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Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise haben sich Bruttoinlandsprodukt und Beschäftigung in Deutschland aufwärts bewegt. Worauf basiert diese Robustheit? Michael Hüther sieht die deutsche Wettbewerbsfähigkeit nicht durch einen zu niedrigen Euro-Kurs bedingt. Vielmehr identifiziert er Alleinstellungsmerkmale wie etwa die Kooperationsvorteile durch Sozialpartnerschaft sowie eine höhere Vernetzung und Flexibilität der Wirtschaftssektoren. Aber auch der gesellschaftlichen Stabilität kommt eine wichtige Rolle zu. Risiken sieht er darin, dass angebotspolitische Reformen zurückgenommen werden, die digitale Infrastruktur nicht rasch ausgebaut und der demografische Wandel nicht berücksichtigt wird.

Die deutsche Volkswirtschaft expandiert mit hoher Stabilität. Zwar ist das Tempo des Trendwachstums mit 1½% begrenzt, doch es reicht für einen anhaltenden Beschäftigungsaufbau. Der Konjunkturaufschwung ist beschäftigungsintensiv und spannungsfrei – so hat man dies in früheren Zeiten qualifiziert, in denen gleichermaßen erfahrungsgestützte wie theoriegesättigte Zusammenhänge der Konjunkturanalyse Orientierung gaben. Diese bezog sich auf die Länge des Aufschwungs, die Zyklizität der Auslastung sowie der Investitionstätigkeit, auf die Schwankungen der Arbeitslosigkeit sowie der Beschäftigung und war verbunden mit entsprechenden konjunkturellen Signalen der Inflation sowie der Lohnpolitik. Aus dieser Perspektive betrachtet ist der Aufschwung alt und längst zur Ausreifung überfällig, der anhaltende Aufbau an Beschäftigung trotz wieder steigender Lohnstückkosten sowie tendenziell sinkender Wettbewerbsfähigkeit überraschend und die relativ schwache Investitionsneigung fragwürdig. Verbunden ist die wirtschaftliche Entwicklung mit einem Policy Mix, der seit 2011 durch – gemessen am Staatsdefizit – einen zunehmenden Restriktionsgrad der Finanzpolitik sowie einen anhaltend hohen Expansionsgrad der Geldpolitik gekennzeichnet ist.

Betrachtet man die realwirtschaftliche Seite, dann zeigen Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Erwerbstätigkeit seit fast fünf Jahren – das 1. Quartal 2013 markiert den letzten konjunkturellen Tiefpunkt – eine erstaunlich stabile, wenig volatile Entwicklung (vgl. Abbildung 1). Man ist fast geneigt, den nach dem Jahr 2000 aufgekommenen Begriff der „Great Moderation“ wiederzubeleben, diesmal speziell für Deutschland. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war mit Blick auf die seit Mitte der 1980er Jahre deutlich verringerte Volatilität realwirtschaftlicher Größen dieser Begriff für die Einordnung der US-Volkswirtschaft aufgekommen.1 Dabei wurden insbesondere angebotsseitige Effekte und die Bedeutung der Makropolitik analysiert. Allerdings blieben die Ergebnisse unbefriedigend, nur die mittelfristig orientierte Geldpolitik und die geringeren Technologieschocks leisteten einen gewissen Erklärungsbeitrag, ebenso die verbesserte Fähigkeit der Unternehmen, die Produktionsentwicklung vorherzusagen. Mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 verlor das Konzept der großen Moderation an Bedeutung.2 Dabei schwang auch eine grundsätzliche Kritik an der These effizienter Märkte mit.

Abbildung 1
Bruttoinlandsprodukt und Erwerbstätigkeit in Deutschland
Saison-, arbeitstäglich und preisbereinigte Werte, Index Q1 2013 = 100
Bruttoinlandsprodukt und Erwerbstätigkeit in Deutschland

Quellen: Statistisches Bundesamt; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Gleichwohl ist in den vergangenen Jahren für die deutsche Volkswirtschaft eine beachtliche Moderation zu identifizieren. Dies ist umso erstaunlicher als in dieser Zeit einerseits die globale Finanz- und Wirtschaftskrise immer noch nachwirkt, was an den noch bestehenden Funktionsstörungen im Bankensystem und den Staatsschuldenkrisen spürbar ist. Immerhin war die Krise die erste tiefgehende marktbasierte Koordinationsstörung der Weltwirtschaft unter den Bedingungen liberalisierten Kapitalverkehrs und deregulierter Finanzmärkte. Andererseits hat es in den vergangenen Jahren einige außerökonomische Schocks gegeben, die nicht nur die politische Unsicherheit erhöht haben,3 was angesichts ihrer Qualität in früheren Zeiten erhebliche konjunkturelle Schleifspuren hinterlassen hätte. Bislang haben aber weder der Brexit noch die irrlichternde Trump-Administration erkennbar gesamtwirtschaftliche Schäden ausgelöst. Im Gegenteil: Der Arbeitsmarkt bewegte sich im Frühjahr 2017 erneut auf historischen Bestwerten für das wiedervereinigte Deutschland, und der Export ist trotz diverser protektionistischer Tendenzen nicht eingebrochen.

Die gewonnene Robustheit beruht im Vergleich zu früheren Entwicklungsphasen der deutschen Volkswirtschaft auf einer gesunden Dynamik der Inlandsnachfrage. Seit geraumer Zeit haben die sich verbessernde Lage am Arbeitsmarkt zusammen mit steigenden Reallöhnen den privaten Konsum erhöht. Der zunächst vor allem exportgetriebene Aufschwung hat durch beschäftigungsintensivere Investitionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze und private Einkommen in beachtlichem Ausmaß ermöglicht. Seit Dezember 2004 bis September 2016 ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung um 21% angestiegen, die ausschließlich geringfügige Beschäftigung (sogenannte Minijobs) um rund 3% zurückgegangen.4 Auch der OECD-Ausblick auf den deutschen Arbeitsmarkt fällt positiv aus.5 Die im Zeit- und Ländervergleich hohe Arbeitsplatzdynamik zeigt sich auch bei der qualifikatorischen Struktur der Erwerbstätigkeit.6 Die Strukturdaten belegen die höhere Anpassungsflexibilität des deutschen Arbeitsmarktes bei der Integration von Menschen mit geringerer Qualifikation. So hat die gesamtwirtschaftliche Erholung in der letzten Dekade über Beschäftigungsintegration, Einkommensbildung und Konsumneigung mittlerweile eine besondere Eigendynamik erreicht, die offensichtlich für sich genommen eine beachtliche Robustheit begründet und die Verletzlichkeit gegenüber exogenen Schocks vermindert hat.

