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Seit Ausbruch der Eurokrise befindet sich die Architektur der Europäischen Währungsunion in einer Dauerreform, die aller Voraussicht nach auch in den nächsten Jahren nicht abgeschlossen sein wird. Trotzdem ist der Euroraum immer noch nicht krisenfest. Besonders die anhaltende Wachstumsschwäche und die weiter mangelnde makroökonomische Koordinierung geben Grund zur Sorge.

In praktisch keinem wirtschaftspolitischen Bereich hat es im vergangenen Jahrzehnt so viele Veränderungen und Reformen gegeben wie bei der Governance der Europäischen Währungsunion. So wurden als Reaktion auf die Eurokrise innerhalb kürzester Zeit die Fiskalregeln für die Euro-Mitgliedstaaten mehrfach verschärft, neue Verfahren für den Umgang mit makroökonomischen Ungleichgewichten eingeführt, die Aufsicht und Abwicklung von Banken im Rahmen der Bankenunion europäisiert und eine Reihe von Kreditfazilitäten für Euro-Mitgliedstaaten mit Finanzierungsschwierigkeiten geschaffen. Dabei ist der Prozess aller Voraussicht nach noch nicht zu Ende: Der jüngste „Fünf-Präsidenten-Bericht“ (der Präsidenten des Europäischen Rats, der EU-Kommission, der Eurogruppe, der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Parlaments) sieht einen bis 2025 andauernden Prozess weiterer Reformen vor, in dem der Währungsunion eine „felsenfeste und transparente Architektur“1 verpasst werden soll.2

Dieser Beitrag analysiert die bereits umgesetzten und derzeit konkret diskutierten Reformen anhand der Frage, ob sie wirklich die Europäische Währungsunion krisenfest machen. Dazu wird im ersten Schritt zusammengefasst, welche Ursachen die Eurokrise hatte, um im zweiten Schritt zu analysieren, inwieweit die Reformen diese Krisenursachen adressiert haben.

Sieben Krisenelemente

Auch wenn zeitweise in der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck vorherrschte, bei der Eurokrise handele es sich um eine Staatsschuldenkrise, sind sich Ökonomen inzwischen einig, dass die Krise deutlich komplexer war und Probleme mit Haushaltsdisziplin bestenfalls ein Element unter vielen waren. So spricht Shambaugh von drei Krisen, Fratzscher sogar von vier Krisen.3 Jeder dieser Krisen kann dabei wiederum zum Teil mehr als eine Ursache zugeordnet werden. Am Ende lassen sich die Ursachen in sieben Krisenelementen zusammenfassen:4

