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Am 1. Juli 1990 trat die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion der beiden deutschen Staaten in Kraft. Der Prozess des ökonomischen Zusammenwachsens von Ost- und Westdeutschland erwies sich jedoch als schwieriger als erwartet. Warum ist das so? Und was könnte getan werden, um in Ostdeutschland eine eigenständige Wirtschaftsdynamik zu etablieren?

Vom Aufbau Ost zur Werkstatt Ost: Eine wirtschaftliche Zwischenbilanz der Deutschen Einheit

Ein außenpolitisches Meisterstück, aber eine wirtschaftspolitische Fehlleistung. So sehen viele Kritiker heute die Deutsche Einheit. Noch immer hinkt der Osten in praktisch jeder Wirtschafts- und Sozialstatistik hinter dem Westen her – trotz Hilfen und Finanztransfers in Billionenhöhe. Offenbar hat die Politik von Anfang an schwere Fehler gemacht. So jedenfalls die verbreitete Meinung.

Diese Meinung teile ich nicht. Im Folgenden erkläre ich warum. Der Kern meiner Argumentation: Es gab im Wesentlichen politisch keine Alternative; vier Jahrzehnte sozialistischer Abschottung haben einen enormen wirtschaftlichen Flurschaden hinterlassen; nicht das Ergebnis ist enttäuschend, sondern die Erwartungen waren zu hoch; es war nicht möglich, die industrielle Innovationskraft des Ostens in zwei Jahrzehnten auf westliches Niveau zu bringen; es bleibt deshalb eine langfristige Aufgabe der Industrie- und Regionalpolitik, die West/Ost-Lücke zu schließen.

Die Ausgangslage

Tatsache ist, dass sich die Politik ab dem 9. November 1989 in einer historisch einmaligen Zwangslage befand. Der Grund: die Mobilität der Menschen. Nach dem Mauerfall konnte jeder ostdeutsche Arbeitnehmer als deutscher Staatsbürger in den nahe gelegenen Westen abwandern. Der Anreiz, dies auch zu tun, war ungeheuer groß. Im Westen gab es einen hochmodernen Kapitalstock, eine im Weltmarkt bewährte Produktpalette und vor allem hohe Löhne, die im globalen Vergleich mit an der Spitze lagen. An natürlichen Mobilitätshindernissen fehlte es fast völlig: gleiche Sprache, gleiche Kultur, gleiche industrielle Tradition. Es drohte der Massenexodus, vor allem von Fachkräften und Leistungsträgern.

„Erweiterung West“ statt „Aufbau Ost“, das war seinerzeit keine Phantasie von Schwarzmalern, sondern ein ganz reales Szenario, das niemand politisch wollte. Der Spielraum für die Politik war deshalb extrem eng. Es mussten schnellstmöglich glaubwürdige Weichen zur Stabilisierung gestellt werden. Dies tat die Politik, auch gegen Widerstand aus der Wissenschaft. Das Ergebnis waren drei schnelle mutige Entscheidungen: die Wirtschafts- und Währungsunion, die Privatisierung durch die Treuhandanstalt und der Beginn einer massiven Investitionsförderung.

Die Maßnahmen

Die Einführung der D-Mark Mitte 1990 wird heute als ein unverzichtbarer Schritt der Vertrauensbildung anerkannt. Von nun an gab es im Osten stabiles Geld, und dies konnte nicht falsch sein. Scharf kritisiert wird bis heute allerdings der Umstellungskurs von einer Mark (Ost) zu einer D-Mark. Er habe, so das Argument, zu einer drastischen Erhöhung der Lohnkosten geführt und damit die ostdeutsche Industrie über Nacht unfähig zum Wettbewerb gemacht. Tatsächlich betrug das Lohnniveau des Ostens nach der Umstellung etwa ein Drittel des Westens. Ohne Zweifel hätte ein Kurs von zwei Mark (Ost) für eine D-Mark rein arithmetisch die Arbeit im Osten verbilligt, auf ein Sechstel des Westniveaus. Die Frage ist allerdings: für wie lange? In Magdeburg, Erfurt und Chemnitz ein Lohn von einem Sechstel des Niveaus von Hannover, Kassel und Nürnberg? Das ist, wenn Arbeitnehmer mobil sind, bestenfalls Träumerei. Selbst das Drittel des Westniveaus erwies sich schnell als unhaltbar. Nur mit staatlichen Lohnkontrollen und massiven Mobilitätsbarrieren wäre ein Anstieg der Löhne und ein Anschwellen der Abwanderung zu verhindern gewesen. Dies hätte bedeutet: eine neue Mauer, und das kam nicht in Frage. Insofern ist die gängige Kritik an dem Umstellungskurs der Währungsunion auch im Rückblick völlig realitätsfern.

Ähnliches gilt für die Kritik an den Verfahren der Privatisierung. Die Treuhandanstalt arbeitete sehr schnell und pragmatisch. Bei ihrer Auflösung Ende 1994 war der Großteil der vorhandenen 14 000 Unternehmen bzw. Unternehmensteile privatisiert. Es gab fortan keine massenhafte Dauersubventionierung von maroden Industriestätten – jenes Horrorszenario, vor dem viele Ökonomen zu Recht gewarnt hatten. Natürlich legte die Treuhandanstalt eine ernüchternde Bilanz vor: ein Defizit von über 200 Mrd. DM zu Lasten des Steuerzahlers, eine Serie von Skandalen und der Abbau von mindestens 2,5 Mio. industrieller Arbeitsplätze. Sie wurde dadurch auf Dauer zum Sündenbock der Deutschen Einheit. Aber wer konnte eigentlich anderes erwarten – bei dem miserablen Zustand der ostdeutschen Industriebetriebe nach vierzig Jahren Abschottung vom Weltmarkt? Immerhin gelang es der Treuhandanstalt, einen industriellen Kern zu schaffen, der zukunftsfähig war. Die Investitions- und Beschäftigungszusagen wurden im Wesentlichen eingehalten, zum Teil sogar übererfüllt. Die Geschäftsmodelle der Erwerber – ob auswärtige Firmen oder frühere Manager – erwiesen sich in der großen Mehrzahl der Fälle als tragfähig. Ein beträchtlicher Teil der ostdeutschen Industriebetriebe, die heute rentabel arbeiten, stammt aus ehemaligen Unternehmen der Treuhandanstalt.

Auch bei der Wirtschaftsförderung galt die politische Maxime: schnell und massiv statt vorsichtig und abwägend. Die öffentliche Infrastruktur wurde im Rekordtempo erneuert, und es gab großzügig Subventionen und Steuererleichterungen für private Investitionen im Osten – zunächst auf breiter Front und später zunehmend beschränkt auf das verarbeitende Gewerbe. Auch diese Medizin wirkte: Es kam zunächst zu einem Bauboom und dann zu einer Welle der industriellen Direktinvestitionen. Aber es gab auch unerwünschte Nebenwirkungen: zu viel Leerstand bei Immobilien, zu starke Mitnahmeeffekte, zu hoher Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz, bedingt durch die staatlichen Eingriffe. Auch dafür blieb die herbe Schelte von Seiten der Wissenschaft nicht aus.

