freizügigkeit im System gesetzlicher und privater Kassen abgelöst. Der Wettbewerb zwischen Versicherern soll dazu beitragen, die Versicherteninteressen über selektive Verträge sowie Ansätze zur Integration von Versicherern und Leistungserbringern auf dem Gesundheitsmarkt durchzusetzen. Die Schweiz setzt dabei auf Kopfpauschalen, die für alle Mitglieder einer Versicherung regional einheitlich sind. Die Niederlande hingegen haben sich für eine Kombination aus (niedrigen) Kopfpauschalen und einkommensabhängigen Prämien entschieden.10 In beiden Ländern besteht ein Kontrahierungszwang zugunsten der Versicherten. Freiwillige Aufstockungen der gesetzlich festgeschriebenen Basisversicherung sind jeweils möglich. Der Risikostrukturausgleich ist in der Schweiz (Alter, Geschlecht, Klinikaufenthalte) sehr viel gröber gefasst als in den Niederlanden (wo er ähnlich wie in Deutschland strukturiert ist), so dass für die Versicherer in der Schweiz stärkere Anreize zur Risikoselektion bestehen. Diese Tendenzen zur Auswahl „guter“ Risiken werden als ein wesentlicher Grund für die Attraktivität von IV-Strukturen in der Schweiz (im Vergleich zu Deutschland oder den Niederlanden) diskutiert.11 Der Anteil junger und verhältnismäßig gesunder Versicherter unter den Wechslern in einen IV-Vertrag ist überdurchschnittlich hoch, offenbar besteht eine Selbstselektion in die IV.12

Der in der Schweiz stark eingeschränkte Risikostrukturausgleich gibt den Versicherern genügend finanziellen Spielraum, um IV-Verträge über Prämienzahlungen für junge/gesunde Versicherte attraktiv zu gestalten.13 Dabei verbirgt sich hinter dem hohen IV-Anteil in der Schweiz insbesondere ein großer Ärztenetz-Anteil. Dessen Beitrag zur IV besteht weniger in Behandlungsinnovationen als vielmehr darin, die freie Wahl des Leistungserbringers einzuschränken.14 Demnach liegt der Fokus auf einem Kostenwettbewerb und nicht auf einem Qualitätswettbewerb. Dies wird jedoch insbesondere von gesunden Versicherten nicht unbedingt als ein Mangel empfunden. Im Vergleich dazu scheint die IV in Deutschland mit einem hohen Anteil indikationsspezifischer IV-Verträge ihr Geld eher in der direkten Versorgung denn in der Risikoselektion verdienen zu müssen.15

Junge und gesunde Versicherte profitieren von den Risiko­selektionsanreizen der Versicherer besonders stark, deshalb lohnt sich für diese Gruppe die IV in der Schweiz mehr als in Deutschland. Die reduzierten Prämien eines IV-Vertrages können die Präferenzen dieser Versichertengruppe direkt widerspiegeln. Es gibt damit in der Schweiz zwar kein explizites Wahlrecht zwischen IV und Regelversorgung, doch kann von einem impliziten Verfügungsrecht gesprochen werden, das von finanziellen Anreizen bedient wird. Erleichternd für den Abschluss von IV-Verträgen in der Schweiz kommt hinzu, dass die vertikale Integration von Leistungserbringern und Versicherern (anders als in Deutschland) zugelassen wird. Dies vereinfacht für die Versicherer den Durchgriff auf die Versorgung und damit auch das Zustandekommen von IV-Verträgen.

In den Niederlanden gibt es bereits in der Regelversorgung weitreichende Möglichkeiten für Selektivverträge, d.h. es muss nicht erst ein IV-Vertrag abgeschlossen werden, um mit dem Leistungserbringer individuelle Vereinbarungen zu treffen.16 Zwar haben viele Versicherte die Gesundheitsreform 2006 zu einem Wechsel der Gesellschaft genutzt und sind damit Preissignalen gefolgt. Der Durchgriff der Versicherer auf die Leistungserbringer über Selektivverträge im Sinne einer Preferred Provider Organization (PPO) oder HMO blieb jedoch mengenmäßig hinter den Erwartungen zurück.17

Neben der Tatsache, dass der IV-Markt in den Niederlanden noch am Anfang steht, sind insbesondere drei Gründe für die Zurückhaltung der Versicherer und Leistungserbringer in Bezug auf Selektivverträge diskutiert worden.

  1. Konzentrationstendenzen haben sowohl bei Versicherern als auch bei Leistungserbringern bereits in den Jahren vor der Reform zu einer oligopolistischen Verhandlungssituation geführt.18
  2. Der staatliche Einfluss reicht auch nach der Reform so weit, dass z.B. Budgets für Krankenhäuser oder Preise für ambulante Leistungen verbindlich festgeschrieben werden. Der (finanzielle) Spielraum der Versicherer ist zu gering, um Versicherte für die eingeschränkte Wahlfreiheit der Leistungserbringer, z.B. im Rahmen einer PPO, zu entschädigen.
  3. Die freie Wahl der Leistungserbringer erfährt in den Niederlanden traditionell eine hohe Wertschätzung, sodass im Sinne einer „IV-light“ viele Ärztenetze fremde Leistungserbringer nicht vollständig ausschließen, sondern lediglich mit einer (geringen) Gebühr belegen.19

Zusammenfassend erscheint die Versichertensouveränität im niederländischen Gesundheitswesen in Bezug auf die freie Wahl des Versicherers hoch. Sie ist jedoch hinsichtlich der Wahl der Versorgungsform eingeschränkt, da Präferenzen für niedrige Prämien in Kombination mit Einschränkungen bei der Wahl der Leistungserbringer schon aufgrund regulatorischer Bestimmungen nicht am Markt realisiert werden können.

