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Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2014 über die Verfassungsmäßigkeit des Europäischen Stabilitätsmechanismus entschieden. Diese wurde grundsätzlich bejaht. Bereits im Vorwege der Urteilsverkündung hat der Senat die Verfahrensgegenstände, die sich auf den OMT-Beschluss beziehen, abgetrennt, und dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Autor meldet sowohl juristische als auch ökonomische Zweifel an.

Die Systemschwächen des Euro sowie die Aktivitäten zur Krisenbewältigung haben nicht nur Spuren in der politischen Programmatik und der Parteienlandschaft Deutsch­lands hinterlassen, sondern waren und sind noch Gegenstand verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen (vgl. Tabelle 1). Einige wichtige Streitverfahren wurden mit dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18.3.2014 (2 BvR 1390/12) entschieden. Das Karlsruher Gericht bleibt dabei teilweise in der Kontinuität seiner „Ja, aber“-Entscheidungen, die die Vereinbarkeit der Rettungspolitik mit dem Grundgesetz grundsätzlich bejaht, diese jedoch an die Einhaltung bestimmter Maßgaben knüpft. Hinsichtlich des Outright-Monetary-Transactions-Programms (OMT-Programm) der EZB enthält das Urteil juristische und ökonomische Widersprüche.

Verfahrensgegenstände und Rechtsmittel

Die gesamte Palette des Euro-Krisenmanagements wurde Gegenstand des Gerichtsverfahrens: die Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der Fiskalpakt sowie die nationalen Zustimmungs- und Begleitgesetze, das Zustimmungsgesetz zu Art. 136 Abs. 3 AEUV,1 das Target2-System2 sowie das sogenannte Sixpack3.

Die dagegen eingesetzten Rechtsmittel waren das Organstreitverfahren (angestrengt durch die Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag) sowie die Verfassungsbeschwerde, der sich – angeführt von namhaften Euro-Skeptikern wie z.B. MdB Peter Gauweiler sowie dem Verein „Mehr Demokratie“ um Ex-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin – mit 37 000 Bürgern so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik angeschlossen hatten.3

Bereits mit dem Urteil vom 12.9.2012 (2 BvR 1390/12) hatte der Zweite Senat eine einstweilige Anordnung gegen die Ratifizierung des ESM-Vertrages und die Ausfertigung der innerstaatlichen Zustimmungs- und Begleitgesetze unter zwei Maßgaben abgelehnt: Es musste sichergestellt werden, dass sämtliche deutschen Zahlungsverpflichtungen aus dem ESM-Vertrag auf den Anteil der Bundesrepublik am genehmigten Stammkapital in Höhe von 190 Mrd. Euro4 beschränkt bleiben. Die Regeln zur Unverletzlichkeit der Unterlagen des ESM sowie die berufliche Schweigepflicht aller für den ESM tätigen Personen durften einer Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates nicht entgegenstehen. Diese Inhalte waren dann Gegenstand einer Auslegungserklärung5 der ESM-Mitglieder vom 27.9.2012 sowie einer ähnlich lautenden einseitigen Erklärung der Bundesrepublik Deutschland, die am 26.9.2012 vom Bundeskabinett gebilligt wurde.6 Damit war nach Auffassung des Gerichts die Gefahr einer unbegrenzten Zahlungspflicht in völkerrechtlich verbindlicher Weise ausgeschlossen worden.

Tabelle 1
Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit Bezug zum Euro
Datum Gegenstand Urteilstenor
12.10.1993 Maastricht-Vertrag (Maastricht-Urteil) EU als Staatenverbund (einschl. Wirtschafts- und Währungsunion) verfassungsgemäß, weitere Integrationsschritte nur bei demokratisch legitimierten Vertragsänderungen
31.3.1998 Euro-Einführung Deutsche Teilnahme an der dritten Stufe der Währungsunion ist grundgesetzkonform
30.6.2009 Lissabon-Vertrag (Lissabon-Urteil) Ausbau der EU zum Bundesstaat ist trotz „europafreundlichem“ Grundgesetz nicht mit diesem vereinbar, Gericht beansprucht „Ultra vires“-Kontrolle europäischer Rechtsakte
7.9.2011 Griechenland-Hilfe und Rettungsschirm EFSF Rettungsaktivitäten innerhalb ökonomischer Belastungsgrenzen zulässig, wenn demokratisch legitimiert
28.2.2012 Übertragung von EFSF-Entscheidungen auf neunköpfiges Sondergremium des Bundestages Nur bei Notkauf von Staatsanleihen zulässig (Vertraulichkeit), ansonsten zwingende Beteiligung des gesamten Bundestages, zumindest des Haushaltsausschusses
19.6.2012 Unterrichtung des Bundestages über ESM und Euro-Plus-Pakt Bundesregierung muss Bundestag in Euro-Angelegenheiten noch früher informieren, ansonsten verfassungswidrige Einschränkung von Gestaltungsmöglichkeiten
12.9.2012 Rettungsschirm ESM, OMT-Programm der EZB (Vorläufiges Verfahren) ESM unter Maßgaben zulässig, kein Beschluss zu EZB
18.3.2014 ESM/EZB (Hauptsacheverfahren) ESM nach Erfüllung der Maßgaben zulässig, OMT-Programm der EZB nur bei grundgesetzkonformer Auslegung durch EuGH (Überweisung dorthin)