  1. Unsolide Staatsfinanzen: Zumindest im Falle Griechenlands, aber auch im Falle Portugals hat es vor Ausbruch der Krise eine klar problematische Finanzpolitik gegeben. Die Defizite lagen regelmäßig über 3% des Bruttoinlandsprodukt (BIP). Eindeutig kein Problem war eine unsolide Haushaltspolitik allerdings bei den Krisenländern Spanien und Irland. Im Fall Italiens geht der hohe Schuldenstand vor allem auf Defizite aus der Zeit von vor Beginn der europäischen Währungsunion zurück.
  2. Boom-Bust-Zyklen in der Peripherie: Mit dem Rückgang des nominalen Zinsniveaus in den Peripherie-Staaten kam es in vielen Ländern zu einem Boom. Aufgrund höherer Inflation als im Durchschnitt der Eurozone lagen die Realzinsen in Ländern wie Spanien, Irland oder Portugal deutlich niedriger als etwa in Deutschland. Dies heizte Investitionen insbesondere in den Wohnungsbau an, was wiederum Wirtschafts- und Lohnwachstum und am Ende die Inflation ankurbelte. Dieser Zyklus endete mit einem Abbruch des Hauspreisanstiegs und ließ die betroffenen Länder mit einer deutlich geschwächten preislichen Wettbewerbsfähigkeit zurück.
  3. Probleme im Bankensektor: Als Konsequenz der Boom-Bust-Zyklen, aber auch durch Engagement der Banken einiger Länder im US-amerikanischen Sub­prime-Hypothekenmarkt, bekamen die Banken in einer Reihe von Euroländern Schwierigkeiten und mussten von den Regierungen gestützt werden. Dies belastete zum einen das Wirtschaftswachstum (da die Banken sich bei ihrer Kreditvergabe zurückhielten), zum anderen die öffentlichen Haushalte.
  4. Toxische Verbindung zwischen Bankproblemen und der Zahlungsfähigkeit einzelner Staaten: Da in den meisten Eurostaaten die Banken einen signifikanten Teil ihrer Aktiva in Form von Staatsanleihen der eigenen Regierung halten, ergab sich ein Teufelskreis aus Problemen im Bankensektor und Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit der Staaten. Sorgen um den Zustand des Bankensektors führten so zu der Erwartung teurer Rettungspakete, die Zweifel an der Solvenz der Staaten aufkommen ließen und so die Preise von Staatsanleihen drückten. Der Wertverlust bei den entsprechenden Bankaktiva führte zu neuen Sorgen um das Bankensystem und verstärkte den Prozess erneut.
  5. Selbsterfüllende Marktpanik: Allein die Furcht vor Problemen mit der Zahlungsfähigkeit einzelner Eurostaaten verschärfte deren Finanzierungsprobleme. Sorgen der Investoren um einzelne Länder führten zum Verkauf von Anleihen und einem Anstieg der Rendite, was wiederum den Zugang zu Finanzmärkten erschwerte und die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung in den betroffenen Ländern belastete. Wie in den Modellen selbsterfüllender Fiskalkrisen dargestellt,5 wurden so einzelne Euroländer in die Nähe der Zahlungsunfähigkeit gedrückt.
  6. Strukturelles Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit: In den Jahren vor Ausbruch der Eurokrise ist es zu einem Auseinanderlaufen der preislichen Wettbewerbsfähigkeit gekommen, unter anderem durch Unterschiede in der Lohnsetzung. In einigen Ländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Österreich stiegen die Lohnstückkosten deutlich langsamer als im Durchschnitt der Eurozone, in Ländern wie Irland, Griechenland und Spanien deutlich schneller. Nach Ausbruch der Eurokrise erschwerte dieser Verlust an Wettbewerbsfähigkeit den Krisenländern eine Rückkehr zu kräftigem Wirtschaftswachstum, da exportgetriebenes Wachstum praktisch unmöglich war. Somit trug dieses Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit zur langen Periode schwachen oder gar negativen Wirtschaftswachstums in vielen Ländern seit 2011 bei.
  7. Vertrauensverlust der Bevölkerung durch die Wachstumskrise: Die letzte Krisendimension ist politisch. Aufgrund der massiv gestiegenen Arbeitslosigkeit und anhaltenden Wachstumsschwäche verliert die Bevölkerung in vielen Euroländern zunehmend das Vertrauen in europäische Institutionen. Das Ergebnis ist das Erstarken euro-feindlicher und extremistischer Kräfte in vielen EU-Staaten. Diese politischen Folgen der Eurokrise gefährden zunehmend langfristig den Bestand der Eurozone, da nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass nicht in einzelnen Ländern politische Kräfte die Mehrheit gewinnen, die am Ende für einen Euro-Austritt sind.

