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In den entwickelten Volkswirtschaften ist das Produktivitätswachstum seit den 1970er Jahren tendenziell gesunken, zeigen die Statistiken – eine Beobachtung, die angesichts der weitreichenden Digitalisierung der Wirtschaft erstaunt. Sie könnte auf Messfehlern beruhen, ist sie aber realistisch, kann es dafür viele Gründe geben: Innovationen sind zunehmend kostenintensiv und durchdringen die Wirtschaft langsamer. Der produktivitätsschwache Dienstleistungssektor nimmt einen wachsenden Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Produktion ein. Es könnte aber auch an mangelnden Investitionen liegen. Letztlich muss diese Entwicklung nicht unbedingt einen langfristigen Trend widerspiegeln, sie kann auch konjunkturell bedingt sein. Weil ein Anstieg der Produktivität aber wünschenswert wäre, stellt sich die Frage, was die Politik tun kann.

Arbeitsmarkt, Digitalisierung, Reformen: zur aktuellen Produktivitätsentwicklung

Seit gut zehn Jahren befindet sich der Arbeitsmarkt in Deutschland in einem starken Aufschwung, der die schwierige Phase nach der Wiedervereinigung beendet hat und auch international seinesgleichen sucht. Für die Konjunktur gilt dergleichen allerdings nicht: Das deutsche Wirtschaftswachstum ist im längerfristigen Vergleich schwächer als das von Ländern wie Spanien oder Frankreich, ungeachtet der Krise. Den letzten klaren Aufschwung erlebte Deutschland im Jahr 2010. Aber selbst da wurde gerade einmal das wettgemacht, was zuvor in der großen Rezession verloren worden war.

Entsprechend begrenzt ist die Dynamik der Arbeitsproduktivität. Wird vielleicht die Wertschöpfung der Volkswirtschaft gar nicht hinreichend erfasst? Engen Regulierungen den Spielraum für wirtschaftliche Entfaltung ein? Gibt es gar eine „große Stagnation“ bei der ökonomischen Entwicklung von Industrieländern?

Arbeitsmarktaufschwung ohne Produktivitätsaufschwung

Ohne diese Erklärungsansätze in Abrede stellen zu wollen, soll hier zunächst das Augenmerk nicht auf dem Zähler des Produktivitätsmaßes, also dem Bruttoinlandsprodukt (BIP), liegen. Stattdessen betrachten wir den Nenner, den Arbeitseinsatz, und dessen Trend sowie dessen Rolle im Konjunkturzyklus. Klinger und Weber haben untersucht, wie sich der Einfluss der Konjunktur auf die Beschäftigung über die Zeit verändert hat und welche Rolle andere Faktoren neben der Konjunktur spielen.1 Die große Rezession 2008/2009 hat der deutsche Arbeitsmarkt sehr gut überstanden. Ein Grund dafür ist, dass die Wirkung, welche die Konjunktur auf die Beschäftigung hat, in der Krise deutlich abfiel. Aber Deutschland kam nicht nur so glimpflich davon, weil der BIP-Einbruch so wenig auf die Beschäftigung durchschlug, sondern auch, weil selbst während der Krise zusätzlich Beschäftigung aufgebaut wurde – also ganz unabhängig von der Konjunktur. Solche Effekte stützten die Beschäftigung seit dem Jahr 2007 beinahe durchgängig. Die gute Arbeitsmarktentwicklung nach den Hartz-Reformen war also kein rein konjunkturelles Phänomen. Im Übrigen normalisierte sich die Beschäftigungswirkung der Konjunktur nach der Krise nicht wieder. Bis heute übersetzt sich 1% Wirtschaftswachstum nur in 0,2% Beschäftigungswachstum. Früher war es doppelt so viel.

Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich also nachhaltig verändert. Folgende vier Faktoren sind hier entscheidend:

  1. Die wirtschaftlichen Strukturen haben sich gewandelt. Der Anteil von Dienstleistungen an der Wirtschaftsleistung nimmt immer mehr zu. Hier sind die Schwankungen über den Konjunkturzyklus geringer als in der Industrie. Je bedeutsamer Dienstleistungen geworden sind, desto schwächer wurde der gesamtwirtschaftliche Konjunktureffekt. Viele Jobs im Dienstleistungssektor sind nicht als Folge einer guten Konjunktur entstanden. Ähnliches lässt sich auch für die Bauwirtschaft feststellen, die ihre Anpassungskrise nach der Wiedervereinigung überwinden konnte und seit mehreren Jahren wieder an Stärke gewonnen hat. Dagegen verlor der Sektor Handel/Verkehr/Gastgewerbe mit der großen Rezession an Boden, den er auch nicht wieder gutgemacht hat.
  2. Die Arbeitskräfte sind in den vergangenen zehn Jahren knapper geworden. Wenn auch von einem flächendeckenden Mangel nicht die Rede sein kann, ist die Anspannung auf dem Arbeitsmarkt aus Sicht der Arbeitgeber doch deutlich gewachsen. Dies veranlasst Unternehmen, auch unabhängig von der Konjunktur einzustellen. Diese Arbeitskräfte mögen zunächst weniger produktiv sein – für den nächsten Aufschwung hat sich das Unternehmen aber bereits eingearbeitetes Personal gesichert. Dieses Horten von Arbeitskräften (Labour Hoarding) dient Unternehmen auch nach einer Rezession dazu, lange und teure Rekrutierungsprozesse zu vermeiden. Das Entlassungsrisiko (Anteil der Beschäftigten mit Übergang in die Arbeitslosigkeit pro Monat) liegt auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung.
  3. Deutschland verzeichnet seit einigen Jahren eine sehr hohe Zuwanderung, vor allem aus Ost- und Südeuropa und jüngst im Zuge der Flüchtlingsbewegungen. Dies erhöht, wie auch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, das Angebot an Arbeitskräften. Ohne diese Effekte könnte die Beschäftigung nicht so stark wachsen – und sie wird es auch schon bald nicht mehr tun, denn wir nähern uns dem Punkt, ab dem die demografischen Rückgänge auf diese Weise nicht mehr ausgeglichen werden können.
  4. Die Steigerungen des gesamtwirtschaftlichen Lohnniveaus blieben im letzten Jahrzehnt gering. Die moderate Arbeitskostenentwicklung setzte Anreize, mehr Beschäftigung zu schaffen – bei einer Ausdehnung des Niedriglohnsektors.

Strukturwandel, Arbeitsmarktanspannung, Zuwanderung und Löhne sind zentrale Faktoren, die neben dem Wirtschaftswachstum das Arbeitsmarktgeschehen bestimmen. Sie führen zu einer sinkenden Beschäftigungswirkung der Konjunktur, zugleich aber zu einem Beschäftigungsaufbau unabhängig von der aktuellen konjunkturellen Situation. Diese Entkopplung erklärt, wie eine starke Arbeitsmarktentwicklung mit einer mittelmäßigen Wirtschaftsentwicklung einhergehen kann – und damit auch teilweise, wieso die Produktivität, die beide in einem Maß verbindet, vergleichsweise schwach bleibt.

Produktivität durch Digitalisierung?

Dennoch, derzeit werden überall die Möglichkeiten der neuen digitalisierten „Wirtschaft 4.0“ diskutiert. Auf den ersten Blick sichtbar sind die Effekte auf gesamtwirtschaftlicher Ebene aber nicht. So sind die Beiträge von Investitionen in IKT-Kapital (Informations- und Kommunikationstechnik) sogar über einige Jahre zurückgegangen. Möglicherweise liegt das aber auch daran, dass der letzte Digitalisierungszyklus, also die Computerisierung seit den 1980er Jahren, mittlerweile zu einem Ende gekommen ist. Damit kompatibel wäre auch die Beobachtung, dass die Lohnungleichheit – seit Mitte der 1990er Jahre im Aufwärtstrend – mittlerweile wieder etwas rückläufig ist.2 Zuvor waren Höherqualifizierte von der technologischen Entwicklung begünstigt worden.

Aber sollten integrierte Datensteuerung, menschenleere Fabriken und vollautomatisierte Logistik die Arbeitsproduktivität nun nicht deutlich steigern? Das Verhältnis von technologischem Wandel, Ökonomie und Arbeitsmarkt ist jedenfalls komplex:3 Der technologische Wandel trifft nicht auf eine statische Welt, sondern auf eine dynamische Wirtschaft. Diese passt sich also an: Arbeitsplätze verschwinden, aber neue werden geschaffen, Produktion wird effizienter, aber Einkommen und zusätzliche Nachfrage entstehen, neue Produkte kommen auf, es wird zusätzlich investiert, Löhne und Preise reagieren. Tätigkeiten ändern sich, auch die Bildung entwickelt sich weiter.

In einer umfassenden Studie haben Wolter et al. diese Vielzahl von Effekten berücksichtigt.4 Im Ergebnis zeigt sich keine wesentliche Änderung des Beschäftigungsniveaus durch Wirtschaft 4.0, aber eine zunehmende Arbeitsmarktdynamik: So gibt es durch Wirtschaft 4.0 bis zum Jahr 2025 Beschäftigungsverluste von 1,5 Mio. Jobs, aber auch Beschäftigungsgewinne in gleicher Höhe an anderer Stelle. Der Bedarf an komplexen Tätigkeiten nimmt um 800 000 zu, während er bei Helfern (-60 000) aber vor allem auf der Ebene der fachlichen Tätigkeiten (-770 000) zurückgeht.

Effekte auf das Bruttoinlandsprodukt bauen sich in der Szenariorechnung über die Zeit auf und erreichen im Jahr 2025 einen Wert von 100 Mrd. Euro. Dies entspricht gut 3%, so dass die Wachstumsrate in den einzelnen Jahren um rund drei Zehntel gegenüber einem Referenzszenario erhöht wäre. Da keine relevanten Effekte auf das Beschäftigungsniveau auftreten, gibt das zugleich die Produktivitätswirkung wieder.

Selbstredend sind diese Zugewinne nicht sicher. Es handelt sich um die Projektion eines Szenarios, in dem sich die 4.0-Digitalisierung in Deutschland umfassend durchsetzt. Dennoch gibt es Argumente, welche die Ergebnisse stützen: In der „Arbeitswelt-4.0“-Befragung haben das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Einschätzungen von Betrieben bezüglich der Auswirkungen digitaler Technologien ermittelt. Die Steigerung der Produktivität schneidet auf einer Skala von 1 (trifft zu) bis 5 (trifft nicht zu) mit einem mittleren Wert von 2,1 stark ab. Die Produktivitätseffekte im Modell ergeben sich aber nicht aus einer einfachen direkten Umsetzung von Einschätzungen, wie etwa in Expertenbefragungen. Vielmehr werden zunächst die für Wirtschaft 4.0 nötigen Investitionen, beispielsweise in Sachkapital, Weiterbildungen und IT-Dienstleistungen, erfasst. Aus einer dynamischen Investitionsrechnung resultieren dann bei einer zu erreichenden Rendite die Wirkungen unter anderem auf die Arbeitsproduktivität. Eine freihändige Abschätzung des technologischen Potenzials wird so vermieden.

Reformen ohne soziale Einschnitte?

Potenzial für eine stärkere Produktivitätsentwicklung ist also vorhanden. Aber welche politischen Maßnahmen sind geeignet, solches Potenzial zu heben? Oft werden „Strukturreformen“ angemahnt, wenn es um Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit geht. Das war auch der Tenor der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte bis vor einem Jahrzehnt, gegen hohe Lohn- und Lohnnebenkosten und einen ausufernden Sozialstaat. Die Agenda 2010 mit den Hartz-Reformen war der Höhe- und Wendepunkt: geringere Geldleistungen für Arbeitslose, Deregulierung, zusätzliche Pflichten auf der Arbeitnehmer-, zusätzliche Möglichkeiten auf der Arbeitgeberseite.

Sozialpolitische Entwicklungen und Debatten laufen oft in großen Zyklen ab. Seit einigen Jahren weht der Wind auf dem Arbeitsmarkt wieder klar in die andere Richtung. Die Löhne steigen selbst bei niedriger Inflation und mäßigem Produktivitätswachstum deutlich, der gesetzliche Mindestlohn wurde eingeführt, Zeitarbeit wird reguliert, die Rente mit 63 dreht die Altersgrenzen-Schraube zurück. Liberale beklagen weitere Eingriffe wie Frauenquoten oder die Mietpreisbremse.