Gesundheitsmarkt und Systemwettbewerb

In Deutschland gelten für die GKV einheitliche Beitragssätze, getrennt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die daraus folgenden Beiträge werden direkt in den Gesundheitsfonds abgeführt, ergänzt um Zuführungen aus dem Bundeshaushalt. Jede Krankenkasse hat die Möglichkeit, Zuzahlungen zu erheben sowie Rückerstattungen vorzunehmen, sodass sich kassenspezifische Nettoprämien ergeben.20 Der Gesundheitsfonds entrichtet je Versichertem einen monatlichen Zahlbetrag an die Mitgliedskrankenkasse. Der Zahlbetrag kann als Grundpauschale entsprechend der durchschnittlichen GKV-Ausgaben pro Kopf, korrigiert um individuelle Zu- und Abschläge nach Alter, Geschlecht und dem Bestehen einer Erwerbsminderungsrente, gezahlt werden. Alternativ kann die Zahlung im Rahmen eines sogenannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs an die Kassen fließen. Hierbei werden Patienten nach entsprechender Diagnose des Leistungserbringers, Krankenhausaufenthalten bzw. der längerfristigen Einnahme einschlägiger Medikamente 80 Erkrankungen zugeordnet und die Zahlungen entsprechend beziffert. Im Prinzip werden somit die Krankenkassen von ex ante vorhersehbaren patientenspezifischen Unterschieden bezüglich der Leistungsausgaben entlastet, nur zufällig hohe Behandlungskosten schlagen auf die Kasse durch. Somit führt die heutige Regelung dazu, dass jede GKV von dem Risiko geringer Beitragseinnahmen ihrer Mitglieder sowie ex ante vom Risiko hoher Leistungsausgaben entlastet werden, nur noch Unterschiede in den Verwaltungsausgaben bestimmen den wirtschaftlichen Erfolg jeder GKV.

Die Spitzenverbände der Krankenkassen sowie die Verbände der Leistungserbringer (korporatistische Steuerung) schließen einheitliche Verträge mit allen Kassen, allen (zugelassenen) Ärzten und Krankenhäusern ab, nach denen medizinische Leistungen entgolten werden. Im Einzelnen handeln die Kollektivvertragspartner der Kassenärztlichen Vereinigungen bzw. der Verbände der Kranken- und Ersatzkrankenkassen für die ambulante vertragsärztliche Versorgung den sogenannten Bundesmanteltarifvertrag bzw. die morbiditätsorientierte Vergütung auf Landesebene aus.21 Hierbei wird zunächst ein in Geldeinheiten bemessener, länderspezifischer Jahresbehandlungsbedarf im Einklang mit den zu erwartenden Einnahmen vereinbart.

Der auf Bundesebene ausgehandelte bzw. final vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossene „Einheitliche Bewertungsmaßstab“ (EBM) legt fest, welche Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden bzw. welchen relativen Wert die einzelnen Leistungen zueinander aufweisen. Für die EBM-Kennziffern werden Orientierungswerte festgelegt, die sich an den Budgets aus den Jahresbehandlungsbedarfen ausrichten. Auf Länderebene werden die zu erwartenden Behandlungsleistungsmengen prognostiziert und mit den EBM-Kennziffern multipliziert, sodass sich daraus das sogenannte Regelleistungsvolumen ergibt. Durch Festlegung des regionalen Punktwertes und Multiplikation mit dem länderspezifischen Regelleistungsvolumen ergibt sich die morbiditätsorientierte Gesamtvergütung des jeweiligen Bundeslandes. Darauf zurückgreifend wird ein jährliches arzt- bzw. praxisbezogenes Budget festgelegt, das sich aus dem Produkt individuelles Regelleistungsvolumen (orientiert an den Mengen der Vorjahre) und Euro pro Punkt ergibt. Dieses arzt- bzw. praxisbezogene Volumen wird wiederum aus dem arztgruppenspezifischen Fallwert (Allgemeinmediziner, Internist, etc.) multipliziert mit der Fallzahl ermittelt. Da über die Fallzahl eine starke Mengenkomponente für die Honorierung des einzelnen Arztes maßgeblich würde, werden Behandlungen älterer Patienten stärker gewichtet. Ferner werden Fälle, die über das 1,5-fache der durchschnittlichen Fallzahl hinausgehen, mit einem geringeren Wert in die Honorierung einbezogen; noch weniger „Wert“ sind Behandlungsfälle, die über dem 1,5-fachen Durchschnittswert liegen („Abstaffellung“). Für pharmazeutische Erzeugnisse in der ambulanten Versorgung gelten Festbetrags- und Selbstbeteiligungsregeln sowie jährliche Budgetgrenzen.

Ein zaghafter Wettbewerb existiert bereits im Bereich der selektiven, ambulanten Versorgung. Beispielsweise können die in der GKV zugelassenen Leistungserbringer Modellvorhaben zur Verbesserung der Qualität oder Wirtschaftlichkeit vereinbaren. Falls mindestens die Hälfte der Hausärzte des jeweiligen Bezirks mitmachen, können die GKV mit Patienten, die sich auf ihren Hausarzt als ersten Ansprechpartner verpflichten, hausarztzentriete Versorgungsverträge abschließen. Wird eine integrierte, d.h. sektorübergreifende Versorgung sichergestellt, können „traditionelle“ Leistungserbringer, aber auch Managementgesellschaften, also privatwirtschaftliche Unternehmen außerhalb des bisherigen Erbringerspektrums, als Anbieter auftreten.