Kritik der Kritik

Bei vielen einzelnen Maßnahmen ist die Kritik aus theoretischer Sicht berechtigt. Natürlich lässt sich im Nachhinein argumentieren, dass die Förderung des Wohnungsbaus zu großzügig war, denn sie führte zu einem Überangebot und schließlich zu einer drastischen Preiskorrektur der Immobilien nach unten. Viele Investoren machten deshalb auch Verluste. Das politische Dilemma lag allerdings auf der Hand: Sollte man wirklich riskieren, dass die Renovierung der ostdeutschen Städte sich über Jahrzehnte hinzieht? Musste nicht schnellstmöglich der weit verbreitete Geruch des Verfalls durch sichtbare Signale des Aufbruchs weggeblasen werden? War nicht ein lebenswertes Umfeld eine notwendige Bedingung, um Leistungsträger zu halten und weitere anzulocken?

Ähnliches gilt für die beliebte Kritik von Ökonomen, die Wirtschaftsförderung habe sich viel zu stark auf die Investitionen in Sachkapital konzentriert. Da stellt sich die Frage: Was war die Alternative? Eine dauerhafte Subventionierung von Löhnen oder Wertschöpfung, wie damals zum Teil empfohlen wurde? Aus ordnungspolitischer Sicht ist dies fragwürdig, denn die Investitionsförderung hat einen einzigen, aber überaus bedeutsamen Vorteil: Sie wird auf einen Schlag ausbezahlt, und der weitere Betrieb bleibt unsubventioniert. Es droht kein Moloch der dauerhaften Staatsabhängigkeit, und genau ein solcher entstand auch nicht.

Tatsächlich wirken viele Einzelpunkte der Kritik merkwürdig blass im Anblick der gigantischen – und gefährlichen – politischen Aufgabe. Denn immerhin ging es um einen radikalen Strukturwandel im Zeitraffer, vielleicht den radikalsten, den jemals ein Industrieland erlebt hat. Es musste eine alte Industrie fast komplett verschwinden und schnellstens eine neue entstehen. Es gab nicht die Möglichkeit des evolutionären Wandels, mit Industrielöhnen wie in Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen, die damals bei unter 20% des westdeutschen Niveaus lagen und selbst heute noch 30% nicht überschreiten. Bei solchen Löhnen hätte sich Ostdeutschland entvölkert. Es gab nur den Weg des revolutionären Umbruchs, und der brachte fast zwangsläufig eine Fülle von der Hast geschuldeten Fehlentwicklungen mit sich.

Wo stehen wir heute?

Es gibt wieder eine ostdeutsche Industrie, die fast 10% der gesamtdeutschen Produktion liefert, nach gerade mal 3,5% am Tiefpunkt 1992. Obendrein ist es eine wettbewerbsfähige Industrie, die pro Erwerbstätigen fast 80% des westdeutschen Produktionswertes erwirtschaftet – bei unter 70% des Lohnniveaus, das weit zurück blieb, weil der Flächentarifvertrag zerbröselte. Allerdings: Die ostdeutsche Industrie ist im Kern noch immer eine verlängerte Werkbank des Westens mit beachtlich gestiegener Exportorientierung, aber noch zu wenig Forschung und Entwicklung. Sie arbeitet effizient, preiswert und flexibel, aber mit noch zu schwacher eigener Innovationskraft. Sie ist stark genug, um am Markt zu bestehen, aber noch nicht groß genug, um die Transferlücke zwischen Verbrauch und Produktion im Osten zu schließen.

Grund dafür ist zunächst einmal die Höhe des Verbrauchs. Und der wiederum speist sich vor allem aus den Renten- und Sozialsystemen. Tatsächlich hat die frühe Sozialunion dafür gesorgt, dass Rentner und Arbeitslose voll in den deutschen Sozialstaat integriert wurden. Auch dies stieß bei Ökonomen auf harte Kritik, die nicht verstummte, zumal sich die sozialbedingten West-Ost-Transfers nach 20 Jahren Deutscher Einheit auf annähernd 1 Billion Euro summiert haben. Auch da muss man sich allerdings die ehrliche Frage stellen, ob es realistische politische Alternativen gab. Beim größten Posten, dem Rentensystem, ging es ja immerhin um die Annerkennung der Lebensleistung der DDR-Bürger als Arbeitnehmer und dabei vor allem um die Frauen, deren Erwerbsbeteiligung im Vergleich zum Westen weit höher lag. Substantielle Einsparungen wären nur möglich gewesen, hätte man eine ganze Generation von neuen Rentnern auf die Sozialhilfe verwiesen. Für das Projekt Deutsche Einheit wäre dies eine enorme Belastung gewesen, politisch und humanitär. Es bleibt allerdings ein schwerer Fehler, die Finanzierung der Sonderlast auf die Beitragszahler in den Rentenkassen abzuwälzen, anstatt sie gleich durch zusätzliche Besteuerung abzufangen. Tatsächlich ist der spätere massive Anstieg der Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt für die Rentenkassen als eine – allerdings späte – Einsicht in diesen Fehler zu interpretieren.

Jedenfalls steht fest: Der Osten ist auch heute noch nicht in der Lage, seinen Verbrauch durch eigene Wertschöpfung voll zu finanzieren, auch wenn es Fortschritte gibt. Ist dies enttäuschend? Nur für den, der naive Erwartungen hatte, was die Schnelligkeit des Ausbaus der volkswirtschaftlichen Produktivkraft betrifft. Denn der Flurschaden von 40 Jahren Planwirtschaft und Abschottung vom Weltmarkt ist gewaltig, und zwar überall, wo der Sozialismus sowjetischen Stils geherrscht hatte. Ob in Tschechien, wo heute ohne „Aufbau Ost“ gerade mal 30% des industriellen Produktionswerts pro Erwerbstätigen von Westdeutschland erzielt wird, oder eben in Ostdeutschland, wo es mit „Aufbau Ost“ fast 80% sind. Die Wiedergeburt der Innovationskraft, verbunden mit dem Aufstieg eines neuen Unternehmertums, wird noch Jahrzehnte dauern.

Diese Diagnose gilt übrigens für den gesamten Osten. Mitteldeutschland, der Großraum Berlin-Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern, überall ist der Rückstand zum Westen statistisch erkennbar, und zwar in sehr ähnlichen Größenordungen. Es ist irrig zu glauben, Sachsen und Thüringen hätten längst mehr mit Baden-Württemberg und Bayern zu tun als mit den strukturschwachen Ländern der norddeutschen Tiefebene. Der „Club des Ostens“ unterscheidet sich nach allen Kennzahlen immer noch stärker vom „Club des Westens“ als die jeweiligen Clubmitglieder untereinander. Dies gilt für die Arbeitsproduktivität genauso wie für die eigene Steuerkraft der Flächenländer. Allerdings lassen sich – ganz natürlich – unterschiedliche Schwerpunkte der wirtschaftlichen Aktivität im Osten feststellen. Es ist überaus interessant, dass diese im Wesentlichen den historischen Mustern folgen: Sachsen mit Schwerpunkten im Fahrzeugbau und in der Mikroelektronik (der Nachfolgerin der früheren elektrotechnischen Industrie), Sachsen-Anhalt mit Ernährungswirtschaft, dem Maschinenbau und der Chemie, Thüringen mit Feinmechanik und Optik. All dies spricht aus ökonomischer Sicht für starke „Pfadabhängigkeiten“ der Entwicklung.