Möglich wurde dieser Stimmungswechsel durch die großen Erfolge am Arbeitsmarkt seit den letzten Reformen. Die Arbeitslosigkeit sank rapide, die Beschäftigung stellt bis heute einen Rekord nach dem anderen auf. Arbeitskräfte sind deutlich knapper geworden, die Arbeitnehmerseite sitzt zunehmend wieder an einem längeren Hebel. Verteilen wir also derzeit Geschenke auf Kosten unserer Zukunftschancen? Ein Blick zurück stellt die Relationen wieder her. Die Löhne hatten sich seit den 1990er Jahren lange Zeit schwach entwickelt, real waren sie über Jahre sogar gesunken. Ein gewisser Aufholprozess ist da durchaus angebracht. Das gilt auch im Hinblick auf die großen Überschüsse in der deutschen Handelsbilanz, die durch stärkere Inlandsnachfrage und höhere Importe reduziert werden könnten. Zu denken geben sollte aber, dass wie oben beschrieben bei allen Arbeitsmarkterfolgen die wirtschaftliche Dynamik in Deutschland insgesamt ausbleibt: Die Investitionen dümpeln seit Jahren vor sich hin, genauso die Produktivitätsentwicklung.

Also: Deutschland lebt über seinen Möglichkeiten, müssen wir den Gürtel enger schnallen? Steht der nächste Richtungswechsel der sozialpolitischen Debatte an? Brauchen wir gar wieder Strukturreformen? Nicht nur angesichts der Produktivitätsflaute kann man das bejahen – aber Reformen sind etwas anderes als soziale Einschnitte! Anders ausgedrückt: Man muss mit Reformen besser werden, nicht einfach immer nur billiger. Umgekehrt verhält es sich genauso: Verbesserungen für Arbeitnehmer sollten nicht nur soziale Wohlfühl-Themen sein, sondern müssen auch genutzt werden, um die Produktivität der Arbeitskräfte voranzubringen. Ein Ende des aktuellen sozialpolitischen Zyklus bedeutet so keineswegs das Ende der Zugewinne für die Beschäftigten – wenn es denn gelingt, zwei Seiten zusammenzubringen.

Ein paar Beispiele:

  • Das rote Tuch für jeden, der die Strangulierung der Wirtschaft befürchtet: der Mindestlohn. Man kann sich trefflich darüber streiten, inwieweit er als Markteingriff Beschäftigung vernichtet oder einfach nur die Augenhöhe am Arbeitsmarkt wiederherstellt. Aber da es ihn nun mal gibt, sollte er genutzt werden, um die Arbeitnehmer-Produktivität zu stärken. Gürtzgen et al. zeigen, dass Betriebe mit dem Mindestlohn die Perspektive ihrer Stellenbesetzungen längerfristig gestaltet und dabei auch das Anforderungsniveau gehoben haben.5 Das heißt, die Jobs haben sich verbessert. Was nun gebraucht wird, sind konsequente Investitionen in die Fähigkeiten auch schwächerer Arbeitnehmer, damit sie diese Anforderungen erfüllen können.
  • Ein weiteres Thema, das derzeit große Aufmerksamkeit erhält: Arbeitszeitsouveränität für die Beschäftigten. Im Hinblick auf zunehmende psychische Erkrankungen, die fast vollständige Abkehr vom Alleinverdiener-Haushaltsmodell und sich verlängernde Erwerbslebensspannen handelt es sich ohne Zweifel um ein Feld von herausragender Bedeutung. Aber es ist kein ausschließlich sozialpolitisches Thema: Arbeitszeitflexibilität und Anpassungsfähigkeit von Erwerbsmodellen bieten die Chance, brachliegende Potenziale für den Arbeitsmarkt zu nutzen. Und zwar nicht nur in Form von zusätzlichen Arbeitsstunden, sondern auch in Form von höherer Qualität und Produktivität. Allein die beruflichen Karrierewege zu eröffnen, die momentan in der Teilzeitfalle und Erziehungsphase stecken bleiben, könnte große Potenziale sich deutlich produktiver entwickelnder Arbeitnehmerinnen erschließen. Darauf wäre die Flexibilitätsdebatte auszurichten, die zu sehr daran hängt, wer die Lasten der Flexibilität zu tragen habe.
  • Massive Jobverluste durch die Digitalisierung – das Schreckgespenst der aktuellen Arbeitsmarkt-Debatten. Gewiss, neue Geschäftsmodelle können dem etablierten „Modell Deutschland“ durchaus gefährlich werden. Das ist aber kein Grund, wieder das Ende der Arbeit und umfassende Einkommensmodelle abseits der Erwerbstätigkeit auszurufen. Denn die Wirkung von technologischem Wandel hängt immer davon ab, wie man selbst agiert. Die Chance muss genutzt werden, Arbeitnehmer aus- und weiterzubilden, die eine Wirtschaft 4.0 in der Umsetzung formen und selbst in die Hand nehmen können, statt Veränderungen nur hinterherzulaufen. Für die bewährten beruflichen Ausbildungssysteme bietet das attraktive Möglichkeiten, aufbauend auf der beispielhaften Verbindung von Theorie und Praxis mehr in Richtung von Kompetenzen wie Prozessdenken, Abstraktionsfähigkeit und Innovation zu tun.
  • Der demografische Wandel stellt die sozialen Sicherungssysteme vor Probleme. Längst hat ein Überbietungswettkampf bei Vorschlägen zum Renteneintrittsalter eingesetzt. Man darf erwarten, dass 70 nicht das Ende der Fahnenstange war. Aber das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt weit unter 67, und sogar noch immer klar unter der vorherigen Marke von 65 Jahren. Die Zugänge in die Erwerbsunfähigkeitsrente nehmen zu. Deshalb gilt: Lebensarbeitszeit unbedingt steigern, aber gesund, produktiv und mit Akzeptanz, d.h. systematische Weiterbildung, Gesundheitsprävention, Stärken von Älteren gezielt einsetzen, flexible Erwerbslebensplanung statt Altersgrenzen, die den einen unerreichbar erscheinen und den anderen unnötigerweise das Ende ihrer Leistungsfähigkeit signalisieren. Statt solcher Grenzen zählt für ein Gemeinwesen am Ende vielmehr die tatsächliche Dauer der produktiven Tätigkeit seiner Mitglieder.

Produktivität erhöht man nicht nur durch Investitionen in Maschinen, sondern in erster Linie durch Investitionen in die Beschäftigten, die produktiv arbeiten sollen. „Reformen“ in diese Richtung zu denken, kann wichtige Fortschritte bringen, ohne an der üblichen Konfliktlinie von Vergrößerung und Verteilung des wirtschaftlichen Kuchens hängen zu bleiben. Und es gilt umso mehr, als schon bald immer weniger statt immer mehr Menschen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werden.

  • 1 S. Klinger, E. Weber: Seit der Großen Rezession: schwächerer Zusammenhang von Konjunktur und Beschäftigung, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 10, S. 756-758, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2014/10/seit-der-grossen-rezession-schwaecherer-zusammenhang-von-konjunktur-und-beschaeftigung/ (9.2.2017); dies.: GDP-Employment decoupling and the productivity puzzle in Germany, Regensburger Diskussionsbeiträge zur Wirtschaftswissenschaft, Nr. 485, 2015.
  • 2 J. Möller: Lohnungleichheit: Gibt es eine Trendwende?, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 13, S. 38-44; E. Weber: Trendwende bei der Lohnungleichheit, Ökonomenstimme vom 7.3.2016.
  • 3 E. Weber: Industrie 4.0: Wirkungen auf den Arbeitsmarkt und politische Herausforderungen, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 65. Jg. (2016), H. 1, S. 66-74.
  • 4 M. I. Wolter, A. Mönnig, M. Hummel, E. Weber, G. Zika, R. Helmrich, T. Maier, C. Neuber-Pohl: Wirtschaft 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Ökonomie: Szenario-Rechnungen im Rahmen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen, IAB-Forschungsbericht, Nr. 13/2016.
  • 5 N. Gürtzgen, A. Kubis, M. Rebien, E. Weber: Neueinstellungen auf Mindestlohnniveau: Anforderungen und Besetzungsschwierigkeiten gestiegen, IAB-Kurzbericht, Nr. 12/2016.

* Der vorliegende Text basiert in Teilen auf folgendem Artikel: E. Weber: Kann es Reformen ohne soziale Einschnitte geben?, ZEIT Online vom 7.6.2016, http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-06/reformen-arbeitsmarkt-sozialpolitik-loehne (9.2.2017).

Die Verlangsamung des deutschen Produktivitätswachstums überwinden – Handlungsfelder für die Wirtschaftspolitik

Das Produktivitätswachstum der deutschen Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verlangsamt. An dieser ernüchternden Erkenntnis führt kein Weg vorbei, wenngleich diese Verlangsamung bisher nicht mit einer Eintrübung der gesamtwirtschaftlichen Wachstums­perspektiven einherging. Denn bislang wurden die geringeren Wachstumsbeiträge der Arbeitsproduktivität zum Anstieg des Bruttoinlandsprodukts durch eine stärkere Ausweitung des Arbeitsvolumens kompensiert (vgl. Abbildung 1). Doch mittelfristig könnte das Wirtschaftswachstum unter einer anhaltenden Produktivitätsschwäche leiden, da der demografische Wandel einen dämpfenden Einfluss auf das Arbeitsvolumen ausüben wird.

Abbildung 1
Veränderung des Bruttoinlandsprodukts1
in %
Veränderung des Bruttoinlandsprodukts1

1 Bis 1990 früheres Bundesgebiet. 2 Differenz zwischen tatsächlicher Zuwachsrate und der Zuwachsrate des Produktionspotenzials.

Quelle: Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2016/17 (Kap. 3, Abb. 20).

Darüber hinaus fällt das geringe Produktivitätswachstum mit einer schwachen Entwicklung der Unternehmensinvestitionen zusammen. Wenngleich das in diesem Zusammenhang jüngst diskutierte Konzept einer „Investitionslücke“ keinen sinnvollen Analyseansatz darstellt,1 ist die aus diesen Beobachtungen erwachsende Sorge um die künftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen und damit um ihre Fähigkeit zur Sicherung des materiellen Wohlstands durchaus berechtigt. Um daraus jedoch die angemessenen wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen zu ziehen, muss man zunächst die Gründe für das Erlahmen des Wachstums der Arbeitsproduktivität besser verstehen.

Bestandsaufnahme

Schon im Jahr 2015 stellte der Sachverständigenrat fest, dass die geringeren gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwächse vor allem zwei recht unterschiedliche Entwicklungen widerspiegeln:2

Zum einen hat seit 2005 ein Beschäftigungsaufbau von mehr als 4 Mio. Erwerbspersonen primär im Dienstleistungsbereich stattgefunden. Damit gewinnen Wirtschaftsbereiche, die sich typischerweise durch eine relativ geringe Arbeitsproduktivität auszeichnen, zunehmend an Bedeutung. Die erfolgreiche Integration von weniger produktiven Personen in den Arbeitsmarkt hat somit in Form eines Kompositionseffekts wesentlich zum schwächeren Produktivitätswachstum beigetragen. In diesem Sinne ist diese Verlangsamung also Symptom eines Erfolgs und nicht Vorbote einer düsteren Zukunft.

Zum anderen fallen die Produktivitätsgewinne im Verarbeitenden Gewerbe im historischen Vergleich gering aus. Im Gegensatz zum geschilderten Kompositionseffekt ist diese Entwicklung kritisch zu sehen. Denn aus diesem Wirtschaftsbereich gehen typischerweise eine Vielzahl an Innovationen hervor, die sich im Zeitverlauf – nicht zuletzt durch entsprechende Investitionen – in andere Sektoren übertragen. Diese herausragende Rolle des Verarbeitenden Gewerbes für das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum wird schon an den Ausgaben für Forschung und Entwicklung ersichtlich. So betrugen im Jahr 2015 die gesamten Investitionen in Forschung und Entwicklung 77,8 Mrd. Euro, von denen das Verarbeitende Gewerbe 50,7 Mrd. Euro beisteuerte.

Zwar haben auch die Dienstleistungsbereiche zum Rückgang des Produktivitätswachstums beigetragen (vgl. Abbildung 2). Doch um die Ursachen hinter diesen Entwicklungen besser zu verstehen, ist es hilfreich, bei der Betrachtung der Entwicklung der Stundenproduktivität noch eine Stufe tiefer zu gehen und diese in zwei konstituierende Komponenten zu zerlegen, die Totale Faktorproduktivität und die Kapitalintensität. Dann wird offenbar, dass sich deren Entwicklungen eklatant zwischen dem Verarbeitenden Gewerbe und den Dienstleistungsbereichen unterscheiden.

Abbildung 2
Wachstumsbeiträge der Wirtschaftsbereiche zur Trendarbeitsproduktivität1
in Prozentpunkten
Wachstumsbeiträge der Wirtschaftsbereiche zur Trendarbeitsproduktivität1

1 Veränderung der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde im Vergleich zum Vorjahr, HP-Filter, λ = 100.

Quelle: Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2016/17 (Kap. 3, Abb. 33).

