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Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz wird bald 50 Jahre alt. Neue Herausforderungen erfordern eine Wirtschaftspolitik, die weit über die Ziele des Gesetzes hinausweist. Sie muss wirtschaftliches Wachstum und Stabilität mit den Zielen fiskalischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit auf nationaler und europäischer Ebene verbinden. Der Autor gibt einen Über­blick über solche umfassenden Zielsysteme und leitet daraus ab, wie eine derart erweiterte wirtschaftspolitische Agenda in ein Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz eingefasst werden kann.

Die Ziele von Gesellschaft und Politik bleiben nicht unverändert. Neue Herausforderungen treten auf und verlangen nach Antwort und Regelung. Hinzu kommt eine steigende Wechselwirkung zwischen den einzelnen Regelungsbereichen und auch eine stärkere Integration im Raum: Nationale Zuständigkeiten werden ganz oder teilweise auf supranationale Institutionen übertragen, auf globaler Ebene werden Absichtserklärungen abgegeben und Verträge geschlossen.

Auch die Ziele der Wirtschaftspolitik erschöpfen sich schon seit Langem nicht mehr in Wachstum, Wettbewerb und Stabilisierung. Neben ihnen stehen als mindestens gleichberechtigte Ziele Tragfähigkeit und Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen, soziale Nachhaltigkeit, auch in Gestalt von Verteilungsgerechtigkeit, Zugang zu Bildung, Gleichbehandlung von Frau und Mann sowie ökologische Nachhaltigkeit.1

Das makroökonomische Zielparadigma wird sogar in seinem ureigenen Kern bestritten:

  • Das Wachstumsziel – gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) – wird immer mehr als zu eng und teilweise fehlleitend empfunden; es soll in einem weiter gefassten Wohlstandsziel aufgehen.
  • War das Interesse bisher primär auf Entstehung und Verwendung des Einkommens gerichtet, hat spätestens nach der Krise 2009 die Verteilung von Einkommen (und Vermögen) nicht nur als Ergebnis, sondern zunehmend als Ursache wirtschaftlicher Entwicklung und Krisen an Aufmerksamkeit gewonnen.

Die räumliche Entwicklung des Zielbereichs manifestiert sich in der immer stärkeren Delegation von Zuständigkeit an supranationale Gremien. Was als EGKS, EURATOM und EWG begann, hat heute mit der EU und EWWU einen damals nicht vorauszusehenden Grad an Integration erreicht. Die nationale Wirtschaftspolitik ist unter anderem mit der Strategie Europa 2020 und dem Euro-Plus-Pakt inhaltlich verzahnt und mit dem Europäischen Semester zeitlich synchronisiert. Im Einzelnen greift der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt massiv in die Autonomie der nationalen Finanzpolitik ein. Der zwischenstaatliche Fiskalpakt soll einer Schuldenbremse auch in den Mitgliedstaaten möglichst Verfassungsrang geben, wo dies bisher nicht der Fall ist. Auf derselben Regelungsverbindlichkeit bewegt sich seit wenigen Jahren das Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte. Der Bericht der fünf Präsidenten vom 22. Juni 2015 unter dem Titel „Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden“ beschreibt in Form eines Mehrstufenplans Sofortmaßnahmen und Schritte auf dem Weg zu einer vollständigen EWWU bis 2025, die eine stärkere Integration und damit einen weiteren Verzicht auf nationale Souveränität einfordern.2 Mit der Einführung des Euro und der Einrichtung von EZB/ESZB hat inzwischen die Mehrheit der Mitgliedstaaten der EU mit der Geld- und Währungspolitik sogar ein Instrument vergemeinschaftet, das zuvor im nationalen Rahmen ein Höchstmaß an Autonomie genossen hat. Weniger verbindlich, dafür globaler ist die Einbindung der nationalen Wirtschaftspolitik in internationale Gremien wie Vereinte Nationen, IWF/Weltbank oder OECD, um nur einige zu nennen.

Alte Ziele: Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz

Diesen Entwicklungen steht in Deutschland im Bereich der makroökonomischen Politik mit dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, kurz Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StabG), von 1967 ein Regelwerk gegenüber, das bald ein halbes Jahrhundert alt sein wird. Neben der vorherigen mikroökonomisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik mit Wettbewerbsaspekten als Zielgröße trat damals ein makroökonomischer Zielkatalog der „Globalsteuerung“: Wahrung des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ durch – gleichzeitig – Stabilität des Preisniveaus, hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum. Schon 1963 war ein Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) im Hinblick auf die Erreichung oder Verfehlung des oben genannten Zielvierecks sowie die Bildung und Verteilung von Einkommen und Vermögen mit eigenem Gesetz eingerichtet worden.

Trotz aller gravierender Veränderungen, Erfahrungen und Lehren seit fast fünfzig Jahren seines Bestehens kam es nicht zu einer zwischenzeitlichen Überprüfung oder gar Novellierung des StabG als „Grundgesetz der Prozesspolitik“.3 Grund hierfür könnte einerseits die Angst vor einer Überladung des Gesetzes mit weiteren Zielen („Tannenbaum-Effekt“) gewesen sein. Vielleicht war es aber auch nur die faktische Irrelevanz eines nachfrage­orientierten, fiskalinterventionistischen Gesetzes in Zeiten des angebotspolitischen Mainstream seit den 1980er Jahren bis heute. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vom Herbst 2013 und in ihrem Jahreswirtschaftsbericht 2014 erstmals eine Überprüfung des StabG gemeinsam mit dem Sachverständigenrat angekündigt.4 Im Ergebnis der gemeinsamen Überprüfung wird das StabG weder abgeschafft noch um weitere Ziele wie ökologische und soziale Nachhaltigkeit erweitert.5

Kein Weg ist in der Tat die ersatzlose Aufhebung des StabG, solange es nicht z.B. im Wege der Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion inhaltlich redundant und vom Geltungsbereich seine Grundlage verlieren würde. Kein Weg ist dagegen aber auch, es allein bei dem bisherigen Gesetz zu belassen. Angesichts des zwischenzeitlich massiv vertieften und erweiterten Handlungsbedarfs muss es eingebettet werden in einen breiteren Regelungskontext.

