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Fünf Jahre nach Einführung des SGB II sind die Reservations- bzw. Anspruchslöhne von Empfängern des Arbeitslosengeldes II nach wie vor Gegenstand kontroverser Debatten in Medien, Politik und Wissenschaft. Werden die Empfänger des Arbeitslosengeldes II tatsächlich dazu veranlasst, auch niedrigste Lohnofferten zu akzeptieren? Oder führen die Regelungen des SGB II dazu, dass viele Empfänger des Arbeitslosengeldes II relativ hohe und oft unrealisierbare Anspruchslöhne fordern? Nachfolgend werden dazu neue empirische Befunde vorgestellt.

Von Gewerkschaften und Linken wird oft vorgebracht, die verschärften Zumutbarkeitsregelungen im Rahmen des SGB II ermöglichten es Arbeitgebern, arbeitsuchenden Empfängern des Arbeitslosengeldes II („erwerbsfähige Hilfebedürftige“) beliebig niedrige Löhne zu oktroyieren. Denn gemäß § 2 SGB II müssen Empfänger des Arbeitslosengeldes II „alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen“. Und gemäß § 10 SGB II ist dazu nahezu jegliche Arbeit zumutbar. Bei Ablehnung eines Arbeitsangebots drohen im Gegenzug Sanktionen in Form von Leistungskürzungen. Damit werde – so die Kritik – eine Unterminierung des tariflichen Lohngefüges und eine Ausweitung des Niedriglohnsektors massiv gefördert.

Zudem werden durch die Ausgestaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende unzureichende Einkommen aus Erwerbsarbeit auf jeden Fall zu einem Existenz sichernden Haushaltseinkommen aufgestockt. Bei dieser Ausgestaltung als „impliziter Kombilohn“1 könnten Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich auf Kosten des Staates bzw. des Steuerzahlers auf einen (Niedrig-)lohn einigen, der dann durch aufstockendes Arbeitslosengeld II staatlich subventioniert werden muss. Somit könne im konkreten Fall oft nicht unterschieden werden, ob Hilfebedürftigkeit andauere, weil der Lohn so niedrig ist, oder ob der Lohn so niedrig angesetzt wurde, eben weil seine Aufstockung auf das Niveau des soziokulturellen Existenzminimums staatlich garantiert ist. Mit derartigen Argumenten wird bekanntlich oft für die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohnes plädiert.

Ökonomen wie Sinn et al.2 argumentieren dagegen, das derzeitige Niveau der Grundsicherung und die hohe Transferentzugsrate bei Lohnsummen oberhalb des anrechnungsfreien Grundfreibetrags von 100 Euro machten die Suche nach niedrig entlohnten (Vollzeit-)Beschäftigungen oft unattraktiv. Aufgrund der relativ niedrigen Freibetragssätze3 böten bei vielen Empfängern des Arbeitslosengeldes II erst Lohnsummen deutlich oberhalb des Grundsicherungsniveaus der jeweiligen „Bedarfsgemeinschaft“ einen ausreichenden Anreiz für Arbeitsaufnahme.4 Das Arbeitslosengeld II bestimme deshalb oft einen sogenannten „impliziten Mindestlohn“.5 Obwohl es in Deutschland keinen flächendeckenden Mindestlohn gebe, übernehme die Grundsicherung faktisch dessen Funktion, so die zentrale Aussage. Die gesetzlich geforderte Bereitschaft zur Verringerung der Hilfebedürftigkeit durch Arbeitsaufnahme jedweder Art könne de facto nicht erzwungen werden, denn die Drohung von Sanktionen bleibe oft unwirksam, weil unzureichende Bemühungen um unattraktive Beschäftigungsmöglichkeiten oder die bewusste Vereitelung von Vermittlungsvorschlägen im Einzelfall schwierig nachzuweisen seien. Als Lösung für dieses Dilemma aus hohem Transferbezug und Verletzung des Lohnabstandsgebots (vgl. dazu § 28 SGB XII) werden dabei häufig „workfare“- bzw. „work first“-Konzepte vorgeschlagen, die eine kommunal bereit gestellte, gemeinnützige und nicht zusätzlich entlohnte (Teilzeit-)Beschäftigung als verpflichtende Gegenleistung des Erwerbslosen für den Erhalt der staatlichen Transferleistung vorsehen.6