Die umgesetzten institutionellen Reformen

In ihren Bemühungen, die Eurokrise in den Griff zu bekommen, wurde von den Staats- und Regierungschefs in Europa eine Reihe zum Teil massiver Reformen an der institutionellen Grundlage der Europäischen Währungsunion umgesetzt. So gab es mehrfach und in der Summe massive Veränderungen an den Regeln für Haushaltsdefizite. Der erst 2005 flexibilisierte Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde mit den Regeln des sogenannten „Six Pack“ und „Two Pack“ verschärft. Die wichtigsten Änderungen betreffen dabei die Ziele zur Haushaltskonsolidierung und die Verfahren zur Vermeidung und Korrektur übermäßiger Haushaltsdefizite. Die Regeln des Two Packs verpflichten die Eurostaaten auf einen einheitlichen Haushaltszyklus, bei dem die Haushaltsentwürfe bereits im Herbst des Vorjahres vorgelegt werden müssen. Das Six Pack definiert klare mittelfristige Haushaltsziele sowie die Geschwindigkeit, mit der Eurostaaten ihre Defizite abbauen müssen. Es schreibt Ländern mit einem Schuldenstand von mehr als 60% des Bruttoinlandsprodukts vor, diesen jedes Jahr um 1/20 des Abstands zur 60%-Marke zu verringern. Außerdem erlaubt es, Defizitverfahren auch dann gegen Mitgliedstaaten einzuleiten, wenn diese zwar Defizite von weniger als 3% des BIP aufweisen, aber den Schuldenstand nicht schnell genug verringern. Innerhalb der Defizitverfahren wird nach der Reform auf EU-Ebene keine qualifizierte Mehrheit mehr benötigt, um das Verfahren voranzutreiben. Vielmehr ist nun eine qualifizierte Mehrheit notwendig, um ein Verfahren zu stoppen.

Im Fiskalpakt, einem von den EU-Verträgen unabhängigen multilateralen Vertrag, haben sich zudem die Eurostaaten verpflichtet, die Regeln zur Defizitbegrenzung und zum Schuldenabbau auch in nationales Recht (vorzugsweise Verfassungsrecht) umzusetzen. Für den Fall, dass ein Partner dieser Verpflichtung nicht nachkommt, ist zudem eine einmalige Strafzahlung vorgesehen.

Das Six Pack enthält allerdings nicht nur Regeln zu öffentlichen Defiziten und Schuldenstand, sondern auch neue Regeln zur makroökonomischen Koordinierung zwischen den Euro-Mitgliedstaaten. Es wurden ein Berichtswesen und ein Entscheidungsmechanismus geschaffen, um künftig mit makroökonomischen Ungleichgewichten umzugehen. Nach den neuen Regeln prüft die EU-Kommission einmal jährlich anhand eines Scoreboards, ob schädliche makroökonomische Ungleichgewichte vorliegen. Dabei werden Variablen wie Verschuldungswachstum, Anstieg der Lohnstückkosten und Leistungsbilanzungleichgewichte geprüft. Ergibt eine vertiefte Analyse, dass tatsächlich solche Ungleichgewichte vorliegen, kann die Kommission Empfehlungen aussprechen. Ignoriert der Mitgliedstaat die Empfehlungen, kann es – ähnlich dem Verfahren zum Abbau übermäßiger Defizite – zu Strafzahlungen kommen.

Jenseits der verstärkten Regeln zur Haushaltskontrolle wurde das Prinzip der Nicht-Beistands-Klausel aus dem Maastricht-Vertrag relativiert. Diese Regel besagte ursprünglich, dass weder andere Mitgliedstaaten noch die EU als Ganzes Verbindlichkeiten anderer Eurostaaten übernehmen dürfen. Relativ schnell nach Beginn der Eurokrise wurde den Staats- und Regierungschefs klar, dass zur Krisenbekämpfung Hilfskredite an einzelne Staaten notwendig werden würden. Die Eurostaaten stellten so in größerem Umfang Finanzmittel bereit. Während die Kredite an Griechenland noch als bilaterale Hilfskredite der Euro-Mitgliedstaaten organisiert wurden, schufen die Staats- und Regierungschefs bereits 2010 die beiden Rettungsfonds Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), die zum einen über Kreditaufnahme der EU-Kommission, zum anderen über durch die Eurostaaten garantierte Kreditaufnahme Finanzmittel zur Verfügung stellen konnten. Als klar wurde, dass die Eurozone eine dauerhafte Lösung für solche Hilfskredite brauchen würde und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit einem Ausleihvolumen von 500 Mrd. Euro als Ersatz für EFSM und EFSF geschaffen wurde, sollte auch der mögliche Widerspruch zur Nicht-Beistands-Klausel aufgelöst werden, und der ESM wurde entsprechend in die europäischen Verträge integriert.