Ein zentrales Problem bleibt dabei Berlin, die mit Abstand größte Stadt der Region. Berlin war bis zum Zweiten Weltkrieg eine Metropole der Politik, der Industrie und der Dienstleistungen. Nur die Politik – einschließlich der Lobbygruppen – ist zurückgekehrt. Alle anderen Schwerpunkte der früheren Berliner Wirtschaft bleiben dort, wo sie ihre Zentren zur Zeit der deutschen Teilung entwickelt haben, so u.a. die Finanzwelt in Frankfurt am Main und die Industrie (mit Siemens an der Spitze) in München. Auch hier zeigen sich Pfadabhängigkeiten: Sind neue Zentren einmal über Jahrzehnte etabliert, gibt es keine hinreichend starken Kräfte, die das Gleichgewicht stören könnten. Selbst die massivste Förderung hilft da nur wenig. Im Falle Berlins hat dies für den gesamten Osten bedrückende Konsequenzen: Es fehlt ein industrieller Wachstumsmotor, wie ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in Bayern der Großraum München lieferte, der damals in hohem Maße vom Zuzug industrieller Innovationskraft aus Berlin und Mitteldeutschland profitierte.

Was ist zu tun?

Ostdeutschland braucht heute eine zukunftsorientierte Industriepolitik – nicht branchenspezifisch, aber mit dem klaren Ziel, die Innovationskraft zu stärken und weitere Ansiedlungen zu befördern. „Werkstatt Ost“ nach dem „Aufbau Ost“, dies könnte das Motto sein. Es geht um eine regionale Entwicklungspolitik mit neuen Prioritäten: weg von Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung hin zur Innovationsförderung; weg von Prestigeprojekten der Infrastruktur hin zur wirtschaftsfreundlichen Standortpolitik vor Ort.

In Ansätzen gehört diese Art von Förderstrategie längst zum täglichen Brot der Politik im Osten, zumindest dann, wenn man den Begriff der „Förderung“ relativ weit fasst, und genau das sollte man tun. So ist etwa die gezielte Schaffung oder Stärkung von öffentlicher Wissenschafts- und Forschungskapazität an Universitäten – zum Beispiel durch Gründung oder Erweiterung von Fachbereichen der Chemie, der Elektrotechnik oder des Maschinenbaus – auch eine gezielte Industriepolitik, denn sie schafft für bestimmte Branchen die nötige Infrastruktur vor Ort, die eine Ansiedlung begünstigt. Die Politik muss dabei pragmatisch vorgehen. Sie muss dort, wo sich erfolgversprechende Ansätze für regionale Schwerpunkte der industriellen Ballung zeigen, diese auch fördern. Tatsächlich haben sich in den letzten Jahren im Osten Ansätze solcher regionaler Cluster gebildet, die im Verbund mit öffentlichen Forschungseinrichtungen einiges an Innovationskraft versprechen, aber von dem Gewicht westdeutscher Ballungszentren wie Stuttgart und München noch ein gutes Stück entfernt sind. Es ist offensichtlich sinnvoll, diese Ballungen politisch zu unterstützen: durch Erhalt und Stärkung der öffentlichen Forschung, durch kluge Standortwerbung und durch punktuelle Ergänzung der Infrastruktur.

Eine pragmatische Industriepolitik muss aber auch für kommunale Entscheidungsträger genügend Spielraum lassen, im Standortwettbewerb möglichst unbürokratisch die nötigen Instrumente einzusetzen, um Industrieansiedlungen und -erweiterungen zu ermöglichen. Neben den branchenspezifischen Clustern hat sich nämlich in Ostdeutschland – genauso wie schon länger im Westen – eine Art „Autobahnökonomie“ herausgebildet. Entlang der großen Verkehrsachsen sind in den Gewerbegebieten von kleinen und mittelgroßen Gemeinden eine Fülle von industriellen Ansiedlungen entstanden, die keineswegs den Charakter branchenspezifischer Cluster aufweisen. Sie sind eher diversifizierte Ansammlungen von Unternehmen, die fast nichts miteinander zu tun haben – außer dass sie gemeinsam eine gut ausgebaute kommunale Infrastruktur nutzen. Sie sind „in der Provinz“ das Rückgrat der Wirtschaft, und zwar in Ost und West. Sie dürfen keineswegs einer dogmatischen Politik der Clusterbildung zum Opfer fallen.

Auch die Wirtschaftspolitik auf Bundesebene muss diesem doppelten Gesicht des Ostens („Cluster“ und „Autobahnökonomie“) Rechnung tragen. Zum einen muss sie mit Blick auf die Clusterbildung darauf achten, dass bei der räumlichen Verteilung von Forschungsmitteln und Forschungseinrichtungen mit Wirtschaftsnähe die Wachstumsinteressen des Ostens besonders berücksichtigt werden. Es besteht derzeit die akute Gefahr, dass im Zuge einer auf Exzellenz ausgerichteten Forschungspolitik die Innovationskraft nur mehr dort weiter gestärkt wird, wo sie ohnehin schon ausgeprägt ist, vor allem im Süden der Republik. Diese Politik mag aus Gründen des internationalen Wissenschaftswettbewerbs im Grundsatz nachvollziehbar sein. Sie unterstützt aber vorhandene „Pfadabhängigkeiten“, also alte gewachsene Strukturen. Und sie birgt deshalb die Gefahr, dass es für den Osten – und im Übrigen auch den Norden und Nordwesten Deutschlands – immer schwieriger wird, den innovativen Anschluss an die Spitze Deutschlands zu erreichen bzw., wo erreicht, zu halten. Das regionalpolitische Kind darf hier nicht mit dem forschungspolitischen Bade ausgeschüttet werden.

Andererseits müssen die lokalen Freiräume erhalten bleiben, um vor Ort im Standortwettbewerb wettbewerbsfähig zu sein. Deshalb ist es überaus wichtig, dass es nicht über bundesweite Mindestlohnregeln zu einer Beschneidung dieser Flexibilität kommt. Daneben brauchen auch die lokalen Entscheidungsträger möglichst weite Spielräume, um bei der Einwerbung von Industrieansiedlungen wirksam reagieren zu können. Es wäre deshalb gefährlich, mit Instrumenten der übergeordneten Planung genau diese Spielräume einzuschränken. Diese Gefahr setzt auch den Möglichkeiten einer gezielten räumlichen Konzentration von Fördermitteln zur Clusterbildung enge Grenzen, zumal die geographischen Entfernungen innerhalb Mitteldeutschlands so geringfügig sind, dass eine solche Konzentration ökonomisch kaum sinnvoll ist. So wäre es zum Beispiel nicht nachvollziehbar, eine Investition in Leipzig oder Halle/Saale stärker zu fördern als dieselbe Investition in Bernburg oder Bitterfeld, denn auch von dort ist eine enge Verzahnung mit den nahegelegenen Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen möglich und geschieht schon heute. Was sind bei guten Verkehrswegen schon 30 oder 40 Kilometer?

