Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Deutschland hat zehn Jahre ohne Rezession hinter sich. Die Arbeitslosigkeit ist drastisch zurückgegangen. Selbst die Einkommen steigen kräftig. Trotzdem deuten das Kriseln der großen Parteien, diverse Umfragen und der Aufstieg der Alternative für Deutschland auf eine tieferliegende Unzufriedenheit hin. Hat dieser Unmut ganz andere Gründe, als Folge der Zuwanderung der vergangenen Jahre eher kulturelle? Oder gibt es doch sozio-ökonomische Fakten wie etwa ein Gefühl des Kontrollverlusts in Zeiten fortgeschrittener Globalisierung? Eine repräsentative Umfrage lässt auf letzteres schließen – und auf eine sehr viel profundere Krise des Paradigmas, das über drei Jahrzehnte Wirtschaftspolitik und Globalisierung geprägt hat.

Der Aufstieg populistischer Parteien und Politiker ist ein Phänomen, das sich in den vergangenen Jahren fast zeitgleich in vielen westlichen Demokratien auf unterschiedliche Art bemerkbar gemacht hat – ob durch das Brexit-Votum in Großbritannien, die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, die zwischenzeitliche Regierungsübernahme von Matteo Salvini in Italien oder den Aufstieg der Alternative für Deutschland zu einer der mancherorts stärksten Parteien. Umso dringlicher stellt sich die Frage, welche möglicherweise gemeinsamen Ursachen hinter diesem Trend stecken – der bei unterschiedlicher nationaler Ausprägung einen Großteil der westlichen Demokratien erfasst zu haben scheint.

Ökonomen haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, dem Phänomen systematischer nachzugehen. Autoren wie David Autor für die USA, Thiemo Fetzer für Großbritannien und Robert Gold sowie Jens Südekum für Deutschland sind dabei auf belastbare Hinweise dafür gestoßen, dass es einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu geben scheint zwischen der regionalen Intensität wirtschaftlich-sozialer Brüche infolge von technologischem Wandel, Globalisierung und Austeritätspolitik zum einen und einem systematisch überproportionalen Erstarken (meist rechter) Populisten in den betreffenden Regionen zum anderen.1 Ähnliches ergaben Auswertungen zur Europawahl 2019 für Deutschland, wonach die AfD vor allem dort an Zustimmung gewinnen konnte, wo wirtschaftliche Strukturbrüche und Perspektivlosigkeit zusammenfallen.2

Mit der vorliegenden Erhebung sollte getestet werden, inwieweit die vorläufigen Ergebnisse solcher und ähnlicher Forschungen bestätigen, was die Menschen in unmittelbaren Befragungen zum Ausdruck bringen – und inwieweit dies mit dem Befund einer gesamtwirtschaftlich offensichtlich positiven Entwicklung in den vergangenen Jahren in Einklang zu bringen ist. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat dazu im Auftrag des Forum New Economy vom 9. bis 13. Oktober 2019 in einem systematischen Zufallsverfahren deutschlandweit insgesamt 1009 Personen im Alter von mindestens 18 Jahren zu diversen Aspekten wirtschaftlicher Entwicklung und der Globalisierung befragt.

Die Ergebnisse reflektieren viel tiefer sitzende Unsicherheiten hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage und Zukunft, als es gängige ökonomische Indikatoren wie die Zahl der Arbeitslosen oder der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts vermuten lassen. Und sie spiegeln ein erstaunlich stark angeknackstes Vertrauen in wichtige Grundsätze der Wirtschaftsordnung sowie das marktliberal orientierte Paradigma, das seit den 1980er Jahren als Leitmotiv für Regierungen, Notenbanken und internationale Organisationen wie den IWF und die OECD wirkte. Hier könnte ein Schlüssel zur Erklärung der heutigen Krise in eben den Ländern liegen, die dieses Paradigma lange Zeit maßgeblich vertreten haben.