Die Totale Faktorproduktivität soll das technologische Wissen messen, das sich durch Produkt- und Prozessinnovationen ergibt. Sie erfasst zudem Effekte der Reallokation von Produktionsfaktoren, Steigerungen des Qualifikationsniveaus der Erwerbstätigen sowie die Realisation von Spezialisierungsvorteilen in den Wertschöpfungsketten.3 Die Kapitalintensität beschreibt hingegen die Ausstattung eines Arbeitsplatzes mit Kapital.

Im Vergleich zu den – insgesamt mit einem weit höheren Gewicht in die Ermittlung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen eingehenden – Dienstleistungsbereichen zeichnet sich die Produktivitätsentwicklung im Verarbeitenden Gewerbe durch relativ hohe Zuwachsraten der Totalen Faktorproduktivität aus (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3
Wachstumsbeiträge des Verarbeitenden Gewerbes1 zur Trendarbeitsproduktivität
in Prozentpunkten
Wachstumsbeiträge des Verarbeitenden Gewerbes1 zur Trendarbeitsproduktivität

1 Veränderung der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde im Vergleich zum Vorjahr, HP-Filter, λ = 100. 2 Bruttoanlagevermögen (Kapitalstock) an Bauten in Relation zum Arbeitsvolumen im Verarbeitenden Gewerbe. 3 Bruttoanlagevermögen (Kapitalstock) an Ausrüstungen und sonstige Anlagen in Relation zum Arbeitsvolumen im Verarbeitenden Gewerbe.

Quelle: Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2016 (Kap. 3, Abb. 33).

Jedoch sinken die Zuwachsraten bei der Kapitalintensität. Hierin spiegelt sich eine schwache Investitionstätigkeit der Unternehmen wider. Abgesehen vom Fahrzeugbau ging die Kapitalintensität in nahezu allen wichtigen Wirtschaftsbereichen des Verarbeitenden Gewerbes im Zeitraum der Jahre 2010 bis 2014 zurück.

Für diese Entwicklung lassen sich mehrere mögliche Gründe nennen:

  • Seit den 1990er Jahren bis zum Jahr 2008 wurden verstärkt vorgelagerte Produktionsstufen ins Ausland verlagert. Der Kapitalstock für die ausgelagerten Produktionsstufen wurde dadurch überflüssig.
  • Im internationalen Vergleich hohe Energiekosten haben ebenfalls negativ auf das Investitionsklima gewirkt.
  • Der demografische Wandel wird in den kommenden Jahrzehnten das Wachstum der Absatzmöglichkeiten auf dem heimischen Markt dämpfen.
  • Ferner bedingt der demografische Wandel einen möglichen Angebotsrückgang an jungen Fachkräften, sodass es für die Unternehmen sinnvoll ist, ihren Kapitalstock schon heute anzupassen, um später weniger Fachkräfte nachfragen zu müssen.
  • Seit der Finanzkrise entwickeln sich der Welthandel sowie die Konjunktur in wichtigen Absatzländern nur mäßig. Die gedämpften Absatzerwartungen veranlassen Exportunternehmen zu Anpassungen der Produktionskapazitäten.

In den Dienstleistungsbereichen entwickelt sich die Totale Faktorproduktivität hingegen nur schwach (vgl. Abbildung 4). Aussagen über die Produktivitätsentwicklung im Dienstleistungssektor stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass die Wertschöpfung in vielen Bereichen nicht annähernd so gut gemessen werden kann wie im Verarbeitenden Gewerbe. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass in vielen Wirtschaftsbereichen die Produktivitätsfortschritte in den Jahren 2010 bis 2014 nicht niedriger ausfielen als in den Jahren 2000 bis 2010. Eine Ausnahme stellt der Wirtschaftsbereich Handel, Verkehr und Gastgewerbe dar. In diesem Sektor spielt der erwähnte Kompositionseffekt infolge der Arbeitsmarktreformen eine besonders wichtige Rolle.

Abbildung 4
Wachstumsbeiträge des Dienstleistungsbereichs1 zur Trendarbeitsproduktivität
in Prozentpunkten
Wachstumsbeiträge des Dienstleistungsbereichs1 zur Trendarbeitsproduktivität

1 Veränderung der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde im Vergleich zum Vorjahr, HP-Filter, λ = 100. 2 Bruttoanlagevermögen (Kapitalstock) an Bauten in Relation zum Arbeitsvolumen im Dienstleistungsbereich. 3 Bruttoanlagevermögen (Kapitalstock) an Ausrüstungen und sonstige Anlagen in Relation zum Arbeitsvolumen im Dienstleistungsbereich.

Quelle: Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2016 (Kap. 3, Abb. 33).

Die Betrachtung zeigt zudem, dass die Dienstleistungsbereiche mit ihren Produktivitätsfortschritten hervorstechen, die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) produzieren. Im Gegensatz hierzu treten jedoch keine großen Produktivitätsfortschritte bei den IKT-intensiven Dienstleistungsbereichen wie den Unternehmensdienstleistern oder dem Einzel- und Großhandel auf.4

Um mögliche Fehlentwicklungen zu identifizieren, ist eine Analyse von Unternehmensdaten hilfreich. Insbesondere stellt sich die Frage, ob es sich bei dem schwachen Produktivitätswachstum primär um ein Innovationsproblem handelt oder vielmehr um eine fehlende Diffusion von Innovationen. So liefern Andrews et al. Hinweise darauf, dass die produktivsten Firmen auf globaler Ebene im historischen Vergleich noch immer unverändert viele Innovationen liefern, aber diese von den weniger produktiven Unternehmen nicht mehr im gleichen Maße wie früher imitiert werden.5

Die Kostenstrukturerhebung für das Verarbeitende Gewerbe erlaubt es, diesen Punkt genauer zu untersuchen. Die Erhebung stellt für Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern Informationen hinsichtlich der Bruttowertschöpfung sowie der Zahl der Mitarbeiter zur Verfügung. Es ist somit möglich, auf der Ebene von Einzelunternehmen für die Jahre 2001 bis 2013 die nominale Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem zu bestimmen. Die Umfrage umfasst zwei Drittel der Wertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe und spiegelt die Entwicklung des Wirtschaftsbereichs gut wider (vgl. Abbildung 5).

Abbildung 5
Jährliche Veränderung der Arbeitsproduktivität im Verarbeitenden Gewerbe
in %
Jährliche Veränderung der Arbeitsproduktivität im Verarbeitenden Gewerbe

1 Nominale Angaben anhand der Kostenstrukturerhebung im Verarbeitenden Gewerbe. 2 Zahlen aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für das Verarbeitende Gewerbe.

Quelle: Destatis, Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, AFiD-Panel Industrieunternehmen 2001 bis 2013; eigene Berechnungen.

In der Untersuchung werden für jedes Jahr in jedem Wirtschaftsbereich (auf zweisteller Ebene) die 5% produktivsten Firmen bestimmt. Es wird für jedes Jahr sowohl bei den produktiven als auch bei den weniger produktiven Firmen der ungewichtete Mittelwert für die Arbeitsproduktivität ermittelt. Die Wirkungen unterschiedlicher Wachstumsraten manifestieren sich vor allem in der längeren Frist, sodass es ratsam ist, die kumulierten prozentualen Veränderungsraten dieser Unternehmensgruppen seit dem Jahr 2001 zu betrachten (vgl. Abbildung 6).

Abbildung 6
Kumulierter Anstieg der Arbeitsproduktivität1
in %
Kumulierter Anstieg der Arbeitsproduktivität1

1 Nominale Angaben aus der Kostenstrukturerhebung. Verarbeitendes Gewerbe ohne Kokerei und Mineralöl- sowie Tabakverarbeitung.

Quelle: Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, AFiD-Panel Industrieunternehmen 2001 bis 2013; eigene Berechnungen.

Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen: Zum einen hat sich die Arbeitsproduktivität sowohl bei den produktiven als auch bei den weniger produktiven Unternehmen zwischen 2007 und 2013 jeweils nicht verändert. Vor allem hat die Zunahme der Produktivität sogar bei den produktiveren Unternehmen dann ein Ende gefunden, als nach der großen Wirtschaftskrise der Vorkrisenstand wieder erreicht war. Zum anderen konnten die weniger produktiven Unternehmen selbst in diesem Zeitraum nicht aufholen. Obwohl ihr Produktivitätsniveau nur bei gut einem Drittel der produktiven Unternehmen liegt, hat sich ihre Produktivität seit 2001 bis 2007 sogar schwächer entwickelt. Neue Technologien oder Produktionsverfahren wurden anscheinend nicht hinreichend übernommen.

Handlungsfelder für die Wirtschaftspolitik

Diese Bestandsaufnahme legt es nahe, aus der Fülle der für das gedämpfte Produktivitätswachstum mitverantwortlichen Problemfelder einige herauszugreifen, auf denen die Wirtschaftspolitik besonders große Beiträge zu einer Erholung der Wachstumskräfte leisten könnte. Im Folgenden werden daher drei Themenbereiche näher diskutiert: die Digitalisierung, die Energiewende und der demografische Wandel.

Digitalisierung

In der zunehmenden Nutzung von IKT werden aktuell wohl die größten Produktivitätspotenziale gesehen. In Deutschland wird das Thema Digitalisierung meist jedoch in einer unter dem Leitbegriff „Industrie 4.0“ gefassten, verengten Perspektive diskutiert. In der Tat ist die Erwartung, dass die bisher den Produktivitätsfortschritt so dominierenden Branchen des Verarbeitenden Gewerbes auch in Zukunft erhebliche Produktivitätszuwächse realisieren werden, durchaus berechtigt. Der Prozess der umfassenden Digitalisierung der Volkswirtschaft muss jedoch auch den Dienstleistungsbereich durchdringen, wenn er seine potenzielle Wirkung voll entfalten soll.

Daher ist es recht ernüchternd, dass deutsche Unternehmen insbesondere in den Dienstleistungsbereichen bei der Nutzung von IKT bislang Defizite aufweisen. Dies betrifft sowohl das Innovationspotenzial der Unternehmen als auch die Adaption neuer Geschäftsmodelle oder Produktionsprozesse. Die wesentlichen Probleme lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Es bestehen erhebliche Mängel bei der Vermittlung von IKT-Kenntnissen. Dies betrifft neben der Schul- und Berufsausbildung auch die Weiterbildung im Sinne eines lebenslangen Lernens, die bislang offenbar sowohl von den Arbeitgebern als auch den Arbeitnehmern noch nicht hinreichend als Instrument der beruflichen Verbesserung sowie effizienteren Unternehmensgestaltung verstanden wird. Ferner könnten weitere Probleme in den deutschen Managementstrukturen liegen, die im Vergleich zu den USA weniger auf flexible Entlohnungselemente und mehr auf rigidere Beschäftigungsstrukturen setzen.6
  2. Mehrere Unternehmensumfragen weisen darauf hin, dass kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den IKT zeigen.7 Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) spricht sogar von einer „digitalen Spaltung“. Eine Möglichkeit dieser Entwicklung entgegenzuwirken, könnte darin liegen, KMU in Geschäftsmodell-Akademien stärker an die Digitalisierung heranzuführen.8
  3. Junge Unternehmen haben Schwierigkeiten bei ihrer Wachstumsfinanzierung. Dieser Punkt hängt erheblich mit den Rahmenbedingungen für Wagniskapitalgeber zusammen. Die Bundesregierung hat während der vergangenen Jahre zwar insbesondere bei steuerlichen Aspekten viel getan. Perspektivisch wäre jedoch zu fragen, inwieweit eine mögliche Ausgestaltung eines europäischen Kapitalmarktes ebenfalls die Wachstumsfinanzierung verbessern könnte.

Energiewende

Die Energie- und Klimapolitik der Bundesregierung beeinflusst das Investitions- und Innovationsverhalten der deutschen Unternehmen spürbar. Hierbei existieren mehrere Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Politikmaßnahmen. So hat die Förderung erneuerbarer Energien die Innovationswirkung des europäischen Zertifikat­handels gehemmt.9 Dies gilt gleichermaßen für weitere Auflagen der Klimapolitik. Zudem ist die Entwicklung der Energiekosten für die energieintensiven Unternehmen mit einer hohen Unsicherheit verbunden, was dazu beitragen dürfte, dass innovative Firmen Aktivitäten ins Ausland verlagern. Ferner ist zu hinterfragen, inwieweit die technologiespezifische Förderung der erneuerbaren Energie tatsächlich hohe Innovationsanreize setzen kann.