In einem unabhängigen Schritt wurde durch die Europäische Zentralbank (EZB) das effektive Ausleihvolumen des ESM erhöht: Unter der Bezeichnung der „Outright Monetary Transactions“ (OMT) hat die EZB angekündigt, dass sie Staatsanleihen mit ein- bis dreijähriger Laufzeit von Eurostaaten kauft, die Gefahr laufen, den Finanzmarktzugang zu verlieren – zumindest, wenn die betroffenen Länder einem ESM-Programm zugestimmt haben. Sobald ein Land also ein ESM-Programm unterzeichnet hat, kann es damit rechnen, sich am Finanzmarkt zu günstigen Konditionen refinanzieren zu können: Da Investoren sicher sein können, ihre Anleihen im Krisenfall an die EZB weiterverkaufen zu können, gibt es für sie keinen Grund, extreme Risikoprämien zu verlangen. Effektiv verstärkt so das OMT-Programm das Ausleihvolumen des ESM.

Ein weiteres wichtiges Reformelement ist die Bankenunion. Unter diesem Begriff wurde die Verantwortung über die Aufsicht aller Banken in der Eurozone auf die EZB übertragen, die diese für die großen Banken direkt und für die kleineren Banken über die nationalen Aufsichtsbehörden wahrnimmt. Im Rahmen der Bankenunion wurden auch neue Regeln zur Abwicklung von Banken mit mangelhafter Kapitalausstattung geschaffen. Nach den neuen Regeln müssen die Banken nicht mehr nur eine bestimmte Eigenkapitalquote erfüllen, sondern zudem einen gewissen Anteil der übrigen Finanzierung über nachrangige Schuldeninstrumente organisieren, die im Falle von Problemen zur Sanierung der Bank herangezogen werden können. Über die Abwicklung oder Stützung einer Bank darf in Zukunft nicht mehr eine nationale Regierung alleine entscheiden, sondern die Stützung muss vorgeschriebenen Regeln folgen, bei denen unter anderem zuerst private Gläubiger an der Bankrettung beteiligt werden, bevor der Staat einspringt. Zur Rettung von Instituten in der Eurozone wird zudem sukzessive ein gemeinsamer Abwicklungsfonds aufgebaut.

Aktuell diskutierte Reformen

Jenseits der bereits umgesetzten Reformen werden auf EU-Ebene derzeit vier weitere Elemente diskutiert: Konkret eine Kapitalmarktunion und eine Vollendung der Bankenunion durch eine gemeinsame Einlagensicherung, abstrakter eine „Fiskalkapazität“ und ein Insolvenzregime für Staaten in der Eurozone. Die ersten drei dieser Elemente finden sich dabei auch im Fünf-Präsidenten-Report, die Diskussion um das vierte Element wird vor allem vom deutschen Sachverständigenrat für Wirtschaft vorangetrieben.

Unter dem Begriff Kapitalmarktunion versteht man eine Reihe von Gesetzesinitiativen der EU-Kommission, die das Ziel haben, einen gemeinsamen Markt für Unternehmensfinanzierung jenseits der traditionellen Finanzierung durch Bankkredite zu schaffen. Dabei sollen zum einen gewisse Regeln vereinheitlicht werden, um grenzüberschreitende Finanzierungen zu erleichtern, zum anderen die Regellast etwa für Börsengänge von Kleinunternehmen verringert werden. Die Hoffnung einer solchen Kapitalmarktunion ist es, Unternehmen in Ländern mit schwachen Bankensystemen eine Finanzierungsalternative zu bieten. Die einzelnen Elemente der Kapitalmarktunion befinden sich in unterschiedlichen Stadien des EU-Gesetzgebungsverfahrens.