Quelle: eigene Darstellung.

Urteilstenor und Leitsätze

Angesichts der vorangegangenen Eilentscheidung war absehbar, dass Karlsruhe auch im Endurteil grünes Licht geben würde. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Entscheidungsgründe sowie den abgetrennten Teil des Verfahrens. Bis auf zwei Zustimmungsgesetze (nämlich zu Art. 136 Abs. 3 AEUV sowie zur Einrichtung des ESM) hielt das höchste deutsche Gericht die Klagen gegen alle anderen Rechtsakte sogar für unzulässig. Karlsruhe verneint bei diesen Beschwerden das Vorliegen einer rügefähigen Grundrechtsposition, die die Kläger auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG7 stützten, das sogenannte materielle Gehalt des Wahlrechts. Nach Auffassung der Beschwerdeführer sei die demokratische Selbstregierung des Volkes dauerhaft derart eingeschränkt, dass zentrale politische Entscheidungen nicht mehr selbständig getroffen werden könnten (Rz 125). Eine solche Entleerung des Wahlrechts hält Karlsruhe jedoch nur für gegeben, wenn eine parlamentarische Repräsentation des politischen Willens der Bürger rechtlich oder praktisch unmöglich wäre. Aus Art. 38 GG leitet sich nach Auffassung des Gerichts jedenfalls kein „Anspruch auf Demokratie“ ab, sondern lediglich ein Schutz demokratischer Grundsätze, die der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG8 unterliegen. Eine diesbezügliche Aushöhlung erschloss sich den Richtern nach dem Beschwerdevortrag nicht. Der zulässige Teil der Klagen wurde als unbegründet zurückgewiesen. Trotz der durch ESM und Fiskalvertrag eingegangenen Verpflichtungen bleibe die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages hinreichend gewahrt. Das Budgetrecht stelle ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar, das auch im Rahmen intergouvernementaler Systeme zu beachten sei. Dies mache Blankoermächtigungen in Form von Bürgschafts- oder Leistungsautomatismen unzulässig. Insoweit fügt sich der Richterspruch konsequent in die Rechtsprechung zu Integrationsverantwortung und Integrationsschranken in der Tradition des Maastricht- und Lissabon-Urteils ein.

Allerdings wird dem Gesetzgeber auferlegt, dass der Legitimationszusammenhang zwischen dem ESM und dem Parlament nicht unterbrochen werden darf. Im Hinblick auf den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) ergeben sich daraus zwei Anforderungen. Zum einen soll die gegenwärtige „Sperrminorität“ der Bundesrepublik mit ihrem Kapital- und Stimmrechtsanteil von 25,72% (Januar 2014) – die wichtigsten Entscheidungen verlangen mindestens 80% der abgegebenen Stimmen (Art. 4 Abs. 5 ESMV) – auch im Falle eines Beitritts neuer Mitglieder erhalten werden. Dies wird durch die erforderliche Einstimmigkeit bei ESM-Beitritten gewährleistet.9 Zum anderen muss eine Aussetzung der Stimmrechte Deutschlands ausgeschlossen werden, die für den Fall droht, dass ein Kapitalabruf nicht fristgerecht und vollständig erfüllt wird (Art. 4 Abs. 8 ESMV).