Alles in allem geht es also nicht um irgendeine radikale Umstellung der durch den Bund, die Länder und die Kommunen geleisteten Wirtschaftsförderung. Diese ist im Grundsatz richtig und hat ja auch in der Vergangenheit zu beachtlichen Erfolgen geführt. Ihre Schwäche liegt allerdings in ihrer bürokratischen Komplexität. Die ist indes vor allem das Ergebnis einer extrem komplizierten Verflechtung der unterschiedlichen Förderebenen und -programme: von Europa über den Bund und die Länder bis zu den Kommunen. Hier gilt es, mit einer Reform anzusetzen, die für klare Verantwortlichkeiten sorgt und die Entscheidungsträger vor Ort nicht verleitet, Projekte in Angriff zu nehmen, die nur wegen des hohen Anteils der externen Finanzierung und nicht wegen besonders hoher Produktivität politisch attraktiv sind. Dies ist eine Aufgabe für eine allfällige Föderalismusreform III.

Daneben bedarf es vor allem einer Umschichtung der Förderschwerpunkte: weg von der physischen Infrastruktur und hin zu den Engpässen der Innovationskraft, wie sie sich heute darstellen. Noch immer gilt im Rahmen der Regeln des Solidarpakts II, dass die Erweiterung eines leerstehenden Gewerbegebiets das Qualitätssiegel „Investition“ erhält, während die laufende Finanzierung eines wirtschaftsnahen technischen Forschungsinstituts als „Staatskonsum“ disqualifiziert wird. Dies mag haushaltsrechtlich korrekt sein, wird aber den derzeitigen und künftigen wirtschaftlichen Herausforderungen in Ostdeutschland nicht gerecht. Hier muss es zumindest politisch eine neue Orientierung geben. Dies wäre ganz im Sinne einer pragmatischen Industriepolitik, die erkennt, dass es im Osten nicht mehr in erster Linie der Ausbau von Straßen und Gewerbegebieten ist, der für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum sorgt, sondern die Verbesserung der Innovationskraft des verarbeitenden Gewerbes.

* Karl-Heinz Paqué ist Autor des Buches „Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit, München 2009“.

Aufbau Ost: Auch nach 20 Jahren noch nicht am Ziel

Vor zwanzig Jahren wurde mit der „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ die Einführung der Marktwirtschaft in Ostdeutschland unumkehrbar gemacht und das Ende der DDR faktisch besiegelt. Hoch waren die Erwartungen, die sich damit in Ostdeutschland wie in Westdeutschland verbanden – sie lassen sich am treffendsten wohl in dem fast schon geflügelten Wort der „blühenden Landschaften“ zusammenfassen, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Fernsehansprache zum Inkrafttreten der Währungsunion versprach. Stimmen, die vor übereilten Schritten warnten – als prominente Beispiele lassen sich der Präsident der Bundesbank oder der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nennen – wurden damals leichtfertig überhört; hätte man sie ernster genommen, wären sicherlich manche Entscheidungen im Zuge des Vereinigungsprozesses anders gefallen. Zumindest aber hätte man die Bevölkerung in Ost und West besser auf die Herausforderungen und die notwendigen Anpassungen vorbereiten können, was nachfolgende Enttäuschungen hätte vermeiden können.

Heute muss festgestellt werden, dass das wirtschaftliche Entwicklungsniveau Ostdeutschlands trotz aller unbestreitbaren Fortschritte (so bei der Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse, beim Ausbau der infrastrukturellen Bedingungen oder der Modernisierung des Produktionsapparates) immer noch weit hinter Westdeutschland zurückliegt. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, gängiger Konvergenzindikator, beträgt in Ostdeutschland (einschließlich Berlin gerechnet) nur rund 70% des westdeutschen Durchschnittswertes, und der Konvergenzprozess kommt seit nunmehr mehr als einem Jahrzehnt nur noch schleppend voran. Ähnlich groß ist der Abstand auch bei der Totalen Faktorproduktivität, die nicht zuletzt infolge geringer Innovationskraft ostdeutscher Unternehmen seit Jahren bei vier Fünfteln des westdeutschen Niveaus verharrt. Schließlich ist auch die Arbeitslosigkeit nach wie vor deutlich höher als in Westdeutschland; die jüngst zu verzeichnende Abnahme der Arbeitslosenquote auf jetzt rund 12% ist eher auf den Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung als auf eine Zunahme der Beschäftigung zurückzuführen. Folge all dessen sind nicht nur fortwährend hohe „Transferleistungen“ von West- nach Ostdeutschland, sondern darüber hinaus auch eine nahezu ungebrochen starke Abwanderung insbesondere junger und gut qualifizierter Personen aus Ostdeutschland, die die ökonomischen Disparitäten eher noch verschärft als abmildert.

Leider sind auch die weiteren Entwicklungsperspektiven für die neuen Länder nicht unbedingt positiv einzuschätzen. Grund hierfür ist zum einen, dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren Strukturen etabliert haben, die auch auf lange Sicht nur eine geringe Wachstumsdynamik erwarten lassen. Hierzu gehören insbesondere die durch einen geringen Anteil von Industrie und produktionsnahen Dienstleistungen geprägte Branchenstruktur sowie weitgehend fehlende Großunternehmen und Unternehmenshauptsitze mit der Folge schwacher FuE-Potentiale und geringer Humankapitalintensität der Produktion. Erschwerend kommt die in weiten Landesteilen eher ländlich geprägte Raumstruktur hinzu, gekennzeichnet durch geringe Siedlungsdichte und eine vergleichsweise hohe Bedeutung der Landwirtschaft und den mit ihr verbundenen Wirtschaftszweigen. All das hat zur Folge, dass auch die Produktivität (und damit die Kaufkraft) in den neuen Ländern niedrig bleibt, so dass auch endogene Wachstumspotentiale nur in eingeschränktem Maße erschlossen werden können. Zum anderen führt die demographische Entwicklung – die in überschaubaren Zeiträumen nicht mehr umkehrbar ist – zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der Wachstumsaussichten, sei es nachfrageseitig über Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung sowie steigende Altersarmut, sei es angebotsseitig über ein verringertes Erwerbspersonenpotential und geringere Produktivitätserhöhungsspielräume. Auch wenn dies nicht überall in gleichem Maße gilt – die Ballungszentren Ostdeutschlands weisen günstigere Entwicklungsperspektiven auf als der ländliche, peripher gelegene Raum – ist mit einer raschen „Angleichung der Lebensverhältnisse“ kaum zu rechnen.