Zum Krisenempfinden

Zwar scheint ein großer Teil der Deutschen angesichts der vergangenen Jahre weiter darauf zu setzen, dass ein Aufschwung wie der jüngste Wohlstand für (fast) alle schafft. In der Forsa-Umfrage stimmten zumindest 67 % der Aussage mehr oder weniger deutlich zu, dass in Deutschland „letztlich alle davon profitieren, wenn es der Wirtschaft gut geht“. Nur heißt das umgekehrt, dass fast ein Drittel am Versprechen des Wohlstands für alle heute zweifeln. Nur gut jeder Fünfte glaubt noch uneingeschränkt daran, während ein Drittel große Zweifel äußert (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
Aufschwung für alle?
Aufschwung für alle?

Anmerkungen: Antworten jeweils in %; fehlende Angaben zu 100 % jeweils „weiß nicht“.

Quelle: Forsa-Umfrage unter 1009 Frauen und Männern in Deutschland vom 9. bis 13. Oktober 2019.

Abbildung 2
Einschätzungen zur Ungleichheit
Einschätzungen zur Ungleichheit

Anmerkungen: Antworten jeweils in %; fehlende Angaben zu 100 % jeweils „weiß nicht“.

Quelle: Forsa-Umfrage unter 1009 Frauen und Männern in Deutschland vom 9. bis 13. Oktober 2019.

Auf verbreitete Skepsis hinsichtlich der Verteilung ökonomischer Gewinne lassen auch die Antworten auf die Frage nach dem Auseinanderdriften von Einkommen und Vermögen schließen. Fast 90 % der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die Ungleichverteilung „zunehmend zum Problem für den Zusammenhalt der Bevölkerung“ in Deutschland wird. Knapp die Hälfte der Befragten stimmt dieser Aussage „voll und ganz zu“, nur 1 % „überhaupt nicht“ (vgl. Abbildung 2). Dieses Ergebnis ist umso bemerkenswerter, als es unter hiesigen Ökonomen nach wie vor keine Einigkeit darüber zu geben scheint, ob und inwieweit Einkommen und Vermögen in Deutschland überhaupt außergewöhnlich auseinanderdriften.3 Dass ein so großer Teil der Bevölkerung hier so grundlegende Sorgen äußert, ist bemerkenswert – egal ob die Wahrnehmung objektiv begründbar ist oder nicht, zumal sich dahinter auch ein grundlegendes Legitimitätsproblem zu verbergen scheint: In der Umfrage stimmt nur knapp jeder Dritte zu, dass diejenigen, die in Deutschland reich sind, dies „in der Regel auch verdient haben“.

Dass sich solche Sorgen selbst nach zehn Jahren Aufschwung halten, ist an sich bemerkenswert. Ähnliches gilt für die Indizien einer trotz langer positiver Wirtschaftsentwicklung hohen – gefühlten oder realen – Unsicherheit. Mehr als die Hälfte der Befragten (54 %) schätzt, dass das Risiko sozial abzusteigen heute „größer“ ist als für frühere Generationen. Mehr als jeder Vierte schätzt die Gefahr heute sogar als „sehr viel größer“ ein. Nur 15 % sehen weniger Risiken als früher (vgl. Abbildung 3). Mehr noch: Was künftige Abstiegsrisiken angeht, schätzen sogar 83 % der Befragten, dass das Risiko noch „eher“ oder „stark steigen“ wird. Dahinter mögen auch irreale Wahrnehmungen stecken („früher war alles besser“). Die Ergebnisse decken sich allerdings mit empirischen Auswertungen etwa von Tom Krebs, nach denen in Deutschland die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Einkommensverlusts tatsächlich seit 1990 deutlich zugenommen hat.4

Abbildung 3
Soziale Abstiegsrisiken
Soziale Abstiegsrisiken

Anmerkungen: Antworten jeweils in %; fehlende Angaben zu 100 % jeweils „weiß nicht“.

Quelle: Forsa-Umfrage unter 1009 Frauen und Männern in Deutschland vom 9. bis 13. Oktober 2019.