Tabelle 1
Übersicht über Bereiche und Indikatoren alternativer Zielsysteme
Bereiche/Indikatoren Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz1 Nationale Nachhaltigkeits- strategie2 Gesetzentwurf3 Deutsch-französische Expertise (SVR/CAE)4 Enquete- Kommission5 Jahreswohl- standsbericht6 Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission7 EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung8 Summe
Materieller Wohlstand und ökonomische Nachhaltigkeit
BIP/Kopf x x x x x     x 6
BIP/Arbeitsstunde x     x       x 3
Nettonationaleinkommen/Kopf       x         1
Verfügbares Einkommen/Kopf             x x 2
Nationaler Wohlstandsindex           x     1
Konsumausgaben x     x     x x 4
Private Anlageinvestitionen/BIP   x   x x     x 4
Forschung und Entwicklung/BIP   x   x       x 3
Leistungsbilanz x   x           2
Stabilität des Preisniveaus     x           1
Umweltschutzgüter/BIP           x     1
Nicht-Markt-Aktivitäten         x   x   2
Beschäftigungsquote x x x x x     x 6
Teilhabe Männer und Frauen (x) x x         x 3
Soziale Nachhaltigkeit
Einkommens-Quintil-Verhältnis (80/20); Vermögensverteilung x   x x/x x/x x x/x x 10
Armutsrisiko x             x 2
Bildung x x   x x x x x 7
Nachhaltige Staatstätigkeit
Defizit- und Schuldenquote x/x x/x   x x     x 7
Staatliche Nettoinvestitionen x             x 2
Fiskalische Nachhaltigkeitslücke       x         1
Lebensqualität
Gesundheit   x   x x   x x 5
Politische Teilhabe       x x x x   4
Persönliche Aktivitäten       x     x   2
Soziale Kontakte       x     x   2
Umweltbedingungen       x     x   2
Lebenszufriedenheit           x x   2
Unsicherheit       x     x   2
Finanzmarktstabilität
Kredit/BIP-Lücke       x x       2
Reale Aktienkurslücke       x x       2
Reale Immobilienpreislücke       x x       2
Ökologische Nachhaltigkeit
Treibhausgasemissionen/Kopf       x         1
Treibhausgasemissionen x x   x x     x 5
Rohstoffproduktion; Ressourceneffizienz x x   x       x 4
Rohstoff- und Primärenergieverbrauch   x   x       x 3
Erneuerbare Energien/Gesamt-energie   x           x 2
Biodiversität (Vogel-Index)   x   x x x x x 6
Ökologischer Fußabdruck           x     1
Stickstoff         x   x   2
Ökologisches Gleichgewicht     x           1
Globale Partnerschaft
Öffentliche Entwicklungshilfe/BIP   x           x 2
Summe 13 15 7 26 16 8 15 20 120

1 Werkbericht Nr. 4 der Projektgruppe des Denkwerks Demokratie „Ein neues „Magisches Viereck“ II“, Teil A „Eckpunkte und Entwurf für ein neues Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz“ vom November 2013, der im Wesentlichen auf Vorarbeiten von Dullien und van Treeck basiert. Vgl. S. Dullien, T. van Treeck: Ziele und Zielkonflikte der Wirtschaftspolitik und Ansätze für einen neuen sozial-ökologischen Regulierungsrahmen, Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2012. 2 Nationale Nachhaltigkeitsstrategie „Perspektiven für Deutschland“ aus dem Jahr 2002. Die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie enthält laut Indikatorenbericht 2014 21 Bereiche und 38 Indikatoren. Hier sind nur die 21 Indikatoren wiedergegeben, die in den gesamten, in der Tabelle aufgelisteten 40 Indikatoren enthalten sind, die auch von anderen Quellen genannt werden. Vgl. Bundesregierung: Nationale Nachhaltigkeitsstrategie, Perspektiven für Deutschland, 2002; Statistisches Bundesamt: Indikatorenbericht 2014, Nachhaltige Entwicklung in Deutschland, Wiesbaden 2014. 3 Entwurf eines Gesetzes für eine ökologisch-soziale Wirtschaft (Förderung der umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung der Wirtschaft – GösW) der Fraktion Die Grünen vom 19.7.1990. Vgl. hierzu E. Stratmann-Mertens, R. Hickel, J. Priewe (Hrsg.): Wachstum – Abschied von einem Dogma. Kontroverse über eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik, Frankfurt a.M. 1991. 4 Gemeinsame Expertise des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) und des französischen Conseil d´Analyse Économique (CAE) „Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorsystem“, Expertise im Auftrag des Deutsch-Französischen Ministerrats vom Dezember 2010. 5 Abschlussbericht der Projektgruppe 2 „Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators“ der Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität vom Januar 2013. 6 R. Zieschank, H. Diefenbacher: Endbericht zum Gutachten „Jahreswohlstandsbericht – Konzeptionelle und empirische Grundlagen“, Gutachten für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag vom Juli 2015. 7 Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission „Report of the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress“ vom September 2009. 8 EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung. Eurostat hat hier eine umfangreiche Liste von europäischen Nachhaltigkeitsindikatoren vorgelegt. Sie ist untergliedert in zehn Themen mit zehn Leitindikatoren und insgesamt mehr als 130 Einzelindikatoren, vgl. Eurostat: Veröffentlichungen, Indikatoren zur nachhaltigen Entwicklung, Luxemburg 2015. In der Synopse werden die zehn „Leitindikatoren (LI)“ sowie Unterindikatoren wiedergegeben, soweit sie in den gesamten, in der Tabelle aufgelisteten 40 Indikatoren enthalten sind, die auch von anderen Quellen genannt werden.