Für die stationäre Versorgung legen die Bundesländer in landesweiten Krankenhausplänen fest, welche Krankenhäuser als Behandlungsinstanz der GKV in Frage kommen. Bundesländerspezifische Fallpauschalen stellen im Prinzip Festpreise je Behandlungsfall dar, wobei bei Unterschreiten von vorgeschriebenen Mindestliegezeiten Abschläge greifen. Je Krankenhaus gibt es jedoch jährlich ex ante festgelegte „Umsatzgrößen“; höhere Umsätze werden nur teilweise entgolten, geringere nur teilweise an das Krankenhaus durchgereicht.

Die Krankenkassen zahlen im Voraus an die Kassenärztliche Vereinigung der Region des Versicherten eine morbiditätsorientierte Gesamtvergütung, womit die Gesamtkosten für die ambulante Versorgung abgegolten werden; die tatsächliche Leistungserbringung spielt für die Gesamtvergütung keine Rolle. Werden durch einen Selektivvertrag, den die Krankenkasse mit den Leistungserbringern abschließt, einzelne Versicherte ganz oder teilweise aus der ambulanten Kollektivversorgung herausgenommen, fallen bei der Krankenkasse für die Honorierung des Selektivvertrages zusätzliche Kosten an. Folglich bedarf es einer Kosten(rück)erstattung der Kassenärztlichen Vereinigung an die selektivvertraglich tätige Kran­kenkasse, um eine „Doppelzahlung“ zu vermeiden; der Kollektivvertrag muss um die „selektiv“ versorgten Patienten „bereinigt“ werden.22

Das Bereinigungsproblem

Für 2004 bis 2008 spielte das Bereinigungsproblem faktisch keine Rolle, da jede Krankenkasse maximal 1% aus ihrem Kollektivbudget entnehmen konnte, um darüber Selektivversorgungsverträge finanziell „anzuschieben“. Nach dem Auslaufen der Anschubfinanzierung zu Beginn 2009 gilt der Grundsatz, dass der Krankenkasse die ersparten Aufwendungen im Kollektivvertrag erstattet werden sollen (Opportunitätskosten). Grundsätzlich wird die Bereinigung einerseits auf der Ebene der morbiditätsorientierten Gesamtvergütung und andererseits auf der Arztebene vorgenommen. Um die Komplexität des Bereinigungsverfahrens zu verdeutlichen, reicht eine nähere Beschreibung des Verfahren aus, bei dem sich Patienten aufgrund eines bestimmten Tatbestandes (Krankheit, Regionszugehörigkeit) ex ante in den Selektivvertrag einschreiben; die Regelung für situative Einschreibungen, also in Momenten des akuten Behandlungserfordernisses, findet sich im Gutachten des Sachverständigenrats Gesundheit.23

Für die Bereinigung der morbiditätsorientierten Gesamtvergütung wird je einzuschreibendem Patienten ermittelt, wie hoch der 2008 angefallene versorgungsauftragsspezifische Leistungsbedarf war. Der historisch ermittelte Betrag ergibt sich aus dem Leistungsbedarf der abgerechneten EBM-Ziffern, die nun nicht mehr im Rahmen des Kollektivversorgungsvertrages erbracht werden, multipliziert mit dem regionalen Punktwert. Bei der Verteilung der ambulanten morbiditätsorientierten Gesamtvergütung muss es auf der Arztebene zu einer Bereinigung kommen, da der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Im Falle der Ex-ante-Einschreibung des Patienten wird geprüft, wie viele Patienten im Vorjahresquartal bei dem jeweiligen Arzt abgerechnet und nun von ihm im Selektivversorgungsvertrag behandelt werden. Durch eine entsprechende Kürzung der Fallzahl vermindert sich das arztbezogene Regelleistungsvolumen. Nimmt der Arzt hingegen nicht an der Selektivversorgung teil, bleibt seine Fallzahl konstant. Stattdessen werden die Fallwerte für alle Ärzte in der Region begrenzt gekürzt und darüber hinausgehende Einbußen gehen allein zu Lasten der im Selektivvertrag teilnehmenden Ärzte. Ziel dieser Regelung ist es, Erstattungsverluste bei nicht am Selektivvertrag teilnehmenden Ärzten zu begrenzen. Im Falle einer situativen Einschreibung wird beim Arzt, der am Selektivvertrag teilnimmt, entsprechend seines ehemaligen Anteils an den Leistungen, die im Selektivvertrag kontrahiert werden, das Regelleistungsvolumen gekürzt.

Das existierende Bereinigungsverfahren ist mit vielfältigen Problemen behaftet. Vergleichsweise einfach wird die Berechnung der entfallenden EBM-Ziffern bei Hausärzten, da diese in der Vergangenheit danach abgerechnet haben. Wurden jedoch auch Leistungen anderer Arztgruppen abgerechnet, wird die Rechtslage unklar. Indikationsbezogene Verträge, wie sie in der IV üblich sind, knüpfen gerade nicht an die EBM-Ziffern an. Schwerwiegend ist, dass viele Patienten, die sich heute in Selektivverträge für bestimmte Krankheiten einschreiben, nicht zwingend zum Stichjahr 2008 bereits erkrankt waren bzw. nicht in so großem Umfang wie heute Leistungen in Anspruch genommen haben. Die Selektivversorger „kaufen sich schlechte Risiken ein“. Abschließend sei auf die Problematik der arztspezifischen Bereinigung verwiesen, wonach heute nicht am Selektivvertrag teilnehmende Ärzte (teilweise) vor Einnahmeeinbußen geschützt werden, obwohl sie in geringerem Maße Behandlungsleistungen erbringen.