Hinter dieser gefühlten oder realen Unsicherheit scheint auch ein Gefühl des individuellen und politischen Kon­trollverlusts zu stecken. Darauf lassen nach Umfrage auch die ausgeprägten Zweifel an der Internationalisierung von Wirtschaft und Finanzwelt schließen. Zwar geben 51 % der Befragten an, dass sie persönlich durch die Globalisierung „mehr Vorteile“ als Nachteile haben. Nur heißt das zugleich, dass fast die Hälfte der Menschen in Deutschland genau daran zweifeln – was man nach gängigen Maßstäben in einem Land wiederum nicht unbedingt erwarten sollte, das wie Deutschland über den Export sehr massiv von der Öffnung von Märkten profitiert hat. Immerhin jeder Vierte gibt an, dass ihm die Globalisierung überwiegend Nachteile gebracht hat; und ein weiteres Viertel hat dazu keine Meinung.

Abbildung 4
Kontrollverlust in der Globalisierung
Kontrollverlust in der Globalisierung

Anmerkungen: Antworten jeweils in %; fehlende Angaben zu 100 % jeweils „weiß nicht“.

Quelle: Forsa-Umfrage unter 1009 Frauen und Männern in Deutschland vom 9. bis 13. Oktober 2019.

Entsprechend zwiespältig fällt auch das Urteil aus, wenn es um die gewünschte Zukunft geht. Nur noch 4 % der Deutschen stimmen der Umfrage zufolge „voll und ganz zu“, dass die Globalisierung von Wirtschaft und Finanzen „weiter vertieft“ werden sollte. Fast 60 % stimmen dem „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ zu (vgl. Abbildung 4).

Geschwundenes Vertrauen

All das scheint einen tieferen Vertrauensverlust in grundlegende wirtschaftspolitische Leitmotive der vergangenen Jahrzehnte zu spiegeln, etwa was die Frage angeht, ob Probleme grundsätzlich besser durch den Markt geregelt werden sollten. Fast 80 % der Deutschen gaben in der Umfrage an, dass die Privatisierung öffentlicher Leistungen in den vergangenen Jahrzehnten zu weit gegangen sei. Nur ganze 6 % meinen, der Staat sollte auf diesem Wege heute noch weitere Aufgaben an Private übertragen (vgl. Abbildung 5).

Ähnliche Zweifel an marktliberalen Prinzipien kommen zum Ausdruck, wenn 94 % der Aussage widersprechen, dass eine Gesellschaft „am besten funktioniert, wenn jeder zuerst an sich denkt“, wie es die britische Premierministerin Margaret Thatcher zum anti-kollektivistischen Leitspruch ihrer Zeit gemacht hatte. In Verruf geraten scheint auch die Forderung nach stärkerer Eigenvorsorge, dem Pendant zum grundsätzlichen Rückzug des Staates: Nur jeder Fünfte findet heute noch „gut“ oder „sehr gut“, wonach jeder Einzelne mehr „Eigenverantwortung“ übernehmen sollte. Knapp 75 % finden das einstige Leitmotiv der Agenda 2010 heute „schlecht“ oder „sehr schlecht“.

Abbildung 5
Privatisierung öffentlicher Leistungen
Privatisierung öffentlicher Leistungen

Anmerkungen: Antworten jeweils in %; fehlende Angaben zu 100 % jeweils „weiß nicht“.

Quelle: Forsa-Umfrage unter 1009 Frauen und Männern in Deutschland vom 9. bis 13. Oktober 2019.

Mehr als die Hälfte der Befragten (57 %) bezweifeln, dass das Prinzip des sozialen Ausgleichs in Deutschland heute noch „funktioniert“, immerhin eine Säule des Modells der Sozialen Marktwirtschaft (vgl. Abbildung 6). Gut 80 % stimmen umgekehrt der Aussage zu, dass in der Politik „zu viel Rücksicht auf die Interessen der privaten Wirtschaft“ genommen wird – und „zu wenig auf die Bevölkerung“. Und: Nur 24 % gehen davon aus, dass das stark gewachsene Treiben von Banken und Finanzwelt „zu einem guten Lebensstandard aller Menschen beiträgt“; 70 % geben an, dass die Aktivitäten der Finanzwelt den Wohlstand nur weniger Menschen fördert. Egal, ob berechtigt oder nicht – solche Quoten lassen auf eine tiefere Vertrauenskrise schließen. Immerhin ist das Paradigma der marktwirtschaftlich geprägten Globalisierung in kaum einem anderen Sektor vor der großen Finanzkrise so konsequent umgesetzt worden wie bei den Banken.