Neue Ziele: Materieller Wohlstand und ökonomische, fiskalische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit

Ein derart umfassender Ansatz erfordert zum einen die Auffächerung eines einzigen Ziels, z.B. des stetigen und angemessenen Wirtschaftswachstums in Indikatoren, die das BIP als Maßstab ergänzen. Zum anderen beinhaltet er neue Dimensionen, die bisher im StabG nicht enthalten sind. Zu nennen sind hier Ziele und Indikatoren zu Staats­tätigkeit und Staatsfinanzen sowie Einkommens- und Vermögensverteilung bzw. sozialen Dimension, zur Lebensqualität, ökologischen Dimension und Stabilität der Finanzmärkte, insbesondere unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Zur Lösung dieser Aufgabe gibt es unterschiedliche Ansätze. Allen gemeinsam ist die Ausweitung des Zielkatalogs. Tabelle 1 gibt einen Überblick über mögliche Indikatoren und Bereiche. Die Auswahl bemisst sich daran, ob die Quelle Gegenstand eines national oder EU-weit akzeptierten Konzepts werden kann. Ergänzend hinzuweisen ist auf teilweise umfangreiche Ziel- und Indikatorsysteme von Institutionen wie OECD, Weltbank oder UNEP.6

In Tabelle 1 wird deutlich, dass zum einen die Zahl der gewählten Indikatoren je nach Quelle stark differiert; sie liegt zwischen sieben und 26 bei einem Durchschnitt von 15 pro Quelle. Zum anderen zeigt die Summenspalte, dass manche Indikatoren explizit nur in einer Veröffentlichung angesprochen werden, so z.B. die Stabilität des Preisniveaus.7 Andere Indikatoren werden in mehreren Quellen verwendet, der (zusammengesetzte) Verteilungsindikator Einkommen/Vermögen sogar zehnmal. Insgesamt gibt es 120 Nennungen, d.h. im Durchschnitt drei Nennungen pro Indikator. Ferner zeigt sich, dass die einzelnen Bereiche unterschiedlich abgedeckt werden. So wird die Dimension Lebensqualität im Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz (WNG) und im Gesetzentwurf überhaupt nicht angesprochen. Die Finanzmarktstabilität ist nur in der Studie von SVR/CAE und im Bericht der Enquete-Kommission enthalten. Sehr zahlreich sind die Indikatoren, die für die Bereiche Materieller Wohlstand und Ökonomische Nachhaltigkeit sowie Ökologische Nachhaltigkeit verwendet werden. Ähnliches gilt für den Bereich Lebensqualität. Dagegen werden die Bereiche Soziale Nachhaltigkeit, Nachhaltige Staatstätigkeit und Finanzmarktstabilität durch relativ wenige Indikatoren repräsentiert.

Auswahl von Bereichen und Indikatoren

Die Auswahl der Bereiche und Indikatoren ist, wie die Synopse zeigt, unterschiedlich. Auch sind die Systeme unterschiedlich tief gegliedert; manche enthalten nur eine Stufe, andere zwei oder sogar drei.

Wohlstand und Nachhaltigkeit selbst liegen auf verschiedenen Ebenen. So sind Friede und Freiheit sowie die Wahrung der Menschenrechte und der Verfassung sicherlich Elemente von Wohlstand und Nachhaltigkeit, aber so generell, dass sie den in der Synopse genannten Bereichen vorgelagert sind und sich nicht unmittelbar in wenigen Indikatoren ausdrücken lassen. Generell ist schwer abgrenzbar, wo derartige überwölbende Kriterien beginnen oder sich in Bereiche und Indikatoren fassen lassen.

So enthält die Synopse den Bereich Lebensqualität mit den Indikatoren Gesundheit, Politische Teilhabe, Persönliche Aktivitäten, Soziale Kontakte, Umweltbedingungen, Lebenszufriedenheit und Unsicherheit, die dem Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission und der gemeinsamen Expertise der Sachverständigenräte entnommen sind. All diese Indikatoren spiegeln subjektives Befinden wider und sind – wie der Bereich selbst – qualitativer Art.8 Fast alle Indikatoren der anderen sechs Bereiche der Synopse sind unmittelbar quantitative Größen.

Was für diese Heterogenität der Indikatoren gilt, gilt auch für die Heterogenität der einzelnen Untersuchungen. Man kann nun versuchen, aus der Gesamtheit der Studien und Indikatoren ein Optimum herauszuschneiden nach Gesamtzahl und Abdeckung. Jede Studie beansprucht jedoch für sich, bereits eine optimale Zahl und Abdeckung zu enthalten. Deshalb wird hier ein anderes Vorgehen bevorzugt. Es wird eine Studie als Ausgangspunkt gewählt und diese soweit nötig modifiziert. In jedem Fall wünschenswerte Auswahlkriterien könnten sein:

  • Ein Optimum bei der Zahl der Indikatoren:9 ein einfacher Anhaltspunkt könnte der Durchschnitt der aus den untersuchten Quellen entnommenen Zahl an Indikatoren sein.
  • Eindeutigkeit, auch im Sinne von „justiziabel“, wenn die Indikatoren Gegenstand einer Regelung werden sollen; daher wenn möglich, quantifizierbare Indikatoren, gerade auch, um zeitliche Entwicklungen präziser und vergleichbarer abbilden zu können.
  • Indikatoren, die weitestgehend konsensfähig sind, d.h. z.B. von möglichst vielen der hier untersuchten Quellen genannt werden.

