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In der Augustausgabe 2015 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz von Jens Boysen-Hogrefe und Ulrich Stolzenburg über „Rettungsprogramme und ‚Ownership‘ – Irland, Portugal und Griechenland im Vergleich“. Nach der Replik von Ernst Niemeier folgt hierzu eine Erwiderung der Autoren.

„Rettungsprogramme“ für Krisenländer verschärften die Krise – eine Replik

Von Ernst Niemeier

Die „Anpassungsprogramme“ sind nach Darstellung der Autoren des Beitrags in der Augustausgabe1 des Wirtschaftsdienst für Portugal und Irland insgesamt erfolgreich verlaufen, während sie für Griechenland gescheitert seien. Da diese Programme, die aus Hilfskrediten und aus den Auflagen für die Gewährung dieser Kredite bestanden, harte Sparauflagen umfassten, die zum Ziel haben sollten, über positive Primärsalden die Schuldenrückzahlung sicherzustellen; da sie Menschen dieser Länder in Arbeitslosigkeit, Not und Armut stürzten, ist der Begriff „Anpassungen“ ganz unzutreffend. Seine Verwendung beschönigt die Lage nicht nur, sondern lässt auch erkennen, dass die Autoren diese Politik für sachgerecht halten. Nur deshalb können sie die Frage stellen, weshalb die Programme ausgerechnet für Griechenland nicht erfolgreich waren.

Sie schließen eine eingehende Untersuchung der Fehlentwicklung mit der Behauptung aus, dass die Fiskalmultiplikatoren das Misslingen nicht verursacht hätten. Deshalb suchen sie nach einer anderen Ursache, die sie in der sogenannten „Ownership“ dieser Programme gefunden zu haben meinen. Sie behaupten, dass der Grad mangelnder Akzeptanz und politischer Unsicherheit in Griechenland im Vergleich zu den beiden anderen Ländern am größten gewesen sei und dass dies das Scheitern im Falle Griechenlands erklären könne. Unklar bleibt bei dieser Ursachenzuweisung, weshalb die Ablehnung von Sparmaßnahmen während einer Rezession oder Depression die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen soll. Die Unsicherheit über das Verbleiben in der Eurozone könnte dagegen die wirtschaftliche Entwicklung zwar theoretisch beschädigt haben. Aber viel direkter und drastischer wirkte doch die Absenkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage im Fall Irlands um ca. 9% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), um ca. 17% in Portugal und um sogar ca. 30% des BIP in Griechenland. Die Autoren erwähnen diese „Konsolidierungshöhe“ zwar, ohne sie aber zu den Einbrüchen des BIP und dem daraus folgenden katastrophalen Anstieg der Arbeitslosigkeit in Beziehung zu setzen.

Aus den Ausführungen der Autoren ergeben sich einige wichtige Fragen. Überprüft werden soll

  • erstens, ob die Überwindung einer Rezession oder Depression das Ergebnis ergriffener politischer Maßnahmen sein muss oder ob der Rezessionsprozess Automatismen in Gang setzt, die expansive Kräfte auslösen und diese Rezession sozusagen „von selbst“ beenden können;
  • zweitens, ob der behauptete Erfolg für Portugal und Irland als ein solcher anzusehen ist, ob also das Erreichen einer BIP-Steigerung bei fortbestehender hoher Arbeitslosigkeit ausreicht;
  • drittens, ob die Fiskalmultiplikatoren nicht doch stärker wirkten als von den Institutionen angenommen, ob also die Austeritätspolitik zielführend war, und
  • viertens schließlich, ob die sogenannte „Ownership“ eine Erklärung für das Scheitern Griechenlands bieten kann.

Wirtschaftliche Erholung möglich?

Für Portugal und Irland wird allgemein und auch von den Autoren das Wachstum des BIP und die wiedergewonnene Möglichkeit der Kapitalmarktfinanzierung als Erfolg der Austeritätspolitik gewertet. Die Antwort auf die Frage, ob diese Bewertung berechtigt ist, gliedert sich – unabhängig von der Frage der Angemessenheit dieser Sparpolitik, die später geprüft wird – in zwei Teile: Muss erstens die gefeierte Zielerreichung das Ergebnis politischer Maßnahmen sein oder kann sie sich ohne aktives Zutun entwickelt haben? Können zweitens BIP-Wachstum und Kapitalmarktfinanzierung ausreichende Erfolgsindikatoren sein?

Eine Korrelation zwischen politischen Maßnahmen und dem Anstieg des BIP bzw. der wieder ermöglichten Kapitalmarktfinanzierung zeigt nicht notwendig eine Kausalbeziehung auf. Ganz besonders fragwürdig ist die Unterstellung einer Kausalbeziehung zwischen drastischen Sparmaßnahmen und der Steigerung des BIP während einer Rezession oder Depression. Bei der Ursachenzuweisung und -differenzierung müssen auch wachstumsbegünstigende Sonderfaktoren berücksichtigt werden, die mit den vermeintlichen politischen Wachstumsmaßnahmen nichts zu tun haben. Das war in Irland die extrem hohe Exportorientierung, die die Binnenmarktschwäche kompensieren konnte und die durch die extrem niedrige Unternehmensbesteuerung gefördert wurde.