Wenn Alter und Einkommen eine Rolle spielen

Ob zum Reichtumsgefälle oder zum Bankenbeitrag für die Gesellschaft – bei den meisten Antworten lassen die Detailauswertungen der Umfrage wenig Unterschiede erkennen zwischen West und Ost, nach Geschlecht, Alter oder Einkommen. Dass Reich und Arm in Deutschland gefährlich auseinanderdriften, sehen 87 % aller Befragten – und Männer exakt so wie Frauen. Bei der Frage, ob Banken „den Wohlstand nur weniger Menschen in der Gesellschaft fördern“, liegen die Zustimmungsquoten durchweg in einer Spanne zwischen 65 % und 76 %. Im Schnitt sind es 70 %, bei Männern wie bei Frauen – bei Empfängern von Haushaltseinkommen von netto unter 1500 Euro 72 %, bei denen, die mehr als 3000 Euro haben, 68 %.5

Bei einer Reihe von Fragen ergeben sich allerdings durchaus nennenswerte und politisch relevante Unterschiede, wenn man nach Einkommen und nach Alter unterscheidet.Grundsätzlich gilt hier zwar ebenso, dass auch Bessergestellte in vielen Fragen große Sorgen und Skepsis äußern. Die entsprechenden Werte fallen allerdings bei Beziehern niedrigerer Einkommen regelmäßig noch einmal höher aus. Dass der Zusammenhalt der Gesellschaft angesichts des Reichtumsgefälles in Gefahr ist, finden so etwa 85 % der Bezieher höherer Einkommen – in der untersten Kategorie sehen das 92 % so. Dass über Jahrzehnte (eher) zu viel privatisiert wurde, finden 78 % der Bessergestellten – und 84 % der weniger gut Verdienenden.

Noch deutlicher unterscheiden sich die Antworten nach Einkommen auf die Frage, ob in der Regel alle Menschen profitieren, wenn es der Wirtschaft gut geht. Das finden 73 % der Besserverdiener – aber nur 51 % derer, die wenig Einkommen haben. Was immer das über individuelle Position und gesamtgesellschaftliche Realität aussagt.

Abbildung 6
Glaube an die Soziale Marktwirtschaft
Glaube an die Soziale Marktwirtschaft

Anmerkungen: Antworten jeweils in %; fehlende Angaben zu 100 % jeweils „weiß nicht“. Ja: „stimmen voll und ganz/eher zu“. Nein: „stimmen eher nicht/überhaupt nicht zu“.

Quelle: Forsa-Umfrage unter 1009 Frauen und Männern in Deutschland vom 9. bis 13. Oktober 2019.

Auffällig drastisch gehen die Antworten nach Einkommen denn auch auf die Frage danach auseinander, ob die Regierung Menschen stärker schützen sollte, wenn durch Digitalisierung oder Globalisierung massenhaft Jobs verloren zu gehen drohen. Dem stimmen „voll und ganz“ nur 17 % der Reicheren zu, aber 48 % in der unteren Einkommenskategorie. Es spricht einiges dafür, dass diese Unterschiede in der Einschätzung auch einen sehr realen Unterschied in der tatsächlichen Gefährdung des eigenen Jobs durch technologischen Wandel und ähnliches spiegeln; von diesem sind nach gängigem Befund geringer Qualifizierte stärker betroffen als andere.

Ähnliches kommt in der Einschätzung sozialer Abstiegsrisiken zum Ausdruck. Dass die Gefahr einer solchen Verschlechterung für jeden Einzelnen heute „sehr viel größer“ ist als für frühere Generationen, sagen 45 % der Bezieher geringerer Einkommen, aber nur 20 % der Besserverdienenden. Dass das Risiko sozial zu verlieren künftig weiter „stark steigen“ wird, vermuten 43 % der Bezieher von weniger als 1500 Euro netto – und nur 17 % derer, die in ihrem Haushalt über ein doppelt so hohes Einkommen verfügen.