Es ist ersichtlich, dass keine der Quellen allen genannten Kriterien perfekt genügt. Allerdings kommt z.B. das Konzept des WNG den Auswahlkriterien relativ nahe; es wird hier als Repräsentant und Ausgangspunkt gewählt:

  • Die Zahl der Indikatoren (13) liegt nahe am Durchschnitt aller Quellen (15),
  • Eindeutigkeit und Quantifizierbarkeit sind bei allen Indikatoren gegeben,10
  • Die Indikatoren werden auch bei anderen Quellen – weit überwiegend sogar mehrfach – genannt.

An Modifikationen könnten folgende Indikatoren zusätzlich vorgesehen werden:

  • „Primärenergieverbrauch“ und „Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch“,11
  • Indikatoren zur Preisstabilität, Finanzmarktstabilität und Biodiversität,
  • bereinigte Lohnquote (im Rahmen der Einkommensverteilung),
  • Anteil von Forschung und Entwicklung am BIP sowie, weil oft genannt, Gesundheit.

Mit diesen Modifikationen beinhaltet das WNG die Ziele des StabG, wie sie auch in Art. 3 (3) EUV enthalten sind, sowie wesentliche weitere Ziele und Regelungen der EU.

Einige empirische Ergebnisse

Die Bereiche und Indikatoren können in der Praxis in eine unterschiedliche Beziehung zueinander gestellt werden. Eine erste Option ist die einfache Nebeneinanderstellung. Man beobachtet die Entwicklung der einzelnen Indikatoren und misst sie an den Zielen, soweit solche mit den Bereichen und Indikatoren verbunden sind. Bei diesem Vorgehen werden alle Ziele als gleich wichtig behandelt. Wechselwirkungen zwischen den Maßnahmen zur Erreichung der Ziele werden nicht berücksichtigt. Eine zweite Option kann einzelne Ziele in den Rang von bindenden Nebenbedingungen erheben, um deren Erreichung in jedem Fall zu sichern. Der Preis eines solchen Vorgehens wäre aber eine Einengung der Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, da Nebenbedingungen nicht mehr verhandelbar sind. Eine dritte Option ist die Gleichbehandlung aller Ziele in einem ersten Schritt, allerdings unter Beachtung ihrer Wechselwirkungen. Hierbei können sich Neutralität, Konflikte oder Synergien in der Erreichung unterschiedlicher Ziele ergeben. Im Falle von Konflikten können Nutzen in der Erreichung eines Zieles und dadurch verursachte Opportunitätskosten in der Verletzung eines anderen Zieles offengelegt und über ein optimales Austauschverhältnis (Trade-off) entschieden werden.

Einige empirische Ergebnisse zu möglichen Ziel­be­zie­hun­gen seien hier skizziert:12

  • Die Indikatoren des WNG wurden einem „Realitäts-check“ unterworfen. Er zeigt für Deutschland und den Zeitraum 2009 bis 2013 „…eine leichte Verbesserung des materiellen Wohlstands und der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen und der Staatstätigkeit, allerdings eine kontinuierliche Verschlechterung der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit.“13
  • Die EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung wird alle zwei Jahre in einem Bericht von Eurostat evaluiert. In den letzten fünf Jahren hat sich demnach das Pro-Kopf-Einkommen in der EU nicht oder nur geringfügig positiv verändert. Dagegen hat sich gleichzeitig das Risiko sozialer Ausgrenzung oder Armut deutlich erhöht. Im gleichen Zeitraum ist die Ressourcenproduktivität stark gestiegen. Erkennbar in die positive Richtung verbessert zeigen sich Treibhausgasemissionen und Primärenergieverbrauch.14
  • Für Großbritannien kommt eine Studie der New Economics Foundation zu dem Ergebnis, dass seit der Finanzkrise 2008 die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs ist. Wohlbefinden und Beschäftigung haben sich verbessert. Dagegen haben der Anteil der „guten“ Arbeitsplätze ab- und die Einkommensungleichheit zugleich weiter zugenommen; die Umweltsituation gibt insbesondere wegen der aktuellen CO2-Emissionen Anlass zur Sorge.15

Die Ergebnisse signalisieren

  • eine Gegenläufigkeit von materiellem Wohlstand und ökologischer Nachhaltigkeit,
  • einen Gleichlauf von materiellem Wohlstand und nachhaltigen Staatsfinanzen,
  • eine wachstumsneutrale permanente Verstärkung in der Spreizung der Einkommensverteilung.

Die Autoren der Studie zum WNG sprechen von einem „neuen Magischen Viereck“ zwischen dessen vier Oberzielen. Sie begründen demnach ein Spannungsfeld: Es gibt Austauschbeziehungen (Trade-offs) und Opportunitätskosten zwischen den Zielen. Eine gleichzeitige Verbesserung bei allen Zielen bedarf offenbar der „Magie“.