Vorschläge für mehr Wettbewerb

In der Literatur werden zwei alternative Bereinigungsverfahren diskutiert.24 Außerdem gibt es den Vorschlag zu einem fairen Systemwettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, in dem beide Versicherungstypen individuelle Zuweisungsbeträge des Gesundheitsfonds erhalten.

  • Der Vorschlag der direkten morbiditätsorientierten Vergütung stellt eine Verbindung zwischen verschiedenen Krankheiten, die diagnose- bzw. medikamentenverordnungsbedingt abgegrenzt werden, und den durchschnittlichen Kosten her, die die Leistungserbringer für diese Krankheiten ausweisen. Solche je Krankheit ermittelten Durchschnittskosten dürfen dann die Krankenkassen von der morbiditätsorientierten Gesamtvergütung abziehen, falls diese Krankheiten im Rahmen eines Selektivvertrages behandelt werden. Zu diesem Zweck liegen verschiedene Berechnungen vor, die mehr oder weniger detailliert ca. 200 Krankheiten und deren Durchschnittskosten unterscheiden. Im Vergleich zum bisherigen System würden immer aktuelle Kostenberechnungsgrößen für den aktuellen Krankheitszustand des Patienten als Erstattungsgrößen herangezogen. Das Problem des Einbeziehens schlechter Risiken entfiele. Nachteilig könnte sein, dass damit für die Krankenkassen Anreize bestehen, Patientenbefunde in Richtung teurerer Krankheiten ausstellen zu lassen (Up coding), um dann diese in die eigene selektivvertragliche Versorgungsstruktur zu integrieren. Insbesondere solche Leistungserbringer, die in besonderer Weise von einer Krankenkasse abhängen, könnten diesen Fehlanreizen unterliegen.
  • Bei dem Vorschlag der internen Bereinigung zwischen den Vertragspartnern des Selektivvertrages bleibt die kollektivvertragliche morbiditätsorientierte Gesamtvergütung bzw. die arzt- oder praxis-, regelleistungsvolumenbezogene Honorierung aus der Kassenärztlichen Vereinigung voll erhalten. Allerdings können die abrechnenden Ärzte mit den Krankenkassen im Rahmen der Selektivversorgung völlig andere Abrechnungsmodalitäten vereinbaren. Die Entgelte der Kassenärztlichen Vereinigung können teilweise beim Arzt verbleiben, bürokratische Hindernisse des etablierten Verfahrens werden hinfällig (nur aktuelle Leistungen, schlanke Abwicklung etc.). Wichtigster Nachteil dürfte jedoch sein, dass die Ärzte dieser Regelung zustimmen müssen und damit in eine sehr starke Verhandlungsposition geraten. Für die Krankenkassen besteht daher die Gefahr, dass die (monetären) Vorteile der Selektivversorgung alleine bei den Ärzten anfallen.
  • Kifmann und Nell machen einen institutionellen Reformvorschlag zu einem fairen Systemwettbewerb zwischen privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen.25 Grundidee ist dabei, dass alle Bürger, unabhängig von der Art ihrer Mitgliedschaft, eine einkommensabhängige Prämie gemäß dem gesetzlichen Beitragssatz zahlen, der an den Gesundheitsfonds abgeführt wird (vgl. Abbildung 1). Die GKV erhalten – wie bisher – durch die Festlegung von Zusatzbeiträgen und Rückerstattungen eine individuelle Nettoprämie. Die privaten Krankenversicherungen legen ihre Prämie risikogerecht fest, wobei sie in ihrer Kalkulation berücksichtigen, dass sie ebenfalls für ihre Versicherten entsprechend derem aktuellen Gesundheitszustand Kostenerstattungen erhalten. Kosten werden nach dem gleichen Prinzip auch den GKV analog zum bisherigen Rechtszustand erstattet. Weiterhin soll ein Teil des Gesundheitsfonds dem Aufbau eines individuellen oder kollektiven Kapitalstocks zugeführt werden, damit zukünftige Generationen nicht durch Kostensteigerungen aufgrund des demografischen Wandels belastet werden. Die risikogerechten Zahlungen des Gesundheitsfonds sollen einerseits unter Berücksichtigung der Kostendaten der Privatversicherten fortgeschrieben werden und andererseits risikodifferenzierter als bisher berechnet werden, um die bereits jetzt erkennbaren Gruppenunterschiede richtig abzubilden.
Abbildung 1
Fairer Systemwettbewerb
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Quelle: M. Kifmann, M. Nell: Fairer Systemwettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung, HCHE Research Paper. Nr. 2013/01 (2013).

Verfügungsrechtlicher Vorschlag

Wir schlagen ein Verfahren vor, in dem jeder Versicherte das Recht erhält zu entscheiden, wem seine individuelle, aktuelle Erstattung aus dem Gesundheitsfonds zufließen soll (vgl. Abbildung 2). Empfänger können wie bisher die gesetzlichen Krankenkassen, aber auch neu Kassenärztliche Vereinigungen, Vereinigungen von Leistungserbringern, integrierte Versorger (HMO, Managementgesellschaften, etc.), „Einkäufer“ diverser medizinischer Leistungen etc. sein. Entscheidend ist, dass die Empfänger das komplette Leistungsversprechen der gesetzlichen Krankenversicherung zuverlässig abdecken, also stationäre und ambulante Versorgung, pharmazeutische Leistungen, Krankengeld etc. vorhalten.