Da die bei Kapitalabrufen zu wahrende Zahlungsfrist im dringlichsten Fall lediglich sieben Tage beträgt (Art. 9 Abs. 3 S. 4 ESMV), stellt dies ebenso hohe Anforderungen an die Prognosegüte des Haushaltsplans wie an das Liquiditätsmanagement des Bundes. Hinsichtlich des ersten Punktes gibt Karlsruhe zu bedenken, dass weder das Notbewilligungsrecht der Exekutive nach Art. 112 GG10 noch die Aufstellung eines Nachtragshaushalts – trotz seiner verfahrensrechtlichen Vereinfachungen nach Art. 110 Abs. 3 GG11 – in jedem Fall geeignet sind, eine vollständige und fristgerechte Begleichung der deutschen Zahlungsverpflichtungen zu gewährleisten (Rz 207).

Wirklich entscheidungstragend werden diese Bedenken allerdings nicht, da der Haushaltsplan nach den Grundsätzen der Vollständigkeit, Wahrheit, Klarheit und Genauigkeit ohnehin immer mit größtmöglicher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit aufzustellen ist und die Richter überdies den Prognosen des Haushaltsgesetzgebers glauben, wonach sich die deutschen Verpflichtungen auf das anfänglich eingezahlte Stammkapital beschränken werden (Art. 8 Abs. 2 S. 2 ESMV). Ebenso vertrauen die Verfassungshüter auf die Leistungsfähigkeit der Finanzagentur Deutschland GmbH, im Rahmen der gesetzlich bewilligten Haushaltsmittel jederzeit fristgerechte Einzahlungen zu leisten.

Die Charakterisierung des ESM insgesamt gelingt Karlsruhe nicht ganz widerspruchsfrei. Einerseits hält es seine Einrichtung zwar für eine „grundlegende Umgestaltung“ der Wirtschafts- und Währungsunion durch die zunehmende Lösung vom Prinzip der Eigenständigkeit nationaler Haushalte, andererseits handle es sich ersichtlich um eine „Ausnahmevorschrift“, mit der die Stabilitätsorientierung jedoch nicht aufgegeben werde (Rz 180). An dieser Stelle wird der Unterschied zur Rechtsauffassung des EuGH deutlich, wonach Art. 136 Abs. 3 AEUV lediglich eine Bestätigung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten mit bloß klarstellender Funktion und ohne konstitutive Bedeutung sei.12 Da das höchste deutsche Gericht jedoch den Einschätzungsspielraum des inländischen Gesetzgebers respektiert und im ESM-Vertrag keine unauflösbare Bindung sieht, bleiben die unterschiedlichen Interpretationen von Karlsruhe und Luxemburg in diesem Punkt ohne rechtliche Folgen. Spannend bleibt, inwieweit dies auch für den abgetrennten Verfahrensteil gilt, der die Rettungsaktivitäten der Europäischen Zentralbank ebenfalls auf den Prüfstand deutscher wie europäischer Normen stellt.

OMT und die Folgen

Der Beschluss der Europäischen Zentralbank vom 6.9.2012 zu OMT sieht vor, dass das Zentralbanksystem Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe ankaufen kann, wenn und solange diese an einem mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vereinbarten Reformprogramm teilnehmen. Erklärtes Ziel des Beschlusses, der bislang nicht umgesetzt wurde, ist die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen geldpolitischen Transmission und der Einheitlichkeit der Geldpolitik. Flankiert durch eine simple Zusicherung ihres Präsidenten Mario Draghi („It will be enough“)13 wurde die Eurokrise ökonomisch überwiegend durch die unbegrenzte Interventionsbereitschaft der EZB zwar nicht gelöst, aber zumindest in Schach gehalten.

Die Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerden sowie die Antragstellerin des Organstreitverfahrens halten dieses Programm rechtlich aus verschiedenen Gründen für eine eigenmächtige Kompetenzanmaßung, die sich außerhalb des geldpolitischen Mandats der EZB bewegt und gegen das europäische Primärrecht verstößt. In diesem Fall läge ein sogenannter Ultra-Vires-Akt vor, der nach seiner Feststellung vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbare Handlungs- und Unterlassungspflichten deutscher Staatsorgane auslösen würde. So dürfte z.B. die Deutsche Bundesbank an der Umsetzung des Beschlusses nicht mitwirken.