Zur „Magie“ zwischen den Zielen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes

Mit dem Begriff des Neuen Magischen Vierecks macht das WNG eine Anleihe beim alten Magischen Viereck des StabG. Diese Parallele ist aber nicht unproblematisch. Sie setzt voraus, dass schon zwischen den vier Zielen des StabG ein unauflösbares Spannungsfeld besteht. Ein Blick zurück zeigt tatsächlich Epochen, in denen es zwischen den Zielen des StabG massive Konfliktsituationen gegeben hat, so in (West-)Deutschland in den Zeiträumen 1976/1980, 2001/2005 sowie zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone im Vorfeld der Krise 2010. Es gab aber auch Situationen, in denen alle oder fast alle Ziele des StabG verletzt waren, so in (West-)Deutschland während der ersten Ölpreiskrise 1974/1975, der zweiten Ölpreiskrise 1981/1983 und in den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung. Es gab zudem auch Phasen, in denen sich alle Zielgrößen gleichzeitig positiv entwickelten, so in den beiden Nachkriegsdekaden oder in der Periode vor und während der Wiedervereinigung 1986/1991.

Weder in der Empirie noch in der Theorie gibt es also zwangsläufig die behauptete Magie. Konflikte zwischen den Einzelzielen des StabG sind das Ergebnis eines mangelhaften Zusammenspiels von Geld-/Währungs-, Fiskal- und Lohnpolitik. Unter der Voraussetzung eines konsistenten kooperativen makroökonomischen Policy-Mix sind dagegen alle vier Ziele des StabG nicht nur zugleich erreichbar; sie bedingen sogar einander, weil jedes Instrument in Bezug auf sein Ziel nicht autark und in Bezug auf die Ziele der jeweils anderen Akteure nicht neutral ist, legt man die mehrheitliche Zuordnung von Zielen und Instrumenten zugrunde.

Da die Ziele des StabG auch eine „Teilmenge“ des ersten Oberziels des WNG bilden, gilt diese Widerspruchsfreiheit auch innerhalb dieses Oberziels. Hier verbleibt das optionale Ziel der Finanzmarktstabilität. Dieses Ziel ist über die separate Setzung geeigneter Rahmenbedingungen auf den Finanzmärkten zu erreichen, ohne dass davon andere Ziele des WNG berührt werden.

Wechselwirkungen zwischen den Oberzielen des Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetzes

Ein zwangsläufiger, „magischer“ Konflikt zwischen den Zielen des StabG lässt sich also nicht belegen. Wie sieht es mit der behaupteten Magie im WNG aus? Im Folgenden sollen Wechselwirkungen jedes der vier Oberziele in Bezug auf die jeweils drei anderen geprüft werden (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2
Wechselwirkungen zwischen den Oberzielen des Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetzes1
Oberziel beeinflusst: Materielle Wohlfahrt/ ökonomische Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit/Staats­finanzen Soziale Nachhaltigkeit Ökologische Nachhaltigkeit
Materielle Wohlfahrt/ ökonomische Nachhaltigkeit   + + o
Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit/ Staatsfinanzen +   + +
Soziale Nachhaltigkeit + +   +
Ökologische Nachhaltigkeit + + +  

1 Nach vollzogenem Strukturwandel.

Quelle: Eigene Darstellung.

  • Materieller Wohlstand und Ökonomische Nachhaltigkeit: Eine hohe und zunehmende Produktivität pro Kopf sowie eine hohe Beschäftigungsquote bei ausreichendem privatem und öffentlichem Konsum sorgen für ausreichende staatliche Mittel. Natürlich kann ein Staat auch bei bester wirtschaftlicher Entwicklung mehr ausgeben als einnehmen. Er kann sich andererseits auch „totsparen“. Prozyklisches Verhalten ist nicht ausgeschlossen. Bei vernünftiger Fiskalpolitik erlaubt aber eine gute wirtschaftliche Entwicklung die Einhaltung der Schuldenbremse und des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts und stellt Mittel bereit für mehr Nettoinvestitionen des Staates. Eine nachhaltig hohe Beschäftigung ist zugleich wesentliche Voraussetzung für soziale Nachhaltigkeit: Nichts ist unsozialer als Arbeitslosigkeit. Auch stehen dann mehr Mittel für eine gewünschte Umverteilung und für mehr Bildung zur Verfügung. Aus ökologischer Sicht sind Materieller Wohlstand und Ökonomische Nachhaltigkeit in der derzeitigen Form mit dem Verbrauch von nicht erneuerbaren Ressourcen und mit Umweltzerstörung verbunden. Erforderlich ist ein radikaler Wandel in der Struktur von Produktion und Konsum. Wird dies erreicht, fällt die Beziehung schwach negativ bis neutral aus, zumal wenn die neue Wirtschaftsstruktur auch auf eine Korrektur von eingetretenen Umweltschäden gerichtet ist. Eine gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung hilft zugleich, Friktionen zu minimieren, die sich aus dem strukturellen Wandel hin zu einem umweltfreundlichen, präziser: umweltneutralen Wirtschaften ergeben können.
  • Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen: Nachhaltige Staatsfinanzen stellen Mittel bereit für eine automatische oder diskretionäre Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Nachhaltige Staatstätigkeit verbessert über ausreichende Nettoinvestitionen jeder Art materielle und immaterielle Infrastruktur. Sie verbessert damit die gesamtwirtschaftliche Produktivität und Beschäftigung. Darüber hinaus stellt sie alle die materiellen und immateriellen öffentlichen Güter bereit, die private Wirtschaftstätigkeit nicht produziert. Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ist auch eine Voraussetzung für sozial orientierte Umverteilung öffentlicher Mittel. Ökologisch vorteilhaft kann eine Umsteuerung von staatlichen Mitteln hin zur Vermeidung und Korrektur von Umweltschäden und zur Beschleunigung des ökologisch erforderlichen Strukturwandels sein.
  • Soziale Nachhaltigkeit: Eine stabile Einkommensverteilung, die Einseitigkeit und Extreme vermeidet, ist eine Voraussetzung für eine tendenzielle Stabilität der Gesamtnachfrage, d.h. der Konsum- und Binnennachfrage sowie der Importe und damit auch des Leistungsbilanzsaldos sowie für ein nachhaltiges Steueraufkommen. Studien weisen darauf hin, dass es ein Maß an Ungleichheit gibt, ab dem die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigt wird, insbesondere weil dann der Zugang zur Bildung für zu wenige offen steht.16 Je nach Ausgangslage kann dazu eine stärkere gesellschaftspolitisch erwünschte Korrektur der marktmäßigen primären Einkommensverteilung hin zu einer sozial orientierten sekundären Verteilung erforderlich sein. Ein besserer Zugang zur Bildung und erfolgreiche Abschlüsse als Einzelziel sozialer Nachhaltigkeit bedeuten dann künftig einen höheren Wohlstand, ein höheres Steueraufkommen und wohl auch eine höhere Akzeptanz von ökologischer Nachhaltigkeit.
  • Ökologische Nachhaltigkeit: Ohne Ökologische Nachhaltigkeit sind weder Produktion noch Konsum und damit nachhaltige Staatsfinanzen auf Dauer möglich. Ähnlich verhält es sich zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und Wohlstand im Sinne von Wohlbefinden.17 Um eine solche Situation zu vermeiden, muss die Wirtschaftsstruktur umweltneutral umgelenkt werden. Wenn diese Einsicht in individuelle Präferenzen eingeht, erhöhen ein entsprechendes Regelwerk und politisches Handeln auch die Wohlfahrt. Wo ohnehin eine hohe Präferenz für eine intakte Umwelt besteht, sind ökologische Nachhaltigkeit und eine entsprechende Produktions- und Konsumstruktur unmittelbar wohlfahrtssteigernd. Mit dem jeweils vorhandenen Produktionspotenzial werden dann relativ mehr Umweltgüter erhalten oder (re-)produziert und entsprechend relativ weniger konventionelle Güter erstellt. Wenn sich die Einkommensforderungen diesem verringerten und weniger wachsenden Verteilungsspielraum für konventionelle Güter anpassen, dann ist diese umweltfreundliche Struktur auch neutral in Bezug auf Preisniveau und preisliche Wettbewerbsfähigkeit.