Natürlich gibt es auch Erfolgsgeschichten in den neuen Ländern: Die Photovoltaik-Industrie in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die Optoelektronik in Jena, die Mikroelektronik in Dresden oder die Logistikbranche in Leipzig haben sich zu international wettbewerbsfähigen wirtschaftlichen Schwerpunkten entwickelt. Übertrieben wäre es jedoch, mit Verweis auf diese positiven Beispiele dem Aufbau Ost insgesamt ein gutes Zeugnis auszustellen, denn diese neuen „industriellen Kerne“ sind bislang zu klein, um der Entwicklung in Ostdeutschland insgesamt eine ausreichende Dynamik zu verleihen. Hinzu kommt, dass auch deren Fortbestand nicht unbedingt gesichert ist; gerade dort, wo die Unternehmen nicht ausreichend tief in der Region verankert sind, kann der zunehmende globale Wettbewerb auch dazu führen, dass Unternehmen abwandern und Standorte geschlossen werden. Diese Gefahr wird bislang in den neuen Ländern noch viel zu selten gesehen.

Ostdeutschland benötigt Hilfe der Bundespolitik

Im Ganzen ist die Situation damit nur wenig besser als zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts. „Die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland steht auf der Kippe“ lautete 2001 das Urteil von Wolfgang Thierse, vor „Mutlosigkeit und Resignation“ warnten die großen Wirtschaftsforschungsinstitute (DIW, IAB, IfW, IWH und ZEW) in ihrem 2002 erschienen ersten „Fortschrittsbericht über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland“, und eine Beratergruppe um Klaus von Dohnanyi konstatierte im Jahr 2004 eine „zutiefst beunruhigende Lage“ und forderte eine „Kurskorrektur beim Aufbau Ost“. Helmut Schmidt prognostizierte im Jahr 2005 sogar einen „Mezzogiorno ohne Mafia“. Heute, bei nur geringfügig besseren makroökonomischen Grunddaten, hört man dergleichen kaum mehr; das öffentliche Interesse am Aufbau Ost ist so gut wie erloschen, und politische Debatten, so es sie überhaupt noch gibt, kreisen eher um verteilungspolitische Fragen (wie der Angleichung der Ost-Renten) als um die Frage, ob und wie der fortbestehende Entwicklungsrückstand Ostdeutschlands aufgeholt werden kann.

Alles in allem lässt sich konstatieren, dass die wirtschaftliche Schwäche des Ostens inzwischen primär als ein regionalökonomisches Problem angesehen wird, das sich nur unerheblich von den Schwierigkeiten strukturschwacher Regionen in Westdeutschland unterscheidet. Akzeptiert man diese Sichtweise, so ist es naheliegend, dass auch eine besondere Behandlung Ostdeutschlands nicht mehr als notwendig angesehen wird (sieht man einmal von den derzeit noch geltenden Sonderkonditionen für die neuen Länder in der Wirtschaftsförderung und im Solidarpakt II ab). Damit macht man es sich aber zu einfach: Auch wenn die Entwicklungsprobleme des Ostens heute kaum noch auf teilungs- oder auch einheitsbedingte Ursachen zurückgeführt werden können (und es insoweit auch müßig ist, etwaige Fehler des Vereinigungsprozesses zu beklagen), ist es ein entscheidender Unterschied, ob sich regionalökonomische Probleme auf einem zusammenhängenden Fünftel der Fläche der Bundesrepublik konzentrieren oder ob es sich bei diesen rückständigen Regionen um vereinzelte Einsprengsel in einem ansonsten hoch entwickelten Gebiet handelt. Im zweiten Fall lassen sich regionale Disparitäten durch Pendelverflechtungen, Liefer- und Leistungsbeziehungen zwischen benachbarten Regionen und notfalls auch über den kommunalen Finanzausgleich abmildern; im Falle Ostdeutschlands ist dies aber kaum möglich, da alle hierfür in Frage kommenden Bundesländer insgesamt gleich schwach sind. Die genannten (landesinternen) Ausgleichsmechanismen können daher kaum zur Geltung kommen. Schon allein deshalb sollte sich auch die Bundespolitik weiterhin in Ostdeutschland engagieren.

Erforderlich scheint dies auch, weil die primär sozialstaatlich begründete Flankierung des niedrigen Einkommensniveaus in Ostdeutschland die notwendige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gefährdet. Angesichts hoher Leistungsansprüche (insbesondere in der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung) einerseits und geringer Steuer- und Beitragseinnahmen andererseits kommt es – dauerhaft – zu hohen Nettozahlungsströmen von West- nach Ostdeutschland, die sich alles in allem auf rund 75 Mrd. Euro oder rund 3½% des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts jährlich belaufen. Auch wenn es sich dabei nicht um „Sonderleistungen“ für die neuen Länder handelt, sondern dies lediglich die zwangsläufige Folge der solidarisch organisierten gesamtdeutsch geltenden Ausgleichssysteme ist, liegt es auch im Interesse des Bundes (und des Westens), in Ostdeutschland eine „selbsttragende“ Entwicklung anzustoßen.

Welche Impulse helfen?

Freilich: Inzwischen fehlt es weithin an überzeugenden Ideen, was man noch tun kann, um dem Aufbau Ost neue Impulse zu verleihen. Die Möglichkeiten staatlichen Handelns scheinen in den ostdeutschen Ländern weitgehend ausgereizt; es gibt kaum eine Möglichkeit staatlicher Wirtschaftsförderung, die in den vergangenen 20 Jahren nicht in der einen oder anderen Art angewandt wurde: Die Modernisierung und Erweiterung der (wirtschaftsnahen) Infrastruktur wurde stark vorangetrieben, so dass insbesondere die Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern inzwischen gut ausgebaut ist und nur noch vereinzelte Engpässe bestehen (z.B. beim Ausbau der grenzüberschreitenden Verkehrsverbindungen nach Polen und Tschechien); mit Hilfe von direkten Investitionszuschüssen, steuerlichen Erleichterungen und zinsvergünstigten Krediten wurde der Auf- und Ausbau der Produktionsanlagen forciert; zur Erhöhung der technologischen Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Länder wurde nicht nur die Forschungsinfrastruktur massiv ausgebaut, sondern auch ein breit aufgefächertes Spektrum direkter Unternehmenshilfen aufgespannt. Dass mit nochmals neuartigen Programmen oder noch günstigeren Förderkonditionen viel erreicht werden könnte, ist angesichts der auch heute noch überdurchschnittlichen Subventionsintensität somit kaum zu erwarten.

Hinzu kommt: Auch wenn die hohe Intensität staatlicher Eingriffe in den neuen Ländern zu Beginn des Transformationsprozesses gerechtfertigt schien, sind dessen negative Begleiterscheinungen nicht zu übersehen: die Entstehung von primär förderinduzierten Strukturen (z.B. im Bereich der Weiterbildung oder des Regionalmanagements), eine in weiten Teilen der Wirtschaft und der Bevölkerung bestehende Anspruchshaltung gegenüber staatlichen Hilfen und spiegelbildlich dazu ein teilweise unzureichendes Ausmaß an Eigeninitiative bei Empfängern staatlicher Leistungen. „Subventionsmentalität“ dieser Art gibt es zudem auch in Politik und öffentlicher Verwaltung, so wenn staatliches Handeln mit der Vergabe von Fördergeldern gleichgesetzt und mit dem Verweis auf die noch unerreichte „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ die fortgesetzte Solidarität des Westens eingefordert wird. Ob die Mittel dann tatsächlich viel bewirken oder effizient eingesetzt werden, wird höchst selten überhaupt gefragt.