Sachlich wird dem OMT-Beschluss die Verletzung der Grenze zwischen erlaubter Währungs- und unerlaubter Wirtschaftspolitik vorgeworfen, die in ihren möglichen Umverteilungswirkungen weder vertraglich vorgesehen noch demokratisch legitimiert bzw. kontrolliert ist.14 Ebenso kann man darin einen Verstoß gegen das explizite Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung15 sehen, die wiederum die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages – bereits ein tragendes Element des ESM-Urteils – beeinträchtigen würde. Als einzige „Rettungsmöglichkeit“ sehen sechs der acht Richter des Zweiten Senats eine primärrechtskonforme Auslegung des OMT-Beschlusses durch den zuständigen EuGH und geben auch gleich Hinweise in die ihrer Meinung nach „richtige“ Richtung. So müsste wohl ein Schuldenschnitt ausgeschlossen werden, die Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten dürften nicht in unbegrenzter Höhe angekauft sowie Eingriffe in die Preisbildung am Markt weitestgehend vermieden werden.16

Ökonomische Zweifel

An dieser Stelle wird das Spannungsfeld zwischen juristischer und ökonomischer Argumentation besonders offensichtlich. Denn genau die geforderte rechtliche Begrenzung (z.B. in Form eines vorab genannten Schwellenwertes) würde zur Spekulation gegen diese Grenze geradezu einladen und den gewünschten Erfolg ins Gegenteil verkehren.17 Ein Abschreckungseffekt gegenüber Spekulanten stellt sich dann nicht mehr ein und die EZB als Feuerwehr hätte zur Brandbekämpfung bildlich gesprochen nur noch Wasserpistolen zur Verfügung.

Das Gericht verkennt dabei den Ausnahmecharakter des OMT-Programms und übersieht die bereits vorhandene dreifache Sicherung. Die Stabilität des Euro muss gefährdet, die Geldpolitik beeinträchtigt sein und der Staat, dessen bereits am Markt gehandelte Anleihen von der EZB gekauft werden, muss am ESM-Anpassungsprogramm teilnehmen.18 Seltsamerweise sieht Karlsruhe den selektiven Kauf von Staatsanleihen nur einzelner Länder als Indiz für eine nicht innerhalb des EZB-Mandats liegende wirtschaftspolitische Maßnahme, denn eine zwischen einzelnen Mitgliedstaaten differenzierende Vorgehensweise sei der Geldpolitik grundsätzlich fremd. Um im Bild der EZB als Krisenfeuerwehr zu bleiben, heißt das: nur wenn die ganze Eurozone geflutet wird, ist es erlaubte Geldpolitik. Allerdings ist dies weder effizient noch entspricht es der Tradition eines Verfassungsgerichtes, das in anderen Zusammenhängen Differenzierung und Konditionalität immer wieder einfordert.

Wenn es – wie die Lehman-Insolvenz deutlich zeigt – gelingt, Gefahren für das Ganze durch punktuelle Eingriffe zu begegnen, dann entspricht dies nicht nur der ökonomischen Effizienz, sondern auch der rechtlichen Verhältnismäßigkeit. Der Vorwurf, die EZB verteile dadurch Risiken um und verzerre die Preisbildung für Staatsanleihen am Markt, überschätzt die Leistungsfähigkeit von Märkten und unterschätzt die Aufgaben und Mechanismen der Geldpolitik. Ohne die hysterischen Überreaktionen der Märkte auf die unbestreitbar vorhandenen Soliditätsdefizite von Banken und Staaten hätte es die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise sowie viele ihrer Vorgänger nicht gegeben.

Normalerweise lässt die EZB den Marktmechanismen breiten Raum und akzeptiert Renditedifferenzen bei Staatsanleihen als Spiegelbild unterschiedlicher Risiko-, Qualitäts- und Liquiditätsunterschiede: solide Staaten erhalten günstigen Kredit, weniger solide werden „bestraft“, ihre Finanzierungskosten nicht subventioniert. In seltenen Fällen irrationaler Massenpanik jedoch vermitteln die Renditeaufschläge kein realistisches Risikobild mehr, sondern nur noch Angst und Spekulation. Dann geht es darum, einen als Risikoindikator funktionierenden Markt erst wieder herzustellen, was natürlich nur mit entschlossenen Eingriffen funktioniert. Das Wesen der Geldpolitik besteht gerade darin – klassischerweise allerdings durch Zinsfestlegungen und Liquiditätsmaßnahmen – die Risikoverteilung anzupassen und damit die Renditeabstände zwischen Staatsanleihen zu beeinflussen. Ohne diesen Einfluss könnte die EZB die Preisstabilität als ihr originäres Mandat gar nicht gewährleisten.