Starke Schwankungen gibt es bei der Auswertung nach Altersgruppen. In einer Reihe von Beispielen äußern sich die Befragten über 45 Jahre dabei deutlich negativer als ihre jüngeren Landsleute. So scheint bei Jüngeren der Glaube an das Gute in mancher Hinsicht ausgeprägter (die Abgeklärteren mögen sagen: „noch“). Dass Reiche ihren Reichtum in aller Regel verdient haben – dem stimmen unter den 18- bis 29-Jährigen immerhin 43 % „voll und ganz“ zu; bei den 45- bis 59-Jährigen sind es lediglich 31 %, bei den Über-60-Jährigen sogar nur noch 26 %. Das zunehmende Alter scheint hier nicht so viel Potenzial für positive Überraschungen bereitzuhalten. Dass der soziale Ausgleich in Deutschland funktioniert, sagen 50 % der Jungen – und nur 27 % der Über-60-Jährigen.

Ähnliches gilt für die Einschätzung der Unwägbarkeiten des heutigen Berufslebens. Zwar schätzt in allen Altersstufen eine Mehrheit, dass die Abstiegsrisiken heute höher sind als für frühere Generationen. Unter den 18- bis 29-Jährigen liegt die Quote mit 64 % spürbar niedriger als bei den Über-45-Jährigen mit fast 84 % und 89 % der Über-60-Jährigen. Die größten Sorgen hinsichtlich künftiger Absturzgefahren äußern dabei die Über-45-Jährigen. In der Gruppe sehen 85 % steigende Risiken – bei den Jüngsten sind es mit 72 % spürbar weniger, allerdings immer noch eine klare Mehrheit. Besonders schwer scheint der Altersunterschied zu wiegen, wenn es um die Globalisierung geht. Bei den Jüngeren schätzen 70 %, dass die Globalisierung für sie persönlich mehr Vor- als Nachteile gebracht hat. Unter den 45- bis 59-Jährigen sieht das nur noch eine Minderheit von 47 % so; unter denen, die 60 Jahre und älter sind, sind es sogar nur 37 %. Übrigens: Bei den Älteren geben fast 40 % an, dass sie die Frage nach dem Nutzen der Globalisierung nicht beantworten können (oder wollen). Von den unter 30-Jährigen haben darauf 93 % eine Antwort.

Wer nach mehr Staat ruft

Wachsende Sorgen und Skepsis gegenüber einer ausgeprägt marktliberalen Wirtschaftspolitik drücken sich in der Umfrage denn auch in den Wünschen danach aus, wohin es wirtschaftspolitisch grundsätzlich gehen sollte. So stimmen 80 % der Befragten zu, dass Regierungen stärker schützend eingreifen sollten, wenn etwa durch Globalisierungsfolgen oder neue Technologien steigende Arbeitslosigkeit droht. Dass Politiker die Marktkräfte hier ungehindert wirken lassen sollten, meint nur eine kleine Minderheit von 18 % (vgl. Abbildung 7).

Abbildung 7
Schützender Staat
Schützender Staat

Anmerkungen: Antworten jeweils in %; fehlende Angaben zu 100 % jeweils „weiß nicht“.

Quelle: Forsa-Umfrage unter 1009 Frauen und Männern in Deutschland vom 9. bis 13. Oktober 2019.

Fast 90 % der Deutschen stimmen auch der Forderung zu, dass der Staat mehr Geld in Klimaschutz, moderne Schulen und Universitäten sowie die Bahn investieren sollte. Gerade einmal 8 % der Befragten halten das nicht für nötig. Immerhin 38 % derer, die für höhere Investitionen sind, würden solche Ausgaben auch auf Kredit finanzieren – nur etwas mehr (42 %) würden Kürzungen an anderer Stelle bevorzugen, um die Kosten auszugleichen. Wobei auffällt, dass selbst bei den Jüngeren 34 % für eine Finanzierung auf Kredit sind, denen oft nachgesagt wurde, sie müssten per se gegen höhere Staatsschulden sein, da dies künftige Generationen belaste. Noch stärker könnten die künftigen Generationen belastet werden, wenn die Investitionen ausbleiben. Am höchsten ist die Zustimmung zu kreditfinanzierten Investitionen bei den 45- bis 59-Jährigen (46 %).