Gleichzeitig können sich durch die klimapolitischen Bemühungen zur Reduktion des Schadstoffausstoßes neue Geschäftsfelder ergeben. Zu erwähnen wären hierbei Smart Grids, Power-to-X-Technologien oder die Elektrifizierung des Verkehrssektors. Wenn es allein um den Klimaschutz und nicht um Industriepolitik ginge, dann würde ein Emissionshandelssystem mit Preiskorridor weitgehend effiziente Innovationsanreize liefern.10 Zusätzliche klimapolitische Fördermaßnahmen sollten dann primär als eine direkte Forschungsförderung und nicht eine technologie- und sektorspezifische Subventionslösung gestaltet werden.

Demografischer Wandel

Der demografische Wandel wird primär über zwei Kanäle die Produktivitätsentwicklung in Deutschland beeinflussen. Erstens wird das Arbeitsangebot an jungen Erwerbstätigen zurückgehen. Dies wird voraussichtlich auch für innovative Berufsgruppen wie Mathematiker, Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker der Fall sein. Zweitens dürfte sich in einer alternden Gesellschaft tendenziell die durchschnittliche Innovationsfähigkeit je Erwerbstätigem verringern. Zwar nimmt mit zunehmendem Alter die Erfahrung zu. Jedoch zeichnen sich jüngere Menschen häufig durch eine schnellere Auffassungsgabe sowie höhere Flexibilität aus, also Eigenschaften, die für die Innovationsfähigkeit entscheidend sind.

Der demografische Wandel wird daher zu einem Strukturwandel innerhalb der Unternehmen führen, den die Tarifvertragsparteien nur bedingt gestalten und sicherlich nicht werden aufhalten können. Sie sind vielmehr gut beraten, diesen Wandel durch die Bereitschaft zur Förderung anpassungsfähiger Strukturen zu unterstützen. Die Politik sollte ihrerseits die flexible Anpassung betrieblicher Strukturen zulassen und gleichzeitig vor allem die Bildungsanstrengungen steigern, um die Menschen zur Anpassung an sich rasch verändernde Wirtschaftsstrukturen zu befähigen. Spielraum für eine Erhöhung des Innovationspotenzials besteht darüber hinaus durch eine höhere Frauenerwerbsbeteiligung, die Mobilisierung junger Menschen ohne Berufsabschluss und die Zuwanderung junger qualifizierter Menschen.

Fazit

Da zwischen den Entwicklungen der Arbeitsproduktivität und des materiellen Wohlstands einer Volkswirtschaft eine enge Beziehung besteht, ist das in den vergangenen Jahren zu beobachtende Erlahmen des Wachstums der deutschen Arbeitsproduktivität bedenklich. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt allerdings, dass die erfolgreiche Integration von weniger produktiven Personen in den Arbeitsmarkt wesentlich zur Verlangsamung des Produktivitätswachstums beigetragen hat. Dies ist keine problematische Entwicklung, sondern vielmehr ein Ausdruck erfolgreicher Wirtschaftsreformen, nicht zuletzt auf dem Arbeitsmarkt.

Kritischer ist hingegen die Entwicklung im Verarbeitenden Gewerbe zu sehen. Dieser Wirtschaftsbereich konnte im historischen Vergleich zuletzt nur geringe Produktivitätsgewinne aufweisen. Mögliche Gründe umspannen die hohe globale Unsicherheit als Folge der Finanz- und Eurokrise, Auswirkungen des demografischen Wandels und die Entwicklung der Energiekosten. Zudem bestehen offenbar erhebliche ungenutzte Potenziale bei der Digitalisierung der deutschen Wirtschaft. Die Wirtschaftspolitik hat die schwere Aufgabe, geeignete Lösungen für diese unterschiedlichen Problemfelder zu finden. Zumindest zu einem gewissen Teil hat sie es aber auch durchaus in der Hand, einen verlässlicheren und attraktiveren Rahmen für wirtschaftliches Handeln und damit für ein gesteigertes Produktivitätswachstum zu setzen.

  • 1 S. Elstner, C. M. Schmidt: Wachstum und Investitionen: Diagnosequalität und wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf, in: ifo Schnelldienst, Nr. 22/2016, S. 18-21.
  • 2 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt, Jahresgutachten 2015/16, Wiesbaden 2015, S. 282 ff.
  • 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, a.a.O., S. 116 ff. und S. 284 f.
  • 4 S. Elstner, L. P. Feld, C. M. Schmidt: Bedingt abwehrbereit: Deutschland im digitalen Wandel, in: Wirtschaftspolitische Blätter, Nr. 2/2016, S. 287-308.
  • 5 D. Andrews, C. Criscuolo, P. N. Gal: The Global Productivity Slowdown, Technology Divergence and Public Policy: A Firm Level Pers­pective, Hutchins Center Working Paper, Nr. 24, 2016.
  • 6 N. Bloom, R. Sadun, J. van Reenen: Americans do IT better: US multinationals and the productivity miracle, in: American Economic Review, 102. Jg. (2012), S. 167-201.
  • 7 Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI): Innovationsindikator 2015.
  • 8 Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI): Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands, Berlin 2016, S. 73 f.
  • 9 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zeit für Reformen, Jahresgutachten 2016/17, Wiesbaden 2016, S. 436 f.
  • 10 Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.): Die Energiewende europäisch integrieren: Neue Gestaltungsmöglichkeiten für die gemeinsame Energie- und Klimapolitik, 2015; Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), a.a.O., S. 48 ff.

Globale Abflachung des Produktivitätswachstums – Zeit für (koordinierte) expansive Fiskalpolitik

In weiten Teilen der Welt hat sich der Anstieg des Produktivitätsfortschritts – über die vergangenen Dekaden hinweg betrachtet – deutlich verlangsamt. Diese Entwicklung vollzog sich einerseits in Schüben und wurde immer wieder von einem hoffnungsvollen Aufkeimen von Erholungstendenzen unterbrochen. Es erinnert dabei an den Titel des Buches von Albert O. Hirschman, in dem er „Exit, Voice, and Loyalty“ als die Reaktionsmuster auf den Leistungsabfall von Organisationen beschrieb.1 Dabei ist und bleibt Produktivitätsfortschritt der Schlüsselbegriff für langfristigen Wohlstand, Wachstum und soziale Stabilität. Gelingt er in ausreichendem Maße, sind Verteilungsspielräume erreichbar, die eine Gleichzeitigkeit von politischer Stabilität und ökonomischer Dynamik ermöglichen. Gelingt er nicht, verschärfen sich die verteilungspolitischen Konflikte.2

In Abbildung 1 wird die Abnahme des Trendproduktivitätswachstums in den G7-Ländern dargestellt: Einer deutlichen Verlangsamung im Zuge der beiden Ölpreiskrisen – 1974 und 1979 – folgte eine Phase mehr oder weniger stabilen Produktivitätsfortschritts (mit Ausnahme von Japan und der Entwicklung Deutschlands mit dem Wiedervereinigungsboom) und eine allmähliche Beschleunigung des Wachstums in den 1990er Jahren, die mit dem Platzen der New-Economy-Blase ihr jähes Ende fand. Seit der Finanzmarktkrise haben sich die ohnehin niedrigen Produktivitätszuwächse global weiter abgeflacht.

Abbildung 1
Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität
Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität

Quelle: Die Daten wurden entnommen aus „The Conference Board Total Economy Database™“. Dargestellt ist die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität. Die Zeitreihen für die Grafik wurden mit einem asymmetrischen Christiano-Fitzgerald-Filter trendbereinigt. Vgl. G. Erber, U. Fritsche, P. Harms: Labor Productivity Slowdown in the Developed Economies. ­Another Productivity Puzzle. DEP (Socioeconomics) Discussion Papers, Macroeconomics and Finance Series, Nr. 4/2016.

Um die Dramatik des weltweiten Produktivitätsabschwungs zu verdeutlichen, wurde in einem Panel von 25 Ländern, für das die Arbeitsproduktivitätsentwicklung seit 1950 bekannt ist, ein gemeinsamer Hauptfaktor der Trendproduktivität berechnet (vgl. Abbildung 2). In dem gemeinsamen Trend kommen die oben genannten Phasen wieder – wenn auch durch die Trendberechnung weniger akzentuiert – zum Tragen: Einer deutlichen Verlangsamung nach den Angebotsschocks der 1970er Jahre folgt eine Phase niedrigerer Produktivitätszuwächse in den 1980er Jahren, deren Abflachung sich ca. 1995 zu stabilisieren scheint. Dies ist jedoch kaum von Dauer, und vor allem nach der Finanzkrise ab 2007 pendelt sich das gemeinsame Trendwachstum auf extrem niedrigen Werten ein.

Abbildung 2
Entwicklung der Trendproduktivität
Entwicklung der Trendproduktivität

Konkret wurden die Trendwachstumsraten der Produktivität auf der Basis eines von R. J. Gordon im Jahre 2003 vorgeschlagenen Schätzansatzes für die einzelnen Länder berechnet und danach die gemeinsame Komponente der Trendproduktivitätsentwicklung mit einer Faktorenanalyse bestimmt. Mit der Ausnahme der Länder Malta und Südkorea liegt der Anteil der Varianz, die durch den gemeinsamen Trend erklärt wird, zwischen 41% und 97%. Im Durchschnitt werden 80% der Varianz des Trends erklärt.

Quelle: R. J. Gordon: Exploding Productivity Growth: Context, Causes and Implications, Brookings Papers on Economic Activity, Nr. 2, 2003, S. 207-298.

Strukturbruchtests im Rahmen regressionsanalytischer Untersuchungen, die um zyklische Effekte kontrollieren, deuten überdies darauf hin, dass es in einer Vielzahl von Ländern in den vergangenen Jahren seit 2007 eine statistisch signifikante Abnahme im zu erwartenden Produktivitätsfortschritt gegeben hat.3 Verschiedene Studien4 argumentieren dabei aus nationaler bzw. deutscher Perspektive mit vor allem auf den nationalen Sonderfall bezogenen Faktoren wie beispielsweise Outsourcing-Prozessen, der Verschiebung von Wertschöpfungsketten im Rahmen der Globalisierung sowie der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt, um Begründungen für die Schwankungen der Produktivitätsentwicklung der letzten Dekaden zu finden. Demgegenüber weist das oben genannte Ergebnis darauf hin, dass es sich bei der Abnahme der trendmäßigen Zuwächse im Kern um ein gemeinsames globales Phänomen handelt und die Ursachenforschung auch dort ansetzen sollte.5

Ursachen globaler Produktivitätsschwäche

Um die Ursachenforschung weiter einzugrenzen, wurden zusätzlich Granger-Kausalitätstests für die Beziehung zwischen trendmäßigem Wirtschaftswachstum und trendmäßiger Produktivitätsentwicklung für den Zeitraum 1950 bis 2015 durchgeführt, die die Frage beantworten helfen sollen, ob die verzögerten Werte einer Zeitreihe (z.B. das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts – BIP) systematisch die heutigen Werte der jeweils anderen Zeitreihe (z.B. Arbeitsproduktivität) erklären.6 Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Evidenz für Kausalität in beide Richtungen, also sowohl vom Wirtschaftswachstum zur Arbeitsproduktivität als auch umgekehrt, groß ist. Allerdings ist die Zahl der Länder, in denen die Ergebnisse ausschließlich auf Kausalität von Wirtschaftswachstum auf Arbeitsproduktivität schließen lassen und nicht umgekehrt, größer. Wendet man die gleiche Methodik auf die gemeinsamen Komponenten des Wirtschaftswachstums und der Arbeitsproduktivität der Länder an, lässt sich schließen, dass das Wirtschaftswachstum die Arbeitsproduktivität verursacht, aber nicht umgekehrt.7

Auf globaler Ebene kommen als Ursachen dabei unterschiedliche Wirkungskanäle infrage:

  • Zusammenspiel von innovationsfördernden Institutionen und Makropolitik: Wie Philippe Aghion und Peter Howitt in ihrer Schumpeter-Vorlesung 2005 bei der Jahrestagung der europäischen Ökonomen darlegten,8 bestimmt das Zusammenspiel von angemessenen (im jeweiligen Kontext innovationsfördernden) Institutionen und makroökonomischer Stabilisierungspolitik die Produktivitätsentwicklung und die langfristigen Wachstumsmöglichkeiten. Gelingende makroökonomische Stabilisierung legt dann die Basis für erfolgreiches Produktivitätswachstum.
  • Stagnation aufgrund übermäßiger Verschuldung: Eine „Balance Sheet“-Rezessionserklärung kam insbesondere nach dem Platzen der Investitionsblase in Japan zu Beginn der 1990er Jahre schon einmal auf9 und wird aktuell vor allem von Kenneth Rogoff im Gewand eines „Debt super cycle“ vertreten.10 Die verhaltene Investitionstätigkeit und mangelnde Intermediationsleistung der Finanzinstitute ist in dieser Perspektive dem sehr langsamen Abbau des Schuldenüberhangs vor allem privater Haushalte aber auch der langsamen Konsolidierung der Bilanzposition der Finanzinstitute geschuldet. Dies ist in der wirtschaftshistorischen Betrachtungsweise immer wieder als Begleiterscheinung von ausufernden Kreditboom-Perioden zu beobachten.11 Für die Produktivitätsdebatte würde das bedeuten, dass die aktuell schwache globale Investitionstätigkeit Ausfluss exzessiver Übersteigerungen in der Vergangenheit wäre und eine Erholung der Bilanzpositionen bzw. der schrittweise Abbau der Überschuldung privater Haushalte zu einer Erholung der Investitionstätigkeit und damit zu einer Belebung der Produktivitätsentwicklung führen würde.
  • These der „Säkularen Stagnation“: Bei der von Larry Summers in die Diskussion gebrachten These, die aber auch von anderen Autoren aufgegriffen und intensiv diskutiert wurde, handelt es sich um ein Konglomerat verschiedener Argumente, die alle auf eine Abflachung des Wachstumstrends bei gleichzeitig schwacher Innovationstätigkeit und Schwäche der Investitionen hinauslaufen.12 Bradford DeLong hat kürzlich die verschiedenen Erklärungsstränge zusammengefasst: 1. ungleiche Einkommensverteilung führt zu einer übermäßigen Ersparnis; 2. demografische Stagnation senkt die Renditen auf Investitionen; 3. nicht-marktmäßig orientierte Akteure (z.B. asiatische Zentralbanken) entfalten eine starke Nachfrage nach sicheren Anlageformen; 4. ein belasteter Finanzsektor, der keine ausreichende Intermediationsleistung mehr erbringt, erhöht die Differenz zwischen den Erträgen risikoreicher und risikoloser Anlagen über die Maßen; 5. sehr niedrige tatsächliche und erwartete Inflationsraten führen dazu, dass der Ausgleich zwischen gewünschter Investition und geplanter Ersparnis nicht stattfindet; 6. schwache Investitionsnachfrage und fallende Preise für Investitionsgüter belasten überdies die Gewinnmargen im Bereich der Investitionsgüterindustrie. Brad DeLong resümiert: „Summers’s core fear is that the global economy … will be stuck for a generation or more in a situation in which, if investors have realistic expectations, then even if central banks reduce interest rates to accommodate those expectations and even if governments follow sensible but not extravagant fiscal policies, private financial markets will still fail to support a level of investment demand compatible with full employment.“13

Man kann einwenden, dass die meisten dieser Faktoren vor allem für die vergangene Dekade von größerer Bedeutung waren und daher nur den aktuellen Rückgang erklären könnten. Aber sowohl eine weltweit zunehmend ungleichere Einkommensverteilung, in vielen Ländern ansteigende demografische Belastungen, das Engagement asiatischer Zentralbanken im „Horten“ und „Recyceln“ von Währungsreserven, das sich aus der Wechselkurspolitik eines politisch gezielt unterbewerteten Wechselkurses logisch ergibt, haben sich nicht von heute auf morgen, sondern allmählich über die vergangenen Jahrzehnte entwickelt. Aus der Säkularen-Stagnations-Debatte ergibt sich daher einerseits die Forderung nach einer Erhöhung der (staatlichen) Investitionstätigkeit, um die Volkswirtschaften aus der Falle der „Diminished Expectations“14 zu führen. Aber andererseits resultiert daraus auch die Forderung nach strukturellen Veränderungen im Steuer- und Abgabensystem, um die weiter steigende Einkommens­ungleichheit zu reduzieren und gleichzeitig die negativen Erwartungen bezüglich der demografischen Belastungen zu vermindern.15

Schlussfolgerungen

Aus den empirischen Befunden und theoretischen Überlegungen ergeben sich insgesamt folgende Schlussfolgerungen:

  • Der Kern zur Erholung des globalen Produktivitätswachstums liegt in einer Erholung der gesamtwirtschaftlichen Investitionstätigkeit.
  • Angesichts der verschiedenen Kanäle, die die Zukunftsaussichten privater Haushalte und die Gewinnerwartungen privater Unternehmen belasten, sind öffentliche Investitionsprogramme der geeignete Weg, die Falle „geminderter Erwartungen“ zu überwinden.
  • Stützend wirken Maßnahmen, die die Einkommensungleichheit reduzieren helfen und die demografischen Belastungen reduzieren (stärkere progressive Gestaltung von Steuer- und Abgabensystemen sowie existenzsichernde Grundeinkommen vor allem im höheren Alter).
  • Aufgrund des globalen Charakters der Produktivitätsschwäche wäre eine international koordinierte expansive Fiskalpolitik anzuraten.
  • 1 Vgl. A. O. Hirschman: Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge MA 1970.
  • 2 N. Roubini: Globalization’s Political Fault Lines, in: Project Syndicate vom 4.7.2016, https://www.project-syndicate.org/commentary/globalization-political-fault-lines-by-nouriel-roubini-2016-07?barrier=true.
  • 3 Vgl. G. Erber, U. Fritsche, P. Harms: Labor Productivity Slowdown in the Developed Economies. Another Productivity Puzzle, DEP (Socioeconomics) Discussion Papers, Macroeconomics and Finance Series, Nr. 4/2016, S. 6.
  • 4 Vgl. beispielhaft Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt, Jahresgutachten 2015/16, Kap. 7, Wiesbaden 2015.
  • 5 Darauf deutet hin, dass der Erklärungsanteil der gemeinsamen Trendkomponente an den jeweils länderspezifisch geschätzten Trendwachstumsraten der Produktivität verhältnismäßig hoch ist, d.h. die trendmäßige Produktivitätsabnahme in den einzelnen Ländern stark über den gemeinsamen Trend der 25 Länder erklärt werden kann und länderspezifische Faktoren fast überall eine untergeordnete Rolle spielen.
  • 6 Ein Endogenitätsproblem gibt es dabei nicht, da wir nicht auf zeitgleiche Entwicklungen testen, sondern eine Verzögerung von mindestens einem Jahr annehmen. Die verwendete Methode wird in H. Y. Toda, T. Yamamoto: Statistical inference in vectorautoregressions with possibly integrated processes, in: Journal of Econometrics, 66. Jg. (1995), S. 225-250, erläutert. Für die Wachstumsrate des BIP wurden dazu auch Trendbereinigungen durchgeführt. Detailliertere Ergebnisse finden sich in G. Erber, U. Fritsche, P. Harms, a.a.O., S. 10-11.
  • 7 G. Erber, U. Fritsche, P. Harms, a.a.O., S. 10-11. Die Aussagekraft der Ergebnisse wird zum einen dadurch eingeschränkt, dass es nach unserer Kenntnis auf globaler Ebene über die 25 Länder der genannten Datenbank hinaus keine vergleichbaren Produktivitätszahlen für größere Ländergruppen für ähnlich lange Zeiträume gibt. Zum anderen ist Kausalität im Sinne des Granger-Kausalitäts-Konzeptes zuerst einmal ein zeitreihenanalytisches Konzept, wobei zur Kausalitätsbestimmung angenommen wird, dass Prozesse nicht rückwirkend auf der Zeitachse zu Änderungen bei jeweils anderen Zeitreihen führen können. Bei perfekter Voraussicht könnten aber z.B. erwartete Produktivitätsänderungen schon heute zu Wachstumsänderungen führen, wenn diese in ihren Folgen insgesamt adäquat und vollständig richtig in der Erwartungsbildung berücksichtigt werden. Die Methode würde die Kausalität vom Wirtschaftswachstum auf die Arbeitsproduktivität dann nicht ablehnen. Zur Kritik an der strengen Form der rationalen Erwartungen vgl. M. H. Pesaran, R. P. Smith: Beyond the DSGE Straitjacket, IZA Discussion Paper, Nr. 5661, 2011.
  • 8 P. Aghion, P. Howitt: Appropriate Growth Policy: A Unifying Framework, in: Journal of the European Economic Association, 4. Jg. (2006), H. 2-3, S. 269-314
  • 9 Vgl. R. C. Koo: Balance Sheet Recession: Japan’s Struggle with Uncharted Economics and Its Global Implications, Hoboken 2003.
  • 10 Vgl. K. Rogoff: Debt supercycle, not secular stagnation, 22.4.2015, http://voxeu.org/article/debt-supercycle-not-secular-stagnation; L. H. Summers: Rethinking Secular Stagnation After Seventeen Months, Vortrag auf der IMF Rethinking Macro III Conference, 16.4.2015, http://larrysummers.com/wp-content/uploads/2015/07/IMF_Rethinking-Macro_Down-in-the-Trenches-April-20151.pdf.
  • 11 Vgl. M. Schularick, A. Taylor: Credit booms gone bust: monetary policy, leverage cycles, and financial crises: 1870-2008, in: American Economic Review, 102. Jg. (2010), H. 2, S. 1029-1061.
  • 12 Vgl. B. S. Bernanke: Why are interest rates so low?, part 2: Secular stagnation, 31.3.2015, https://www.brookings.edu/blog/ben-bernanke/2015/03/31/why-are-interest-rates-so-low-part-2-secular-stagnation/; P. Krugman: Secular Stagnation, Coalmines, Bubbles, and Larry Summers, 16.11.2013, http://krugman.blogs.nytimes.com/2013/11/16/secular-stagnation-coalmines-bubbles-and-larry-summers/?_r=0; O. J. Blanchard, D. Furceri, A. Pescatori: A prolonged period of low real interest rates?, 15.8.2014, http://voxeu.org/article/prolonged-period-low-real-interest-rates; K. Rogoff: Debt supercycle, not secular stagnation, 22.4.2015, http://voxeu.org/article/debt-supercycle-not-secular-stagnation.
  • 13 Vgl. B. J. DeLong: Three, Four... Many Secular Stagnations! 2017, http://www.bradford-delong.com/2017/01/three-four-many-secular-stagnations.html.
  • 14 Vgl. P. Krugman: The Cases for Public Investment, 27.2.2016, http://krugman.blogs.nytimes.com/2016/02/27/the-cases-for-public-investment/.
  • 15 Vgl. L. Summers: The Age of Secular Stagnation, 15.2.2016, http://larrysummers.com/2016/02/17/the-age-of-secular-stagnation/; H. Boushey: Equitable Growth in Conversation: An interview with Lawrence H. Summers, 11.2.2016, http://equitablegrowth.org/research-analysis/equitable-growth-in-conversation-an-interview-with-lawrence-summers/.

Rückgang des Produktivitätswachstums – Einflüsse von Innovation, Dienstleistungen und Digitalisierung

In den industrialisierten Ländern beobachtet man seit den 1970er Jahren einen tendenziellen Rückgang des Produktivitätswachstums. Insbesondere in den USA, in denen die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität zwischen 1994 bis 2004 deutlich angestiegen war, ist nach dem Ende der Wirtschafts- und Finanzkrise erneut ein abschwächendes Produktivitätswachstum zu beobachten.

Für das schwache Produktivitätswachstum werden fünf Gründe verantwortlich gemacht, die mit zentralen Eigenschaften des Innovationsprozesses zusammenhängen: zunehmend kostenintensive Innovation, Sättigung von Bedürfnissen, langsame Diffusion von Innovation, zunehmende Bedeutung der Dienstleistungen in der gesamtwirtschaftlichen Produktion und Verlagerung des Produktivitätswachstums hin zu bisher ungemessenen Dimensionen. Darüber hinaus beeinflussen Bildung, demografischer Wandel, öffentlich finanzierte Forschung und Entwicklung sowie Regulierung das Produktivitätswachstum der Wirtschaft.