Alles nur exogenen Faktoren geschuldet?

Auf der Suche nach Erklärungen für diese auffällige Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft in den vergangenen Jahren trifft man häufig auf den Verweis, dass dies vor allem, wenn nicht ausschließlich, exogenen Faktoren geschuldet sei, die jedenfalls außerhalb der Steuerungshoheit deutscher Politik und deutscher Unternehmen liegen. Damit ist zugleich der Hinweis verbunden, der gegenwärtige Aufschwung sei höchst gefährdet, wenn diese Bedingungen nicht mehr erfüllt seien: erstens der vermeintlich niedrigere Wechselkurs des Euro im Vergleich zu einer fiktiven Situation mit der D-Mark, zweitens die infolge der ultraexpansiven Geldpolitik der Europäischen Zentralbank niedrigen Zinsen und drittens der infolge des Frackings in den USA beharrlich sich den gegenläufigen Bemühungen der OPEC entziehende niedrige Ölpreis.

Alle drei Faktoren sind im makroökonomischen Kontext ohne Zweifel wirksam. Allerdings gelten diese nicht nur für die deutsche Volkswirtschaft, deren Situation aufgrund allgemein wirkender Bedingungen mit spezifischen Merkmalen der heimischen Wirtschaft erklärt werden kann:

  • Der Ölpreis entlastet weltweit die erdölimportierenden Staaten, sowohl angebotsseitig über geringere Kosten, als auch nachfrageseitig über einen geringeren Kaufkraftabfluss ins Ausland. Angesichts der geringeren Importnachfrage aus den erdölexportierenden Staaten ist Deutschland mit seiner Güterstruktur allerdings auch belastet.
  • Die europäische Geldpolitik kommt mit ihren Zins- und Wechselkurseffekten allen Mitgliedsländern der Eurozone zugute. Für die deutschen Unternehmen ist das Zinsniveau aber nachrangig bedeutsam, da sich diese seit der Finanzkrise in einem anhaltenden Entschuldungsmodus befinden.7
  • Mit der Bewältigung der Staatsschuldenkrise haben sich die Exporte aus der Eurozone belebt, sodass seit 2012 die gesamte Währungsunion einen Überschuss in der Handelsbilanz aufweist. Die Staatsschuldenkrise hat im Euroraum freilich asymmetrisch gewirkt und in den betroffenen Volkswirtschaften zum Teil tiefgreifende Anpassungsprozesse ausgelöst, die Deutschland in dieser Weise nicht betrafen. Zugleich gilt aber auch, dass die in den extremen Anpassungsjahren geschwächte gesamtwirtschaftliche Dynamik in den Programm-Ländern zwar den Import aus Deutschland vermindert, damit aber nicht die Entwicklungsdynamik grundlegend beeinträchtig hat.

Es bleibt somit offen, warum in Deutschland diese exogenen Faktoren besonders gewirkt haben sollen. In einer anderen Deutung wird die stabile und robuste Entwicklung hierzulande mit der dynamischen Weltwirtschaft erklärt. Dieser unspezifische Hinweis trägt allein nicht weit. Die Weltwirtschaft hat seit 1990, spätestens seit 2000, kräftig von der Einbindung der Schwellenländer und der Öffnung des Ostblocks profitiert. So erhöhte sich der Anteil der Schwellenländer an den globalen Investitionen von rund 25% (2000) auf derzeit nahezu 50%. Das begünstigt vor allem den Export jener Länder, die aufgrund einer starken Industrie über das passende Spezialisierungsmuster verfügten – und hier vor allem die deutsche Wirtschaft: Der Warenexport in Relation zum BIP hat hierzulande seit 20 Jahren eine andere Entwicklung genommen als in anderen reifen Volkswirtschaften (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2
Warenexporte
Warenexporte

Quellen: OECD; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Mit dem Start des Europäischen Binnenmarkts zum 1. Januar 1993 erhöhten sich die Warenexporte der EU-Länder in Relation zum BIP aus einer Rezessionsphase startend. Nachhaltig war diese Entwicklung allerdings nur in Frankreich und Italien, wo der Anteil sich von zuvor 17% bis 2000 auf 20% bis 25% steigerte, sowie in Deutschland, wo es bis 2008 zu einer Verdopplung von um die 20% auf fast 40% kam. Dagegen fiel der Anteil Großbritanniens bereits vor der Jahrtausendwende wieder auf 17% und jüngst sogar 15% zurück. Das Binnenmarktprojekt wirkte also sehr unterschiedlich. Der deutsche Export in den Binnenmarkt lag 1991 bei knapp 12% des BIP, 2007 – als Höchstwert – bei 25% und heute bei 23%. Das dürfte auch mit der Osterweiterung zusammenhängen.

Der Einstieg in die gemeinsame europäische Währung war also nicht der maßgebliche Impuls für die Stärkung der deutschen Exportposition. Dabei ist ohnehin zu bedenken, dass es im Laufe der 1990er Jahre zu einer Zinskonvergenz der präsumtiven Mitgliedsländer in Richtung auf das niedrige deutsche Niveau kam, das sich aus der glaubwürdigen Stabilitätsorientierung der Bundesbank und ihrer Politik seit langem etabliert hatte. Die darin wegen der abnehmenden Volatilitätsprämie bei hohen Inflationserwartungen ebenso enthaltene Realzinskonvergenz war nichts anderes als der Verlust eines relativen Standortvorteils der deutschen Volkswirtschaft. Gemeinsam mit den relativ hohen Tariflohnabschlüssen in der Industrie bis 1995 hatte sich so die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standorts verschlechtert.