Neue empirische Befunde

Zur Frage, welche Anspruchslöhne die Empfänger des Arbeitslosengeldes II tatsächlich aufweisen, gibt es indes bereits reichhaltige empirische Befunde aus mehreren Befragungswellen des neuen „Panels Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS), das vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erhoben wird. Mit dem PASS ist am IAB ein Datensatz für die Arbeitsmarkt-, Sozialstaats- und Armutsforschung in Deutschland im Aufbau, „der eine neue empirische Grundlage für Wissenschaft und Politikberatung schafft“7. PASS eignet sich insbesondere durch die hohe Fallzahl von Arbeitslosengeld-II-Empfängern im Sample besonders gut für Analysen wie die nachfolgend vorgestellten. Im Rahmen dieses Panels werden teilnehmende Personen u.a. zu folgendem Sachverhalt befragt: „Wie hoch müsste Ihr Netto-Monatslohn mindestens sein, damit Sie noch bereit wären, dafür zu arbeiten?“ Diese Frage stellt auf den sogenannten Anspruchs- oder Reservationslohn ab, der in der ökonomischen Theorie des Arbeitsmarktes ein gängiges Konzept darstellt, um zu erfassen, ab welchem Lohnsatz ein Individuum eine Arbeit aufzunehmen bereit ist. Da auch die gewünschte Arbeitszeit erfragt wurde, lassen sich aus den Angaben über Monatseinkünfte Netto-Reservationslöhne auf Stundenbasis errechnen. Auf dieser Grundlage wiederum kann der dem Nettolohn entsprechende Bruttoreservationslohn näherungsweise geschätzt werden, indem der arbeitnehmerseitige Teil der Sozialabgaben hinzugerechnet wird. Zu diesem Zweck werden auf den Nettolohn 25% seines Wertes aufgeschlagen. Diese Annäherung an den Bruttolohn ist bei Vollzeitbeschäftigungen noch immer eher konservativ, d.h. sie unterschätzt den Bruttolohn eher, als dass sie ihn überzeichnet. Dies liegt daran, dass der tatsächliche Bruttolohn noch höher liegen kann, sobald zusätzlich zu den Sozialabgaben Steuern anfallen. Das ist allerdings zum einen bei Lohnsätzen in unteren Tariflohngruppen bzw. im Niedriglohnsegment oft nicht zu erwarten, zum anderen stößt eine mögliche Schätzung der Steuerbelastung einzelner Personen aufgrund etlicher in diesem Fall unbekannter Faktoren (konkrete Steuerklasse des oder der Befragten, Mehrfachbeschäftigungen in unterschiedlichen Lohnsteuerklassen, Progression des Steuertarifs, Freibeträge und Absetzbarkeit von Werbungskosten) hier schnell an Grenzen. Bei Mini-Jobs fallen hingegen keine arbeitnehmerseitigen Sozialbeiträge an, so dass hier Brutto- und Nettolohn fast identisch sind. Als eher konservative Annäherung an den Bruttolohn soll die Addition der Sozialabgaben mit dieser Einschränkung herangezogen werden.

In den bisherigen Publikationen über Reservationslöhne wurden zu Aussagen über die Lohnkonzessionsbereitschaft von Arbeitslosen für den Zeitraum nach den Hartz-Reformen8 nur Daten zu den durchschnittlichen Reservationslöhnen und den Medianwerten, differenziert nach individuellen Merkmalen und verschiedenen Haushaltskontexten präsentiert. Die Tabelle zeigt den Reservationslohn von Arbeitslosengeld-II-Empfängern aus der ersten Welle des PASS 2006/07. Das Sample umfasst arbeitslos gemeldete Leistungsbezieher im Rechtskreis SGB II zwischen 25 und 58 Jahren, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen9 und die Frage nach ihrem Anspruchslohn beantwortet haben.10

Bruttoreservationslöhne nach Haushaltskontext

(in Euro/Stunde, arithmetische Mittelwerte)

Haushaltstyp Keine Kinder im Haushalt Mindestens ein Kind im Haushalt
Ledig 7,38 7,36
Verheiratet/eingetragene Lebenspartnerschaft 7,30 8,86
Verheiratet/eingetragene Lebenspartnerschaft, getrennt lebend 8,03 7,88
Geschieden 7,19 7,90
Verwitwet 7,34 7,56
Durchschnitt 7,35 8,28

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des PASS, Welle 2006/07.