Bei der Vollendung der Bankenunion steht vor allem die Schaffung einer gemeinsamen Einlagensicherung noch auf der Agenda. Diese gemeinsame Einlagensicherung war bereits in den ersten Papieren zur Bankenunion aus dem Jahr 2012 enthalten und wird erneut im Fünf-Präsidenten-Report gefordert. Derzeit sind Einlagensicherungen national organisiert und werden aus Beiträgen der Finanzinstitute eines Landes (oder, im Falle Deutschlands, jeweils aus einer Gruppe von ihnen) finanziert. Kommt es zu Bankpleiten, die die Mittel der nationalen Einlagensicherung übersteigen, müssen die anderen Institute einspringen, was die Rentabilität des Bankensektors eines Landes belastet. Die Idee einer einheitlichen Einlagensicherung ist, dass Probleme in einem nationalen Bankensystem nicht mehr zu absehbar negativen Folgen für das Finanzsystem dieses Landes führen, sondern dass die Kosten auf die ganze Eurozone verteilt werden. So soll verhindert werden, dass Unternehmen in Ländern mit Problemen im Bankensystem höhere Finanzierungskosten haben als jene in Ländern mit soliden Banken. Während die Forderung nach einer gemeinsamen Einlagensicherung immer wieder von der EU-Kommission, aber auch von den fünf Präsidenten in ihrem Bericht vorgebracht worden ist, sieht es derzeit nicht nach einer schnellen Umsetzung aus: Die deutsche Bundesregierung steht dem Vorhaben skeptisch gegenüber und die EU-Finanzminister haben sich darauf festgelegt, die Einlagensicherung nur im Konsens umzusetzen.6

Im Vergleich zu den relativ präzisen Vorstellungen für die Banken- und Kapitalmarktunion ist die Debatte um eine „Fiskalkapazität“ weiter recht vage. Zwar wird in einer Reihe von Kommissionsdokumenten und auch im Fünf-Präsidenten-Bericht eine solche Fiskalkapazität gefordert, die genaue Ausgestaltung bleibt aber unklar. Die Grundidee einer solchen Fiskalkapazität ist, dass die Eurozone eigene Mittel erhält, die sie zum Abfedern von Schocks einsetzen kann, die einzelne Staaten in der Eurozone asymmetrisch betreffen. Unklar ist allerdings, ob diese Mittel diskretionär oder automatisch fließen sollen, und welchen Regeln die Geldflüsse unterliegen sollen. So gibt es unterschiedliche Vorschläge, die etwa automatische Budgettransfers an die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen oder der relativen Output-Lücken der Mitgliedstaaten koppeln wollen. Andere Konzepte sehen den Aufbau einer europäischen Arbeitslosenversicherung vor. Der Fünf-Präsidenten-Bericht gibt hier auch nur einen Prüfauftrag.

Das letzte derzeit mehr oder weniger aktiv diskutierte Element für eine Vollendung der Eurozone ist die Einführung eines Insolvenzmechanismus für Eurostaaten. Dieser Vorschlag wird vor allem von deutschen Ökonomen wie der Mehrheit der Mitglieder im Sachverständigenrat für Wirtschaft vorangetrieben. Die Idee ist hier, ein geregeltes, „quasi-automatisches“ Insolvenzverfahren für Eurostaaten einzuführen, die überschuldet sind. Dies beruht auf der Hoffnung, dass dadurch künftig disziplinierende Impulse von Finanzmärkten auf Staaten mit prekären Staatsfinanzen ausgehen.7 Allerdings ist die Unterstützung für solche Pläne außerhalb Deutschlands relativ gering, und auch in aktuellen Papieren der EU-Institutionen (einschließlich dem Fünf-Präsidenten-Bericht) findet sich hierzu nichts.