Dementsprechend kann es sicherlich nicht darum gehen, mehr Geld für den Aufbau Ost zur Verfügung zu stellen, zumal auch die finanzpolitischen Spielräume dies kaum zulassen. Vielmehr muss es darum gehen, noch bestehende Engpässe gezielt auszubauen: Wichtig erscheint es, die Innovationskraft ostdeutscher Unternehmen zu erhöhen (was für eine breit angelegte regionale Innovationsförderung anstelle einer Unterstützung einzelner technologierelevanter Projekte spricht) und die demographisch bedingt erodierende Humankapitalbasis (beispielsweise durch qualitative Verbesserungen im Bildungssystem) zu sichern. Hierfür sollten – neben Effizienzverbesserungen im bestehenden System – auch ausreichende finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Ein weiterer Infrastrukturausbau hat hingegen vermutlich nur noch geringe Effekte; hier kann es am ehesten wohl darum gehen, vorhandene Infrastrukturen besser auf den demographischen Wandel hin anzupassen. Auch Investitionsbeihilfen zur weiteren Modernisierung des unternehmerischen Kapitalstocks scheinen nicht mehr prioritär, zumal Evaluationsuntersuchungen darauf hindeuten, dass diese oftmals eher zur Erhöhung der Kapitalintensität als zur Schaffung zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten genutzt werden; Investitionsförderprogramme sollten vielmehr primär als Mittel zur Attrahierung zusätzlicher Investoren genutzt werden.

Aufgrund der zunehmenden regionalen Ausdifferenzierung in den neuen Ländern ist es vermutlich auch sinnvoll, die Ebene regionaler Akteure zu stärken, so z.B. indem diese zur Erarbeitung regionaler Entwicklungskonzepte aufgefordert werden, deren Umsetzung dann durch übergeordnete föderale Ebenen im Rahmen eines „Regionalbudgets“ finanziell unterstützt wird. Die vorhandenen Ansätze (z.B. im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sowie diverser EU-Förderprogramme) könnten weiter ausgebaut und nach dem Muster der (inzwischen eingestellten) INNOREGIO-Initiative des Bundes gestaltet werden. Und schließlich bleibt das Thema verstärkter Deregulierung, das in den vergangenen 20 Jahren zwar immer wieder als ein Mittel zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung in den ostdeutschen Ländern (oder allgemeiner: in strukturschwachen Regionen Deutschlands) gefordert, aber von der Politik nur zögerlich umgesetzt wurde. Auch wenn die Effekte sicherlich nicht überzubewerten sind – nicht zuletzt deshalb, weil länder- oder regionsspezifische Regelungen in den besonders bedeutsamen Bereichen wie Umwelt- oder Arbeitsrecht ohnehin kaum durchsetzbar scheinen – könnten durch temporäre Abweichungsrechte bei Normen und Standards im Baurecht, im Verkehrswegerecht oder auch bei Planungs- und Genehmigungsverfahren wohl doch noch positive Effekte erzielt werden.

Eine bislang kaum noch diskutierte Chance für die neuen Länder könnte schließlich die Einführung vollständiger Arbeitnehmerfreizügigkeit im europäischen Binnenmarkt ab 2011 darstellen. Wenn es gelingt, Zuwanderer aus den mittel- und osteuropäischen Ländern (und später vielleicht auch aus außereuropäischen Drittländern) zu akquirieren, könnte dies nicht nur drohende Fachkräftelücken schließen helfen, sondern auch produktivitätssteigernde Wirkungen entfalten. Die Erfahrung lehrt, dass unternehmerische Inititative und Innovationskraft in mobilen Bevölkerungsgruppen zumeist überdurchschnittlich stark ausgeprägt sind; zudem können Zuwanderer über fortbestehende Kontakte in ihre Heimatländer auch dem Außenhandel Impulse geben.

Trotz alledem: Es ist nicht zu erwarten, dass in ganz Ostdeutschland bis zum Jahr 2020 mit Westdeutschland vergleichbare Lebens- und Arbeitsbedingungen erreicht werden – schon deswegen nicht, weil auch in Westdeutschland zwischen einzelnen Bundesländern durchaus starke regionale Unterschiede im Einkommen, in der wirtschaftlichen Leistungskraft und den Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Die Politik (auf Bundes- und Landesebene) scheint dies auch erkannt zu haben, indem inzwischen nur noch die Annäherung an das Niveau vergleichbarer (strukturschwacher) Regionen in Westdeutschland als Zielsetzung benannt wird. Doch auch dieses Ziel ist noch ambitioniert genug und bedarf starker politischer Unterstützung. Ansonsten wird man im Jahr 2020 keine durchgreifend bessere Bilanz ziehen können als heute.

Erfolgreiche Konsolidierung in der Vergangenheit – Finanzpolitische Herausforderungen in der Zukunft

Die ostdeutschen Länder blicken auf einen langen und erfolgreichen Aufbau- und Aufholprozess zurück. Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Berlin sind mit Hilfe der Solidargemeinschaft aus Bund und Ländern die wirtschaftliche sowie die haushalts- und finanzpolitische Annäherung an westdeutsche Verhältnisse gelungen, vollendet wurde sie bisher aber noch nicht. Beachtliche Erfolge konnten auf dem Weg zu ausgeglichenen Haushalten erzielt werden. Die heutige Haushaltslage der sechs Länder ist jedoch keineswegs einheitlich. Während einzelne Länder schon gezielt mit der Tilgung von Schulden begonnen haben, müssen andere noch deutliche Anstrengungen zum Defizitabbau unternehmen. Alle Länder gemeinsam stehen jedoch in den nächsten Jahren vor erheblichen Herausforderungen: die Bewältigung der Folgen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, der Rückgang der Einnahmen durch das Auslaufen der Mittel im Rahmen des Solidarpakts bis zum Jahr 2019, die Alterung sowie der Rückgang der Bevölkerung und die Einführung der so genannten Schuldenbremse in den Länderhaushalten im Jahr 2020.