Eine eigene Frage ist die des Übergangs von der aktuellen in eine umweltfreundliche Wirtschaftsstruktur. Hierbei kann es zu Friktionen kommen, wenn z.B. der Abbau von Arbeitsplätzen in der alten Struktur schneller vorangeht als die Schaffung von Arbeitsplätzen in der neuen, gewünschten Struktur. Die Dauer der Friktion kann aber kurz gehalten werden, wenn der strukturelle Wandel durch eine gesamtwirtschaftliche beschäftigungsfördernde Wirtschaftspolitik und – soweit nötig – arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen flankiert wird.

Im Zuge einer ökologischen Umsteuerung können fiskalische Anreize diesen Prozess beschleunigen. Diese können jedoch durch Abgaben auf umweltbelastende Aktivitäten aufkommensneutral gegenfinanziert werden. Sie stellen dann die fiskalische Nachhaltigkeit nicht infrage. Soziale Nachhaltigkeit kann durch ökologische Nachhaltigkeit kurzfristig beeinträchtigt werden. Öko-Steuern und -Abgaben sowie andere preiserhöhende Maßnahmen haben regressive Effekte. Andererseits ist schon heute vielfach zu sehen, dass zunehmende Umweltschäden ärmere Schichten und Regionen massiv treffen. Verstärkter Umweltschutz vermeidet diese Art der Regression. Regressive Effekte sind keine Besonderheit der Umweltpolitik. Sie können daher wie in anderen Fällen durch sekundäre Einkommensverteilung vermindert oder ausgeglichen werden.

  • Fazit: Die Überprüfung von Wechselwirkungen zwischen den vier Oberzielen des WNG belegt die Möglichkeit einer Synergie statt einer „Magie“ im Sinne zwangsläufiger Konflikte (vgl. Tabelle 2). Voraussetzung dafür ist eine Wirtschaftspolitik, die makroökonomische Stabilität bei Wachstum, Beschäftigung, Preisentwicklung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht mit dynamischem Wandel hin zu einer nachhaltigen fiskalischen, sozialen und ökologischen Wirtschaftsstruktur verbindet.

Ein Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz

Die Eckpunkte eines Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetzes sind zwischen unterschiedlichen Zielsystemen angesiedelt. Das WNG ordnet sich hier wie folgt ein:

  • Seine Ziele sind keine hinreichenden, aber teilweise notwendige Bedingungen für die Erreichung von mehr Lebensqualität und anderer qualitativer Ziele.
  • Es schließt die Ziele des StabG mit ein; es ergänzt sie um weitere ökonomische und um fiskalische, soziale und ökologische Ziele.
  • Es löst sich von der einseitigen fiskalpolitisch-nachfrageseitigen Instrumentierung des StabG, mit der allein die Vielfalt seiner Ziele von Anfang an nicht zu erreichen war. In Umsetzung des ersten Oberziels sollte das WNG vielmehr die Rolle von Geld- und Währungs-, Fiskal- und Lohnpolitik gemeinsam betrachten und diese zu einem konsistenten stabilitäts- und beschäftigungsorientierten makroökonomischen Policy-Mix verbinden.18
  • Alle Oberziele sind nicht automatisch, aber bei einer auf Synergie gerichteten Wirtschaftspolitik sogar gleichzeitig zu erreichen.19
  • Oberziele und Indikatoren schließen zugleich nationale wie EU-weite Regelungen mit ein und sind auf beiden Ebenen umsetzbar.
  • Das WNG ist in der Zahl seiner vier Oberziele und seiner Indikatoren überschaubarer als große Indikatoren-Systeme.