Bewertung der Reformen

Sieht man sich die Liste der sieben Krisenelemente an und vergleicht, welche Krisenursachen mit welchen Reformen angegangen worden sind, so erkennt man, dass einige der Ursachen offensichtlich eine große Rolle im Design der neuen Regeln gespielt haben, andere dagegen weit weniger stringent angegangen wurden.So wurden Probleme unsolider Staatsfinanzen gleich mit einem ganzen Maßnahmenbündel adressiert. Six Pack, Two Pack und der Fiskalpakt versuchen – mit zum Teil redundanten Regeln – Budgetdefizite zu begrenzen und damit eine Überschuldung von Regierungen zu verhindern. Die Kombination aus ESM und OMT geht die Problematik sich selbst erfüllender Fiskalkrisen an: Indem den Märkten signalisiert wird, dass im Krisenfall ein Land unbegrenzt Liquidität bereitgestellt bekommen kann, gibt es für Investoren keinen Grund mehr, Illiquidität eines Eurostaates zu fürchten. Ein von der Erwartung von Zahlungsproblemen getriebener Anstieg der Renditen, der von sich aus dann zu einem Zahlungsausfall führt, wird damit unwahrscheinlich.

Probleme des Bankensystems sollen ebenfalls in Zukunft durch die bessere, zentralisierte Aufsicht verhindert werden. Mit den strengeren, einheitlichen Regeln und der Aufsicht durch die EZB wird erhofft, dass künftig riskante Kreditvergaben in großem Stil ausbleiben werden. Die Bankenunion soll auch das Problem der toxischen Verbindung zwischen Banken und Staatsfinanzen lösen: Indem in Zukunft aus dem Staatsbudget finanzierte Rettungspakete nur noch nach einem Bail-in privater Gläubiger erlaubt sind, soll der öffentliche Finanzbedarf für solche Rettungspakete gesenkt werden und es insgesamt unwahrscheinlicher werden, dass der Staat überhaupt einspringen muss.

Nur indirekt angegangen worden ist das Problem der Boom-Bust-Zyklen: Zum einen wird üblicherweise gehofft, dass eine einheitliche Bankenaufsicht durch die EZB die Aufseher dazu bewegen wird, übermäßige Kreditexpansion in einzelnen Mitgliedstaaten schon frühzeitig zu bremsen. Zum anderen soll das Verfahren zur Begrenzung makroökonomischer Ungleichgewichte Fehlentwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten schon früher als in der Vergangenheit anzeigen und zu korrigieren helfen. Zumindest prinzipiell angegangen wird im Rahmen dieses Verfahrens auch das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit, da eines der Frühwarnkriterien im Rahmen des Scoreboards ein übermäßiger Anstieg der Lohnstückkosten ist.

Praktisch überhaupt nicht angegangen worden ist bislang die Wachstums- und Vertrauenskrise in der Eurozone. Tatsächlich hat sogar eine Reihe der Reformmaßnahmen das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren eher noch geschwächt. So wird üblicherweise dem rapiden Abbau von strukturellen Staatsdefiziten eine Mitverantwortung für das schwache Wirtschaftswachstum im Euroraum nach 2011 gegeben. Die Erhöhung von Eigenkapitalanforderungen im Bankensektor dürfte ebenfalls das Wirtschaftswachstum gebremst haben und weiter bremsen.

Hier ließe sich argumentieren, dass die Kapitalmarktunion darauf abzielt, diesen Effekt zu konterkarieren. Die Frage ist allerdings, wie realistisch diese Hoffnung ist. Auch in Ländern mit einem stärker entwickelten Kapitalmarkt wie in den USA haben kleine und mittelständische Unternehmen (mit der Ausnahme von IT-Start-ups) keinen Zugang zum Kapitalmarkt, sondern sind weiter auf Eigen- oder Bankfinanzierung angewiesen. Grund sind spezifische Informationsasymmetrien zwischen (kleinen) Unternehmen und Geldgebern, die sich auch nicht mit besserer (EU-)Regulierung korrigieren lassen.