Mit dem Begriff der „Umverteilung“ beschwört Karlsruhe im Hinblick auf die Gefährdung des Euro das unzutreffende Bild eines konstanten Risikopotenzials als Nullsummenspiel: die Sünder werden unverdientermaßen entlastet, die Retter belastet. In Wirklichkeit ist die Eurozone eine geldpolitische Haftungsgemeinschaft: das Gesamtrisiko ihres Scheiterns ist variabel, die Teilrisiken bewegen sich für alle Beteiligten in dieselbe Richtung. Diese Solidarität muss weder moralisch noch europäisch fundiert werden, sie ist eine ökonomische Tatsache.

Die empirischen Belege dafür sind eindeutig: Geschäftsklima und Konjunktur in der Eurozone haben sich seit dem EZB-Beschluss im September 2012 kontinuierlich verbessert. Währenddessen ist die Bilanzsumme der EZB um 912 Mrd. auf 2190 Mrd. Euro (Stand 31.3.2014) zurückgegangen und damit einhergehend auch der deutsche Haftungsanteil am Gesamtrisiko.19 Der Rückgang des Gesamtrisikos übersteigt den theoretischen Höchst­umfang des OMT-Programms im Übrigen um fast den doppelten Betrag, d.h., selbst wenn die EZB entgegen allen Erwartungen im Rahmen ihres OMT-Programms alle Anleihen aus Italien, Spanien, Portugal und Irland mit einer Restlaufzeit von ein bis drei Jahren jetzt tatsächlich und vollständig im Volumen von ca. 474 Mrd. Euro kaufen würde, läge der Entlastungseffekt von September 2012 bis März 2014 bei immer noch mehr als 400 Mrd. Euro. Dabei wurde das Hauptziel der Preisniveaustabilität nicht aus den Augen verloren: eine durchschnittliche Inflationsrate von 1,5% im Jahr seit 1999 hält jedem Vergleich mit den durchschnittlich 2,9% unter der Regentschaft der Deutschen Bundesbank stand.20 Die von der Mehrheit der Richter vertretene geldpolitische Theorie wird also gerade dort, wo sie empirisch überprüfbar ist – nämlich bei der Zielgröße der Geldpolitik – seit Jahren widerlegt.21

Rechtliche Zweifel

Die Verweisung an den EuGH ist überdies keine „Abgabe zuständigkeitshalber“ und schon gar keine Selbstbescheidung der roten Roben, sondern kann auch ohne bösen Willen als Anmaßung im Mantel scheinbarer Europa-Freundlichkeit interpretiert werden. Denn eine mögliche Auslegung des Urteils ist: wenn Luxemburg keine Rechtsprechung nach Karlsruher Gusto liefert, ist der OMT-Beschluss als Ultra-Vires-Akt verfassungswidrig.

Erhellend sind hier die Minderheitsvoten der abweichenden Richterin Lübbe-Wolff sowie des Richters Gerhardt, die – ganz in der Logik des eben behandelten ESM-Urteils – die Anträge der Kläger für unzulässig halten. Wurde im ESM-Verfahren Art. 38 Abs. 1 GG so restriktiv interpretiert, dass sich daraus noch nicht einmal ein allgemeiner „Demokratieanspruch“ herleiten lasse, wird er im OMT-Verfahren sogar zu einem „Gesetzesvollziehungsanspruch“ verdichtet. Diese Konstruktion würde jedem Wahlberechtigten ein subjektives Recht auf Tätigwerden von Verfassungsorganen einräumen. Im ESM-Verfahren wurde der politische Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum akzeptiert, der dem OMT-Beschluss von der Mehrheitsmeinung des Zweiten Senats nicht in diesem Umfang zugestanden wird. Dies liefe darauf hinaus, den Bundestag hinsichtlich OMT auf eine bestimmte politische Reaktion festzulegen – sei es Missbilligung, Klageandrohung oder einfach abwarten. Diese Lesart ist aber weder durch den Verfassungstext noch durch die Rechtsprechungstradition gedeckt und würde die grundgesetzlichen Rahmenbedingungen parlamentarischer Arbeit sprengen. Karlsruhe hat also auf die behauptete Anmaßung der EZB mit einer eigenen Anmaßung reagiert, die den traditionellen Rahmen richterlicher Selbstbeschränkung verlässt und die Frage aufwirft, welches demokratische Leitbild den höchsten Richtern eigentlich vorschwebt.