Ebenso wichtig wie eine optimale Konfiguration von Zielen ist deren Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit. Im Werkbericht des Denkwerks Demokratie wird vorgeschlagen, das Konzept des WNG in die Form eines Gesetzes zu fassen. Wie dort gefordert soll das WNG wie das StabG und die Schuldenbremse dabei in der nationalen Verfassung verankert werden. Da eine Synergie der vier Oberziele möglich ist, ist Verbindlichkeit in gesetzlicher Form auch vertretbar.

Im Rahmen der EU könnte das WNG-Konzept in Form eines Vertrags umgesetzt werden: Die Oberziele des WNG entsprechen den Zielen des Art. 3 EUV; sie nehmen wesentliche Elemente des Stabilitäts- und Wachstums­pakts sowie der Verordnung zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte auf. Ziele und Indikatoren des WNG haben eine große Schnittmenge mit der Strategie Europa 2020 und könnten am Ende des Europäischen Semesters Gegenstand der Länderspezifischen Empfehlungen sein, die bereits auf Arbeit und Soziales fokussiert worden sind. Sollte eine unmittelbare Umsetzung im EU-Rahmen mit Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten noch nicht möglich sein (Top-down), sollte – wie im Werkbericht beschrieben – ein WNG erst auf nationaler Ebene unter Berücksichtigung der EU-Verpflichtungen beschlossen werden. Es könnte so Vorreiter und Blaupause für eine spätere EU-weite Regelung werden (Bottom-up).20

Der Gesetzestext selber kann sich an der Struktur des StabG orientieren. Der Werkbericht enthält einen Text-Entwurf für ein „Gesetz zur Förderung des Wohlstands und der Nachhaltigkeit (Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz)“.21 Er wahrt die Diktion des StabG weitestgehend und ändert den Inhalt nur insofern, wie es das WNG-Konzept in seinem ersten Entwurf erfordert. Das betrifft Ober- und Einzelziele, den Jahreswohlstandsbericht, das Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung von Wohlstand und Nachhaltigkeit, den Wohlstands- und Nachhaltigkeitsdialog und die Bund-Länder-Abstimmung. Der Entwurf verweist auf das Unionsrecht, das es zur Entstehungszeit des StabG so noch nicht gab. Ein letzter Paragraph ist (offener) Anknüpfungspunkt für Maßnahmen und Instrumente. Diese könnten an den tiefer gegliederten Indikatoren der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie oder der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung anknüpfen.

Wenn das StabG nicht durch das WNG ersetzt werden, sondern unverändert bleiben soll, kann es als Ausführungsgesetz des WNG fungieren. Seine vier Ziele sind bereits in der Beschreibung des ersten Oberziels des WNG enthalten.22

Schlussbemerkung

Der Vorschlag eines Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetzes muss sich abschließend mit einer fundamentalen Kritik auseinandersetzen, die da lautet: Die Komplexität eines mehrdimensionalen Gesetzes ist für den Gesetzgeber einfach zu hoch und jede einzelne Dimension wird durch deren Vielzahl verwässert. Darauf ist zu antworten: Gerade die Offenlegung von Wechselwirkungen zwischen einzelnen Nachhaltigkeitszielen zeigt Gesellschaft und Politik Entscheidungs- und Handlungsbedarf auf; gegenüber einem Nebeneinander und einer Engführung bisheriger Regelungen eröffnet eine Gesamtschau realistische Optionen und Alternativen mit dem Ziel, aus Konflikten zu Synergien zu gelangen. In dieser „Gleichzeitigkeit“ in der Erreichung aller Ziele sah der Gesetzgeber damals den Auftrag des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes. Angesichts neuer Herausforderungen und Ziele heute sollte er für das Erreichen von Wohlstand und Nachhaltigkeit nicht weniger von sich verlangen.23