Vor allem aber ist der Verlauf des rezessiven Prozesses zu beachten, der zwar kumulativ ist, dessen Stärke sich aber allmählich abschwächt. Der abwärts gerichtete Prozess verliert langsam an Kraft, vermindert seine Abwärtsentwicklung und erreicht irgendwann eine Talsohle. Sie wird beispielsweise dann erreicht, wenn für den Konsum aus existenziellen Gründen nicht mehr weniger ausgegeben werden kann oder wenn von einem bestimmten Zeitpunkt an Ersatzinvestitionen nicht mehr aufgeschoben werden können. Dann gibt es die Chance, dass sich ein kumulativer Prozess in umgekehrter Richtung, also nach oben entwickelt. Auf diese dem Wirtschaftsprozess immanenten Tendenzen hat Gottfried Haberler in seinem grundlegenden Werk zu Prosperität und Depression hingewiesen. Im § 9 des Kapitels „Der Aufschwung: Erholung“2 behandelt er die „expansionistischen Tendenzen, welche während der Kontraktion zu entstehen tendieren“ und formuliert die Aufgabe, die er sich im Folgenden stellt: „Im vorliegenden Abschnitt werden wir untersuchen, ob das Wirtschaftssystem fähig ist, dem Kontraktionsprozess ein Ende zu machen und ihn in eine Expansion zu verwandeln, wobei wir annehmen a), dass die Regierung keine aktiven Schritte unternimmt (wie öffentliche Arbeitspläne), um die Expansion zu beginnen, und b), dass kein zufälliges Ereignis (wie eine neue Erfindung oder eine Reihe guter Ernten oder eine Anregung von außen) zu Hilfe kommt“.3 Etwas später fährt er fort: „Wir werden sehen, dass es expansio-nistische Impulse dieser Art gibt, von denen man ziemlich sicher sagen kann, dass sie automatisch früher oder später entstehen und die Kontraktion in eine Expansion umwandeln.“4

Es ist gewiss nicht wünschenswert, dass eine Regierung passiv abwartet, bis die Wirtschaft Rezession oder Depression von sich aus überwindet. Diese sich von selbst entwickelnden möglichen Tendenzen bedeuten aber, dass aus einem erreichten Wiederanstieg des BIP noch kein Erfolg politischer Maßnahmen abgeleitet werden kann. Das gilt ganz besonders dann, wenn die politischen Maßnahmen restriktiv sind und wenn man eher eine gegenteilige Wirkung erwarten muss. Und es gilt im vorliegenden Fall auch, weil der Prozess drei, vier und fünf Jahre dauerte. Wenn unangemessene politische Mittel eingesetzt worden sind, ist es eher wahrscheinlich, dass die Zielerreichung hinausgezögert wird. Im Falle Portugals und Irlands hätten BIP-Steigerungen und Kapitalmarktfähigkeit wahrscheinlich schon früher erreicht werden können, so dass das Ziel verspätet erreicht wurde, was keineswegs ein gutes Ergebnis ist. Das gilt hinsichtlich des BIP-Wachstums auch für Griechenland, das 2014 trotz eines negativen vierten Quartals ein leichtes Wachstum erreichte.

Sind BIP-Wachstum und Kapitalmarktfähigkeit allein akzeptable Erfolgsindikatoren?

Wenn der Anstieg des BIP und die wiedergewonnene Möglichkeit, sich auf dem Kapitalmarkt zu finanzieren, nicht mit einer spürbaren Absenkung der Arbeitslosigkeit verbunden sind, wird das eigentliche, das letzte Ziel der politischen Maßnahme nicht erreicht. Denn das Erreichen eines Wachstums, das das Leben der Menschen nicht verbessert, kann nicht als sinnvolles politisches Ziel angesehen werden. Das Wachstumsziel ist nur ein Zwischenziel, das angestrebt wird, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die Arbeitslosigkeit belief sich in Irland zum Zeitpunkt der Programmbeendigung im Dezember 2013 trotz besonderer Begünstigung durch die hohe Auslandsnachfrage auf 12,1%. Die Jugendarbeitslosigkeit lag mit 25,8% deutlich höher.5 In Portugal lag die Arbeitslosenquote im August 2014 bei 13,5%, die Jugendarbeitslosigkeit bei 33,2%.6

Diese Arbeitslosenquoten sind zudem geschönt. Aus Portugal wanderten jährlich mehr als 100 000 Menschen aus,7 aus Irland sind es jährlich mehr als 30 000.8 Sie flohen vor der Not, in die sie durch die herrschende Rezession und ihre mögliche Verlängerung durch die Sparpolitik gestürzt wurden. Es wird im Hinblick auf die junge Generation dieser Länder bereits von der „verlorenen Generation“ gesprochen. Die in diesen Ländern festzustellende relativ geringe Auswirkung der Produktionssteigerung (BIP) auf den Abbau der Arbeitslosigkeit muss besondere Gründe haben, die möglicherweise mit dem Versuch zusammenhängen, die Expansion durch restriktive Maßnahmen erreichen zu wollen. Denn dass grundsätzlich ein enger positiver Zusammenhang zwischen Produktion und Beschäftigung besteht, der normalerweise nur durch die Produktivitätssteigerung und einen Anstieg des Arbeitsangebotes gemildert wird (Okun‘sches Gesetz), ist unbestreitbar. Das bloße Erreichen einer BIP-Steigerung ist unter all diesen Umständen kein sinnvolles Ziel, das zufriedenstellen kann. Es kann sich nur um ein Zwischenziel handeln. Das eigentliche Ziel muss die Überwindung der Arbeitslosigkeit sein.

Fiskalmultiplikatoren für das Scheitern in Griechenland nicht verantwortlich?