Über alle Befragten hinweg ergibt sich ein Mittelwert von 7,71 Euro brutto (in der Tabelle nicht explizit ausgewiesen), der einem Netto-Reservationslohn von 6,17 Euro entspricht. Damit liegen die Anspruchslöhne von Empfängern des Arbeitslosengeldes II im Durchschnitt sehr nahe bei dem Lohnsatz von 7,50 Euro pro Stunde, der von Gewerkschaften und etlichen Politikern als allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn propagiert wird. Dabei zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede nach dem jeweiligen Haushaltskontext. Insbesondere verheiratete Personen mit mindestens einem Kind im Haushalt weisen dabei mit knapp neun Euro deutlich höhere Reservationslöhne auf als der Durchschnitt der Befragten. Auf den ersten Blick mag es somit scheinen, dass ein „expliziter“ gesetzlicher Mindestlohn zumindest für Bezieher des Arbeitslosengeldes II ebenso weitgehend überflüssig wie wirkungslos wäre, weil es bei diesem Personenkreis bereits einen „impliziten Mindestlohn“ in annähernd gleicher Höhe gibt. Für die Frage, ob und inwieweit es bei Empfängern des Arbeitslosengeldes II eine nach unten nahezu unbegrenzte Lohnkonzessionsbereitschaft oder vermeintlich „unangemessen“ hohe Anspruchslöhne gibt, haben Mittelwerte aber nur geringen Informationswert. Bei dieser Frage kommt es vor allem auf die Verteilung der Reservationslöhne um den Mittelwert an, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Stellt man eine solche aufsteigende Verteilung von Reservationslöhnen grafisch dar, so erhält man faktisch eine fiktive empirische Arbeitsangebotskurve. Als „fiktiv“ darf diese aus drei Gründen gelten:

  1. weil die Arbeitsangebotskurven zum einen keinen regional und/oder berufsfachlich homogen Personenkreis umfassen,
  2. weil sie nicht das gesamte Marktangebot an Arbeitskräften widerspiegelt, zu dem auch noch Personen in Beschäftigung zählen, und
  3. weil nicht tatsächlich akzeptierte, sondern erfragte Reservationslöhne in die Darstellung eingehen.

Abbildung 1 zeigt in aggregierter Form die Reservationslöhne von Arbeitslosengeld-II-Empfängern aus der ersten Welle des PASS. Auf der Abszisse ist der normierte Prozentanteil der befragten Arbeitslosengeld-II-Empfänger abgetragen, auf der Ordinate die Höhe des Reservationslohnes pro Stunde. Damit kann für den Zeitraum knapp zwei Jahre nach Umsetzung der letzten Stufe der Hartz-Reformen ein empirisch fundiertes Bild der Lohnkonzessionsbereitschaft unter Arbeitslosen gezeichnet werden.

Abbildung 1
Netto- und Bruttoreservationslöhne von Arbeitslosengeld-II-Empfängern
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Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des PASS, Welle 2006/07.

Diskussion der Ergebnisse

Die verwendete Darstellung liefert wichtige Hinweise für die Diskussion, wie sich ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn in verschiedenen Ausformungen auf die Arbeitsangebotsentscheidung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen auswirken würde. Wie ersichtlich wird, erklärt sich nur ein äußerst geringer Anteil von unter 3% der Arbeitslosengeld-II-Bezieher bereit, für einen Mindestlohn von 4,50 Euro (oder weniger) zu arbeiten, wie ihn beispielsweise Bofinger et al.11 in Kombination mit einer Neuordnung der Hinzuverdienstregelungen vorschlagen. Ein Bruttomindestlohn in Höhe von 7,50 Euro, wie er gängige Forderung von Gewerkschaften ist, würde den Reservationslohn von etwa 57% der Arbeitslosen übersteigen. Unter einem Bruttomindestlohn von zehn Euro, wie ihn die Partei „Die Linke“ beispielsweise in ihrem Bundestagswahlprogramm 2009 forderte, bleiben hingegen sogar 86% aller Arbeitslosen. Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen fordert einen Bruttostundenlohn zwischen 6 und 9 Euro, also in einem Bereich, der – abhängig von Branche, unterster Tariflohngruppe und regionalem Lohnniveau – auch bei vergleichsweise geringer Qualifikation erreichbar erscheint. Sowohl die absolute Höhe als auch die Verteilung der Reservationslöhne aus der ersten PASS-Welle ähneln sehr stark Ergebnissen, die mit einem IAB-Querschnittsdatensatz knapp ein Jahr nach Inkrafttreten des SGB II für eine andere Population von Arbeitslosengeld-II-Empfängern ermittelt wurden.12 Man kann also davon sprechen, dass hier ein robustes Ergebnis mit hoher Reliabilität vorliegt.