Jenseits der Frage, ob die einzelnen Krisenelemente adressiert worden sind, ist zu analysieren, ob die ergriffenen Maßnahmen zielführend sind. Umstritten ist dies zum einen bei der Defizitkontrolle: Es zeichnet sich bereits ab, dass Spanien und Italien erneut mehr Zeit zum Defizitabbau zugebilligt bekommen. Frankreich hat ebenfalls mehrfach einen Aufschub beim Abbau der Defizite erhalten. Unabhängig davon, wie sinnvoll dieser Aufschub makroökonomisch in den spezifischen Fällen ist, scheinen große Euroländer anders behandelt zu werden als kleine.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, inwieweit die makroökonomische Koordinierung wirksam ist. So ist ein häufiger Kritikpunkt die Asymmetrie etwa bei der Bewertung von Leistungsbilanzungleichgewichten: So werden Defizite ab 4% des BIP, Überschüsse aber erst ab 6% des BIP als problematisch angesehen. Auch wird die Umsetzung kritisiert: So hat Deutschland in den vergangenen Jahren regelmäßig das Kriterium eines exzessiven Leistungsbilanzüberschusses verletzt. Die Kommission hat dies in ihren Berichten erwähnt, aber nicht als problematisch eingestuft. Wie beim Verfahren zu übermäßigen Staatsdefiziten besteht der Verdacht, dass der politische Entscheidungsspielraum beim Vorantreiben und Verhängen von Sanktionen dazu führen wird, dass Ungleichgewichte zumindest in großen und wichtigen Mitgliedstaaten niemals wirksam verfolgt werden. Zudem erlauben die hohe Zahl von Indikatoren im Scoreboard und die diskretionäre Bewertung durch die EU-Kommission, praktisch jederzeit Abweichungen einzelner Indikatoren als unproblematisch zu rechtfertigen.

Dies gilt besonders auch für die Frage, ob dieses Verfahren das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit wirkungsvoll begrenzt: Zwar werden sehr hohe Steigerungsraten der Lohnstückkosten im Rahmen des Verfahrens zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte adressiert, allerdings wird ein Rückgang der Lohnstückkosten nie als problematisch angesehen. Ein signifikantes Auseinanderlaufen zwischen den Mitgliedstaaten ist so auch bei Einhalten der Schwellenwerte des Scoreboards durch alle weiter möglich.

Schlussfolgerung: Was bleibt zu tun?

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Reformen der Governance der Eurozone über die vergangenen sechs Jahre eine Reihe der Krisenfaktoren angegangen haben. Allerdings bleiben möglicherweise wichtige Krisenfaktoren nur unvollständig oder gar nicht adressiert. Insbesondere sind hier mögliche Boom-Bust-Zyklen in einzelnen Ländern, das systematische Auseinanderlaufen von Wettbewerbsfähigkeit und die anhaltende Wachstumskrise, die zunehmend in eine politische Krise der EU mündet, zu nennen. Teilt man diese Analyse, so sollten nun vor allem Reformen vorangetrieben werden, die diesen Krisenfaktoren begegnen.

Hier scheint in erster Linie eine sinnvolle Fiskalkapazität zielführend. Um schnell die Wachstumskrise zu beenden, wären vor allem Instrumente gefragt, die kurzfristig das Wirtschaftswachstum ankurbeln können. Alles, was dabei etwa die Investitionstätigkeit sowohl der öffentlichen Hand als auch des Privatsektors erhöhen würde, wäre hilfreich. Vorschläge hierzu gibt es genug, wie etwa jenen des französischen CEPII zum Aufbau eines europäischen Systems von Entwicklungsbanken.8 Mittelfristig wäre es gut, wenn mit der Fiskalkapazität das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit gebremst und Boom-Bust-Zyklen zumindest abgemildert werden könnten. Verschiedene Ausgestaltungen einer europäischen Arbeitslosenversicherung, ob als Direkt- oder Rückversicherung, würden dieses Kriterium erfüllen.9

Allerdings muss bei all diesen Fiskalinstrumenten bedacht werden, dass diese möglicherweise auch negative Folgen für die Legitimität der Europäischen Währungsunion nach sich ziehen. Besteuerung und Mittelzuweisung sind traditionell Kompetenz der Parlamente. Vor einer Einführung eines Eurozonen-Haushaltes muss geklärt werden, wie (und welche) europäische Abgeordnete in die Entscheidungen eingebunden werden können.