In verschiedenen Bereichen, wie z.B. der Herstellung von Computerchips, deuten die Zahlen darauf hin, dass das Erreichen eines gegebenen Produktivitätsfortschritts über die Zeit hinweg immer aufwendiger wird. Ein gegenläufiger Effekt der Innovation besteht aber darin, dass vorhandenes Wissen kostenlos zur Gewinnung neuen Wissens zur Verfügung steht. Innovation führt nicht nur zur Verbesserung bestehender Technologien, sondern zur Erfindung grundlegend neuer Technologien und Produkte, die jeweils neue inhärente Verbesserungspotenziale mit sich bringen. Somit kann nicht an der Verbesserung gegebener Produkte allein festgemacht werden, ob Innovation generell kostenintensiver wird.1

Die Sättigung von Bedürfnissen ist ein zentrales Thema von Robert Gordons umfangreichem Werk zum US-amerikanischen Wirtschaftswachstum zwischen 1870 und 1970.2 Das Wohlergehen der Bevölkerung in den industrialisierten Ländern hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte dadurch stark erhöht, dass sich hygienische und physisch angenehme Lebensbedingungen verbreiteten und viele damit zusammenhängende Errungenschaften erschwinglicher wurden, dass die Qualität und Vielfalt von Ernährung zunahm und dass Mobilität, Transport, Information, Kommunikation und Unterhaltung preiswerter und vielfältiger wurden. Hausarbeit wurde durch fallende Preise für Güter des täglichen Bedarfs und durch Haushaltsgeräte weniger zeitintensiv und anstrengend. Auch die Qualität von Arbeitsplätzen verbesserte sich, sodass körperlicher Verschleiß und Gefahren in der Erwerbsarbeit zurückgingen. Aus Gordons Sicht wohnt vielen Dimensionen der Bedürfnisbefriedigung eine Grenze inne. Wenn eine Raumtemperatur von 22ºC generell als angenehm empfunden wird, ist einer Steigerung des Nutzens aus Optimierung der Raumtemperatur eine Grenze gesetzt.3

Eine andere These zum Rückgang des Produktivitätswachstums besagt, dass die innovativsten Unternehmen weiterhin hohe Produktivitätswachstumsraten aufweisen, dass sich aber die Diffusion der Innovation verlangsamt hat. Andrews et al. untersuchen mit dem Orbis-Datensatz gut 20 000 Unternehmen mit 20 und mehr Beschäftigten aus 24 OECD-Ländern.4 Sie finden heraus, dass das Produktivitätswachstum der global gesehen produktivsten Unternehmen einer Branche nach der Wirtschaftskrise eher zugenommen hat, während das der restlichen Unternehmen eher abgenommen hat. Produktivitätsvorsprünge lassen sich vor allem in IKT-intensiven Branchen ausbauen. Dies kann darauf hinweisen, dass Innovationen in Zusammenhang mit der Digitalisierung zunehmend auf komplementären immateriellen Investitionen basieren, die in besonderem Maße implizites Wissen (Tacit Knowledge) generieren und sich schwer kopieren lassen.5 Inwieweit sich eine länderübergreifende Benchmark der produktivsten Unternehmen einer Branche sinnvoll definieren lässt, ob sich diese Ergebnisse mit anderen Mikrodatensätzen untermauern lassen und ob sie in der Summe einen quantitativ bedeutsamen Beitrag zum Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstums leisten, bleibt noch weiter zu erforschen.

Wenn sich die beobachtete Tendenz als robust erweist, gibt es immer noch unterschiedliche mögliche Erklärungen dafür: Es kann sich um ein eher kurzfristiges Phänomen heterogener Krisenbewältigung handeln. Es kann darauf hindeuten, dass die Heterogenität in der Einführungsphase neuer digitaler Prozesse zunimmt, dass sie aber mit zunehmender Reife und Diffusion der Technologien wieder abnehmen wird. Zuletzt kann die Heterogenität aber auch einen dauerhaften Trend darstellen, wenn es den innovativsten Unternehmen besser gelingt sich durch schwer imitierbare Innovationen abzusetzen.

Wettbewerbsdruck führt je nach Land und Sektor wiederum mit unterschiedlicher Geschwindigkeit dazu, dass relativ unproduktive Unternehmen vom Markt verschwinden und produktive Unternehmen stärker wachsen. Da Innovationen zum Teil von Unternehmen ausgehen, die neu in den Markt eintreten, hat vermutlich auch die rückläufige Gründungsintensität, z.B. in Deutschland, zum Rückgang des Produktivitätswachstums beigetragen.6 Neben einer Veränderung der Innovationsdynamik, die durch technologische Möglichkeiten, Nachfrage und heterogene Unternehmensentwicklung getrieben ist, sucht man in den speziellen Eigenschaften einer zunehmend von Dienstleistungen und digitalen Gütern geprägten Wirtschaft nach Ursachen für das rückläufige Produktivitätswachstum.

Perspektiven für Produktivitätswachstum im Dienstleistungssektor

Der steigende Anteil der Wertschöpfung im Dienstleistungssektor in modernen Volkswirtschaften wird schon seit Langem als mögliche Ursache eines rückläufigen Produktivitätswachstums ausgemacht. Dienstleistungen erfordern häufig eine gemeinsame Präsenz von Erbringer und Konsument, beispielsweise bei der Aufführung eines Streichquartetts (das klassische Beispiel der „Baumol’schen Kostenkrankheit“). Beschleunigung oder Reduzierung des Arbeitseinsatzes bei gleicher Leistungserbringung ist hier nicht möglich, jedoch Vervielfältigung. Im Radio, auf einem Tonträger oder im Internet können die Musiker zu geringen Grenzkosten beliebig viele Zuhörer erreichen. Die Qualität mag gegenüber einer Liveaufführung gemindert sein, dafür ist den Konsumenten auf diesem Wege Musik in einer großen Menge und Vielfalt zugänglich. Die gleichzeitige Präsenz von Dienstleister und Konsument ist nicht mehr erforderlich.7

Neben der Vervielfältigung kann im Dienstleistungssektor auch der Ersatz menschlicher Arbeitskräfte durch Technologien zu Kostenverringerungen führen. Im Fall eines Streichquartetts oder einer Popband scheint dies nicht absehbar. Auch bei vielen anderen personenbezogenen Dienstleistungen, die Empathie, Kreativität oder komplexe Feinmotorik erfordern, entsteht die Qualität gerade dadurch, dass Dienstleister und Konsument eine bestimmte Zeitspanne miteinander verbringen. Anders sieht es bei Dienstleistungen als Vorleistungen im Produktionsprozess aus. Hier mag das persönliche Erleben des Dienstleistungsempfängers zwar die Annehmlichkeit seiner Arbeit beeinflussen, ausschlaggebend für den marktwirtschaftlichen Wert der Dienstleistung ist dies aber nur, wenn es auch seine Produktivität beeinflusst. Im Bereich der Unternehmensdienstleistungen wird gegenwärtig vor allem der automatisierten Datenverarbeitung ein großes Potenzial bei der Verbesserung von Informationsdienstleistungen und Geschäftsprozessen zugesprochen. Hingegen verfügen Menschen über intuitive Heuristiken, mit denen sie ein im jeweiligen Kontext relevantes Problem an die Daten herantragen oder entscheiden, welche Daten zu welchem Zweck gesammelt werden sollen. Inwieweit auch dieser Schritt langfristig automatisierbar ist, scheint noch nicht absehbar. Schließlich gibt es Dienstleistungen, die die Bewegung und Weitergabe von Produkten zum Ziel haben, der Transport und der Handel. Sie erfordern nicht zwingend eine bestimmte Dauer der Präsenz des Dienstleisters beim Kunden.

Das Produktivitätswachstum unterscheidet sich deutlich zwischen Dienstleistungsarten. Im Zeitraum von 1980 bis 2005 fielen die Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität bei Finanzdienstleistungen, unternehmensnahen Dienstleistungen und personenbezogenen Dienstleistungen in den USA und in der EU wesentlich schwächer aus als im Bereich der Distribution (Handel und Transport). Gleichzeitig haben die wachstumsschwachen Branchen auch am meisten zum steigenden Anteil der Dienstleistungen an der gesamten Wertschöpfung beigetragen.8 In Tabelle 1 ist eine ähnliche Unterscheidung beispielhaft für Deutschland und Großbritannien im Zeitraum von 1995 bis 2014 dargestellt. Der Anteil der personenbezogenen Dienstleistungen an der gesamten Wertschöpfung ist in Großbritannien in diesem Zeitraum von knapp 8% auf gut 9% angestiegen und der der Finanz- und Unternehmensdienstleistungen weitaus deutlicher von 21% auf 29%. In Deutschland haben sich die Anteile des Dienstleistungssektors nur wenig verändert. Insgesamt macht er dort knapp die Hälfte der Wertschöpfung aus, während sein Anteil in Großbritannien auf 60% angestiegen ist.9

In Deutschland verzeichnen die Distributionsdienstleistungen mit Werten von 1,5% und mehr in jeder außer der Krisenperiode von 2005 bis 2010 Wachstumsraten, die denen im Verarbeitenden Gewerbe gleichen. Negative Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität bei den Finanz- und Unternehmensdienstleistungen und den personenbezogenen Dienstleistungen können auf eine zunehmende Beschäftigung weniger qualifizierter Arbeitskräfte zurückzuführen sein.

Tabelle 1
Wachstum realer Wertschöpfung je Arbeitsstunde in Deutschland (DE) und Großbritannien (GB)
in %
  NACE 21 DE GB DE GB DE GB DE GB
Durchschnitt pro Jahr   1995 bis 2000 2000 bis 2005 2005 bis 2010 2010 bis 2014
IKT-Sektor 26,27,J 6,8 6,2 2,6 4,8 5,1 3,1 3,4 -1,2
Güterproduktion ohne IKT   2,5 2,3 2,7 2,7 1,1 0,1 0,9 -1,0
Verarbeitendes Gewerbe C ohne 26,27 2,6 2,3 2,6 4,8 1,4 2,5 1,3 0,1
Andere Güter A,B,D-F 1,8 2,2 2,0 0,4 0,7 -2,0 -0,6 -1,9
Dienstleistungen ohne IKT   0,8 1,9 0,7 2,5 -0,5 1,0 1,0 0,4
Distribution G,H 2,3 1,6 4,1 2,5 0,9 0,6 1,5 1,5
Finanz- und Unter- nehmensdienstleistungen K,M,N -1,3 2,2 -2,7 3,2 -2,1 1,5 0,5 -0,4
Personenbezogene Dienstleistungen I,R,S -0,6 1,1 -0,5 0,5 -1,0 -0,3 0,7 -0,5
Marktsektoren   2,1 2,4 1,7 2,6 0,7 0,8 1,3 -0,2

1 Statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft (NACE).

Quelle: EU KLEMS http://euklems.net.

In Großbritannien fallen in den Jahren vor 2005 die hohen Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität bei den Finanz- und Unternehmensdienstleistungen von 2% bis 3% auf. Diese können darauf hindeuten, dass Großbritannien (wie auch die USA) IKT-Investitionen und IKT-basierte Innovationen im Dienstleistungssektor intensiver genutzt hat.10 Rückblickend lassen sich hohe Produktivitätssteigerungen im britischen Finanzsektor natürlich mit einer gewissen Skepsis betrachten. Für die zukünftige Entwicklung stellt sich die Frage, ob die hohen Wachstumsraten für den Zeitraum von 1995 bis 2005 im Dienstleistungssektor einiger Länder ein einmaliges Phänomen darstellen.11 Die „Techno-Optimisten“ Erik Brynjolffson und Andrew McAfee behaupten, dass die größten Produktivitätssteigerungen durch künstliche Intelligenz in Dienstleistungen erst noch ausstehen.12

Ungemessene Produktivitätsbeiträge der Digitalisierung?

Die Diffusion digitaler Technologien prägt bereits seit den 1970er Jahren die industrialisierten Volkswirtschaften. Vor der Verbreitung des Internet ermöglichten sie vor allem Automatisierung, mit dem Internet sind auch eine Fülle von neuen Konsumgütern und -dienstleistungen entstanden. Die jüngste Welle digitaler Innovationen betrifft die zunehmend selbstgesteuerte Vernetzung von Objekten und Prozessen. Eine Vermutung über das Auseinanderklaffen zwischen intuitiv wahrgenommener Geschwindigkeit digitaler Innovationen und gemessenem Wachstum der Wertschöpfung besteht darin, dass die Produktivitätswirkungen der Digitalisierung mit den existierenden Methoden der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung deutlich unterschätzt werden. Jüngste Arbeiten, die sich schwerpunktmäßig mit der Messung in den USA befassen, deuten jedoch darauf hin, dass zumindest bisher keine großen ungemessenen Wachstumssteigerungen durch Digitalisierung stattgefunden haben. Wenn dies der Fall gewesen wäre, dann hätte die Messungenauigkeit gegenüber den Jahren 1995 bis 2004 zunehmen müssen. Für Computer und Telekommunikationsausrüstung lassen sich Messfehler ausmachen, die jedoch in ihrer Bedeutung seit 2005 eher abgenommen haben.

Frei verfügbare Dienste im Internet werden genutzt, indem Marktdienstleistungen (Internetzugang) zusammen mit privater Zeit eingesetzt werden, um Konsumnutzen zu erzeugen. Konzeptionell unterscheidet sich die so entstehende Konsumentenrente nicht von der des Fernsehens oder des Fußballspielens. Sie wird als Haushaltsproduktion traditionell nicht im Bruttoinlandsprodukt (BIP) erfasst.13 Jedoch kann die zunehmende Nutzung digitaler Technologien durch Konsumenten dafür sprechen, diese Nutzung unter Verwendung von Satellitensystemen zu erfassen und in die amtliche Statistik stärker einzubringen. Die Bezahlung freier Dienste durch die Preisgabe privater Daten lässt sich auf absehbare Zeit nicht in das Bruttoinlandsprodukt integrieren, da Datenbanken in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) bisher nur mit den Kosten ihrer physischen Einrichtung und Instandhaltung bewertet werden. Der ökonomische Wert der Informationen kann, genauso wie manch andere Vermögensgüter (z.B. Organisationskapital), bisher in der VGR nicht erfasst werden.14 Während die Haushaltsproduktion mit dem Strukturwandel zunächst zurückgegangen ist, bieten neue Dienste im Internet ein Potenzial für ihren erneuten Anstieg. Aus verteilungspolitischer Sicht könnte die Einbeziehung einer in Zukunft weiter ansteigenden Haushaltsproduktion digitalen Konsums als Argument dafür dienen, die monetäre Umverteilung zu reduzieren, da Konsumsteigerungen zunehmend ohne zusätzliches Einkommen möglich wäre. Diese Interpretation eines erweiterten BIP dürfte aus heutiger Sicht auf wenig Zustimmung stoßen.