Die Autoren behaupten, dass eine „grundsätzlich falsche Einschätzung des Fiskalmultiplikators durch die Institutionen … nicht ursächlich“ für das festgestellte Scheitern des Programms für Griechenland gewesen sei. Blanchard/Leigh hatten 2013 darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds (IWF), dessen Chefvolkswirt Blanchard von 2008 bis September 2015 war, bei seinen Prognosen für das BIP-Wachstum als Folge der Konsolidierungspolitik die Höhe der Fiskalmultiplikatoren unterschätzt habe.9

Da der Fiskalmutiplikator die multiplikative Beziehung zwischen einer fiskalischen Maßnahme einerseits und der resultierenden Veränderung des BIP andererseits darstellt, bedeutet das Bestreiten der grundsätzlich falschen Einschätzung des Fiskalmultiplikators und seiner Wirkung auf das BIP, dass die Autoren die negative Wirkung einer spürbaren Ausgabenkürzung oder einer Steuererhöhung bestreiten. Diese Einschätzung ist nicht nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die volkswirtschaftliche Güterproduktion erfolgt, weil es dafür eine Nachfrage gibt. Und dass – wenn diese gesamtwirtschaftliche Nachfrage spürbar gekürzt wird (in Irland um ca. 9%, in Portugal um ca. 17% und in Griechenland gar um ca. 30%) – die Produktion einbrechen und die Arbeitslosigkeit steigen muss. Wie anders als durch die drastischen Sparmaßnahmen lässt sich der Einbruch des griechischen BIP um ca. 25% (!) erklären, der während der sogenannten Rettungsaktion eintrat; wie der Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 25%?

Die negative und sich vervielfachende Wirkung einer vermeintlich als Konsolidierungsmaßnahme konzipierten Politik kommt zustande, weil die Ausgaben des einen die Einnahmen des anderen sind. In den Worten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman „bedeutete eine staatliche Ausgabenkürzung (von 100 Mrd. US-$, E. N.) eine Verringerung des BIP um 100 Mrd. US-$. Und wenn die Menschen weniger verdienen, kaufen sie auch weniger, was weitere Einkommensverluste und Kürzungen nach sich zieht, und so weiter.“10

Dieser Konsolidierungspolitik, die eigentlich nur darauf abzielt, die Staatshaushalte zu sanieren, um die Schuldenrückzahlung sicherzustellen, liegt das Missverständnis zugrunde, dass ein Staatshaushalt genauso konsolidiert werden kann wie ein Privathaushalt. Der Privathaushalt kann tatsächlich durch Einschränkung der Ausgaben, durch Sparen also, konsolidiert werden. Die Ausgabeneinschränkung ist im Vergleich zur Gesamtnachfrage und zur Gesamtproduktion – anders als bei einer staatlichen Ausgabenkürzung – minimal. Deshalb treten keine unbeabsichtigten Rückwirkungen auf, die das angestrebte Ergebnis zunichte machen können. Was einzelwirtschaftlich richtig ist, ist gesamtwirtschaftlich falsch, weil die staatliche „konsolidierende“ Maßnahme ein solches Gewicht innerhalb der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und Produktion hat, dass die Produktion als Folge der Kürzung einbricht und die angesprochenen multiplikativen Folgewirkungen eintreten. Die Planer einer solchen „Konsolidierungs“-Maßnahme haben den Erkenntnissprung von der mikroökonomischen auf die makroökonomische Ebene nicht geschafft oder sie hängen der Illusion an, dass Sparen in einer Rezession Vertrauen schafft, das irgendwelche zusätzlichen Konsum- oder Investitionsaktivitäten auslöst.

Erschwerend kommt dann noch hinzu, dass die Multiplikatoren unterschiedlicher fiskalischer Maßnahmen nicht nur unterschiedlich hoch sind. Ihre Höhe und damit ihre Wirksamkeit hängt auch noch von der jeweiligen wirtschaftlichen Lage ab. In einer Rezession, in der die Wirtschaft schrumpft, die Preise sinken und allgemein Pessimismus über die weitere wirtschaftliche Entwicklung herrscht, wirkt eine Ausgabenkürzung viel stärker negativ als in einer wirtschaftlich positiven und optimistischen Situation, in der die Ausgabenkürzungen durch Ausgabensteigerungen an anderer Stelle kompensiert werden können. Deshalb stellt Paul Krugman zu Recht fest: „Es ist eine Sache, Ausgaben zu kürzen und Steuern anzuheben, wenn annähernd Vollbeschäftigung herrscht … In dieser Situation führen Ausgabenkürzungen nicht unbedingt zu einer Abschwächung der Konjunktur … Wenn sich die Wirtschaft jedoch in der Krise befindet und Zinsen nahe null sind, können Ausgabenkürzungen nicht kompensiert werden. Das heißt, sie stürzen die Wirtschaft weiter in die Krise, was wiederum zu einem Steuerausfall führt und einen Teil des Sparerfolgs gleich wieder zunichte macht“.11 Zugleich lässt der Einbruch des BIP den die Finanzmärkte beunruhigenden Verschuldungsgrad weiter steigen, weil das sinkende BIP der Nenner im Staatsschuldenquotient ist.