Anhand dieser Darstellungsform können auch Hinweise zu den eingangs formulierten Thesen gewonnen werden. Es wird deutlich, dass – zumindest auf Seiten der Arbeitslosen – eine Tendenz zum „Lohnrutsch“ etwa zwei Jahre nach den Hartz-Reformen allenfalls für einen kleinen Teil der Population konstatiert werden kann. Eine generell „schrankenlose“ Konzessionsbereitschaft, bei der Empfänger des Arbeitslosengeldes II jedes noch so niedrige Lohnangebot für akzeptabel halten, ist nicht zu erkennen. Erhärtet wird dieser Befund auch durch empirische Ergebnisse früherer Studien, die für die Situation in Deutschland ermitteln, dass vor allem der zuletzt erzielte Marktlohn als erklärender Faktor für den aktuellen Reservationslohn eine bedeutende Rolle spielt,13 Arbeitslose ihre Mindestlohnforderungen also anhand früherer Erfahrungen bilden. Die These vom „impliziten Mindestlohn“ hingegen sollte zumindest differenziert betrachtet werden: Gut die Hälfte der Befragten liegt mit ihren Anspruchslöhnen unter einem von Gewerkschaften vorgeschlagenen „expliziten“ Mindestlohn, sogar fünf von sechs Empfängern des Arbeitslosengeldes II bleiben unter dem Lohn, für den „Die Linke“ plädiert.

Zusätzlich zu der bisher durchgeführten Analyse lassen sich die Arbeitsangebotskurven nach verschiedenen soziodemografischen Merkmalen disaggregieren. Getrennt nach Geschlecht zeigen sich dabei kaum nennenswerte Unterschiede. Der durchschnittliche Reservationslohn von Männern beträgt dabei 7,86 Euro, der von Frauen etwa 40 Cent weniger bei fast identischer Ausformung der Verteilung um den arithmetischen Mittelwert. Unter den Männern sind lediglich etwa 2% der Befragten bereit, für weniger als 4,50 Euro brutto pro Stunde zu arbeiten, bei den Frauen sind es 4%.

Stärker ausgeprägte Unterschiede finden sich jedoch, wenn man Ost- und Westdeutschland miteinander vergleicht, wie es Abbildung 2 verdeutlicht. Hier sind der Übersichtlichkeit wegen nur noch die geschätzten Bruttoreservationslöhne abgebildet, auf die dazugehörigen erfragten Nettoreservationslöhne wurde verzichtet. Das durchschnittliche Niveau der Anspruchslöhne liegt dabei in Ostdeutschland merklich niedriger als in Westdeutschland (6,96 Euro vs. 8,21 Euro). Dies dürfte unter anderem die in weiten Teilen Ostdeutschlands schlechte Arbeitsmarktlage widerspiegeln, die die Vorstellungen akzeptabler Löhne mit beeinflusst. Im Westen sind damit nur etwa 2% aller Arbeitslosen bereit, für weniger als 4,50 Euro zu arbeiten, im Osten 4%. Im Westen wären von einem Mindestlohn von 7,50 Euro etwa 45% der Befragten betroffen, im Osten sind es bereits mehr als 70%. Dies macht zudem deutlich, dass ein einheitlicher Mindestlohn für Ost- und Westdeutschland merklich unterschiedliche Auswirkungen auf das regionale Arbeitsangebot hätte. Während die Anspruchslöhne von Westdeutschen mehrheitlich sogar über einem solchen Mindestlohn liegen, wären mehr als zwei Drittel aller ostdeutschen Arbeitslosengeld-II-Empfänger bereit, auch für weniger zu arbeiten.

Abbildung 2
Bruttoreservationslöhne von Arbeitslosengeld-II-Empfängern nach Region
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Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des PASS, Welle 2006/07.