Eine bedeutsame Reaktion der deutschen Unternehmen waren vermehrte Auslandsinvestitionen (Offshoring). Bis 2005 war dafür das Kostenargument häufig dominant, seitdem sind es Vertrieb und Kundendienst vor Markterschließung.8 Die damit einhergehenden Produktionsverlagerungen ins Ausland und die daraus folgende Verringerung der Fertigungstiefe in Deutschland riefen seinerzeit Sorgen über die Zukunft des deutschen Standorts hervor, gipfelnd in der These von Deutschland als einer „Basarökonomie“9. Die damals vorgetragenen Befürchtungen haben sich in der realen Entwicklung nicht bestätigt. Im Gegenteil: Deutschland ist auch heute noch in besonderem Maße durch Industrie geprägt. Allerdings hat die Internationalisierung der Wertschöpfungsketten zur Folge, dass die Inlandsinvestitionen das Engagement der deutschen Unternehmen nicht mehr vollständig abbilden, sondern nur zusammen mit den Auslandsinvestitionen. Beide bewegen sich folglich auffällig synchron.10

Aktuell zeigt sich in verschiedenen Studien, dass sich die Wertschöpfungsketten nicht mehr so stark verändern wie zuvor. Der Befund gilt für die Industrieländer sowie die Schwellen- und Entwicklungsländer gleichermaßen: Seit den frühen 1990er Jahren realisierten die Unternehmen vermehrt Arbeitskostenvorteile in der Vorleistungsproduktion, indem Standorte sowie Arbeitsplätze aus Industrieländern ins Ausland verlagert wurden. Folglich stieg der Anteil der Vorleistungsgüter am gesamten Handel11 und sank die Fertigungstiefe des Verarbeiteten Gewerbes in den Industrie­ländern.12 Dies wird auch daran deutlich, dass der Anteil aller Exporte (Waren und Dienstleistungen) am globalen BIP seit 2011 nahezu stabil blieb, nachdem er seit Anfang der 1990er Jahre bis 2008 auf rund 30% gestiegen war. Die Anpassungsfähigkeit der deutschen Exportunternehmen hat sich besonders deutlich nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 gezeigt, als man sehr flexibel auf die sich verändernden Rahmenbedingungen in den Zielregionen des Exports reagierte (vgl. Abbildung 3). Das bezog sich zunächst auf die Schwäche der Euro-Krisenländer infolge der Staatsschuldenkrise, später auf die abnehmende gesamtwirtschaftliche Dynamik in China und die neuen Möglichkeiten in den USA infolge der sich durch Innovationen in Schiefer-Öl- und Gas-Abbau bietenden Perspektive.

Abbildung 3
Verschiebungen beim deutschen Leistungsbilanzüberschuss
Beitrag zur Veränderung des deutschen Leistungsbilanzsaldos von +51% von 2007 bis 2015
Verschiebungen beim deutschen Leistungsbilanzüberschuss

Quellen: Deutsche Bundesbank; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Diese Befunde sprechen dafür, dass eine anhaltend starke Exportorientierung und eine entsprechend robuste Exportposition wegen der damit verbundenen Einbindung in die wettbewerbsintensiven internationalen Märkte auch einen Selbstverstärkungseffekt begründen. Im Negativen kann man dies für die US-Wirtschaft konstatieren, die eine deutlich geringere Offenheitsquote aufweist; der Anteil der Exporte am BIP hat sich zwar in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt, verharrt aber klar unter 10%. Weite Bereiche der US-Wirtschaft sind angesichts der Größe des Binnenmarktes nicht in den internationalen Wettbewerb eingebunden, ihnen fehlt der Anreiz, entsprechend Wettbewerbsfähigkeit auszubilden.

Dass der häufig als kausal postulierte Zusammenhang zwischen Wechselkurs und Außenhandel keinesfalls als Naturgesetz anzusehen ist, zeigt der Blick auf die Schweiz: Hier hat die massive Aufwertung des Schweizer Franken das Zusammenspiel aus Importen und Exporten kaum verändert. Ähnlich wie 2007 liegt die eidgenössische Exportquote heute über 60% des BIP. Auch die deutschen Exporte weisen eine relativ geringe Wechselkurselastizität auf.13 Der vermeintlich günstige Euro-Wechselkurs taugt als Erklärung für den hohen deutschen Außenhandelsüberschuss daher nur bedingt. Aktuelle Ergebnisse bestätigen dies für die Handelsbeziehungen mit Großbritannien.14 Alles in allem bleibt es richtig, dass die genannten drei Faktoren die deutsche Volkswirtschaft begünstigt haben. Nur gilt dies eben für viele andere Staaten genauso. Die unterschiedliche Wirksamkeit der Faktoren muss sich aus nationalen Besonderheiten erklären.

Kooperationsvorteile des deutschen Geschäftsmodells

Wo liegen nun die Besonderheiten des deutschen Geschäftsmodells, welche die beiden identifizierten Mechanismen der Selbstverstärkungen – binnenwirtschaftlich über Beschäftigung, Einkommen und Konsum, außenwirtschaftlich über die Industrie und den Druck zur Wettbewerbsfähigkeit – erklären können. Beide Mechanismen sind offenkundig eng miteinander verwoben. Denn die internationale Wettbewerbsfähigkeit ist der Hebel, um Arbeitsplätze mit hoher Produktivität und damit hohen Löhnen zu sichern und zu schaffen. Anders als früher aber gelingt es heute sehr viel besser, daraus einen langen Hebel für die Binnenwirtschaft zu machen. Seit 2010 sind beispielsweise die Löhne im unteren Dezil der Verteilung am stärksten gestiegen.15 Die Erklärungssuche muss sich also auf die besondere Exportposition der deutschen Wirtschaft und auf die stärkere Hebelwirkung dieser Exportstärke auf die Binnenwirtschaft beziehen.

Bei der Frage nach der Erklärung der Exportposition ist das Augenmerk weniger auf allgemeine nachfragestimulierende Faktoren zu richten als vielmehr auf angebotsseitige Merkmale. Denn die Weltwirtschaft ist seit der Krise 2009 nicht übermäßig dynamisch und die Welthandelselastizität erreicht seit fünf Jahren maximal den Wert eins, während sie die zwei Jahrzehnte zuvor beständig deutlich größer als eins war. Der Welthandel wächst demnach kaum mehr schneller als die globale Wirtschaftsleistung, auch die Finanzpolitik liefert seit der Krisenpolitik 2009 bis 2011 keine zusätzlichen Impulse mehr, sondern wirkt angesichts sinkender Defizite und zuletzt erreichter Überschüsse im deutschen Staatshaushalt rein saldenmechanisch betrachtet restriktiv.