Versuch zum Abbau der Unkenntnis und Konfusion über die Staatsverschuldung

Diese eigentlich so klaren makroökonomischen Zusammenhänge, die die Autoren des obigen Beitrags nicht berücksichtigen, sind offenbar schwer zu vermitteln. Viele Politiker und auch manche Ökonomen können sich offenbar nicht von der mikroökonomischen Betrachtungsweise einer schwäbischen Hausfrau lösen, die eine Haushaltkonsolidierung durch Sparen erreichen kann. Gesamtwirtschaftlich ist das in einer Rezession aber nicht möglich. Deshalb hat die „Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern mit ganz unterschiedlichen Ausgangsmeinungen mit dem Ziel eingesetzt, einen Beitrag zum Abbau der verbreiteten Unkenntnis und Konfusion über Staatsverschuldung einerseits und das Lagerdenken andererseits zu leisten“12, die auch im vorliegenden Fall eine Rolle spielen.

Carl-Ludwig Holtfrerich, Sprecher dieser Arbeitsgruppe, stellte deren Ergebnisse in einem Aufsatz im Wirtschaftsdienst dar.13 Zu dem Thema Multiplikatorwirkungen führt er aus: „Auch die Multiplikatorwirkungen kreditfinanzierter Staatsausgaben auf die wirtschaftliche Aktivität wurden diskutiert, mit dem Ergebnis, dass diese in Rezessionsphasen signifikant höher als in Boom-Zeiten sind und dass die These, in Zeiten einer Krise würden drastische Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten zu einer Zunahme der wirtschaftlichen Aktivität führen .., skeptisch zu beurteilen sind.“14 Zuvor gibt Holtfrerich eines der wichtigen Ergebnisse des Staatsschulden-Berichts wieder: „Die öffentliche Debatte über gestiegene Staatsschuldenquoten konzentriert sich fast nur auf den Zähler der Quote und lässt Entwicklungen im Nenner, dem nominalen BIP, unberücksichtigt. Historische Erfahrungen zeigen aber, dass erfolgreiche Rückführungen hoher Quoten fast nur über den Nenner, also den BIP-Zuwachs, zustande gekommen sind …“.15 Ein solcher BIP-Zuwachs kann nicht über eine restriktive, sondern nur über eine expansive Politik erzielt werden.

Multiplikatorschätzungen und Simulationen der griechischen Wirtschaftsentwicklung

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) setzt sich in einem Report vom April 2015 auch mit der europäischen Fiskalpolitik und insbesondere mit Griechenland auseinander und widerspricht dort bereits den Behauptungen der Autoren des Wirtschaftsdienst-Beitrags. Es formuliert deutlich, dass der harte Austeritätskurs gescheitert sei: „Produktion und Beschäftigung sind in untragbarer Weise eingebrochen.“16 Das Beispiel Griechenlands mache besonders deutlich, „wie drastische Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen mitten in einer tiefen Rezession die Krise noch weiter verschärfen und letztlich die Konsolidierung erschweren können.“17 Da Korrelationen zwischen politischen Maßnahmen und BIP-Ergebnissen nicht notwendig eine Kausalbeziehung wiedergeben, legt das IMK seinen Untersuchungen breit angelegte Schätzungen von Fiskalmultiplikatoren zugrunde und ermittelt in Modellsimulationen die Wirkungen der Politik. All diese Simulationen erbrachten eine ausgeprägte negative Wirkung. Das IMK kombiniert die einzelnen Konsolidierungsmaßnahmen (Einnahmen, Transfers, öffentlicher Konsum, öffentliche Investitionen) mit ihren jeweiligen Multiplikatoren und ermittelt so die Wirkung auf das BIP: „Der negative Effekt auf das BIP steigt bereits 2010 über 10% und kulminiert sich bis 2013 auf 28% des BIP von 2009 …“.

Insgesamt prognostiziert das IMK aufgrund der Austeritätsmaßnahmen eine Schrumpfung des BIP um ein Viertel der griechischen Wirtschaftsleistung von 2009,18 was ziemlich genau dem tatsächlichen Ergebnis entspricht. Das reale Bruttoinlandsprodukt, das durch die Rezession als Folge der Finanzkrise bereits um 4,3% gesunken war, stürzte nach den ergriffenen „Rettungsmaßnahmen“ um 5,5% (2010), um 9,1% (2011), um 7,3% (2012) und um 3,2% (2013) ab.19 Die Arbeitslosenquote stieg bis Oktober 2014 auf 25,8% und die Jugendarbeitslosigkeit auf 50,6%.20 Die Simulationsergebnisse bestätigen ebenfalls sowohl, dass es relevante Fiskalmultiplikatoren gibt, als auch, dass die Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen – anders als die Autoren des Wirtschaftsdienst-Beitrags es herausgefunden zu haben meinen – die negative Entwicklung in Griechenland verursachten. Das IMK stellt dann auch noch Berechnungen für den Fall an, dass keine Austeritätsmaßnahmen ergriffen worden wären. Sie ergaben, dass der Primärsaldo 2014 etwa auf dem Niveau von 2009 verharrt hätte, während die tatsächliche Entwicklung des Primärsaldos sogar einen Überschuss erbrachte; einen Überschuss allerdings, der verantwortlich für den Wirtschaftseinbruch war. Die Staatsschuldenquote hingegen wäre ohne Austeritätsmaßnahmen bis 2014 um 10 Prozentpunkte geringer ausgefallen als sie es tatsächlich war. Diese positive Entwicklung wäre unter Verzicht auf Austeritätsmaßnahmen zustande gekommen, weil ein Einbruch des BIP nach 2009 hätte vermieden werden können.

