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Deutschlands Politik diskutiert ein Einwanderungsgesetz. Gut so. Zwar haben die Konservativen in der Union völlig Recht: Aus juristischer Sicht gibt es für ein neues Gesetz wenig Grund. Deutschland verfügt heute schon über ein modernes und flexibles Zuwanderungsrecht. Das positive Urteil über die Einwanderungspolitik wird auch vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem neuen Jahresgutachten bestätigt: „Deutschland hat politisch-konzeptionell in vielen Bereichen des Migrationsmanagements und der Integrations- und Teilhabeförderung nicht nur deutlich aufgeholt, sondern reiht sich mittlerweile ein in die Riege der als fortschrittlich eingestuften Einwanderungsländer.“

Wieso also ist trotzdem ein Einwanderungsgesetz nötig? Der erste Grund ist pragmatischer nicht ideologischer Natur. Es wäre in jeder Beziehung sinnvoller, über verschiedene Ministerien verstreute Teilbereiche der Migration und der Integration zu bündeln und so eine Einwanderungspolitik aus einem Guss zu ermöglichen. Verwaltungsinterne Doppelungen, Abstimmungsprobleme und widerstreitende Vorgehensweisen ließen sich so vermeiden. Die existierenden Regelungen und Maßnahmen könnten zusammengeführt und gleichermaßen für die Arbeitsmigration, den Familiennachzug und die Flüchtlingswanderungen zu einem einheitlichen rechtlichen Rahmen verschmolzen werden. Das alles hilft, Kosten zu sparen, Abläufe zu optimieren und Entscheidungsprozesse zu verkürzen. Bei so vielen selbstredend positiven Effekten kann eigentlich niemand ernsthaft gegen ein Einwanderungsgesetz sein, es sei denn, er profitiert in der einen oder anderen Form von unnötiger Bürokratie und Verwaltung.

Der zweite Grund, der für ein eigenständiges Einwanderungsgesetz spricht, hat etwas mit dem Eingeständnis zu tun, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. Deshalb wäre es in jeder Beziehung – politisch, gesellschaftlich und auch ökonomisch – klug, mit einem Einwanderungsgesetz genau dieses Signal auszusenden: Ja, Deutschland ist ein Einwanderungsland, will es sein und gibt sich deshalb ein Einwanderungsgesetz. Es soll offensiv und transparent regeln, wer unter welchen Bedingungen kommen, bleiben und arbeiten darf und welche Rechte und Pflichten damit verbunden sind. Transparente und in der Praxis gut handhabbare Regeln sind zu definieren, wie aus der Masse der Zuwanderungswilligen die Zuwanderungsberechtigten herausgefiltert werden. Ebenso ist zu klären, wann und wie die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und ob und unter welchen Umständen andere Staatsangehörigkeiten behalten werden können.

Auch hier bedarf es keines Kaltstarts bei null. Im Gegenteil: Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 und seinen laufenden Ergänzungen hat sich vieles zum Guten verändert. Erstens wurde das Dogma aufgegeben, dass nur Akademiker willkommen sind. Für Mangelberufe steht der Arbeitsmarkt heute auch Fachkräften aus Drittstaaten ohne akademischen Abschluss offen. Zweitens wurde der Grundsatz (vorerst probehalber bis August 2016) aufgeweicht, dass nur zuwandern darf, wer über einen Arbeitsvertrag verfügt. Akademiker dürfen vorübergehend auch ohne Arbeitsvertrag für sechs Monate zur Arbeitsuche einreisen, wenn sie für diese Zeit über ausreichende finanzielle Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhalts verfügen. Drittens werden ausländische Abschlüsse einfacher, schneller und großzügiger anerkannt. Viertens müssen Blue-Card-Inhaber weniger lange warten, um das Daueraufenthaltsrecht zu erhalten. Fünftens ist schließlich auch im Bereich der Integration einiges passiert. So ist es heute leichter denn je, Deutsche(r) zu werden, auch wenn unverändert die doppelte Staatsangehörigkeit nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Verbesserungspotenzial gibt es noch beim Übergang von der Ausbildung zum Berufsleben. Während Studierende nach erfolgreichem Abschluss in Deutschland 18 Monate lang hier bleiben und nach einer ihrer Qualifikation entsprechenden Stelle suchen dürfen, fehlt bei der dualen Ausbildung diese Möglichkeit. Oder bei der Definition der Mangelberufe, die Fachkräften ohne akademischem Abschluss offen stehen, gibt es einige Umsetzungsschwierigkeiten. Beispielsweise bleibt bei der Feststellung der Mangelberufe zu vieles im Ermessen der Verwaltung. So ist nicht ausgeschlossen, dass es Interessengruppen schaffen, einen selbstverschuldeten Fachkräftemangel zu einem gesamtwirtschaftlichen Problem werden zu lassen.