Welche Szenarien sind nun denkbar? Das Gericht hat sich zu weit aus dem Fenster gelehnt, um eine denkbare Billigung des OMT-Programms durch den EuGH ohne weitere Restriktionen einfach hinzunehmen. Der Bundesbank die Beteiligung am Programm zu verbieten, bliebe durch das wahrscheinliche Einspringen anderer Notenbanken vermutlich wirkungslos. Dem Bundestag die Zustimmung zu ESM-Hilfsprogrammen zu untersagen, würde auch den parlamentarisch und verfassungsgerichtlich legitimierten Teil der Euro-Rettungspolitik blockieren. Eine solche Verfassungskrise ist nur durch Kompromisse zu lösen. Gesucht wird dann eine Verknüpfung von ESM und OMT, die rechtliche Grenzen einhält, ohne ihre ökonomische Effizienz zu verlieren. Vorgeschlagen wird beispielswiese, der EZB im Falle tatsächlicher Anleihekäufe wieder einen bevorrechtigten Gläubigerstatus einzuräumen.22 Allerdings will auch dies sorgfältig überlegt sein, da zwar der Verdacht monetärer Staatsfinanzierung sowie das Haftungsrisiko für Steuerzahler dadurch gemindert würden, dafür aber die privaten Gläubiger umso mehr Risiken tragen müssten, was die angestrebte Rückkehr der Krisenländer an den freien Kapitalmarkt eher erschwert.23

Jedenfalls müssten die Auflagen durch den Rettungsschirm und die Kreditgewährung durch die EZB so konsistent aufeinander abgestimmt werden, dass „Fordern“ und „Fördern“ des Krisenstaates synergetisch wirken können. Dies würde die EZB von der Mandatsdiskussion entlasten und den Ball auf das Feld der Politik zurückspielen. Der präventive Arm der fiskalpolitischen Institutionen muss als vorbeugender „Brandschutz“ so weiterentwickelt werden, dass am Ende nicht nur die EZB als Krisenfeuerwehr für den Erhalt eines funktionsfähigen Euro verantwortlich ist, die sich trotz Erfolgs am Ende noch für ihren Geräteeinsatz kritisieren lassen muss.