Die These, dass Sparmaßnahmen in Rezession oder Depression zu vermeiden sind, weil sie die Krise verschärfen, vertreten und belegen nicht nur die Arbeitsgruppe der Leopoldina-Akademie und das IMK, diese These vertreten und belegen auch zahlreiche weitere deutsche sowie insbesondere namhafte ausländische Ökonomen. So bezeichnete der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz die Auflagen des neuen Sparprogramms der europäischen Partnerländer für Griechenland als Rezessionsmaßnahmen.21 Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen hat die Sparmaßnahmen für Griechenland nicht nur als Kombipräparat aus Penicillin und Rattengift bezeichnet,22 sondern auch festgestellt, dass eine schrumpfende Wirtschaft ein denkbar ungünstiges Umfeld für echte institutionelle Reformen sei.23 Die US-amerikanische Ökonomin Christina Romer, zeitweise Vizepräsidentin der „American Economic Association“ und bis 2010 die Vorsitzende von Barack Obamas „Council of Economic Advisors“, führte vor einiger Zeit in einem Vortrag aus: „Es gibt mehr Beweise denn je, dass die Haushaltspolitik eine entscheidende Rolle spielt und dass Konjunkturprogramme zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen, während Sparmaßnahmen das Wachstum zumindest kurzfristig beeinträchtigen. Aber diese Beweise scheinen noch nicht zu den Gesetzgebern vorgedrungen zu sein.“24

Noch einmal: Fiskalmultiplikatoren erklären das Scheitern Griechenlands, nicht die „Ownership“

Der durch das Sparen bewirkte Nachfrageausfall, dessen Auswirkung bei Anwendung richtiger Fiskalmultiplikatoren korrekt vorausgesagt worden wäre, erklärt die Krisenverschärfung in den betrachteten Ländern. Bei richtiger Einschätzung der Fiskalmultiplikatoren wäre es möglicherweise gar nicht zu einer so restriktiven Politik gekommen. Das gilt ganz besonders für Griechenland. Aber auch Portugal und Irland leiden, wie die immer noch hohe Arbeitslosigkeit ausweist, unter dieser Politik. Diese Wirtschaftsentwicklung bestätigt zugleich, dass Blanchard/Leigh sehr wohl mit ihrer Erkenntnis recht hatten, dass die von den Institutionen verwendeten Fiskalmultiplikatoren nicht zutreffend waren. Erstaunlich ist allerdings, dass die Politik des IWF, dessen Chefökonom Blanchard war, trotz dessen 2013 geäußerter Auffassungen nicht verändert wurde.

Vorsorglich soll noch die Argumentation geprüft werden, mit der die Autoren des Wirtschaftsdienst-Beitrags ihre Einschätzung der Bedeutung von Fiskalmultiplikatoren begründen und die „Ownership“ als Ursache für den griechischen Misserfolg einführen.

In der Untersuchung Blanchards wurde eine stark negative Korrelation des Prognose-Fehlers mit den Budgetsalden von 2010 und 2011 festgestellt, woraus sich ergibt, dass die Verbesserungen des strukturellen Budgetsaldos die Konjunktur stärker belasteten als erwartet. Die Autoren kritisieren nun, dass dieser Zusammenhang „nur im genannten Zeitraum und nur für Europa“ festgestellt werden könne. Daraus ziehen sie den Schluss, dass die negative Korrelation ein „Artefakt“, ein Zufallsergebnis sei. Dieser Schluss der Autoren widerspricht nicht nur den Ergebnissen der Sparpolitik, sondern auch den zahlreich vorliegenden Schätzungen von Multiplikatoren. Ganz besonders aber ist darauf hinzuweisen, dass die Autoren ihre These darauf stützen, dass die Korrelation – wie sie von Blanchard angenommen wurde – nicht existiert. Eine Korrelation kann eine Kausalbeziehung aber nur bestätigen, wenn der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zuvor zumindest logisch begründet worden ist. Im vorliegenden Fall müssten die Autoren die hier wiederholte Belegung des Kausalzuammenhangs zwischen Austeritätspolitik und Krisenverschärfung widerlegen. Das aber versuchen sie nicht nur nicht, es würde ihnen vermutlich auch nicht gelingen. Belege für die nicht feststellbare Korrelation außerhalb Europas legen die Autoren nicht vor.

Die von den Autoren aufgezeigten Gründe für unterschiedliche Grade der „Ownership“, die für das Scheitern des Programms in Griechenlands verantwortlich sein sollen, werden vor allem in dem Versuch des griechischen Ministerpräsidenten gesehen, 2011 ein Referendum über die sogenannte Konsolidierungspolitik durchzuführen. Die Notwendigkeit des Referendums wird offenbar als Indiz für die Ablehnung dieser Politik in der griechischen Bevölkerung gesehen. Eine ähnliche Aktion gab es in Portugal und Irland nicht, ebenso gab es in den beiden Ländern weniger Wahlen und Regierungswechsel als in Griechenland. Schließlich wurde die Währungsunsicherheit, die Unsicherheit über das Verbleiben im Euroraum, nirgendwo als so groß angesehen wie in Griechenland. Es lässt sich allerdings nicht bestreiten, dass auch in Portugal und Irland der Unwille über die harten Sparmaßnahmen groß war. Auch dort gab es Demonstrationen. Ganz besonders lässt sich die mangelhafte Akzeptanz in diesen Ländern an der massenhaften Auswanderung erkennen, die von den Autoren unbeachtet bleibt. Überzeugend ist die Differenzierung der Akzeptanz in den drei Ländern mit dem daraus abgeleiteten Erfolg oder Misserfolg nicht.