Der Bedeutungsgewinn der Exporte im Laufe der 1990er Jahre und das seitdem beharrlich hohe Gewicht deuten darauf hin, dass die deutschen Unternehmen im Durchschnitt besser als andere in der Lage sind, Wettbewerbsfähigkeit mit Flexibilität zu verbinden. Der Vergleich in der Gruppe der Industrieländer macht einen Unterschied sichtbar, den man als Qualität des Strukturwandels bezeichnen könnte. Analysen auf der Basis von Input-Output-Tabellen zeigen, dass die deutsche Industrie in erheblichem Umfang mehr Leistungen von den Dienstleistungssektoren bezieht als umgekehrt. Dieser Industrie-Dienstleistungsverbund ist in vergleichbarer Intensität und Qualität andernorts kaum zu finden (vgl. Abbildung 4). Mit dieser Verbundwertschöpfung verbinden sich zwei Effekte: Zum einen eröffnen sich dadurch Möglichkeiten, kundendifferenzierte Lösungen anzubieten und dennoch wettbewerbsfähig zu sein. Die Verbindung von Industriewaren mit Dienstleistungen macht aus Produkten Problemlösungen und eröffnet die Möglichkeit, im Lebenszyklus des Produkts den sich verändernden Anforderungen flexibel zu begegnen. Zum anderen entstehen im Verbund Vorleistungs-, Produktions- und Wissensnetzwerke, die es erlauben, sich technologischen Neuerungen und sich verändernden Wünschen oder Bedarfen der Kunden schnell und flexibel zu stellen sowie darauf zu reagieren.

Abbildung 4
Industrie-Dienstleistungsverbund, 2011
Wertschöpfungsanteil an der Gesamtwirtschaft
Industrie-Dienstleistungsverbund

Aktuellere Werte liegen für Deutschland für das Jahr 2012 vor: 22,6% Wertschöpfung Verarbeitendes Gewerbe, 9,1% Verbundwertschöpfung.

Quellen: OECD; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Dass Cluster und Netzwerke in Deutschland eine im Vergleich herausragende Bedeutung haben, zeigt das European Cluster Observatory. Danach finden sich in den Branchen Metallindustrie und Maschinenbau, Automobil-, Luft- und Raumfahrtindustrie, Elektroindustrie und IT sowie Chemie, Pharmaindustrie, Biotechnologie nirgends in der Europäischen Union so gebündelt Cluster wie in Mitteleuropa.16 Insbesondere für die Metall- und Elektroindustrie, aber auch für die Chemie lassen sich in Deutschland zahlreiche Cluster identifizieren, deren Wurzeln auf weit verbreitete Verbindungen zurückreichen.17 In diesem Zusammenhang ist auf die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten zu verweisen. Denn gerade in räumlichen Verdichtungen haben aufgrund der Vorteile für die Anpassungsflexibilität die Unternehmen viel häufiger eine lange Geschichte. Die Struktur der Industrie erweist sich dann als deutlich widerstandsfähiger. Technische Neuerungen und die dem Wettbewerb geschuldete Neuerfindung von Geschäftsmodellen finden entsprechend in Deutschland häufiger als in anderen entwickelten Volkswirtschaften in bestehenden Unternehmen statt.18 Gesamtwirtschaftlich spiegelt sich das in einer Dominanz der Industrie bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, deren Anteil in Deutschland bei 90% liegt, in der Europäischen Union bei unter 80% und in den USA bei unter 70%. Diese unterschiedliche Orientierung der Innovationsanstrengungen findet sich dann in der entsprechenden Stärke der Industrie wieder.

Der Industrie-Dienstleistungsverbund steht beispielhaft für das, was mit Blick auf die Digitalisierung in Bezug auf Netzwerke und Cluster betont wird. Die deutsche Wirtschaft kann sich auf solche Netzwerkeffekte nicht nur am aktuellen Rand der technologischen Entwicklung beziehen, sondern in der ganzen Breite ihrer Strukturen. Sie kann bei ihrer Marktbearbeitung und -durchdringung auf vielfältige Kooperationsvorteile setzen, die quasi als Clubgüter entstehen und für die Beteiligten internalisierbar sind. Zu diesen Merkmalen des deutschen Standorts zählen neben den Clustern und Netzwerken vor allem:

  • Die Sozialpartnerschaft als kooperativer Weg, Konflikte zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zum Kompromiss zu bringen, erweist sich im internationalen Vergleich als eine historisch einmalig überlebensfähige Institution. Auch wenn die Tarifbindung seit Längerem abnimmt, die Konfliktintensität zuletzt zugenommen hat und vielfältige Probleme der Tarifautonomie entstanden sind,19 so gilt doch, dass dieser Vorteil haltungs- und verhaltens­prägend unverändert wirkt. Er senkt Transaktionskosten, stabilisiert die Erwartungsbildung beider Konfliktparteien, eröffnet die Möglichkeit, zu innovativen branchenweiten und unternehmensübergreifenden Lösungen für die Arbeitswelt. Die Daten über eine gesunkene Tarifbindung (von rund 85% bis 1990 auf derzeit knapp 60%) lassen zudem die tatsächliche Wirkung der Tarifpolitik über freiwillige Orientierung unterschätzen.20
  • Die duale Berufsausbildung ist ebenso ein Alleinstellungsmerkmal des deutschsprachigen Kulturkreises. Wertschöpfungsnah wird in Kooperation mit den Unternehmen ausgebildet, die dafür in Ausbilder und Lehrwerkstätten investieren. Zum Teil bildet gerade der Mittelstand über den eigenen Bedarf hinaus aus. In der Zusammenarbeit der Sozialpartner werden die Berufsbilder angepasst oder neu entwickelt. Die Handlungsorientierung wurde so schon früh zu einem selbstverständlichen Grundsatz des Bildungssystems.21 An der dynamischen Modernisierung der Berufsbilder zeigt sich die Anpassungsfähigkeit des Systems an den technischen und ökonomischen Wandel.