Abbildung 2
Das Verfügungsrecht als Entscheidung über die Zahlungsströme aus dem Gesundheitsfonds
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Nur ein Teilangebot bei der ambulanten Versorgung würde erneut das Problem der rechnerischen Aufspaltung zwischen „kollektiver“ und „selektiver“ Leistung analog zum Bereinigungsproblem heraufbeschwören. Um „Teilleistungszugänge“ zu ermöglichen, müssen alle Akteure Zugang zu staatlich definierten Leistungen haben, d.h. zur stationären Behandlung nach Fallpauschalen und den vielfältigen Preisregelungen im Pharmabereich. Leitgedanke dieses verfügungsrechtlichen Vorschlags ist, dass die Versicherten darüber entscheiden sollen, ob sie in die Kollektiv- oder in die Selektivversorgung gehen wollen. Versicherer, Leistungserbringer oder weitere Institutionen müssen dann die Versicherten von den Vorteilen ihres „Preis-/Leistungspakets“ überzeugen.

Da im Gesundheitsfonds Zahlungen unabhängig von der Beitragspflicht einzelner Personen vorgenommen werden und unserem Vorschlag folgend genau über diese Zahlungen verfügt werden soll, muss auch jede Person unabhängig vom versicherungsrechtlichen Status wechseln können. Dieses Wechselrecht ist insofern weitergehend als das Wechselrecht des Versicherten in der GKV. Ein solcher Wettbewerb um die verfügungsrechtliche „Stimme“ des Versicherten würde das Gesundheitssystem radikal vom Kopf auf die Füße stellen.

Ökonomische Analyse

Die ökonomische Analyse des Reformvorschlags erfolgt in einem stark vereinfachten Modellrahmen. Dazu wird ein Markt betrachtet, der den Austausch von IV-geeigneten Versicherten zwischen GKV und Managementgesellschaft(en) beschreibt (IV-Markt), vgl. Abbildung 3a.26

In der Abbildung 3 spiegelt die fallende Nachfragekurve die Annahme wider, dass Managementgesellschaften eine positive erwartete IV-Rente für (IV-geeignete) Versicherte erzielen können und daher ein Versorgungsinteresse haben.27 Diese IV-Rente entspricht der Differenz aus den risikobereinigten Zuweisungen des Gesundheitsfonds sowie den Behandlungskosten in einem IV-Vertrag.28 Die Annahme einer positiven IV-Rente ist zwar vor dem Hintergrund der bestehenden Evaluationen von IV-Verträgen diskutabel, bleibt aber die entscheidende ökonomische Bedingung für den Erfolg von Selektivverträgen.29

Abbildung 3
GKV-Monopol und Konkurrenzlösung (Verfügungsrecht) auf dem Markt der Integrierten Versorgung
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Das zentrale ökonomische Merkmal des Status quo besteht im Monopol der GKV auf die Zahlungsströme im Gesundheitswesen. Die GKV fungiert damit auf dem IV-Markt als alleiniger Anbieter von potenziellen IV-Patienten für die Managementgesellschaften. Die GKV sieht sich also der monopoltypisch fallenden Grenzerlöskurve auf dem IV-Markt gegenüber. Die Modellierung der Grenzkosten der GKV ist für die Aussage des Modells unkritisch, so dass die Grenzkosten in der Abbildung 3 als Konstante c erfasst werden. Diese Konstante kann ohne Einschränkung auch null sein und spiegelt z.B. die entgangene Rente der GKV auf dem Versicherungsmarkt bei Abwanderung eines Versicherten in die IV wider.

Auf dem in Abbildung 3a dargestellten IV-Markt werden Preis und Menge für die Übernahme von Versicherten aus der GKV durch die Managementgesellschaften (IV) bestimmt. Die Tatsache, dass die Versicherten selbst keine Akteure am IV-Markt sind und keine Mitsprache hinsichtlich der Versorgungsform besitzen, bildet dabei den eingangs beschriebenen Mangel an Versichertensouveränität ab. Die Abbildung 3 verdeutlicht, dass auf dem IV-Markt ohne Verfügungsrecht eine (wohlfahrtsökonomisch) zu geringe Menge an IV-Verträgen zu einem zu hohen Preis (größer c) realisiert wird.30 Wir gehen dabei davon aus, dass die Managementgesellschaften als „kleine“ Anbieter sich nicht kollektiv organisieren und keine Marktmacht besitzen. Sie erzielen die Rente A in ihrer Funktion als Nachfrager auf dem IV-Markt.31 Ohne dass die GKV selbst ein Angebot an IV bereitstellen kann, verdient sie durch ihre Monopolstellung eine Rente B.

Welche Implikationen hätte das vorgeschlagene Verfügungsrecht für den so modellierten IV-Markt? Zunächst kann die Monopolstellung der GKV durch das Verfügungsrecht aufgelöst werden. Die Versicherten können frei über den Empfänger der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds entscheiden und werden dadurch zu Marktteilnehmern. Im Unterschied zur Situation in Abbildung 3a wird das Angebot (wechselbereiter Versicherter in die IV) in Abbildung 3b nicht mehr von der GKV, sondern direkt von den Versicherten bereitgestellt. Die nun vorhandene Angebotsfunktion in konstanter Höhe c reflektiert den „Marktwert“ der Versicherten für die GKV.32 Ein marginaler Anreiz ε (hier dargestellt als Aufschlag auf die Angebotsfunktion) bewegt die Versicherten zum Wechsel in die IV, sofern die Versorgungsqualität wie angenommen unverändert bleibt. Die Managementgesellschaft kann auf dem IV-Markt durch das Verfügungsrecht schließlich die wohlfahrtsmaximale Rente D realisieren.