Insgesamt aber bleibt bei der Arbeitsmigration das positive Urteil bestehen. Auch ohne eigenständiges Einwanderungsgesetz hat sich ein beeindruckender Wandel vollzogen. Es geht nicht mehr um Abwehr, sondern gesteuerte Öffnung. Und nur zur Erinnerung: Für EU-Angehörige bestehen faktisch ohnehin keine Hemmnisse mehr. Sie dürfen weitestgehend kommen und bleiben, wie sie wollen – das gilt auch für Personen aus Ländern, mit denen die EU Freizügigkeitsabkommen vereinbart hat – wie beispielsweise die Schweiz, Norwegen und Island. Das Problem liegt darin, dass die Offenheit und Verbesserungen des Zuwanderungsrechts nur einem kleinen Kreis bewusst sind. Ein Einwanderungsgesetz könnte dafür sorgen, dass die liberalen Spielregeln der Zuwanderung nach Deutschland weltweit besser und damit (an)werbewirksamer bekannt gemacht werden.

Der dritte und wohl wichtigste Grund wäre, dass ein Einwanderungsgesetz ganzheitlich agieren könnte. Mit der Migrations-Innenpolitik geht es um eine Steuerung der Arbeitsmigration nach deutschen Interessen – so wie das alle anderen Staaten auch tun. Mit der Migrations-Außenpolitik hingegen gilt es, internationalen Vereinbarungen und humanitären Verpflichtungen Rechnung zu tragen, die für Familienzusammenführungen und für Flüchtlinge gelten. Weder die Familienzusammenführung noch die Flüchtlingsbewegungen sind so einfach steuerbar, wie das Populisten gerne hätten. Beides sind (sozial-)politisch und moralisch hochsensible Themen, für die es keine einfachen Lösungen gibt.

Eine Migrations-Außenpolitik müsste bei den Wurzeln einer von allen Seiten ungeliebten und ungewollten Massenmigration ansetzen. Sie sollte alles tun, was möglich ist, damit Menschen gar nicht erst (Wirtschafts-)Flüchtlinge werden. Nicht die Symptome, sondern die Ursachen von Hoffnungslosigkeit, Armut, Flucht und Vertreibung gilt es zu bekämpfen. Deshalb sind zuallererst die Außen- und die Sicherheitspolitik sowie die Entwicklungszusammenarbeit gefordert. Es ist der falsche Ansatz, den Bundesinnenminister an den Pranger zu stellen und Grenzzäune höher und Einwanderungskontrollen schärfer machen zu wollen. Kaum eine der Ursachen der schrecklichen Flüchtlingstragödien lässt sich in den Zielländern Europas beheben. Alles was im Norden passiert, hilft den Menschen aus dem Süden bestenfalls im Einzelfall aus lebensbedrohlicher Notlage und höchstens kurzfristig. Für die Massen der von Willkür und Zwang Verfolgten sind alle Maßnahmen jenseits der Heimat wirkungslos, nicht nachhaltig und oft sogar kontraproduktiv. Dann nämlich, wenn Flucht Despoten und Diktatoren in die Hände spielt, weil sie sich durch Vertreibung die Opposition in einfacher Weise vom Hals schaffen und kritische Gegner mundtot machen können.

Auch das beste Einwanderungsgesetz kann allerdings das Grundproblem der Migration nur so gut wie möglich, keinesfalls aber vollständig lösen. Grenzüberschreitende Wanderungen sind hochkomplexe Phänomene ohne einfache Patentrezepte. Es geht um Menschen, nicht um Waren oder (Finanz-)Kapital. Und deshalb wird zwischen dem ökonomisch Wünschbaren, moralisch Vertretbaren und rechtlich Machbaren immer ein Spannungsfeld bestehen bleiben – Einwanderungsgesetz hin oder her.


DOI: 10.1007/s10273-015-1858-z