Reformrenditen und gesellschaftliche Kohäsion

Die Suche nach Erklärungen für persistente Unterschiede in der Performanz von Volkswirtschaften führt unweigerlich in das abstrakt-theoretisch schwer zu durchdringende Gestrüpp von Institutionen, Traditionen, Haltung, Kultur und Politik.22 Ein empirischer Test entsprechender Hypothesen kann allenfalls generelle Aussagen betreffen, mangels entsprechender Datensätze aber nicht den Gesamtzusammenhang. So lassen sich je nach kultureller Einbettung und quantitativer Bedeutung identische institutionelle Lösungen unterschiedlich bewerten. Die Aussage beispielsweise, dass ein gemessen an der Staatsquote kleinerer Staatssektor das Wachstumsergebnis begünstigt,23 ist weder ohne weiteres verallgemeinerungsfähig noch im konkreten Kontext plausibel zu verorten. Die ökonomischen Effekte haben mit dem erreichten Ausstattungsniveau mit öffentlichen Gütern, der Art ihrer Finanzierung und der Offenheit für unternehmerische Anpassungsbedarfe aus dem Wettbewerb zu tun. Aber eine solche Argumentation, wie sie beispielsweise jüngst Martin Feldstein für den von ihm diagnostizierten Wachstumsvorsprung der USA gegenüber anderen Industriestaaten geliefert wurde, wirbt grundsätzlich dafür, trotz aller theoretischen und empirischen Restriktionen eine solche qualitative Erklärungsperspektive einzunehmen.

Es wäre dabei vermessen, einzelnen Veränderungen eine herausragende, quasi alleinstellende Bedeutung zuzuweisen. Dennoch führen tiefgreifende, d.h. system- und anreizverändernde Reformen zu der Frage, ob und inwieweit es dadurch zu grundlegenden Impulsen für die wirtschaftliche Entwicklung gekommen ist. Der Streit um die Bedeutung der Agenda 2010 für die Arbeitsmarkterfolge belegt dies. Sie hat erhebliche Wirkungen am Arbeitsmarkt entfaltet, indem sie das untere Absicherungselement für Arbeitsuchende durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwerbsfähige grundlegend neu justiert und die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere wieder auf das systematisch gebotene Maß reduziert hat. Im weiteren Kontext der Agenda standen die Deregulierung der Zeitarbeit und die Minijob-Reform. So wurde der Grundsatz des Forderns und Förderns konsequenter als zuvor umgesetzt, die reformierten Instrumente der Arbeitsmarktförderung für alle Arbeitsuchenden geöffnet, die Effektivität der Arbeitsverwaltung erhöht und die Anreize zur Arbeitsaufnahme deutlich verbessert.

Solche angebotsseitigen Reformen ändern für sich genommen wenig an der Dynamik der Erwerbstätigkeit, sondern nur insofern, wie sich dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze in der Volkswirtschaft verbessert. Dafür aber waren die Effekte der Tariflohnpolitik, und zwar sowohl hinsichtlich der Höhe und Struktur der Löhne als auch ihrer Anpassungsflexibilität maßgeblich.24 Hier hat sich seit Mitte der 1990er Jahren aus mehreren Gründen einiges geändert: Die Umsetzung der fiskalischen Belastungen aus der Wiedervereinigung verlangte Kostenentlastungen und die hohen Tariflohnanhebungen in der Industrie forcierten die Verbandserosion auf Arbeitgeberseite (Verbände ohne Tarifbindung als neue Organisationsform). Die Tarifvertragsparteien reagierten mit einer stärkeren Beschäftigungsorientierung in den Lohnabschlüssen sowie mit größerer Flexibilität der Lohnstrukturen. Letzteres geschah in der (Metall- und Elektro-)Industrie durch die vermehrte Nutzung von Öffnungsklauseln in Flächentarifverträgen für die betriebliche Ebene und durch die Umsetzung des Entgeltrahmenabkommens (einheitliche Tariflohnstruktur für Arbeiter und Angestellte) ab 2005. Das Ergebnis war ein „informelles Bündnis für Arbeit“25.

Die Lohnpolitik vermag allerdings für sich genommen nicht den massiven Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit um gut 40% zu erklären, der sich nach 2005 einstellte.26 Die besondere Qualität der Beschäftigungsentwicklung in der gesamtwirtschaftlichen Erholung ab dem 1. Quartal 2006 zeigt sich im Vergleich mit dem Aufschwung 1998/2000 an der hohen Dynamik der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, der fast stagnierenden geringfügigen Beschäftigung, der Ausweitung des Arbeitsvolumens sowie dem starken Rückgang der Arbeitslosigkeit bei fast identischem BIP-Wachstum in den beiden Zeiträumen (vgl. Tabelle 1).27 Eine gewisse Ironie der Geschichte liegt darin, dass die historisch besondere Beschäftigungswirkung der deutschen Lohnpolitik mit einer bemerkenswerten Schwäche der Tarifvertragsparteien einhergeht, wenn die sinkende Tarifbindung so gedeutet wird. Die Öffnung der Lohnpolitik zur Beschäftigungsorientierung und zur betrieblichen Ebene war nicht voraussetzungslos, sondern besonders in den Erfahrungen nach der Wiedervereinigung (hohe Tariflohnabschlüsse in den neuen Bundesländern), der Verfestigung der Arbeitslosigkeit in Zeiten forcierten technischen Fortschritts sowie zunehmender internationaler Arbeitsteilung und der nach 1995 einsetzenden Verbandsflucht begründet. Der damit eingeschlagene Weg wurde bisher im Grundsatz nicht verlassen. Das „informelle Bündnis für Arbeit“ erscheint als die zeitgemäße Deutung der Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft, die dadurch einen wesentlichen Beitrag zur positiven Beschäftigungsentwicklung geleistet haben.

Tabelle 1
Arbeitsmarkt im Aufschwung
  II. Quartal 1998 bis II. Quartal 2000 I. Quartal 2006 bis I. Quartal 2008
BIP-Wachstum in % (preis-, kalender-, saisonbereinigt) 6,0 6,7
Erwerbstätige (in 1000) +1302 (3,4%) +1341 (3,5%)
Arbeitsvolumen (in Mio. Std.) +233 (1,7%) +421 (3,0%)
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (in 1000) darunter: Vollzeit +618 (2,3%) +474 (2,0%) +1287 (5,0%) +810 (3,8%)
Ausschließlich geringfügig Beschäftigte (in 1000) (erst ab 1.1.1999 verfügbar) +323 (10,0%) (Juni 1999 bis Juni 2000) +46 (1,0%) (März 2007 bis März 2008)
Arbeitslose (in 1000) -411 (-9,8%) (Mai 1998 bis Mai 2000) -1430 (-28,3%) (Februar 2006 bis Februar 2008)