Schlussbemerkungen

Das hohe Produktivitätswachstum bei erfolgreichen Unternehmen und die Hinweise auf mangelnde Diffusion von Innovationen können dafür sprechen, dass sich die gegenwärtige Welle der Digitalisierung erst in der Anfangsphase befindet. Ob mit weiterer Diffusion auch das Produktivitätswachstum in unternehmensnahen Dienstleistungen wieder zunimmt, oder ob höhere Wachstumsraten zwischen 1995 und 2005 in diesen Sektoren in einigen Ländern ein einmaliges Phänomen waren, bleibt noch abzuwarten. In einer längerfristigen Betrachtung fallen die Wachstumsraten in den unternehmensnahen und personenbezogenen Dienstleistungen niedriger als im Handel, dem Transport und dem Verarbeitenden Gewerbe aus.

Bei Dienstleistungen, bei denen die persönliche Präsenz der Arbeitskraft den Kern der Leistung darstellt, erweist sich häufig die Qualitätsmessung als schwierig. In einer an Grundbedürfnissen zunehmend gesättigten Gesellschaft besteht ein Wachstumspotenzial jedoch gerade darin, dass nicht mehr, sondern bessere Dienstleistungen konsumiert werden, wobei „besser“ sich hier in vielfältiger Weise aus der Verschiebung der Nachfrage hin zu neuen, präferierten Angeboten ergeben kann. Bei der Messung eines solchen Produktivitätswachstums gerät allerdings die aus einer industriellen Logik heraus entstandene Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung an ihre Grenzen.

„Techno-Optimisten“ erwarten dank Digitalisierung jedoch nicht nur bessere Dienste, sondern auch eine Kostensenkung durch Arbeitsersparnis in Dienstleistungen. Kostenlose Dienstleistungen im Internet, die werbefinanziert oder gegen die Preisgabe von Daten angeboten werden, mögen in Zukunft einen steigenden Anteil des privaten Konsums ausmachen, schaffen aber im direkten Sinne keine Arbeitsplätze, Lohneinkommen oder Steuereinnahmen. Sollte ihre Bedeutung wachsen, können sich Markteinkommen und Lebensstandard langfristig stärker entkoppeln.15

  • 1 N. Bloom, C. Jones, J. Van Reenen, M. Webb: Are Ideas Getting Harder to Find?, Arbeitspapier, 4.1.2017, https://web.stanford.edu/~chadj/IdeaPF.pdf.
  • 2 R. J. Gordon: The Rise and Fall of American Growth, Princeton 2016.
  • 3 Ebenda, S. 127.
  • 4 D. Andrews, C. Criscuolo, P. Gal: The Global Productivity Slowdown, Technology Divergence and Public Policy: A Firm Level Perspective, Hutchins Center Working Paper, Nr. 24, 2016, S. 20-25.
  • 5 Ebenda.
  • 6 ZEW/Creditreform: Gründungstätigkeit stagniert, in: JUNGE unternehmen, Nr. 5, 2016, S. 1, http://www.zew.de/fileadmin/FTP/jungeunternehmen/jungeunternehmen_0816.pdf.
  • 7 R. J. Gordon, a.a.O., S. 173-174.
  • 8 D. Jorgenson, M. Timmer: Structural Change in Advanced Nations – A New Set of Stylized Facts, in: Scandinavian Journal of Economics, 113. Jg. (2011), H. 1, S. 1-29.
  • 9 Vgl. K. Jäger: EU KLEMS Growth and Productivity Accounts 2016 release – Methodological Notes and General Comments, 22.12.2016, http://www.euklems.net/TCB/2016/Metholology_EU%20KLEMS_2016.pdf.
  • 10 R. Inklaar, M. P. Timmer, B. Van Ark: Mind the gap! International comparisons of productivity in services and goods production, in: German Economic Review, 8. Jg. (2007), H. 2, S. 281-307.
  • 11 Vgl. auch R. J. Gordon, a.a.O., S. 575.
  • 12 E. Brynjolfsson, A. McAfee: The Second Machine Age – Work, Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies, New York, London 2014, S. 90-96.
  • 13 D. M. Byrne, J. G. Fernald, M. B. Reinsdorf: Does the United States have Productivity Slowdown or a Measurement Problem?, in: Brookings Papers on Economic Activity, 2016, S. 110-112.
  • 14 N. Ahmad, P. Schreyer: Measuring GDP in a Digitalised Economy, OECD Statistics Working Papers, Nr. 2016/07, Paris 2016, S. 17-18, http://dx.doi.org/10.1787/5jlwqd81d09r-en.
  • 15 Vgl. J. Mokyr, C. Vickers, N. L. Ziebarth: The History of Technological Anxiety and the Future of Economic Growth: Is This Time Different? in: Journal of Economic Perspectives, 29. Jg. (2015), H. 3, S.47-48.

Zwischen Hoffnungsträger und Spielverderber: der Beitrag von Dienstleistungen zum Produktivitätswachstum

In den entwickelten Volkswirtschaften der Welt ist die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität seit den 1970er Jahren tendenziell rückläufig.1 Über die Ursachen des sich abschwächenden Produktivitätsfortschritts und mögliche Gegenmaßnahmen wurden seitdem zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt, die aber bislang noch zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen sind. Dienstleistungen stehen auf der Liste der möglichen Faktoren weit oben. Aufgrund ihres relativ geringen Produktivitätswachstums in Verbindung mit ihrem gleichzeitig wachsenden Wertschöpfungsanteil gelten sie einerseits als „Spielverderber“ für den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt. Andererseits werden in wachsendem Maße gerade in Dienstleistungen große Hoffnungen für eine Wiederbelebung des allgemeinen Produktivitätswachstums gesetzt. Diese beruhen vor allem auf modernen Dienstleistungen der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), die dank fortschreitender Vernetzung eine umfassende Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft herbeiführen könnten. Nach Ansicht der Fortschrittsoptimisten werden digitale Dienstleistungen den entscheidenden Impuls für zukünftige Produktivitätsfortschritte liefern. Allerdings, so lautet ein weiteres Argument in diesem Zusammenhang, verhinderten bislang Messfehler, dass sich die positiven Wohlfahrtseffekte der neuen Dienstleistungen in den Kennziffern der amtlichen Statistik niederschlügen. Die rückläufige Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität ist nach dieser Lesart vor allem auch ein statistisches Artefakt.

Seit längerem wundert man sich darüber, dass weder die Erfindung von Computern noch ihre anschließende Vernetzung die Abschwächung des Produktivitätsfortschritts aufhalten konnten. Bereits im Jahr 1987 brachte dies Nobelpreisträger Robert Solow in prägnanter Weise auf den Punkt: „Wir sehen das Computerzeitalter überall, außer in den Produktivitätsstatistiken“ (Solows Produktivitätsparadoxon). Die Computerisierung und die zahlreichen internet-basierten Dienstleistungen haben – bis auf eine kurze Ausnahmeperiode (1996 bis 2004) in den USA – bislang keine Trendumkehr bei der Produktivitätsentwicklung ausgelöst. Sorgen nun die weitgehende Diffusion des Internets und mobiler Endgeräte in Verbindung mit Industrie 4.0 und der Entwicklung neuer digitaler Dienstleistungen für die langerwartete Trendwende?

Tertiarisierung und Produktivitätsschwäche

Zu den stilisierten Fakten der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte gehört der trendmäßig zunehmende Anteil, den Dienstleistungen zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung beisteuern (Tertiarisierung). Fakt ist ebenfalls, dass das Produktivitätswachstum im Dienstleistungsbereich im Allgemeinen unterdurchschnittlich ausfällt. Wie Abbildung 1 zeigt, wiesen die meisten Dienstleistungen von 1991 bis 2015 in Deutschland eine geringere durchschnittliche Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität als die Industrie auf. Eine Ausnahme stellt der Wirtschaftsbereich Information und Kommunikation dar, bei dem die Wachstumsraten (sowohl pro Kopf als auch pro Stunde) größer ausfallen als die entsprechende Wachstumsrate für das Verarbeitende Gewerbe. Bei den unternehmensbezogenen Dienstleistungen ist sie dagegen negativ.2

Abbildung 1
Arbeitsproduktivität nach Wirtschaftsbereichen, Deutschland 1991 bis 2015
Durchschnittliche Veränderungsrate in %
Arbeitsproduktivität nach Wirtschaftsbereichen, Deutschland 1991 bis 2015

Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen des Bundes. Wir danken Andreas Sharik (TU Chemnitz) für seine Unterstützung bei der Datensammlung.

Auch in anderen Industrieländern tritt eine solche sektorale Wachstumsdifferenz schon seit mehreren Jahrzehnten auf. Da sich auch dort der Anteil des Dienstleistungssektors kontinuierlich vergrößerte, reduzierte dies die gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstumsrate in signifikanter Weise.3 Ein zentraler Grund für diesen Produktivitäts-Bias ist die Tatsache, dass bei vielen Dienstleistungen der Ersatz menschlicher Arbeit durch Maschinen (Automatisierung) kaum möglich ist. Dies gilt vor allem für die meisten personenbezogenen Dienstleistungen, bei denen der Faktor Arbeit unverzichtbar und die Einsatzmöglichkeiten von technischen Innovationen limitiert bleiben (sogenannte Embodied Services). Darunter fallen insbesondere Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheits- und Erziehungswesen, Bildung, Kultur und Freizeit.

Liegt es an den Messfehlern bei Dienstleistungen?

Die Messung der Wertschöpfung ist bei vielen Dienstleistungen vor ungleich größere Herausforderungen als bei physischen Gütern gestellt. Dank der Einführung der Dienstleistungsstatistik und der Statistik der Erzeugerpreise für Dienstleistungen wurden in der Vergangenheit im Bereich der amtlichen Statistik große Fortschritte erzielt.4 Nach wie vor sind jedoch viele Probleme wie z.B. die akkurate Erfassung der Dienstleistungsqualität nicht befriedigend gelöst worden. Dass Messfehler zu einer systematischen Untererfassung der Wertschöpfung und der Produktivität von Dienstleistungen führen, ist ein häufig vorgebrachter Einwand gegen die statistisch gemessene Abschwächung des Produktivitätswachstums.5 Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Internetdienste, wie z.B. Skype, Wikipedia, Google und Facebook, die ihren Nutzern mehr oder weniger kostenlos zur Verfügung stehen. Diese Dienstleistungen würden kostenpflichtige Güter und Dienstleistungen, wie Lexika oder Telekommunikationsdienste, ersetzen. Der mit den digitalen Dienstleistungen geschaffene Wohlstand werde in den offiziellen Daten der amtlichen Statistik nicht ausreichend erfasst. Es sei im Gegenteil sogar möglich, dass das Bruttoinlandsprodukt sinke, weil bisher erfasste kostenpflichtige Angebote ersetzt würden.6 Solows Produktivitätsparadoxon sei daher vor allem ein statistisches Artefakt.