  • 1 So hat es die „Schuldenbremse“ bis in die deutsche Verfassung geschafft. Der Haushaltsausgleich ist insofern nicht mehr eine gegen andere Ziele austauschbare Option, sondern zwingende Nebenbedingung staatlichen wirtschaftspolitischen Handelns geworden.
  • 2 J.-C. Juncker, D. Tusk, J. Dijsselbloem, M. Draghi, M. Schulz: Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden. Bericht der fünf Präsidenten vom 22. Juni 2015.
  • 3 K. Schiller: Konjunkturpolitik und Affluent Society, Vortrag im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel am 26. Januar 1968, Kieler Vorträge NF, Nr. 54; zuletzt H. Michaelis, S. Elstner, C. M. Schmidt: Überprüfung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 12, S. 834 f.; §§ 26-31 StabG wurden inzwischen ersatzlos gestrichen. Der Versuch einer Novellierung über den Entwurf eines Gesetzes für eine ökologisch-soziale Wirtschaft (Förderung der umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung der Wirtschaft – GösW) der Fraktion Die Grünen vom 19.7.1990 wurde nicht realisiert. Vgl. hierzu E. Stratmann-Mertens, R. Hickel, J. Priewe (Hrsg.): Wachstum – Abschied von einem Dogma. Kontroverse über eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik, Frankfurt a.M. 1991.
  • 4 Vgl. Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 2014, Ziff. 75.
  • 5 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2015/2016, Wiesbaden 2015, Ziff. 576 und Kasten 20; vgl. auch H. Michaelis et al., a.a.O., S. 836.
  • 6 Darüber hinaus enthält insbesondere der Abschlussbericht der Projektgruppe 2 der Enquete-Kommission eine umfangreiche Darstellung alternativer Indikatoren und Modelle als Monetäre Wohlfahrtsindikatoren, Mehrkomponentenindikatoren, Nachhaltigkeitsindizes und -indikatoren, Sätze von Schlüsselindikatoren sowie Indikatoren zu subjektivem Wohlbefinden.
  • 7 In der Quelle WNG sind Preisstabilität und Finanzmarktstabilität bisher nur als optionale Indikatoren enthalten.
  • 8 Sie werden im Sachverständigenratsgutachten denn auch – bis auf eine Ausnahme – zusätzlich durch eine operative Größe quantifiziert, die wiederum teilweise sehr speziell ausfällt. So z.B. werden „Persönliche Aktivitäten“ am „Anteil der Arbeitnehmer in Schichtarbeit“ repräsentiert und gemessen.
  • 9 Mit Blick auf dort aufgeführte wissenschaftliche Ergebnisse zu Aufnahme- und Erinnerungsfähigkeit begrenzt die Studie „Five Headline Indicators for National Success“ die Zahl der Oberziele auf fünf: Good jobs; Wellbeing; Environment; Fairness; Health. Vgl. K. Jeffrey, J. Michaelson: Five Headline Indicators for National Success, New Economics Foundation, October 2015.
  • 10 Der Indikator „Bildung“ wird durch „Schulabgänger ohne Sek-II-Abschluss“, der Indikator „Armutsrisiko“ durch „60% des Medianeinkommens“ repräsentiert.
  • 11 Im Zuge einer Evaluation der WNG-Studie wurden zusätzlich auch diese Indikatoren untersucht, vgl. S. Dullien: Das neue „Magische Viereck“ im Realitätscheck, Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2015.
  • 12 Der jüngste Indikatorenbericht des Statistischen Bundesamts gibt detailliert Auskunft über alle 38 Indikatoren, beinhaltet aber keine Zusammenfassung, die in der gebotenen Kürze wiedergegeben werden könnte, vgl. Statistisches Bundesamt: Indikatorenbericht 2014, Nachhaltige Entwicklung in Deutschland, Wiesbaden 2014.
  • 13 Vgl. S. Dullien, a.a.O., S. 6; für detaillierte Ergebnisse zu den Oberzielen und Indikatoren des WNG vgl. E. Klär, F. Lindner, K. Sehovic: Maßnahmen einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik im Sinne eines „neuen Magischen Vierecks“, in: Denkwerk Demokratie. Ein neues „Magisches Viereck“ II, Teil B, Werkbericht Nr. 4, November 2013, S. 14 ff.
  • 14 Die Ergebnisse für Deutschland und die EU müssen vor allem vor dem Hintergrund der – unterschiedlichen – konjunkturellen Entwicklung dort insbesondere während und nach der Eurozonenkrise gesehen werden.
  • 15 S. K. Jeffrey et al., S. 7.
  • 16 Vgl. z.B. International Monetary Fund: Redistribution, Inequality, and Growth, prepared by J. D. Ostry, A. Berg, C. G. Tsangarides, authorized for distribution by O. Blanchard, April 2014.
  • 17 Anschauliches (Negativ-)Beispiel ist z.B. der Smog, wie er derzeit in chinesischen und indischen Megastädten zu sehen ist.
  • 18 Diese Elemente wären auch bei einer ausschließlichen Novellierung des StabG zu berücksichtigen gewesen. Vgl. W. Koll: Neue Wirtschaftsregierung und Tarifautonomie in der Europäischen Union – Makroökonomische Koordinierung im Dialog, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Studie 30, März 2013, S. 67 ff. zur Koordination zwischen Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik und – in Ergänzung zum Makroökonomischen Dialog auf EU-Ebene – zur Schaffung ähnlicher Einrichtungen auf nationaler Ebene und eines Makroökonomischen Dialogs auf Ebene der Eurozone, wie er inzwischen auch im Bericht der fünf Präsidenten gefordert wird. Vgl. J.-C. Juncker et al., a.a.O., S. 24.
  • 19 Bei einem politisch verursachten Trade-off ermöglicht die Gesamtschau der Oberziele immerhin eine Schätzung der Opportunitätskosten.
  • 20 Vgl. Denkwerk Demokratie: Ein neues „Magisches Viereck“ II, Teil A: Eckpunkte und Entwurf für ein neues Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz, Werkbericht Nr. 4, November 2013), S. 9.
  • 21 Vgl. ebenda, S. 11 ff.
  • 22 Vgl. ebenda, S. 6.
  • 23 Das gilt insbesondere auch für das von der Bundesregierung angekündigte „Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität in Deutschland“ im Gefolge des Bürgerdialogs „ Gut leben in Deutschland“, vgl. Bundesregierung (2014), Ziff. 74.

Title:From the German Act to Promote Economic Stability and Growth to an Act to Promote Welfare and Sustainability

Abstract:The German Act to Promote Economic Stability and Growth will soon be 50 years old. New challenges require an economic policy which transcends the aims of this law. The new policy has to combine economic growth and stability with fiscal, social and ecological sustainability, both at the national and European levels. The author provides an overview on such comprehensive target systems and puts forward ideas on how to integrate the enlarged economic policy agenda into an Act to Promote Welfare and Sustainability.


DOI: 10.1007/s10273-016-1923-2