Dass die Deutschen den Glauben an die freien globalen Marktkräfte verloren haben, drückt sich auch in der verbreiteten Skepsis gegenüber einer fortgesetzten Globalisierung aus. Gewählte Politiker sollten wieder mehr Einfluss auf die nationale Gesetzgebung haben – dem stimmen 22 % „voll und ganz“ und weitere 45 % „eher“ zu. Nicht für nötig halten das nur 24 % der Befragten. Wobei die Forderung nach mehr Kontrolle bei den Älteren mit 76 % besonders hoch ist. Dass der Prozess der Wirtschafts- und Finanzglobalisierung weiter vertieft werden sollte, finden nur 4 % der Deutschen uneingeschränkt richtig – knapp 60 % stimmen dem „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ zu.

Systemische Vertrauenskrise

Der These von den sozio-ökonomischen Ursachen von Populismus und Wutbürgertum wird oft entgegengehalten, dass ja nicht nur Arme und objektive Verlierer der Globalisierung Trump und Brexit gewählt haben – oder dass in Deutschland die AfD auch in Wohlstandsregionen im Südwesten starke Ergebnisse eingefahren hat. Die Frage ist nur, ob solche Befunde per se gegen maßgebliche wirtschaftliche Faktoren sprechen.

Die vorliegenden Umfrageergebnisse könnten den vermeintlichen Widerspruch auflösen helfen. Zweifel an der sozialen Tragfähigkeit des Auseinanderdriftens von Reich und Arm sind auch unter den Beziehern höherer Einkommen verbreitet, ebenso wie die Sorge, im Berufsleben heute eher abstürzen zu können, als es für die Generation der Eltern einst der Fall war. Das Risiko sehen alles in allem auch 78 % der Besserverdienenden.

Um es etwas grober auszudrücken: Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, ist nicht nur unter den objektiven Verlierern verbreitet. Nur dass die Verlierer im Vergleich zu anderen doch immer noch (etwas oder deutlich) größere Sorgen äußern – was wiederum zur These von den am Ende bestimmenden wirtschaftlichen Umständen passt. Der Unmut ist allgemein, er drückt sich allerdings stets noch einmal stärker bei denen aus, die unter den Problemen wirtschaftlich unmittelbarer schon leiden.

Beides zusammen könnte erklären, warum die AfD natürlich auch in Regionen Zustimmung bekommt, die nach gängigen Kriterien wirtschaftlich ziemlich gut dastehen – und die Zustimmungsraten doch in den Regionen im Schnitt höher ausfallen, in denen relativ mehr Menschen leben, die im Strukturwandel eher zu den Verlierern zählen – und bei denen das Gefühl des Kontrollverlusts am stärksten ausgeprägt ist. Der Grund für die relativ höhere Zustimmung in solchen Regionen könnte dann auch darin liegen, dass dort besonders viele jüngere Menschen abgewandert sind – und überproportional viele in jener Generation über 45 (übrig-)geblieben sind, die nach Umfrage im Schnitt auch skeptischer sind, was die wirtschaftlichen Chancen im Land oder die Vorteile der Globalisierung per se angeht. Die Ergebnisse der Umfrage scheinen so auch eine gängige Diagnose von Wahlforschern zu bestätigen, wonach Unmut und Neigung, populistische Parteien zu wählen, gerade bei denjenigen verbreitet sind, die heute um die 50 Jahre alt sind. Dort ist die Globalisierungsskepsis offenbar auch am stärksten ausgeprägt.