Derartige Argumente greifen allerdings zu kurz. Zum einen wäre selbst bei einer statistischen Erfassung der Wertschöpfung von kostenlosen digitalen Dienstleistungen ihr Beitrag zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts so geringfügig, dass er nur einen recht kleinen Anteil des Gesamteffekts erklären könnte.7 Zum anderen wird dabei übersehen, dass auch in früheren Perioden neuartige Güter und Dienstleistungen nicht entsprechend ihrem wohlfahrtssteigernden Effekt in die Sozialproduktsberechnung eingegangen sind. Der Wertschöpfungsbeitrag von neuen Gütern und ihre kontinuierlichen Qualitätsverbesserungen wurden auch im Vor-Internetzeitalter systematisch untererfasst, obwohl diese den Lebensstandard der Konsumenten erheblich erhöht haben. Dies wird von Robert Gordon für die USA mit Hilfe zahlreicher Beispiele von historischen Innovationen gezeigt, die während der von ihm als Zweite Industrielle Revolution bezeichneten Periode von 1870 bis 1970 entstanden sind.8 Beispiele für bedeutsame Innovationsfortschritte, die nicht in angemessener Weise ins Bruttoinlandsprodukt der USA eingingen, sind das elektrische Licht, die erhöhte Lebensmittelsicherheit und -qualität, das Automobil, der Luftverkehr, medizinische Fortschritte, Kommunikationsmöglichkeiten durch Telegraf und Telefon, der Unterhaltungswert von Radios, Plattenspielern und Kinos sowie vieles andere mehr. Gordon zufolge ist das Ausmaß der Untererfassung in der seit 1970 auftretenden Dritten Industriellen Revolution sogar geringer als während der Zweiten Industriellen Revolution: „Those who complain that real GDP and productivity statistics do not give credit to the multiple functions of the smartphone are correct as far as they go, but they often fail to realize that real GDP changes have understated progress since the beginning of recorded economic history and for innovative changes far more important than the multifunction smartphone.“9 Hieraus ergibt sich eine weitreichende Schlussfolgerung: Wenn in früheren Perioden das tatsächliche Produktivitätswachstum ebenfalls deutlich größer war als heutzutage, würde auf Basis einer akkuraten Messung der Rückgang der Wachstumsraten der Produktivität sogar noch größer ausfallen als dies ohnehin schon der Fall ist. Mit anderen Worten: Mit dem Argument des statistischen Artefakts kann dem Phänomen der Abschwächung des Produktivitätsfortschritts nicht begegnet werden.10

Ein weiteres Phänomen kommt hinzu: Mit einem Anteil von etwa zwei Dritteln wird der Großteil der Konsumausgaben heutzutage für Dienstleistungen getätigt. Dazu gehören Ausgaben für Gesundheit, Erziehung, Freizeit, Miete und andere persönliche Dienstleistungen. Da bei den meisten personenbezogenen Dienstleistungen allenfalls geringe Produktivitätsfortschritte erzielt werden können, übt die IKT-Revolution hier auch keinen nennenswerten Produktivitätseffekt aus. Gordon löst das Solowsche Produktivitätsparadoxon daher ganz einfach so auf: „The final answer to Solow’s computer paradox is that computers are not everywhere. We don’t eat computers or wear them or drive to work in them or let them cut our hair.“11

Baumol’sche Kostenkrankheit

Nicht nur die deutsche Bundesregierung sieht enorme Potenziale in der Digitalisierung.12 Die Erwartungen, die in die Digitalisierung von Industrieprozessen (Internet of Things, Industrie 4.0) und in digitale Dienstleistungen (Internet of Services) gesetzt werden, sind hoch. Doch es müssen Zweifel angemeldet werden, ob dadurch die allgemeine Produktivitätsschwäche behoben werden kann. Denn solange es Wirtschaftsbereiche in relevanter Größenordnung gibt, in denen ein weitgehender Ersatz menschlicher Arbeitsleistung durch Mechanisierung und Technisierung nicht möglich ist, wird das Problem einer allgemeinen Abschwächung des Produktivitätswachstums prinzipiell bestehen bleiben.

Die Erkenntnis, dass bei vielen Dienstleistungen nur unterdurchschnittliche oder keine Produktivitätssteigerungen möglich sind, ist natürlich nicht neu. Bereits Jean Fourastié, einer der Begründer der Drei-Sektoren-Hypothese, erkannte hierin eine wesentliche Triebkraft des Strukturwandels. Eine besondere Rolle spielt bis heute das berühmt gewordene Modell, mit dem William Baumol schon vor 50 Jahren zeigte, dass angesichts eines sektoralen Produktivitäts-Bias die Entwicklung einer Volkswirtschaft tendenziell in die Stagnation mündet.13 Die seitdem als Baumol‘sche Kostenkrankheit bekannte Entwicklung tritt auf, wenn es Wirtschaftsbereiche mit stärkerem Produktivitätswachstum (progressive Sektoren) und solche mit geringerem Produktivitätswachstum (stagnierende Sektoren) gibt. Der Beschäftigungsanteil und der nominale Anteil, den die stagnierenden Sektoren an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung haben, wird kontinuierlich in Richtung 100% steigen. Des Weiteren wird die gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstumsrate langfristig auf das Niveau der Wachstumsrate der stagnierenden Sektoren heruntergezogen.14 Empirische Studien mit einem Fokus auf Branchen, deren Wertschöpfung gut zu messen ist, konnten die Vorhersagen von Baumols Modell nicht widerlegen.15 Dass sich die Resultate für die „well-measured industries“ dabei nicht signifikant von denen für alle Branchen unterscheiden, ist ein weiteres Argument gegen die These, die Abschwächung des Produktivitätswachstums beruhe auf Messfehlern.

Selbst wenn man davon ausgehen kann, dass wir zukünftig noch zahlreiche weitere Innovationen erleben werden, die die Effizienz der Produktion steigern und das Leben angenehmer machen, ändert dies am grundsätzlichen Problem der anhaltenden oder sogar zunehmenden gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsschwäche nichts. Ein nicht unwahrscheinliches Szenario ist, dass auf der einen Seite überall dort, wo Automatisierung prinzipiell möglich ist, tatsächlich auch weitreichende Automatisierungsprozesse erfolgen werden. Auf der anderen Seite wird dies jedoch dazu führen, dass der Beschäftigungs- und Produktionsanteil von Dienstleistungen, die grundsätzlich nicht automatisierbar sind, weiter steigen wird.16 Auch ein rasanter technologischer Fortschritt in einigen Wirtschaftsbereichen wird daher nicht verhindern können, dass sich der Rückgang der durchschnittlichen Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität weiter fortsetzt. Dieses Szenario entspricht der Grundaussage, die Baumol entwickelt hat. Dass es die von Baumol als „stagnierende Sektoren“ bezeichneten Wirtschaftsbereiche mit unterdurchschnittlichem Produktivitätswachstum gibt, kann schwerlich bestritten werden. Daher ist es mehr als lohnenswert, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie mit der Kostenkrankheit von Dienstleistungen, bei denen das Produktivitätswachstum gering ist, prinzipiell umzugehen ist.

Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen

Nach unserer Auffassung müssen wir uns darauf einstellen, dass es aufgrund des zunehmenden Anteils von produktivitätsschwachen Dienstleistungssektoren an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung eine langfristige Tendenz hin zu niedrigeren Produktivitätswachstumsraten geben wird. Diese Entwicklung wirft eine Reihe von Problemen auf, die bisher nur unzureichend beachtet und diskutiert wurden. Eines davon soll hier herausgehoben werden. Die Baumol‘sche Kostenkrankheit von Dienstleistungen entsteht dadurch, dass die Lohnstückkosten im Dienstleistungssektor relativ schneller steigen als in den übrigen Bereichen der Ökonomie. Die resultierenden relativen Preiserhöhungen versuchen die Erbringer von derartigen Dienstleistungen auf ihre Kunden abzuwälzen. Baumol zufolge werden Dienstleistungen dadurch irgendwann unbezahlbar (Kostenkrankheit). Trotz der relativen Preissteigerungen ist bei entsprechenden Preis- und Einkommenselastizitäten sowie generell steigendem Realeinkommen der Nachfrager ein Absatz dieser Dienstleistungen über einen längeren Zeitraum prinzipiell weiter möglich. Dabei würde jedoch ihr Ausgabenanteil am Konsumbudget der privaten Haushalte immer weiter zunehmen.

Dies führt uns direkt zu dem Problem, das bei denjenigen produktivitätsschwachen Dienstleistungen entsteht, die von der öffentlichen Hand angeboten werden. Die permanent ansteigenden Lohnstückkosten müssen hier durch Anhebung von entsprechenden Gebühren oder aus dem Steueraufkommen finanziert werden. Steuer- und Gebührenerhöhungen sind im aktuellen politischen Prozess jedoch nur schwer durchsetzbar. Daher dürfte die Finanzierung derartiger öffentlicher Dienstleistungen tendenziell immer schwieriger und konfliktreicher werden. Die Auseinandersetzungen um Lohnerhöhungen für Mitarbeiter im Gesundheitswesen, in Erziehungsberufen und im Transportbereich, die in den letzten Jahren in Deutschland mit lange nicht mehr gekannter Heftigkeit geführt wurden, können als eine unmittelbare Auswirkung der Baumol‘schen Kostenkrankheit interpretiert werden. Hier besteht aus unserer Sicht eine klare wirtschaftspolitische Handlungsempfehlung: Wenn man nicht beabsichtigt, in diesen Bereichen einen Niedriglohnsektor entstehen zu lassen, müssen die politisch Verantwortlichen realisieren, dass Kostensteigerungen bei personengebundenen öffentlichen Dienstleistungen prinzipiell unvermeidbar sind und von der öffentlichen Hand angemessen finanziert werden müssen. Es ist daher dringend anzuraten, innovative Geschäfts- und Finanzierungsmodelle für derartige öffentliche Dienstleistungen zu entwickeln.

  • 1 Vgl. Internationaler Währungsfonds: Uneven growth: Short- and long-term factors, World Economic Outlook, Washington DC 2015.
  • 2 Vgl. auch A. Eickelpasch, G. Erber: Produktivitätsmessung von wissensintensiven Dienstleistungen in der amtlichen Statistik, in: M. Gotsch, C. Lerch (Hrsg.): Messung der Produktivität innovativer und wissensintensiver Dienstleistungen, Stuttgart 2015, S. 129-155.
  • 3 Vgl. Internationaler Währungsfonds, a.a.O., S. 99-101.
  • 4 Vgl. A. Eickelpasch, G. Erber, a.a.O., S. 150.
  • 5 Vgl. J. Hartwig: Productivity growth in service industries – Are the transatlantic differences measurement-driven?, in: Review of Income and Wealth, 54. Jg. (2008), H. 3, S. 494-505.
  • 6 T. Straubhaar: Die unsinnige Angst vor der „säkularen Stagnation“, Welt vom 10.1.2017, https://www.welt.de/wirtschaft/article161022803/Die-unsinnige-Angst-vor-der-saekularen-Stagnation.html (9.2.2017).
  • 7 Vgl. D. M. Byrne, J. G. Fernald, M. B. Reinsdorf: Does the United States Have a Productivity Slowdown or a Measurement Problem?, in: Brookings Papers on Economic Activity, 57. Jg. (2016), H. 1, S. 109-157.
  • 8 R. Gordon: The Rise and Fall of American Growth: The U.S. Standard of Living since the Civil War, Princeton 2016.
  • 9 Ebenda, S. 528.
  • 10 Dass die Abschwächung real ist und nicht auf einer Zunahme von Messfehlern beruht, ist das zentrale Ergebnis der Studie von D. M. Byrne, J. G. Fernald, M. B. Reinsdorf, a.a.O.
  • 11 Ebenda, S. 579.
  • 12 Vgl. Bundesregierung: Digitale Agenda 2014-2017, Berlin 2014.
  • 13 Vgl. W. J. Baumol: Macroeconomics of unbalanced growth: the anatomy of urban crisis, in: American Economic Review, 57. Jg. (1967), H. 3, S. 415-426.
  • 14 Vgl. H. Krämer: Baumol’s Disease und unternehmensbezogene Dienstleistungen, in: M. Gotsch, C. Lerch, a.a.O., S. 157-179.
  • 15 Vgl. W. D. Nordhaus: Baumol’s Diseases: a macroeconomic perspective, in: The B.E. Journal of Macroeconomics, 8. Jg. (2008), H. 1 (Contributions), Article 9; und J. Hartwig: Testing the Baumol-Nordhaus model with EU KLEMS data, in: Review of Income and Wealth, 57. Jg. (2011), H. 3, S. 471-489.
  • 16 Vgl. A. Turner: Wealth, debt, inequality and low interest rates: four big trends and some implications, 26.3.2014, https://www.cass.city.ac.uk/__data/assets/pdf_file/0014/216311/RedingNotes_Lord-Turner-Annual-Address-at-Cass-Business-School-March-26-2014.pdf (26.1.2017).

Title:Weak Productivity Growth – A Cyclical or Structural Phenomenon?

Abstract:Labour productivity growth in Germany and in the OECD countries has decelerated significantly in recent years. This observation is astonishing, given the fact that modern digital services can now be found throughout the economy. It may be a statistical artefact, but if it is a realistic observation, it should be investigated. The authors describe many reasons for this development. For example, the services sector, with its traditionally low productivity, makes up an increasingly large part of the economy. Moreover, the cost intensity of innovations is growing, and there are not enough innovative investments. What should be done? Reforms are suggested which aim at exploiting unused potential and create suitable conditions for facilitating sustainable productivity increases. Important policy areas include digitisation, energy transition and demographic change. But reforms must also be thought of as investments into the capacity of employees to work productively.


DOI: 10.1007/s10273-017-2090-9

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