Quellen: Statistisches Bundesamt; Bundesagentur für Arbeit; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Die überraschenden politischen Ereignisse 2016 – Brexit-Votum und Trump-Wahl – haben in den Ursachen eines gemeinsam: Beide reflektieren die erheblichen Diskrepanzen in der regionalen Wohlstandssituation und -perspektive. Prozesse der De-Industrialisierung haben die entsprechenden Regionen ökonomisch weit zurückfallen lassen, in den USA steht der Rustbelt dafür, in Großbritannien überwiegend die Midlands. Ökonomische Stabilität ist auf Dauer nicht ohne politische Stabilität und gesellschaftliche Kohäsion – et vice versa – zu haben. Die Robustheit der deutschen Wirtschaft muss deshalb auch mit solchen Bedingungen einhergehen. Tatsächlich lässt sich dies mit folgenden Befunden bebildern:

  • Die gesellschaftliche Mitte im engeren Sinne, definiert als private Haushalte mit mindestens 80% und höchstens 150% des Medianeinkommens, umfasst seit Anfang der 1990er Jahre rund 50%.28 Dies ist angesichts der fortschreitenden globalen Arbeitsteilung sowie des technischen Wandels beachtlich. Beachtlich ist auch der Unterschied zu den USA, wo die so definierte Mitte gerade einmal 30% der Haushalte umfasst.
  • In regionaler Hinsicht ist der Unterschied ebenso deutlich. Während die Regionen (NUTS-3-Ebene) in Deutschland ganz überwiegend als wachstumsdynamisch charakterisiert werden können, ist das weder für Großbritannien noch für Frankreich der Fall.29 Dies gilt ebenso für die Streuung des BIP pro Kopf (auf NUTS-2-Ebene). Zwar gibt es auch hierzulande regionalpolitische Herausforderungen, allerdings ist deren Dimension selbst mit Blick auf einige Gebiete der neuen Bundesländer merklich kleiner.30
  • Schließlich verschafft sich die gesellschaftliche Bindungskraft im Engagement der Bürger ihren Ausdruck. In Deutschland ist in den letzten 15 Jahren der Anteil Engagierter um insgesamt knapp 10 Prozentpunkte von 34% auf 43½% angestiegen.31

Nimmt man das alles zusammen, dann zeigt sich, wie sehr die Robustheit der deutschen Volkswirtschaft über den Arbeitsmarkt getragen wird und wie sehr dies an spezifische Bedingungen in Deutschland gebunden ist. Es handelt sich um die Auswirkung institutioneller und habitueller Besonderheiten im Lichte tarifpolitisch erarbeiteter Wettbewerbsfähigkeit und unternehmerischer Innovationsleistung auf internationalen Märkten. Die exogenen Faktoren – Ölpreis, Zinsniveau und Euro-Wechselkurs – haben dabei allenfalls unterstützend gewirkt. Doch die erreichte Robustheit ist keine Gewähr für die Zukunft. Wo liegen die Risiken?

Risiken und Herausforderungen

Wenn man die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre betrachtet, dann zeigt sich, dass eine einigermaßen konsequente Verbesserung der Angebotsbedingungen recht nachhaltig Raum für die Annahme weltwirtschaftlicher Impulse schafft, zugleich aber auch gegen exogene Nachfrageschocks eine beachtliche volkswirtschaftliche Resilienz begründet. Entsprechend wird in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte bei der Frage nach den ökonomischen Risiken das Augenmerk auf mögliche absolute und relative Verschlechterungen bei den Angebotsbedingungen gelegt. Eine Ausnahme bildet die rein politisch motivierte Auseinandersetzung infolge der protektionistischen Anwandlungen der US-Administration unter Präsident Trump. Diese Debatte ist aber trotz erster negativer Wirkungen ziellos und ergebnisoffen,32 dem kann nach Vorsorgeprinzip aber am besten durch Maßnahmen begegnet werden, die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und zu stärken. So führt die Suche nach den relevanten Risiken auch hier auf die Angebotsbedingungen.

Eine derzeit von der Politik bei jeder Gelegenheit vorgetragene Sorge bezieht sich darauf, dass die deutschen Unternehmen die Digitalisierung verschlafen könnten und in der Plattformökonomie zur Zweitklassigkeit verdammt seien. Die von der Politik dadurch beanspruchte Einsicht in die Zukunft des volkswirtschaftlichen Strukturwandels steht in einem deutlichen Kontrast zu der von allen Fachleuten erklärten Offenheit des Prozesses der digitalen Transformation, die unterschiedliche Wege kennt und damit auch unterschiedliche betriebswirtschaftliche sowie volkswirtschaftliche Herausforderungen begründet.33 Eine entsprechend differenzierte Betrachtung lässt auf der einen Seite die deutschen Defizite bei den skalierungsfähigen Plattformanbietern erkennen, doch auf der anderen Seite ebenso die Stärken bei der industriegetragenen Digitalisierung („Industrie 4.0“). Es erscheint angesichts der bisherigen Erfolge der Unternehmen des Industrie-Dienstleistungsverbunds nicht zwingend, hier die besonderen Risiken zu identifizieren. Dagegen spricht auch, dass die hierzulande besonders geübte Einbindung in Cluster und Netzwerke eine wichtige Voraussetzung für die besonders kooperationsgeneigte Digitalökonomie bildet.

Dies gilt umso mehr, je besser und schneller der Staat seiner Infrastrukturverantwortung nachkommt und sowohl zügig für den Ausbau eines leistungsfähigen Breitbandnetzes sorgt als auch den Ausbau der IT-Bildung und -Forschung weiter vorantreibt. Freilich deuten sich unspezifische Herausforderungen im Zusammenhang mit Datenrecht, -eigentum und -analyse (Big Data) an, deren wettbewerbspolitische Konsequenzen ebenso wenig abzusehen sind wie die bei den gerade für die Industrie relevanten cyber-physikalischen Systemen auftretenden Steuerungs- und Kontrollprobleme.34 Jedenfalls kann die digitale Transformation bei aller Dynamik nicht durch regierungsamtliche Aufrufe bewältigt werden, sondern nur durch kapitalstarke und innovative Unternehmen.