Kritische Anmerkungen zum Aussagewert erfragter Reservationslöhne

Ob die durch einfache Befragung ermittelten individuellen Reservationslöhne bei Entscheidungen über die Annahme von Jobofferten tatsächlich ausschlaggebend sind, erscheint jedoch unter mehreren Gesichtspunkten als unsicher. Bei der Entscheidung, ob eine konkrete Stellenofferte dem Verbleib in Arbeitslosengeld II vorgezogen wird, spielen bekanntlich neben dem dabei offerierten Lohn noch etliche nicht-monetäre Charakteristika der jeweiligen Offerte eine Rolle, wie z.B. der Anfahrtsweg, die Arbeitszeiten, Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit der Arbeitsbedingungen (Lärm, Schmutz, physische und psychische Beanspruchung durch die Arbeit etc.), die quasi mit Zuschlägen oder Abschlägen von abstrakt gesetzten Reservationslöhnen berücksichtigt werden. Insofern sind in Befragungen ermittelte Anspruchslohnvorstellungen nur als Mittelwerte von mehr oder minder großen Bandbreiten individueller Akzeptanzschwellen bei konkreten Stellenangeboten zu betrachten.

Zudem ist im Lichte theoretischer ökonomischer Betrachtung nicht ganz klar, welche Art von Anspruchslohn mit Befragungsdaten in der oben zitierten Art eigentlich ermittelt wird. In der ökonomischen Betrachtung zu Anspruchslöhnen wird seit einiger Zeit zwischen zwei theoretischen Konzepten unterschieden. Der „Reservationslohn“ bringt im Sinne der traditionellen mikroökonomischen Arbeitsangebotsanalyse zum Ausdruck, welche Lohnsumme erforderlich ist, um die Nutzeneinbußen einer bestimmten Arbeitszeit auszugleichen, so dass die jeweilige Person zwischen Nichterwerbstätigkeit und Erwerbstätigkeit indifferent ist. Anhand des „Akzeptanzlohns“ im Sinne der neueren Theorien der Arbeitsplatzsuche wird entschieden, ob eine konkrete Offerte angenommen oder ob die Suche in der Hoffnung auf noch bessere Offerten fortgesetzt wird.14 Der für die Arbeitsplatzsuche maßgebliche „Akzeptanzlohn“ kann aus theoretischer Sicht nie unter dem „Reservationslohn“ liegen, weil bei unter dem Reservationslohn liegenden Lohnofferten immer Nichterwerbstätigkeit gegenüber der jeweiligen Erwerbstätigkeit vorgezogen würde. Aber er kann durchaus deutlich darüber liegen, wenn Arbeitsuchende darauf hoffen, wesentlich bessere Offerten finden zu können als solche, deren Nutzen gerade nur geringfügig besser ist als bei Nichterwerbstätigkeit mit Bezug von Nichterwerbseinkommen (hier: Arbeitslosengeld II).

Die mindestens erforderliche Lohnsumme

In den hier ausgewerteten Befragungen von Empfängern des Arbeitslosengeldes II wurde ergänzend zur oben zitierten Frage nach der für Arbeitsbereitschaft mindestens erforderlichen Lohnsumme auch noch gefragt, welche monatliche Lohnsumme die Befragten bei ihrer Stellensuche als Ergebnis erwarten.15 Dabei zeigte sich, dass die erfragten „Erwartungslöhne“ im Durchschnitt etwa um 25% über den Reservationslöhnen für grundsätzliche Arbeitsbereitschaft liegen. Es bleibt offen, ob die konkreten Entscheidungen von Empfängern des Arbeitslosengeldes II darüber, in welchen Kategorien von Stellenangeboten mit annähernd bekanntem Lohnniveau sie überhaupt aktiv nach Beschäftigung suchen wollen und ob sie dann gegebenenfalls eine konkrete Beschäftigungsofferte annehmen wollen, eventuell davon abhängen, ob die Lohnofferte annähernd der individuellen Lohnerwartung (und nicht dem Reservationslohn!) entspricht. Wäre dies der Fall, lägen die handlungsrelevanten impliziten Bruttomindestlöhne im Durchschnitt in einer Höhe von knapp 10 Euro pro Stunde. Lohnofferten deutlich unterhalb dieses Betrages wären dann oftmals nicht geeignet, Grundsicherungsempfänger zur Aufnahme eines konkreten Stellenangebotes zu bewegen.