Im Zusammenhang mit der Wachstumskrise ist sicher auch die Kapitalmarktunion nicht falsch, allerdings sollte man sich nicht allzu viel Hoffnung auf einen deutlichen Wachstumseffekt machen. Die Forderung nach einem Insolvenzregime für Staaten dagegen scheint vor dem Hintergrund dieser Analyse wenig hilfreich: Einen massiven Anstieg von Staatsschulden sollten eigentlich schon die Regeln des Six Packs, des Two Packs und des Fiskalpaktes begrenzen. Es gibt keinerlei Hinweis, dass Kapitalmärkte auch bei anderen Haftungsregeln Länder wie Spanien oder Irland tatsächlich besser für die makroökonomischen Fehlentwicklungen sanktioniert hätten. Dagegen besteht die Gefahr, die Probleme in einigen bereits hoch verschuldeten Ländern weiter zu verschärfen, wenn man zum aktuellen Zeitpunkt einen solchen Mechanismus einführen würde. Die Idee einer Insolvenzordnung für die Eurozone sollte deshalb besser für die absehbare Zukunft von der Agenda genommen werden.

  • 1 Europäische Kommission: Fünf-Präsidenten-Bericht zur Wirtschafts- und Währungsunion, Nachricht 22/06/2015, http://ec.europa.eu/news/2015/06/20150622_de.htm (20.6.2016).
  • 2 Vgl. J.-C. Juncker, D. Tusk, J. Dijsselbloem, M. Draghi, M. Schulz: Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden, Brüssel 2015.
  • 3 Vgl. J. C. Shambaugh: The Euro’s Three Crises, in: Brookings Papers on Economic Activity, 44. Jg. (2012), H. 1, S. 157-231; und M. Fratzscher: Es gibt keine Euro-Krise, in: DIW Wochenbericht, Nr. 15/2013, Berlin.
  • 4 Diese Aufstellung folgt S. Dullien: Die Euro-Zone nach vier Jahren Krisenmanagement und Ad-Hoc-Reformen: Was bleibt zu tun?, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2014.
  • 5 Vgl. etwa H. Cole, T. Kehoe: A self-fulfilling model of Mexico’s 1994-1995 debt crisis, in: Journal of International Economics, 41. Jg. (1996), H. 3-4, S. 309-330.
  • 6 W. Mussler: Schäuble bremst EU-Einlagensicherung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.6.2016, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ wirtschaftspolitik/bankenunion-schaeuble-bremst-eu-einlagensicherung- 14293604.html (20.6.2016).
  • 7 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Konsequenzen aus der Griechenland-Krise für
    einen stabileren Euro-Raum, Wiesbaden 2015.
  • 8 Vgl. N. Valla, T. Brand, S. Doisy: A New Architecture for Public Investment in Europe: The Eurosystem of Investment Banks and the Fede Fund, CEPII Policy Brief, Nr. 4, 2014.
  • 9 Siehe für eine Diskussion L. Andor, S. Dullien, H. X. Jara, H. Sutherland, D. Gros: Designing a European Unemployment Insurance Scheme, in: Intereconomics, 49. Jg. (2014), H. 4, S. 184-203.

Title:European Monetary Union: After Many Reforms, Problems Still Remain

Abstract:Since the onset of the euro crisis, many aspects of the governance of the euro area have been reformed. Rules for budget control have been tightened, and oversight and resolution of banks has been centralised. Credit facilities have been created for member states who have trouble tapping financial markets. Moreover, the reform process is not over yet but can be expected to continue for another decade before details of a planned fiscal capacity will be implemented. Yet despite all these reforms, the euro area is still not crisis-proof. The permanent low rate of economic growth and the continuing lack of working macroeconomic coordination are particular reasons for concern.

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DOI: 10.1007/s10273-016-2013-1