Der Versuch der Autoren, das Scheitern des griechischen Programms auf eine mangelhafte „Ownership“ anstelle einer falschen Austeritätspolitik zurückzuführen, ist nicht gelungen. Der vermeintliche Erfolg der Austeritätspolitik in Portugal und Irland kann ebenfalls nicht als ausreichender Erfolg dieser Politik angesehen werden. Denn dass das Zwischenziel BIP-Wachstum erreicht worden ist, ist mit großer Sicherheit ebenfalls nicht der verfolgten Politik zu verdanken, die – jedenfalls in Rezessionszeiten – systematisch rezessiv wirkt. Ferner ist das eigentlich anzustrebende Ziel der Überwindung der Arbeitslosigkeit in Griechenland nicht, aber auch in Portugal und Irland bislang nicht erreicht worden. Verantwortlich dafür ist die drastische Sparpolitik der europäischen Partnerländer.

  • 1 J. Boysen-Hogrefe, U. Stolzenburg: Rettungsprogramme und „Ownership“ – Irland, Portugal und Griechenland im Vergleich, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 8, S. 534-540.
  • 2 G. Haberler: Prosperität und Depression, 2. erweiterte Aufl., Tübingen, Zürich 1955, S. 359 ff.
  • 3 Ebenda, S. 373.
  • 4 Ebenda.
  • 5 Eurostat Pressemitteilung, Nr. 20/2015 vom 30.1.2015.
  • 6 Eurostat Pressemitteilung, Nr. 1/2015 vom 7.1.2015.
  • 7 O.V.: Es gibt keine Chance, aber wir nutzen sie, ZEIT Online vom 5.1.2015.
  • 8 R. Streck: „Erfolg“ in Irland: Auswanderung senkt Arbeitslosigkeit, 26.12.2013, vgl. www.heise.de/tp/artikel/40/40635/1.html.
  • 9 O. Blanchard, D. Leigh: Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, in: Amercan Economic Review, 103. Jg. (2013), H. 3, S. 117 ff.
  • 10 P. Krugman: Vergesst die Krise, Frankfurt, New York 2012, S. 164.
  • 11 P. Krugman, a.a.O., S. 219 f.
  • 12 C.-L. Holtfrerich: Staatsverschuldung: Ursachen, Wirkungen und Grenzen, in: Wirtschaftsdienst, 95, Jg. (2015), H. 8, S. 529 ff.
  • 13 Ebenda.
  • 14 Ebenda, S. 532.
  • 15 Ebenda, S. 531.
  • 16 IMK: Im Aufschwung. Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2015/16, Report 104, April 2015, S. 28 ff.
  • 17 Ebenda, S. 23.
  • 18 Ebenda, S. 30.
  • 19 Eurostat: Wachstumsrate des realen BIP 2003 bis 2014.
  • 20 Eurostat Pressemitteilung, Nr. 20/2015 vom 30.1.2015.
  • 21 H. Buchter: Interview mit Joseph Stiglitz, in: Die Zeit vom 3.7.2015.
  • 22 T. Assheuer: Interview mit Claus Offe, in: Die Zeit vom 9.7.2015.
  • 23 M. Pantelouis: Der Geldbote von Amorgos, in: Die Zeit vom 26.7.2015.
  • 24 Zitiert nach P. Krugman, a.a.O., S. 265.

Nachfragepolitik ist keine Lösung für strukturelle Krisen – eine Erwiderung

Von Jens Boysen-Hogrefe, Ulrich Stolzenburg

Die Replik von Ernst Niemeier erweckt den Eindruck, dass der Autor eigentlich nicht unseren Beitrag, sondern die „Anpassungsprogramme“ als solche kritisieren möchte. So macht er den Vorwurf, dass wir überhaupt den Begriff „Anpassungsprogramm“ verwenden. Zunächst möchten wir klarstellen, dass es sich dabei um einen technischen Begriff handelt, der von der EU-Kommission selbst für diese Programme verwendet wird.1 Ferner ist festzuhalten, dass es das Ziel eines solchen Programms ist, die öffentlichen Haushalte so zu stabilisieren, dass nach Programmabschluss eine eigenständige Haushaltsführung mit Rückkehr an die Kapitalmärkte möglich ist und das Land die entstandenen Zahlungsverpflichtungen an die öffentlichen Gläubiger bedienen kann. Wirtschaftliche Prosperität und ein hoher Beschäftigungsstand, so wünschenswert sie auch sein mögen, haben wir daher nur indirekt diskutiert, da dies nicht die Kriterien für die Beendigung eines Anpassungsprogramms sind. Erfolg meint daher ausschließlich, dass ein „Anpassungsprogramm“ tatsächlich beendet werden kann, ohne dass das Land in eine Staatspleite geht oder ein weiteres Programm nachfolgt. Diese Definition von Erfolg ist den „Anpassungsprogrammen“ inhärent und impliziert weder ein Werturteil über die Zweckmäßigkeit der „Anpassungsprogramme“ selber, noch negiert es die drastische Verschlechterung der sozialen Lage in Griechenland in den vergangenen Jahren.