Erfolge des Solidarpakts II

Das Ziel des Solidarpakts II ist es, den Aufbau Ost auf eine langfristige und verlässliche Grundlage zu stellen, damit gleichwertige wirtschaftliche und soziale Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland entstehen können und die innere Einheit Deutschlands vollendet werden kann. Der Solidarpakt II ergänzt die Zuweisungen, die die ostdeutschen Länder im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs von der Solidargemeinschaft des Bundes und der Länder erhalten. In Fortführung des Solidarpakts I erhalten die ostdeutschen Länder im Zeitraum 2005 bis 2019 im Solidarpakt II Sonderleistungen des Bundes, die in zwei Körben zusammengefasst sind:

  • Insgesamt rund 105 Mrd. Euro werden als Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen (Sonderbedarfs-BEZ) zur „Deckung von teilungsbedingten Sonderlasten aus dem bestehenden starken infrastrukturellen Nachholbedarf und zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft“ gewährt. Beginnend mit rund 10,5 Mrd. Euro im Jahr 2005 werden diese Mittel degressiv abgeschmolzen und laufen mit einer letzten Rate von rund 2,1 Mrd. Euro im Jahr 2019 aus. Die Sonderbedarfs-BEZ wurden für alle Länder bereits 2001 sowohl in ihrer Höhe als auch in ihrer zeitlichen Entwicklung gesetzlich festgelegt.
  • Zusätzlich hat sich der Bund verpflichtet, über die Laufzeit des Solidarpakts II überproportionale Leistungen aus dem Bundeshaushalt in einer Zielgröße von rund 51 Mrd. Euro in den ostdeutschen Ländern einzusetzen.

Der Solidarpakt II ist so ausgestaltet, dass die Mittel für die ostdeutschen Länder ausreichen, um den teilungsbedingten Nachholbedarf bis zum Jahr 2020 abzubauen. Die Sonderbedarfs-BEZ tragen 2009 durchschnittlich 14% zu den bereinigten Einnahmen in den Flächenländern einschließlich Kommunen bei, in Berlin beträgt der Anteil rund 9%.

Die Gewährung der Sonderbedarfs-BEZ hat den wirtschaftlichen Aufholprozess der vergangenen zwei Jahrzehnte wesentlich unterstützt. In 20 Jahren Aufbau Ost wurden erhebliche Fortschritte erzielt. Das BIP je Einwohner erhöhte sich zwischen 2000 und 2009 in den ostdeutschen Ländern real um 11,9% (ohne Berlin +15,5%), dagegen in den alten Ländern nur um 3,6%. Die Entgelte je Arbeitnehmer sind seit 1991 von rund 57% des westdeutschen Niveaus auf 83% gestiegen. Die Arbeitslosenquote ist in Ostdeutschland von 18,7% im Jahr 2005 auf 13,0% im vergangenen Jahr deutlich gesunken. Die Wertschöpfung im ostdeutschen Verarbeitenden Gewerbe ist seit dem Jahr 2000 bis zum Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise fast doppelt so kräftig gewachsen wie in der westdeutschen Industrie.

In fast allen neuen Ländern haben sich mittlerweile regionale Entwicklungskerne mit einer überdurchschnittlichen Entwicklungsdynamik gebildet. Dabei besteht ein großes Gefälle zwischen den Regionen. Auf der einen Seite haben sich regionale Wachstumskerne mit einer überdurchschnittlichen Entwicklungsdynamik gebildet, z.B. die mikroelektronische Industrie in Sachsen („Saxonian valley“), die chemische Industrie in Sachsen-Anhalt, die Medizin- und die Biotechnologie in Berlin und Greifswald. Dresden, Potsdam und Jena zählen zu den Regionen mit sehr großen Zukunftschancen vergleichbar mit denen westdeutscher Städte wie z.B. Düsseldorf. Kaum wirtschaftliche Dynamik ist hingegen in ländlichen strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands zu verzeichnen.

Trotz des wirtschaftlichen Aufholprozesses in den vergangenen Jahrzehnten besteht aber noch ein erheblicher Nachholbedarf, um ein selbst tragendes Wachstum und mehr Beschäftigung als Voraussetzung für einen weiterhin erfolgreichen Aufholprozess zu gewährleisten. Die Wirtschaftsstruktur und die Wirtschaftskraft in den neuen und den alten Ländern weichen noch deutlich voneinander ab. Das BIP pro Einwohner betrug 2009 in den neuen Ländern 73% des westdeutschen Vergleichswertes. Die Arbeitslosenquote ist immer noch fast doppelt so hoch wie in den alten Ländern. Trotz kräftigen Anstiegs in den letzten Jahren wies die Produktivität (BIP je Erwerbstätigen) in den neuen Ländern 2009 mit ca. 81% des Westniveaus immer noch eine deutliche Lücke auf.

Konvergenz der öffentlichen Haushalte

Die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung von Ost und West in Deutschland führt zu entsprechenden Unterschieden in der Steuerkraft der Länder. Dies hat auf die finanzielle Ausstattung der Länderhaushalte allerdings nur einen geringen Einfluss, da Unterschiede bei den originären Steuereinnahmen durch den bundesstaatlichen Finanzausgleich weitgehend angenähert werden.

Nach Überwindung der wirtschaftlichen Krise zu Beginn des letzten Jahrzehnts haben die ostdeutschen Länder ihren finanzpolitischen Konsolidierungskurs konsequent wieder aufgenommen. Ausgabenzuwächse wurden eng begrenzt und Einnahmensteigerungen genutzt, um die Haushalte zu konsolidieren. Die Haushaltssituation von Ländern einschließlich Kommunen insgesamt hat sich seit 2002 kontinuierlich verbessert, die Finanzierungsdefizite konnten stetig abgebaut und ab 2006 Finanzierungsüberschüsse erreicht werden. In den Jahren 2007 und 2008 konnten alle ostdeutschen Länder (einschließlich Gemeinden) Haushaltsüberschüsse erzielen. Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern haben durch einen Abbau der Verschuldung Haushaltsspielräume für die Zukunft – im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung – geschaffen. Die ostdeutschen Flächenländer waren im Vergleich zu den finanzschwachen westdeutschen Flächenländern (Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Saarland) erfolgreicher bei der Haushaltskonsolidierung. Noch im Jahr 2000 überstieg das Defizit je Einwohner aller ostdeutschen Flächenländer das der westdeutschen Vergleichsländer um mehr als 60 Euro je Einwohner. Neun Jahre später fällt das Defizit der Referenzländer um rund 500 Euro je Einwohner höher aus (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
Länder und Kommunen: Finanzierungsdefizit
Euro je Einwohner
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Unter dem Einfluss der Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich die Überschüsse in den ostdeutschen Länderhaushalten (hier ohne Kommunen) jedoch wieder deutlich reduziert. Für 2010 erwarten alle ostdeutschen Länder erstmals seit fünf Jahren Finanzierungsdefizite.