Zu den für grundsätzliche Arbeitsbereitschaft mindestens erforderlichen Lohnsummen, die sich in der Befragung ergaben, kann man außerdem vermuten, dass etliche Antworten in Unkenntnis der genauen rechtlichen Regelungen zu den „Freibeträgen“ gemäß § 30 SGB II i.V.m. § 11 SGB II gegeben wurden. Sie fielen möglicherweise anders aus, wenn sich die Befragten anlässlich einer konkreten Beschäftigungsofferte darüber informieren würden oder nach der ersten Lohnzahlung feststellen, wie viel ihnen vom erzielten Lohn auf das danach zu kürzende Arbeitslosengeld II angerechnet wird und was sie dann tatsächlich als Einkommenszuwachs erzielen. Bedenkt man, dass bei den angegebenen Reservationslohnsummen die Mehrzahl der Befragten gegenüber Leistungsbezug ohne Erwerbstätigkeit nur relativ geringe Einkommensverbesserungen in Höhe der Freibetragssumme (bei Verbleib in „aufstockendem“ Leistungsbezug) oder etwas darüber (bei Ausscheiden aus dem Leistungsbezug) erzielen würde, so bedeuten Reservationslöhne um 8 Euro pro Stunde, dass die Befragten faktisch für einen Stundensatz unter 2 Euro bereit wären, eine Beschäftigung aufzunehmen.16 Ob sie bei umfassender Kenntnis dieses Sachverhalts tatsächlich dazu bereit wären, ist letztlich unklar. Somit sind die vorausgehend dargelegten Befragungsergebnisse nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Ist man sich dieser Einschränkungen bewusst, lässt sich nichtsdestoweniger anhand der hier vorgelegten Ergebnisse konstatieren, dass auf Basis der vorliegenden Daten eine schrankenlose Lohnkonzessionsbereitschaft auf Seiten von Arbeitslosengeld-II-Empfängern allenfalls für einen geringen Anteil der Befragten zu erkennen ist.

* Für seine Unterstützung und seine hilfreichen Anmerkungen danke ich Hermann Scherl.