Wenn mehr als 80 % der Menschen mit dem Gefühl leben, dass sie heute schneller sozial absteigen können, als es für die Generation ihrer Eltern der Fall war, dann könnte dies ein Schlüssel zum Verständnis dafür sein, warum trotz scheinbar guter Wirtschaftsdaten etwas nicht stimmt. Zumal dies zu empirischen Befunden passt, wonach der Hang zur Wahl von Protestparteien regelmäßig dort am höchsten ausfällt, wo die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten bereits mit der Realität solcher Abstürze konfrontiert worden sind – ob in vielen Regionen im Osten Deutschlands oder in westdeutschen Regionen, in denen die Importkonkurrenz zu Industriekrisen beigetragen haben. Dann könnte es den Glauben an die Politik und das gute Funktionieren der Gesellschaft an sich schon hinreichend erschüttern, wenn immerhin ein Drittel der Leute den Glauben daran verloren haben, dass eine florierende Wirtschaft in der Regel allen im Land zugutekomme.

Die hohen Ablehnungsquoten einer weiteren Vertiefung der Globalisierung oder weiterer Privatisierung öffentlicher Leistungen sind ebenso Indizien für eine tiefer liegende Vertrauenskrise in das, was Wirtschaftspolitik seit 1980 geprägt hat, wie die Ablehnung einer Verstärkung des Prinzips der Eigenvorsorge – ein Leitmotiv der Agenda 2010. Hier dürfte auch das größte Risiko liegen. Wenn ein solcher Unmut sich bereits in Zeiten ausdrückt, in denen zumindest nach gängigen Indikatoren – Bruttoinlandsprodukt, Arbeitsmarkt – über viele Jahren alles prima lief, könnte dies einen Eindruck vermitteln, wie stark sich diese mehr oder weniger latenten Ängste der Menschen vor einem Verlust an Kontrolle bemerkbar machen werden, wenn etwa die Arbeitslosigkeit einmal wieder deutlich steigt.

Dann könnte es lohnen, wirtschaftspolitisch ganz neue Maßstäbe zu definieren – sodass es sehr bald sehr viel stärker darum geht, den Menschen im Land wieder das Gefühl von Kontrolle zu vermitteln und die Angst vor sozialem Absturz oder einem Auseinanderdriften zwischen Reich und Arm zu nehmen.

  • 1 Siehe u. a. D. Autor et al.: Importing political polarization? The electoral consequences of rising trade exposure, NBER Working Papers, Nr. w22637, Cambridge MA 2016; T. Fetzer: Did austerity cause Brexit?, in: American Economic Review, 109. Jg. (2019), H. 11, S. 3849-86; T. Fetzer, R. Gold: What Drives Populist Votes? Recent Insights and Open Questions, o. J., https://newforum.org/en/globalization/what-really-drives-populist-votes/; W. Dauth, S. Findeisen, J. Suedekum: The rise of the East and the Far East: German labor markets and trade integration, in: Journal of the European Economic Association, 12. Jg. (2014), H. 6, S. 1643-1675; T. Krebs, Y. Yao: Labor market risk in Germany, 2016.
  • 2 Vgl. C. Franz, M. Fratzscher, A. Kritikos: Grüne und AfD als neue Gegenpole der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland, in: DIW-Wochenbericht, 86. Jg. (2019), H. 34, S. 591-602.
  • 3 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2019/20: den Strukturwandel meistern, Wiesbaden 2019, S. 242.
  • 4 T. Krebs, Y. Yao, a. a. O.
  • 5 Unterschieden wurden drei Kategorien nach Haushaltsnettoeinkommen: unter 1500 Euro; von 1500 bis 3000 Euro; mehr als 3000 Euro.

Title:Anxiety in Spite of Boom – Representative Survey on the Economic Attitudes of Germans

Abstract:Germany has not seen a recession in ten years. Unemployment has fallen drastically and incomes are increasing faster. Nevertheless, the crisis of big political parties, the rise of the Alternative für Deutschland and various surveys all point to a deeper dissatisfaction. Does this discontent have completely different cultural roots, such as the immigration situation of recent years? Or are there socio-economic factors such as a feeling of loss of control in times of advanced globalisation? A representative survey suggests the latter – and a much more profound crisis of the paradigm that has shaped economic policy and globalisation for over three decades.


DOI: 10.1007/s10273-019-2539-0