In unserem Artikel2 aus dem August-Heft ging es ausschließlich um die Rolle der „ownership“ und der mit ihr verbundenen politischen Unsicherheit als zusätzlichem Aspekt für den Erfolg bzw. Misserfolg von „Anpassungsprogrammen“, speziell im Falle Griechenlands. Dies bezieht sich insbesondere auf die Eintrübung der wirtschaftlichen Situation Griechenlands zum Jahreswechsel 2014/2015, auf die der Autor mit keinem Wort eingeht und für den es anscheinend auch keine Erklärung gibt, wenn man den Blick auf Sparmaßnahmen als alleinige Krisenursache verengt. Dies impliziert keineswegs, dass wir die Wirkung von Fiskalmultiplikatoren negieren oder absprechen, dass Fiskalmultiplikatoren in Zeiten von Krise und Unterauslastung größer sind als in Zeiten der Prosperität und Hochkonjunktur. Dieser Aspekt wird von unserer Seite an anderer Stelle deutlich betont.3

Falsch eingeschätzte Fiskalmultiplikatoren

In der damit zusammenhängenden Diskussion des Beitrags von Blanchard und Leigh4, auf die auch Niemeier eingeht, geht es eben nicht darum, wie stark Fiskalmultiplikatoren tatsächlich sind, sondern wie stark der IWF sie eingeschätzt hat und inwieweit dies falsch war. In dem Zusammenhang haben wir in unserem Beitrag ausgesprochen vorsichtig formuliert, dass mangelnde „ownership“ die Rolle der falsch eingeschätzten Fiskalmultiplikatoren „zumindest relativieren“ könne bzw. dass diese Fehleinschätzung „zumindest teilweise“ auf nicht-antizipierte politische Unsicherheitsschocks zurückgehen könne. Hier macht uns Ernst Niemeier den Vorwurf, dass wir die Studie unsachgemäß als mögliches Artefakt diskutieren, weil wir keine empirische Grundlage anbieten, die die allgemeine Gültigkeit der Ergebnisse in Zweifel zieht. Er geht zudem davon aus, dass dies nicht gelingen wird (S. 68 f.).

An dieser Stelle möchten wir, wie auch schon in unserem Beitrag im August-Heft, auf eine Arbeit der Europäischen Kommission5 und vor allem auf Blanchard und Leigh selbst verweisen. In der Arbeitspapierversion ihres Beitrags fragen sie: „How special is the crisis period?“, und fahren fort: „We find no evidence of fiscal multipliers being underestimated, on average, during these more normal times.“6 Bereits im erstgenannten Beitrag von Blanchard und Leigh findet sich, dass der Zusammenhang für Schwellenländer auch in der Krisenzeit nicht gefunden wird.7 Die Feststellung, dass diese Krise anders ist, bringen also nicht wir auf, sondern stammt von Blanchard und Leigh selbst.

Heterogenität der Länder

Ferner wirft uns der Autor vor, dass wir „Sonderfaktoren“ vernachlässigen würden, wenn wir zwischen dem Maß an politischer Unsicherheit und dem Erfolg der „Anpassungsprogramme“ einen Zusammenhang herstellen. Wir möchten darauf hinweisen, dass wir die Heterogenität der betroffenen Länder durchaus diskutiert haben, auch wenn wir nicht explizit die nach Ernst Niemeier offenbar sehr positiven Wirkungen niedriger Unternehmensteuern aufgegriffen haben. Allerdings bestätigt die Episode 2014/2015 den genannten Zusammenhang, und zudem wurden im August-Heft bestehende empirische wie theoretische Arbeiten in der Literatur aufgegriffen, die die Rolle von politischer Stabilität bzw. Unsicherheit und wirtschaftlicher Dynamik diskutieren.8 Diese Literatur nimmt der Autor offenbar nicht zur Kenntnis.

Bemerkenswert am Vorwurf, die Heterogenität der Länder unzureichend zu berücksichtigen, ist auch, dass mit Blick auf Griechenland aus Sicht des Autors ausschließlich die Fiskalpolitik relevant ist, also keine weiteren Einflüsse von Bedeutung sein können (oder besser dürfen), während es sich für Irland eben anders verhält. Im Fall von Griechenland sollte beispielsweise beachtet werden, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht allein durch die staatlichen Sparmaßnahmen beeinträchtigt war, sondern auch durch einen massiven Einbruch der privaten Investitionen, die von 50 Mrd. Euro (2007) über 38,7 Mrd. Euro (2009) auf 13,9 Mrd. Euro (2014) zurückgingen.9 Die Vermutung liegt nahe, dass insbesondere private Investitionen auch durch ein hohes Maß an politischer Unsicherheit gedämpft wurden.

Simulationsrechnung des IMK

Abschließend noch einige Gedanken zur Überlegung des Autors, die Austerität auszusetzen und erst wieder „nach der Erholung“ und zeitlich gestreckt zu konsolidieren, da die Fiskalmultiplikatoren in einer solchen Phase deutlich geringer seien.10 Die Simulationsrechnung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) legt nahe, dass durch ein solch alternatives Vorgehen die Wirtschaftsleistung deutlich weniger eingebrochen wäre und sich die Schuldenstandsquote weniger verschlechtert hätte, als es nun zu beobachten war. Aus folgenden Erwägungen hegen wir Zweifel daran, dass dieser Lösungsvorschlag die Situation der Krisenländer ohne größere Verwerfungen bereinigt hätte:

  • Erstens geht die Analyse davon aus, dass die in Rezessionen kurzfristig höher gemessenen Fiskalmultiplikatoren auch die langfristige Wirkung eines Fiskalimpulses messen, was durchaus umstritten ist.11
  • Zweitens wird implizit unterstellt, dass die griechische Ökonomie 2010 vor allem ein konjunkturelles und nicht ein strukturelles Problem hatte. Eine Aussetzung von Sparanstrengungen im Jahr 2010 hätte bedeutet, dass die Staatengemeinschaft zunächst ein jährliches griechisches Budgetdefizit von etwa 15% in Relation zur Wirtschaftsleistung hätte finanzieren müssen (zusätzlich zur Ablösung der fällig werdenden Staatstitel). Dies entspräche einem massiven Zustrom von Finanzmitteln aus dem Ausland zum Zweck der kurzfristigen Nachfragestabilisierung. Die griechische Wirtschaftsstruktur war jedoch ohnehin zu stark auf Staatsausgaben und auf eine externe Finanzierung ausgerichtet, was steigende Staatsschuldenquoten in wirtschaftlich „normalen“ Zeiten und hohe Leistungsbilanzdefizite nahe legen. Bei der Umsetzung eines solchen Vorschlags würde dieser Zustand künstlich aufrechterhalten und ein nötiger Strukturwandel womöglich nur aufgeschoben.
  • Drittens hatte Griechenland ein Problem mit hohen Leistungsbilanzdefiziten und einer steigenden Nettoauslandsverschuldung. Wenn heimische Erzeugerpreise und Löhne im internationalen Vergleich zu hoch sind, um ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu erreichen, dann sind innerhalb einer Währungsunion schmerzhafte makroökonomische Anpassungsprozesse im Rahmen einer sogenannten „inneren Abwertung“ unausweichlich. Hinsichtlich dieser Problematik wäre Griechenland mit einer vorübergehenden Stabilisierung der Binnennachfrage keineswegs geholfen gewesen.

Portugal hat z.B. nach einer Krise zu Beginn der 2000er Jahre über viele Jahre eine „vorsichtige“ Konsolidierungspolitik betrieben und konnte trotzdem nicht den Ausbruch einer Schuldenkrise verhindern.12 Die Hoffnung, durch noch mehr Schulden (absolut und nicht relativ zum Bruttoinlandsprodukt) die jahrelangen Fehler der griechischen Finanz- und Wirtschaftspolitik ohne größere Verwerfung aus der Welt schaffen zu können, dürfte vorsichtig gesagt optimistisch sein.

  • 1 Zum Beispiel Europäische Kommission: The Economic Adjustment Programme for Greece, Occasional Papers, 61, Mai 2010.
  • 2 J. Boysen-Hogrefe, U. Stolzenburg: Rettungsprogramme und „Own-ership“ – Irland, Portugal und Griechenland im Vergleich, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 8, S. 534-540.
  • 3 Stolzenburg entwickelt ein agentenbasiertes makroökonomisches Modell, bei dem sich die Amplitude konjunktureller Ausschläge merklich vergrößert, wenn der Staat eine pro-zyklische Fiskalpolitik durchführt, in diesem Fall über steigende Steuersätze als Krisenreaktion. Vgl. U. Stolzenburg: The Agent-Based Solow Growth Model with Endogenous Business Cycles, Universität Kiel, Economics Working Paper, Nr. 2015-01, S. 30-33.
  • 4 O. Blanchard, D. Leigh: Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, in: American Economic Review, 103. Jg. (2013), H. 3, S.117-120.
  • 5 Europäische Kommission: European Economic Forecast – Herbst 2012, European Economy, Nr. 7, 2012.
  • 6 O. Blanchard, D. Leigh: Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, IMF Working Paper, Nr. 13/1, 2013, S. 16.
  • 7 O. Blanchard, D. Leigh Growth: Forecast Errors and Fiscal Multipliers, in: American Economic Review ..., a.a.O.
  • 8 Siehe z.B. N. Bloom: The Impact of Uncertainty Shocks, in: Econometrica, 77. Jg. (2009), H. 3, S. 623-685.
  • 9 In laufenden Preisen, Quelle: Ameco.
  • 10 IMK: Im Aufschwung. Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2015/16, Report 104, 2015, S. 29-32.
  • 11 Vgl. z.B. H. Uhlig: Understanding the Impact of Fiscal Policy, in: American Economic Review: Papers & Proceedings 100 (Mai 2010), S. 30-34; sowie B. Born, G. Müller, J. Pfeifer: Does Austerity Pay Off?, CEPR Discussion Paper Series, Nr. 10425, 2015.
  • 12 O. Blanchard: Adjustment within the euro. The difficult case of Portugal, in: Portuguese Economic Journal, 6. Jg. (2007), Nr. 1, S. 1-21.

Title:Rescue Programmes for Crisis Countries Worsened the Crisis – a Reply; Demand Policy is Not an Adequate Solution for Structural Crises – a Response

Abstract:In his reply, Niemeier accuses Boysen­Hogrefe and Stolzenburg of erroneously ascribing the failing of the Greek programme to insufficient “ownership”, whereas the true cause is – in his view – an inadequate austerity policy. The alleged success of this policy in Portugal and Ireland refers solely to GDP growth and ignores the continuing high levels of unemployment in those countries. Boysen­Hogrefe and Stolzenburg insist that the “success” of a rescue programme actually implies that the respective country is able to return to capital markets. The Greek crisis was structural rather than cyclical, so a temporary stabilisation of domestic demand (financed by additional foreign debt) would not have solved the issue.


DOI: 10.1007/s10273-016-1927-y

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