Ist damit aber gezeigt, dass unser Reformvorschlag effizient ist und die IV-Rente D vollständig den Managementgesellschaften zufließt? Sicherlich nicht, denn wenn die Akteure im Sinne der Coase-Lösung realisieren, dass die Rente D unter den gegebenen Umständen den „größtmöglichen Kuchen“ darstellt, beschreibt der Übergang von Abbildung 3a zu 3b kein spieltheoretisches Gleichgewicht, sondern eine eigene (übergeordnete) Spielsituation: Warum sollte die GKV in Abbildung 3b dem Verlust der Rente B kampflos zusehen? Sie könnte einen Teil der Rente B als Bleibe-Anreiz für die Versicherten einsetzen und so deren mit dem Verfügungsrecht verbundene Wahlentscheidung beeinflussen. Die Management­gesellschaften würden jedoch darauf reagieren und versuchen, die Versicherten mit einem neuen (höheren) Anreiz an sich zu binden. Dieser hier nicht zu entscheidende Kampf des Ex-Monopolisten gegen die neuen Marktteilnehmer kann jedoch auch in einer gemeinsamen Koalition „gegen die Versicherten“ enden, in der sich beide Spieler über die Aufteilung der Rente D einigen und keine Anreize an die Versicherten geleistet werden müssten: Der Schulterschluss von GKV und Managementgesellschaften höhlt das Verfügungsrecht aus.33 Zum Glück für die Versicherten liegt mit dieser Koalition jedoch spieltheoretisch noch immer nicht zwingend eine Lösung vor. Denn wäre die Koalition stabil, wenn die Versicherten einem der Partner einen „attraktiven“ Preis für ihre Wahlentscheidung nennen? Der eingangs erwähnte Kampf zwischen GKV und Managementgesellschaften würde aufs Neue beginnen, der Kreis schließt sich.

Der Schlüssel zur Auflösung dieser scheinbar ausweglosen Argumentationskette liegt in der speziellen „3-Spieler-3-Kuchen-Situation“ begründet. Um sich ein Stück vom IV-Kuchen D zu sichern, ist mit dem Verfügungsrecht nicht die Kooperation aller drei beteiligten Spieler, also GKV, Manage­mentgesellschaften und Versicherte, notwendig. Es genügt, dass sich jeweils zwei der drei Spieler einigen: Entweder die Managementgesellschaften mit den Versicherten wie in Abbildung 3b oder die GKV einigt sich mit den Versicherten auf einen Bleibe-Anreiz. Schließlich könnten auch die GKV und die Managementgesellschaften kooperieren und die Versicherten bezüglich der IV-Rente leer ausgehen lassen.

Ein mögliches Gleichgewichtskonzept für die Spielsituation wird durch die 3-Spieler-Nash-Lösung beschrieben.34 Die Lösung spezifiziert zwar eine gleichgewichtige „konsistente“ Aufteilung der Rente zwischen jeweils zwei Spielern. Ohne weitere Annahmen über die Spielsituation bleibt allerdings offen, welcher der drei Spieler im Ergebnis leer ausgeht. Dieses Wissen ist für die ökonomische Bewertung des Reformvorschlags jedoch nicht entscheidend. Es geht wohlfahrts­ökonomisch (wohl aber politisch) weniger um die konkrete Aufteilung der Rente D als vielmehr um die Auflösung des Monopols aus Abbildung 3a und die damit verbundene Vergrößerung der Rente durch Mengenausweitung und Preisreduktion.35

Fazit

Viele Vorschläge zur „Rettung“ der IV in Deutschland konzentrieren sich auf die hohen Transaktionskosten eines IV-Vertrages im bestehenden System, insbesondere die Budgetbereinigung sowie das Vertragsmanagement. Unser Vorschlag greift nicht nur die Symptome erfolgloser IV-Versuche auf, sondern analysiert die Rolle des vergessenen Spielers „Patient“ im Kontext der IV. Ein Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt sollte Ausdruck der Patientensouveränität sein. Der Reformvorschlag denkt damit die Idee des Gesundheitsfonds zu Ende und zielt direkt auf einen Wettbewerb der Versorgungssysteme. Die IV wird im Sinne einer HMO damit gleichwertig neben der GKV (und der PKV) positioniert.36

Die modellhafte Darstellung des deutschen IV-Marktes erlaubt es, die faktische Zugangskontrolle der GKV zum IV-Markt kritisch hervorzuheben. Ein Vergleich mit der Schweiz oder den Niederlanden betont dabei die Tragweite dieser Form des Gatekeepings, da in Deutschland schon allein der Wettbewerb auf dem Versicherungsmarkt durch Eintrittsbarrieren und Einheitspreise nur schwach ausgeprägt ist. Als Monopolist auf den Zahlungsstrom aus dem Gesundheitsfonds verfolgt die GKV Eigeninteressen, die ein (zu) geringes Angebot an IV zu hohen Preisen nach sich ziehen.

Unser Reformvorschlag kann dieses Monopol aufbrechen. Gleichzeitig können sich die Patienten als souveräne Entscheider über ihre Versorgungsform einen Anteil der IV-Rente, d.h. des bislang ungenutzten Effizienzpotenzials der IV, sichern. Die spieltheoretische Analyse zeigt jedoch, dass eine vertikale Integration von Versicherern und Leistungserbringern diese monetäre „Patientenrente“ gefährden kann ein bei der Ausgestaltung des Verfügungsrechtes zu berücksichtigender kritischer Aspekt. Die modellhaft reduzierte ökonomische Diskussion unseres Vorschlags wirft folgende Fragen der praktischen Umsetzung auf:

  • Sind die Versicherten dazu in der Lage, verschiedene Versorgungskonzepte gegeneinander abzuwägen und sich dann für das für sie günstigste Angebot zu entscheiden? Sicherlich handelt es sich bei einem neuen Versorgungskonzept um ein Erfahrungs-, wenn nicht sogar um ein Vertrauensgut. Auch kommt der Implementierung geeigneter Qualitätsindikatoren, die Versorgungskonzepte überhaupt erst vergleichbar machen, eine Schlüsselrolle zu. Darüber hinaus müssen die Versicherten die Möglichkeit haben, relativ leicht zwischen den Versorgungskonzepten zu wechseln, um Fehlentscheidungen zu korrigieren.
  • Sobald finanzielle Anreize ausschlaggebend für die Wahl des Versorgers werden, muss diskutiert werden, ob die Versicherten wirklich autonome Entscheidungen treffen. Dies gilt insbesondere für sozial benachteiligte Personen. Denn das Beispiel der Schweiz zeigt, dass eine IV nicht nur – wie in Deutschland bislang üblich – für ältere und gegebenenfalls kranke Versicherte attraktiv sein kann, sondern auch für gesunde Versicherte finanzielle Anreize bietet.37
  • Im Falle der Insolvenz eines Versorgers muss die Versorgung gewährleistet bleiben. Verlorene Gesundheitsfondszahlungen könnten über eine nachträgliche Umlage aller Versorgungsanbieter refinanziert werden. Um Fehlanreize für die Versicherten zu vermeiden, insbesondere das Insolvenzrisiko außer Acht zu lassen, sollte der Versicherte einen Selbstbehalt tragen.

Politisch gewinnt unser Vorschlag dadurch an Relevanz, dass er sich konsequent in die Diskussion über „consumer-driven health care“ einreiht. Durch die Stärkung der Verhandlungsmacht der Versicherten wird die bisher zugunsten medizinischer Interessengruppen bestehende Schlagseite des Systems behoben. Denn selbst wenn es nicht gelingen sollte, die bestehenden Strukturen innerhalb der Regelversorgung aufzubrechen, erleichtert der verfügungsrechtliche Vorschlag das Entstehen eines „parallelen“ von den Versichertenpräferenzen geleiteten Versorgungssystems.38

Schließlich soll noch darauf hingewiesen werden, dass der Erfolg des Konzeptes IV in Deutschland auch in einem fairen Wettbewerb keinesfalls garantiert ist. Denn die Rechnung vieler IV-Fürsprecher wurde bislang allzu oft ohne die Versicherten aufgemacht. Auch bei freier Wahl und vollständiger Information müssen sich die Versicherten gegen eine IV entscheiden dürfen, wenn die Präferenzen der Versicherten im Vordergrund stehen sollen. In den Niederlanden wird diese Erfahrung gerade gemacht. Viele Versicherte präferieren die freie Wahl der Leistungserbringer, die Rolle der Versicherung als Sachwalter wird skeptisch beurteilt.39 Auch einige Evidenz aus den USA spricht unter dem Stichwort „managed care backlash“ für diese These.40 In Deutschland fehlt (noch) das Wahlrecht – ein Verfügungsrecht – der Versicherten, um diese Frage zuverlässig beantworten zu können.


Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Management-Modelle in der Integrierten Versorgung“, das als Kompetenztandem aus dem Leuphana EU-Innovationsinkubator gefördert wird.