Die Belastungen dafür resultieren aber aus anderen Quellen: den Energiekosten und den Arbeitskosten. In der Bündelung – Deutschland hat die höchsten Industriestrompreise in der Europäischen Union und seit 2011 steigen hierzulande die Lohnstückkosten wieder stärker als bei der ausländischen Konkurrenz und als im Euroraum35 – hat sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zuletzt verschlechtert, wie es sich in den verschlechterten Positionen in internationalen Rankings reflektiert (z.B. IMD World Competitive­ness Ranking, Global Competitiveness Index des World Economic Forum, Global Entrepreneurship Index). Dies äußert sich einerseits in seit Jahren negativen Nettoinvestitionen der energieintensiven Branchen, und zwar trotz der Befreiung von der EEG-Umlage durch die besondere Ausgleichsregelung. In der kommenden Legislaturperiode wird sehr genau zu prüfen sein, wie die Energiewende zukunftsfähig zu organisieren ist. Die erste Auktion hat ja bereits erwiesen, wie fragwürdig die bisherige Förderlogik ist. Grundsätzlich gehört die EEG-Umlage – derzeit als Schattenhaushalt organisiert – in den Bundeshaushalt integriert (Lösung analog des Kohlepfennigs seit 1995 aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Zudem tritt jüngst in industriellen Kernbranchen aufgrund der Kombination von Lohnstückkostenniveau und Problemen bei der Fachkräfteversorgung wieder die Frage nach verstärkten Auslandsinvestitionen in den Vordergrund. Dabei wirkt der Fachkräftemangel nach Regionen und Branchen sehr unterschiedlich, er erfordert damit auch unterschiedliche Antworten.

Insgesamt gilt also: Was über angebotsseitige Reformen angeschoben wurde, das kann vor allem auch über angebotsseitige Unachtsamkeit und Fehlhandeln wieder bedroht werden. Die wirtschaftspolitischen Handlungsfelder sind benannt: infrastrukturelle Ermöglichung der digitalen Transformation, an der Beschäftigungsfähigkeit orientierte Gestaltung des demografischen Wandels, an der Innovationsfähigkeit und Beschäftigungsintensität der Unternehmen ausgerichtete Standortpolitik. Zugleich hat der Rückblick aber auch gezeigt, dass es darum gehen muss, die besonderen deutschen Potenziale für die Schaffung von Kooperationsvorteilen – Cluster, Sozialpartnerschaft, duale Berufsausbildung – nicht zu gefährden, sondern gezielt zu stabilisieren – z.B. durch Clusterstrategien der Bundesländer, Klärung des Prinzips der Tarifeinheit – und weiterzuentwickeln – z.B. durch den Ausbau des dualen Studiums.

Die Sicherung der sozialen Kohäsion sollte sich dabei an den virulenten Gerechtigkeitsproblemen – Langzeitarbeitslosigkeit, begrenzte soziale Aufstiegsmobilität, Gefahr regionaler Divergenz – orientieren; ein allgemeines Gerechtigkeitsproblem lässt sich für Deutschland nicht identifizieren.36 Allerdings muss man akzeptieren, dass die zuvor unbekannte Integration von Geringqualifizierten in den Arbeitsmarkt seit 2005 die Dienstleistungssektoren stabilisiert und die Einkommensverteilung nicht wieder auf das Niveau vor 1995 nivelliert. Deutschland erleidet jedoch keine Wachstumsverluste durch Ungleichheit, wie dies für Entwicklungsländer mit einem Pro-Kopf-Einkommen bis 9000 Euro im Jahr gilt.

Der Strukturwandel hat einen langen Atem, allein aufgrund der dabei wirksamen Pfadabhängigkeiten. Die Weichen für den exportgetriebenen Entwicklungsprozess wurden in den frühen 1990er Jahren gestellt, die notwendigen Anstrengungen für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze und die hinreichenden Reformen kamen erst viel später. Die erreichte Robustheit der deutschen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sollte den Blick nicht dafür verstellen, dass es jetzt dennoch Handlungsbedarf gibt. Auf der einen Seite ist die Ausgangsposition komfortabel, denn hohe Beschäftigung bei hohen Löhnen entspannt die gesellschaftlichen Reformdiskurse. Auf der anderen Seite ist gerade in solchen Zeiten das Handeln für viele nur schwer zu begründen.