  • 1 Der Europäische Rat einigte sich im Dezember 2010 auf eine Öffnungsklausel für die Einführung eines dauerhaften ESM in den grundlegenden Verträgen der EU. Hierzu wurde Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) um Absatz 3 ergänzt: „Die Mit­gliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
  • 2 Target2 ist ein Zahlungsverkehrssystem, über das nationale und grenzüberschreitende Eurozahlungen in Zentralbankgeld schnell und mit sofortiger Endgültigkeit abgewickelt werden. Angeschlossen sind 23 nationale Zentralbanken sowie die EZB. Geschäftsbanken nehmen über ihre jeweilige nationale Zentralbank an Target2 teil. Solange das Eurosystem in unveränderter Zusammensetzung fortbesteht, werden die Target2-Salden fortgeschrieben. Sollte es jedoch zu einem Austritt eines Landes aus der Währungsunion kommen, würden etwaige Target2-Verbindlichkeiten der betreffenden Notenbank gegenüber der EZB fällig. Da ein Austritt eines Landes in den öffentlich diskutierten Szenarien üblicherweise mit einer Überschuldung des jeweiligen Landes einhergeht, könnten hieraus für die EZB direkte Risiken entstehen.
  • 3 Sekundärrechtlicher Akt der EU, der aus fünf Verordnungen und einer Richtlinie besteht. Zu den wichtigsten Änderungen im Vergleich zum bisherigen Europäischen Stabilitäts- und Wachstums­pakt (ESWP) gehören die verstärkte vorbeugende Beurteilung von Haushaltsplanungen, der Ausbau von korrigierenden Maßnahmen für Länder, gegen die ein Defizitverfahren eröffnet wird, sowie die Einführung eines Frühwarnsystems, mit dem die EU-Kommission die Wettbewerbsfähigkeit der Länder beurteilen und, wenn nötig, korrigieren soll.
  • 4 Deutschland hat bislang rund 22 Mrd. Euro in den ESM eingezahlt und sich im Bedarfsfall zur Bereitstellung von weiteren 168 Mrd. Euro an abrufbarem Kapital verpflichtet.
  • 5 Art. 8 Abs. 5 des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (im Folgenden „Vertrag“) begrenzt sämtliche Zahlungsverpflichtungen der ESM-Mitglieder in dem Sinne, dass keine Vorschrift des Vertrags so ausgelegt werden kann, dass sie ohne vorherige Zustimmung des Vertreters des Mitglieds und Berücksichtigung der nationalen Verfahren zu einer Zahlungsverpflichtung führt, die den Anteil am genehmigten Stammkapital des jeweiligen ESM-Mitglieds gemäß der Festlegung in Anhang II übersteigt. Art. 32 Abs. 5, Art. 34 und Art. 35 Abs. 1 des Vertrages stehen der umfassenden Unterrichtung der nationalen Parlamente gemäß den nationalen Vorschriften nicht entgegen. Die genannten Punkte stellen eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der vertragschließenden Staaten dar, durch die Bestimmungen des Vertrags gebunden zu sein.
  • 6 Bundestagsdrucksache 17/10767.
  • 7 „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“
  • 8 „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“
  • 9 Deutschland müsste dann seine Zustimmung zum Beitritt von der vertraglichen Verschärfung der Mehrheitserfordernisse abhängig machen (Art. 4 Abs. 4 S. 2 und Abs. 5 ESMV).
  • 10 „Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. Sie darf nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden. Näheres kann durch Bundesgesetz bestimmt werden.“
  • 11 „Die Gesetzesvorlage nach Abs. 2 S. 1 sowie Vorlagen zur Änderung des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes werden gleichzeitig mit der Zuleitung an den Bundesrat beim Bundestage eingebracht; der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen, bei Änderungsvorlagen innerhalb von drei Wochen, zu den Vorlagen Stellung zu nehmen.“
  • 12 Rz 73 des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 27.11.2012 in der Rechtssache C-370/12 („Pringle“), http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=130381&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1 (26.3.2014).
  • 13 Veröffentlicht am 26.7.2012, vgl. http://www.youtube.com/watch?v=Pq1V0aPEO3c (30.4.2014).
  • 14 K. A. Konrad: Pro: OMT-Urteil des Bundesverfassungsgerichts –„Lackmustest“ zur Stabilitätsunion, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 154.
  • 15 Art. 123 Abs. 1 AEUV: „Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im Folgenden als „nationale Zentralbanken“ bezeichnet) für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.“
  • 16 Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 9/2014 vom 7.2.2014, Nr. 4.
  • 17 H. Schmieding: Der Irrtum der Karlsruher Richter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.3.2014, S. 6.
  • 18 EZB-Pressemitteilung: Technische Merkmale der geldpolitischen Outright-Geschäfte, Frankfurt a.M. 6.9.2012, http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Presse/EZB_Pressemitteilungen/2012/2012_09_06_merkmale_outright_geschaefte.pdf?__blob=publicationFile (3.4.2014).
  • 19 Erklärbar ist dies vor allem mit der Rückzahlung zahlreicher langfristiger EZB-Kredite durch die Banken.
  • 20 H. Schmieding, a.a.O.
  • 21 A. Winkler: Contra: OMT-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – Beschluss zur Finanztheorie, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 155, http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2014/3/3142/ (3.4.2014).
  • 22 C. Fuest: Die Folgen der OMT-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: ZEWnews, März 2014, S. 16.
  • 23 P. Plickert: Schlechterer Gläubigerstatus der EZB lässt Zinsen sinken, 22.8.2012, http://www.faz.net/aktuell/finanzen/anleihen-zinsen/schuldenkrise-schlechterer-glaeubigerstatus-der-ezb-laesst-zinsen-sinken-11864774.html (4.4.2014).

Title:Rescued Euro Rescue?

Abstract:The systemic weaknesses of the euro and crisis management activities have not only left traces in political programmes and the political landscape in Germany, but were and are still the subject of constitutional legal disputes. Some important disputes were recently addressed by the judgment of the Second Senate of the Federal Constitutional Court. The Karlsruhe Court remains partial with the continuity of its “Yes, but” decisions that affirm the compatibility of the bailout policy with the Basic Law in principle, but this is linked to compliance with certain provisos. With regard to the ECB’s OMT programme, the judgment contains legal and economic contradictions.


DOI: 10.1007/s10273-014-1720-8

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