  • 1 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung, Sondergutachten 2012, Bern 2012, Tz. 387; vgl. Monopolkommission: Mehr Wettbewerb, wenig Ausnahmen, Hauptgutachten 2008/2009, Baden-Baden 2010, Tz. 1125.
  • 2 Vgl. S. Braun, W. Greiner: Gesundheitsökonomische Evaluation der Integrierten Versorgung OPTI-MuM, in: Das Gesundheitswesen, 72. Jg. (2010), S. 71-77; vgl. H. Hildebrandt, T. Schulte, B. Stunder: Triple Aim in Kinzigtal, Germany: Improving population health, integrating health care and reducing costs of care – lessons for the UK?, in: Journal of Integrated Care, 20. Jg. (2012), H. 4, S. 205-222.
  • 3 Vgl. Sachverständigenrat, a.a.O, Tz. 439.
  • 4 Dies gilt umso mehr, als es sich in Deutschland mehrheitlich um indikationsspezifische IV-Verträge mit tendenziell älteren/morbiden Versicherten handelt.
  • 5 Schon der Gesetzestext räumt den Kassen explizit die Initiative für eine IV ein, vgl. § 140 a SGB V.
  • 6 In Deutschland werden auch in der IV nur marginale Rabatte auf Versicherungsprämien gewährt, vgl. D. Göpffarth, K.-D. Henke: The German Central Health Fund – Recent developments in health care financing in Germany, in: Health Policy, 109. Jg. (2013), H. 3, S. 246-252.
  • 7 Oder, ob der Zahlungsstrom gegebenenfalls in eine private Krankenversicherung (PKV) fließt, vgl. M. Kifmann, M. Nell: Fairer Systemwettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung, HCHE Research Paper. Nr. 2013/01 (2013).
  • 8 Im Unterschied zu den in den USA verbreiteten HMOs, die auch einen Großteil der Versicherungsfunktion übernehmen, ist in Deutschland durch den Gesundheitsfonds eine weitreichende Risikobereinigung gegeben.
  • 9 Vgl. P. Berchtold: Gegenwart und Zukunft der Integrierten Versorgung in der Schweiz, in: Public Health Forum, 78. Jg. (2013), S. 17.e.1-17.e.3; vgl. S. Leiber, S. Gress, M.-S. Manouguian: Health care system change and the cross-border transfer of ideas: influence of the Dutch model on the 2007 German health reform, in: Journal of health politics, policy and law, 35. Jg. (2010), H. 4, S. 539-568.
  • 10 Vgl. K. Okma, L. Crivelli: Swiss and Dutch „consumer-driven health care“: ideal model or reality?, in: Health Policy, 109. Jg. (2013), H. 2, S. 105-112; vgl. S. Thomson, R. Busse, L. Crivelli, W. van de Ven, C. Van de Voorde: Statutory health insurance competition in Europe: a four-country comparison, in: Health Policy, 109. Jg. (2013), H. 3, S. 209-225.
  • 11 Vgl. H.-J. Lehmann, P. Zweifel: Innovation and Risk Selection in Deregulated Social Health Insurance, in: Journal of Health Economics, 23. Jg. (2004), H. 12, S. 997-1012.
  • 12 Vgl. K. Okma, L. Crivelli, a.a.O.
  • 13 Dies gilt auch gegenüber den Leistungserbringern, denn ähnlich wie in Deutschland gibt es nach wie vor den kollektivvertraglichen Tarif „Tarmed“, der als Untergrenze für selektive Vergütungen gelten dürfte.
  • 14 Vgl. P. Berchtold, a.a.O.
  • 15 Vgl. Sachverständigenrat, a.a.O.
  • 16 Kollektive Verhandlungen sind seit der Gesundheitsreform 2006 nicht mehr vorgesehen.
  • 17 Vgl. W. van de Wen, F. Schut: Managed competition in the Netherlands: still work-in-progress, in: Health Economics, 18. Jg. (2009), S. 253-255.
  • 18 Vgl. K. Okma, L. Crivelli, a.a.O.
  • 19 Vgl. L. Boonen Lieke, F. Schut: Preferred providers and the credible commitment problem in health insurance: first experiences with the implementation of managed competition in the Dutch health care system, in: Health Economics, Policy and Law, 6. Jg. (2011), S. 219-235.
  • 20 Vgl. H. Pressel: Der Gesundheitsfonds: Entstehung − Einführung − Weiterentwicklung − Folgen, Wiesbaden 2008.
  • 21 Vgl. Monopolkommission, a.a.O., Tzn. 1086-1097.
  • 22 Vgl. Sachverständigenrat, a.a.O., Tzn. 408-422.
  • 23 Vgl. ebenda, Tz. 410.
  • 24 Vgl. ebenda, Tzn. 423-428.
  • 25 M. Kifmann, M. Nell, a.a.O.
  • 26 Partielle Analyse: Der Markt für Versicherte, die ungeeignet für die IV sind, wird ausgeblendet. Die IV-geeigneten Versicherten werden vereinfachend als homogen modelliert.
  • 27 Die Nachfragekurve fällt z.B. aufgrund steigender Grenzkosten der Versorgung in einem „relevanten“ Bereich. Den Größenvorteilen stehen die Erfordernisse regionaler Nähe oder aus Patientensicht präferierte Maximalgrößen für Ärztenetze gegenüber.
  • 28 Die Annahme einer positiven Rente macht deutlich, dass unser Modell eine mittelfristige Analyse und kein langfristiges Konkurrenzgleichgewicht beschreibt.
  • 29 Damit konzentriert sich unsere Analyse auf den Kosten- und nicht auf den Qualitätswettbewerb zwischen IV und Regelversorgung.
  • 30 Die Rolle der GKV als Monopsonist auf dem Markt für medizinische Leistungen, der hier ausgeblendet bleibt, kann diesen Wohlfahrtsverlust noch vergrößern, vgl. M. V. Pauly: Market power, monopsony, and health insurance markets, in: Journal of Health Economics, 7. Jg. (1988), S. 111-128.
  • 31 Diese begrenzten Gewinnaussichten der Managementgesellschaften können als ein möglicher Erklärungsansatz für die geringe Investitionsbereitschaft auf dem IV-Markt diskutiert werden.
  • 32 D.h. die GKV würde einen potenziellen Versicherten jederzeit zum Preis c aufnehmen.
  • 33 Hier ist die (in Deutschland restriktive) gesetzliche Regelung zur vertikalen Integration von GKV mit Managementgesellschaften entscheidend.
  • 34 Vgl. K. G. Binmore: Bargaining and Coalitions, in: A. E. Roth (Hrsg.): Game-Theoretic Models of Bargaining, Cambridge 1985, S. 269-304.
  • 35 Man stelle sich die politische Diskussion um die Einführung eines Verfügungsrechts für Versicherte vor, wenn bekannt wird, dass die Versicherten „leer“ ausgehen könnten.
  • 36 Ähnlich argumentiert M. Ueberle: Krankenversicherungssysteme im Vergleich, Stuttgart 2003.
  • 37 Es bleibt zu fragen, ob ein weitreichender Risikostrukturausgleich den Erfolg von IV in der Schweiz schmälern würde.
  • 38 Vgl. auch die Argumentation in M. Ueberle, a.a.O.
  • 39 Vgl. L. Boonen, F. Schut, a.a.O.
  • 40 Vgl. G. Claxton et al.: Health benefits in 2008: premiums moderately higher, while enrollment in consumer-directed plans rises in small firms, in: Health Affairs, 27. Jg. (2008), H. 6, S. 492-502; vgl. N. H. Miller: Insurer-provider integration, credible commitment, and managed-care backlash, in: Journal of Health Economics, 25. Jg. (2006), H. 5, S. 861-876.

Title:The Competetive Potential of Managed Care

Abstract:The German health care market suffers of a lack of competition. This is the resolution of a long period of collective negotiations between a provider monopoly and statutory health insurance funds. To correct this market failure, the sector has undergone a series of reforms such as the initiation of managed care programmes. Even after more than ten years of managed care, however, such contracts continue to play a minor role in German health care. We identify an insufficient level of patient authority as a key reason for the failure of managed care. As an approach to solving this problem, we discuss a possible change to the legal framework that would give patients full control over payment flows in health care. We investigate the possible economic impact of this scenario.

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DOI: 10.1007/s10273-014-1655-0