  • 1 Vgl. J. H. Stock, M. W. Watson: Has the business cycle changed and why?, in: NBER Macroeconomics Annual, 17. Jg. (2002), S. 159-218.
  • 2 Vgl. J. Quiggin: Refuted economic doctrines #3: The Great Moderation, Crooked Timber vom 5.1.2009, http://johnquiggin.com/2009/01/05/refuted-economic-doctrines-3-the-great-moderation/ (29.6.2017).
  • 3 Vgl. Policy Uncertainty Newspaper Index. Dieser basiert auf der Leitmedien-Berichterstattung über ökonomische Unsicherheit.
  • 4 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Zeitreihe über Beschäftigte nach ausgewählten Merkmalen, Bericht vom 27.3.2017.
  • 5 OECD: Wie schneidet Deutschland ab? Beschäftigungsausblick 2017, Juni 2017, http://www.oecd.org/berlin/publikationen/Employment-Outlook-Germany-DE.pdf (20.6.2017).
  • 6 Vgl. OECD: OECD Employment Outlook 2017, Paris 2017, S. 85 ff.
  • 7 Bundesbank: Financial Soundness Indicators, Unternehmenssektor/Verschuldung, https://www.bundesbank.de/Navigation/DE/Statistiken/Zeitreihen_Datenbanken/Makrooekonomische_Zeitreihen/its_details_value_node.html?tsId=BBK01.TQ7151 (19.6.2017).
  • 8 Vgl. Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK): Auslandsinvestitionen 2017 so hoch wie nie zuvor, Auslandsinvestitionen in der Industrie 2017, jährliche Umfrage der Außenhandelskammern zu den deutschen Direktinvestitionen, Berlin 2017.
  • 9 Vgl. H.-W. Sinn: Basarökonomie. Deutschland: Exportweltmeister oder Schlusslicht?, Berlin 2005. Dagegen: Institut der deutschen Wirtschaft Köln Consult: Export schafft Wertschöpfung! Deutschland ist im internationalen Vergleich keine Basarökonomie, Köln 2005.
  • 10 Vgl. M. Grömling: Deutsche Investitionen im Fokus der internationalen Politik, IW-Kurzbericht, Nr. 40, 2017.
  • 11 Vgl. Internationaler Währungsfonds: Gaining Momentum, World Economic Outlook, April 2017, Washington DC 2017.
  • 12 Vgl. Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt, Jahresgutachten 2015/16, Wiesbaden 2015.
  • 13 Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Aufschwung setzt sich fort – Europäische Schuldenkrise noch ungelöst, Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2011, Halle (Saale) 2011.
  • 14 Vgl. G. Kolev, J. Matthes, B. Busch: Brexit-Wirkung auf Deutschland?, IW-Kurzbericht, Nr. 71, 2016.
  • 15 Vgl. K. Brenke, A. S. Kritikos: Niedrige Stundenverdienste hinken bei der Lohnentwicklung nicht mehr hinterher, in: DIW Wochenbericht, 84. Jg. (2017), Nr. 21, S. 407-416.
  • 16 Vgl. Europäische Kommission: European Cluster Trends, European Cluster Observatory, Brüssel 2015.
  • 17 Vgl. K. Lichtblau, A. Neligan, I. Richter: Erfolgsfaktoren von M+E-Clustern in Deutschland, in: IW-Trends, 32. Jg. (2005), H. 2, S. 31-44.
  • 18 Vgl. S. Berger: Making in America: From Innovation to Market, Cambridge MA 2013, S. 125 ff.
  • 19 Vgl. H. Lesch, D. Byrski: Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland – Ein historischer Rückblick, Köln 2016.
  • 20 Vgl. OECD: Employment Outlook, 2017, S. 138 (Figure 4.5), 140 ff.
  • 21 Vgl. W.-D. Greinert: Geschichte der Berufsausbildung in Deutschland, in: R. Arnold, A. Lißmeier (Hrsg.): Handbuch der Berufsausbildung, 2. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 499-508; OECD: Bildung auf einen Blick. Ländernotiz Deutschland, 2014, http://www.oecd.org/berlin/publikationen/bildung-auf-einen-blick-2014-deutschland.pdf (20.6.2017).
  • 22 Vgl. M. S. Feldstein: Why is growth better in the United States than in other industrial countries, NBER Working Paper, Nr. 23221, 2017, www.nber.org/papers/w23221 (20.6.2017).
  • 23 Ebenda, S. 9.
  • 24 Vgl. C. Dustmann, B. Fitzenberger, U. Schönberg, A. Spitz-Oener: From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy, in: Journal of Economic Perspectives, 28. Jg. (2014), H. 1, S. 184 ff. Der Studie hätte eine breitere Kenntnisnahme der institutionellen Veränderungen in der Tariflohnpolitik (Verbände ohne Tarifbindung, Entgeltrahmenabkommen ERA) gut getan.
  • 25 Vgl. H. Lesch: Lohnpolitik 2000 bis 2009 – Ein informelles Bündnis für Arbeit, in: IW-Trends, 37. Jg. (2010), H. 1, S. 77-90.
  • 26 Vgl. C. Dustmann, B. Fitzenberger, U. Schönberg, A. Spitz-Oener, a.a.O., S. 184.
  • 27 Vgl. H. Goecke, J. Pimpertz, H. Schäfer, C. Schröder: 10 Jahre Agenda 2010, Köln 2013, https://www.iwkoeln.de/studien/iw-policy-papers/beitrag/henry-goecke-jochen-pimpertz-holger-schaefer-christoph-schroeder-zehn-jahre-agenda-2010-110085 (20.6.2017).
  • 28 Vgl. J. Niehues: Die Mittelschicht in Deutschland – vielschichtig und stabil, in: IW-Trends, 44. Jg. (2017), H. 1, S. 1-20.
  • 29 Vgl. H. Goecke, M. Hüther: Regional convergence in Europe, in: Inter­economics, 51. Jg. (2016), H. 3, S. 165-171, http://archive.intereconomics.eu/year/2016/3/regional-convergence-in-europe/ (5.7.2017).
  • 30 Vgl. C. Anger, M. Hüther, H.-P. Klös, J. Niehues, K.-H. Röhl, H. Schäfer: Gerechtigkeitspolitische Handlungsfelder in Deutschland: relevante Probleme angemessen angehen, IW Policy Paper, Nr. 10, 2017.
  • 31 Vgl. J. Simonson, C. Vogel, C. Tesch-Römer: Freiwilliges Engagement in Deutschland, Zusammenfassung zentraler Ergebnisse des Vierten Deutschen Freiwilligensurveys, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2016.
  • 32 Vgl. Zeitgespräch: Richtungswechsel in den USA – Folgen der neuen Präsidentschaft für die Wirtschaft, mit Beiträgen von M. Hüther, S. Dullien, H. Klodt, C. Hefeker, A. Belke, H.-P. Burghof, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 3, S. 159-179, http://blog.zeit.de/herdentrieb/2017/03/10/usa-was-bedeutet-die-neue-praesidentschaft-fuer-die-wirtschaft_10264/ (5.7.2017).
  • 33 Vgl. M. Hüther: Industrie 4.0 – unterschätzte Herausforderungen oder überbewertete Modeerscheinung?, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 65. Jg. (2016), H. 1, S. 48-58.
  • 34 Vgl. M. Franceschetti, P. Minero: Elements of Information Theory for Networked Control Systems, in: G. Como et al. (Hrsg.): Information and Control in Networks, Basel 2014, S. 3-34.
  • 35 Vgl. C. Schröder: Lohnstückkosten im internationalen Vergleich – Keine überzogene Lohnzurückhaltung in Deutschland, in: IW-Trends, 43. Jg. (2016), H. 4, S. 77-95.
  • 36 Vgl. C. Anger, M. Hüther, H.-P. Klös, J. Niehues, K.-H. Röhl, H. Schäfer: Gerechtigkeitspolitische Handlungsfelder in Deutschland: relevante Probleme angemessen angehen, IW policy paper, Nr. 10, 2017.

Title:Attempts to Understand the Robust German Economy

Abstract:GDP and employment in Germany have been improving since the economic and financial crisis. This paper investigates where this stability comes from. Michael Hüther does not believe that the cheap euro alone accounts for the high level of German competitiveness. He stresses unique German features such as the advantages of collaboration through social partnership and interconnected networks, as well as the flexibility of the economic sectors. In addition, German social stability plays an important role. He warns about the risks that would accompany a reversal of supply­side political reforms, a lack of development of the country’s digital infrastructure and a failure to take coming demographic changes into account.

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DOI: 10.1007/s10273-017-2166-6