  • 1Vgl. M. Knuth, B. Isfort: Der implizite Kombilohn in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ergebnisbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Integrationsmodells „job2work“, IAQ-Forschungsbericht 2007-2, Duisburg-Essen 2007.
  • 2 Vgl. hierzu z.B. H.-W. Sinn, C. Holzner, W. Meister, W. Ochel, M. Werding: Aktivierende Sozialhilfe 2006. Das Kombilohnmodell des ifo Instituts, in: ifo Schnelldienst 2/2006, München 2006.
  • 3 § 30 SGB II sieht für kinderlose Singles einen Freibetrag von 100 Euro vor, der monatlich anrechnungsfrei zum Transfer hinzuverdient werden darf. Darüber hinausgehende Einkommensbestandteile werden zu 80% auf den Transfer angerechnet, zwischen 800 Euro und 1200 Euro zu 90%. Dies bedeutet, dass von jedem zusätzlich verdienten Euro 20 bzw. 10 Cent beim Arbeitslosen als zusätzliches Einkommen verbleiben, 80 bzw. 90 Cent werden mit dem Transfer verrechnet, der so mit steigendem Einkommen abgeschmolzen wird. Verdient ein alleinstehender Arbeitsloser beispielsweise 200 Euro zusätzlich zum Regelsatz und den ihm erstatteten Kosten der Unterkunft hinzu, so beträgt sein Einkommenszuwachs 120 Euro. Dieser ergibt sich aus 100 Euro, die er anrechnungsfrei hinzuverdienen darf, sowie 20 Euro von den über den Freibetrag hinaus verdienten 100 Euro. Um den verbleibenden Rest wird das Arbeitslosengeld II entsprechend gekürzt.
  • 4 Diese Debatte wird oft mit dem Schlagwort „making work pay“ belegt.
  • 5 Vgl. hierzu beispielsweise H.-W. Sinn, C. Holzner, W. Meister, W. Ochel, M. Werding: Aktivierende Sozialhilfe 2006, a.a.O.; H.-W. Sinn, C. Holzner, W. Meister, W. Ochel, M. Werding: Die zentralen Elemente der Aktivierenden Sozialhilfe, in: ifo Schnelldienst 4/2007, München 2007, S. 48-53.
  • 6 Als die wahrscheinlich bekannteste Ausgestaltungsform eines „workfare für alle“ wäre hier die „Aktivierende Sozialhilfe“ von Sinn et al. zu nennen, vgl. hierzu ebenfalls H.-W. Sinn, C. Holzner, W. Meister, W. Ochel, M. Werding: Aktivierende Sozialhilfe 2006, a.a.O.
  • 7 B. Christoph, G. Müller, D. Gebhardt, C. Wenzig, M. Trappmann, J. Achatz, A. Tisch, C. Gayer: Codebuch und Dokumentation des „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) – Welle 1 (2006/2007), FDZ Datenreport, 05/2008, Nürnberg 2008, S. 4.
  • 8 Vgl. z.B. S. Bender, S. Koch, S. Messmann, U. Walwei: Was muten sich Arbeitslose zu? Lohnkonzessionen von ALG-II-Empfängern, IAB Discussion Paper 23/2007, Nürnberg 2007; S. Bender, S. Koch, A. Mosthaf, U. Walwei: Erwerbsfähige Hilfebedürftige im SGB II: Aktivierung ist auch in der Krise sinnvoll, IAB-Kurzbericht 19/2009, Nürnberg 2009.
  • 9 Damit fallen Personen im Ruhestand, Wehr- und Zivildienstleistende, berufsunfähige Personen, Schüler und Studenten aus dem Sample, ebenso wie Personen, die seit seiner Einführung zum 1. Januar 2005 noch keine Leistungen nach dem SGB II bezogen oder noch nie nach einer Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt gesucht haben.
  • 10 Hier wurde eine zusätzliche Selektion vorgenommen, indem Antworten, die gängigen Plausibilitätserwartungen widersprechen, von den Analysen ausgeschlossen wurden. So wurden Netto-Anspruchslöhne von mehr als 18,75 Euro pro Stunde (das entspricht bei einer Vollzeitstelle einem Nettoeinkommen von 3000 Euro im Monat) ebenso aus dem Sample entfernt wie solche von weniger als einem Euro pro Stunde. Letztere dürften im Übrigen die juristische Grenze zur Sittenwidrigkeit nach gängiger Rechtsprechungspraxis in jedem Fall massiv unterschreiten.
  • 11 Vgl. P. Bofinger, M. Dietz, S. Genders, U. Walwei: Vorrang für das reguläre Arbeitsverhältnis: Ein Konzept für Existenz sichernde Beschäftigung im Niedriglohnbereich, Gutachten für das Sächsische Ministerium für Wirtschaft und Arbeit (SMWA), Dresden 2006.
  • 12 C. Osiander: Lohnerwartungen, Reservationslöhne und fiktive Arbeitsangebotskurven bei Empfängern des Arbeitslosengeldes II. Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 2009.
  • 13 Vgl. beispielsweise S. Bender, S. Koch, S. Messmann, U. Walwei: Was muten sich Arbeitslose zu?, a.a.O.; B. Christensen: Anspruchslohn und Arbeitslosigkeit in Deutschland, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Jg. 36 (2003), H. 4, Nürnberg, S. 573-598.
  • 14 Vgl. P. Cahuc, A. Zylberberg: Labor Economics, MIT Press, Cambridge 2004, S. 111 ff.
  • 15 Die Frageformulierung lautete: „Jetzt geht es darum, welche Entlohnung Sie bei Ihrer Stellensuche erwarten. Was ist realistisch: Was erwarten Sie monatlich Netto zu verdienen?“
  • 16 Beispielsweise würde ein Single mit einem Arbeitslosengeld-II-Bedarf von um 680 Euro pro Monat (Regelsatz zuzüglich der Kosten für Unterkunft und Heizung) bei einer Vollzeitbeschäftigung von 150 Stunden pro Monat und einem Bruttomonatslohn von 1200 Euro weiterhin in „aufstockenden“ Leistungsbezug verbleiben und als Einkommensverbesserung nur die Freibetragssumme von 280 Euro (100 Euro + 140 Euro + 40 Euro) behalten, was einem faktischen Nettostundenlohn von 1,87 Euro entspricht.

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DOI: 10.1007/s10273-010-1062-0