Der Schuldenstand je Einwohner der ostdeutschen Flächenländer lag 2000 mit 5069 Euro je Einwohner gut 600 Euro je Einwohner unter dem der westdeutschen Vergleichsländer mit 5675 Euro je Einwohner. Ab 2006 konnten die ostdeutschen Flächenländer ihren Schuldenstand pro Kopf verringern, während er bei den finanzschwachen Westländern weiter anstieg. 2009 betrug der Abstand mehr als 2070 Euro je Einwohner (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2
Länder und Kommunen: Schulden am Kreditmarkt

Euro je Einwohner

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Die Einnahmesituation der ostdeutschen Flächenländer in den Jahren 2002 bis 2008 war im Vergleich zu den finanzschwachen westdeutschen Flächenländern gut. Die bereinigten Einnahmen der neuen Länder erreichten 2008 einen Höchstwert von 5103 Euro je Einwohner und überstiegen die der Vergleichsländer (4173 Euro je Einwohner) um 22%. Im vergangenen Jahr sanken die bereinigten Einnahmen der neuen Länder – vor allem bedingt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise – auf 4909 Euro je Einwohner; der relative Abstand zu den finanzschwachen westdeutschen Flächenländern hat sich jedoch kaum verändert.1

Noch verfügen die ostdeutschen Länder nicht über eine den westdeutschen Ländern vergleichbare Einnahmenstruktur und -basis. Während die finanzschwachen westdeutschen Flächenländer 71% der bereinigten Einnahmen durch Steuern und steuerähnliche Abgaben erzielen, kommen die ostdeutschen Flächenländer auf lediglich 52%, Berlin nur auf 49%. Von wesentlich größerer Bedeutung als in den Vergleichsländern sind die Transferleistungen durch Finanzausgleichszahlungen und allgemeine Bundesergänzungszuweisungen. Diese machen 7% der bereinigten Einnahmen in den Haushalten der ostdeutschen Flächenländer und 19% in Berlin aus gegenüber wenig mehr als 2% in den finanzschwachen Westländern.

Deutliche Erfolge bei der ausgabenseitigen Konsolidierung

Seit 1996, dem Jahr mit dem höchsten Ausgabenniveau, verfolgen die ostdeutschen Länder ausgabenseitig einen kontinuierlichen Konsolidierungskurs, der zu einer erheblichen Verbesserung der finanziellen Situation ihrer öffentlichen Haushalte beigetragen hat. Die Ausgaben der ostdeutschen Flächenländer entwickelten sich seit 2000 im Vergleich zu den finanzschwachen westdeutschen Flächenländern unterdurchschnittlich. Die Ausgaben in den Jahren von 2000 bis 2009 stagnierten annähernd, während die Vergleichsländer einen Anstieg der Ausgaben um 17,7% verzeichnen. Die unterdurchschnittliche Entwicklung der Ausgaben ist vor allem vor dem Hintergrund des Bevölkerungsrückgangs zu bewerten. Je Einwohner stiegen die bereinigten Ausgaben der neuen Länder in diesem Zeitraum um 6,3%. Aber auch dieser Anstieg ist deutlich unterproportional, denn die Westländer verzeichneten im gleichen Zeitraum einen Anstieg um 17,1%. Im Jahr 2000 lagen die bereinigten Ausgaben je Einwohner der ostdeutschen Flächenländer um 21% höher als in den finanzschwachen westdeutschen Flächenländern, dieser Überhang wurde bis 2009 auf 10% reduziert (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3
Länder und Kommunen: Ausgaben1
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1 Ausgaben der ostdeutschen Flächenländer in % der finanzschwachen westdeutschen Flächenländer.

Die laufenden Ausgaben in den ostdeutschen Flächenländern lagen im Jahr 2000 um 4% über denen der Vergleichsländer, 2009 betrug dieser Überhang nur noch 1,7%. Beachtliche Erfolge konnten bei der für die Länder- und Kommunalhaushalte wichtigsten Ausgabenposition, den Personalausgaben, erzielt werden. Die Personalausgaben wurden von 2000 bis 2009 in den ostdeutschen Flächenländern um 9,2% (3,5% je Einwohner) gesenkt, während die finanzschwachen westdeutschen Flächenländer einen Zuwachs von 8,8% (8,2% je Einwohner) verzeichneten. Damit konnte das Niveau der Personalausgaben je Einwohner der neuen Länder im Verhältnis zu den Vergleichsländern von 97% auf 86% vermindert werden.

Die Ausgabenstruktur in den ostdeutschen Länder- und Kommunalhaushalten ist allerdings noch immer von den Notwendigkeiten des Aufbauprozesses geprägt. Zur Kompensation des Wegfalls der Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen sind daher weitere deutliche Einschnitte bei den laufenden Ausgaben unverzichtbar.

Die Föderalismusreform II und ihre Folgen

Mit der Föderalismusreform II wurden die verfassungsrechtlichen Regelungen zur Begrenzung der Kreditaufnahme für die Haushalte der Länder grundlegend reformiert. Nach Artikel 109 Absatz 3 GG sind die Haushalte der Länder grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Die mit konjunkturellen Schwankungen gewissermaßen automatisch einhergehenden Effekte auf die öffentlichen Haushalte können symmetrisch – also im Auf- und Abschwung gleichartig – berücksichtigt werden. Die Regelungen werden für die Länderhaushalte gemäß Artikel 143d Absatz 1 GG ab 2020 – also mit dem Ende des Solidarpaktes II – wirksam.

Mit der Einführung der Schuldenbremse steht nunmehr eine Phase der haushaltspolitischen Konvergenz im Hinblick auf das Verbot einer strukturellen Neuverschuldung ab 2020 bevor. Dabei bestehen nach der Finanz- und Wirtschaftskrise in vielen Ländern erhebliche Konsolidierungserfordernisse. Zwar starten die ostdeutschen Länder gemessen am Finanzierungsdefizit je Einwohner mit deutlichen besseren Voraussetzungen als die finanzschwachen westdeutschen Länder. Die Haushaltsplanungen der finanzschwachen westdeutschen Flächenländer sehen in der Summe ein Defizit von 525 Euro je Einwohner vor, das damit die Planungen der ostdeutschen Flächenländer in Höhe von 248 Euro je Einwohner um mehr als das Doppelte übertrifft. Zusätzlich müssen aber die ostdeutschen Länder die schrittweise Rückführung der Sonderbedarfs-BEZ von 8,7 Mrd. Euro im Jahr 2010 auf null im Jahr 2020 kompensieren. Durch die demografische Entwicklung gerät die Einnahmeseite der ostdeutschen Länder zusätzlich unter Druck. Der Rückgang der Bevölkerung ist unweigerlich mit einer abnehmenden finanziellen Ausstattung der Haushalte der Länder und Kommunen verbunden. Die parallel durch den Bevölkerungsrückgang entstehenden finanziellen Spielräume auf der Ausgabenseite müssen also zwingend genutzt werden, da Einnahmeverbesserungen an anderer Stelle für die neuen Länder wenig realistisch erscheinen.

Der Konsolidierungsbedarf lässt sich vereinfachend anschaulich machen. Um die Schuldenbremse im Jahr 2020 einhalten zu können, müssen – ausgehend von den Planungen für 2010 – die Haushalte der neuen Länder und Berlin in einem Umfang von fast 20% der Gesamtausgaben Einsparungen vornehmen bzw. Einnahmeverbesserungen erzielen. Zwar ist das Finanzierungsdefizit im Jahr 2010 zu einem nicht unwesentlichen Teil auf konjunkturelle Einflüsse zurückzuführen und wird sich mit der gesamtwirtschaftlichen Belebung automatisch zurückbilden. Gleichwohl erfordert der verbleibende Konsolidierungsbedarf erhebliche Anstrengungen. Dabei haben Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die in der Vergangenheit eine konsequente strukturelle Konsolidierungspolitik verfolgt haben, noch einen relativ geringen Anpassungsbedarf (vgl. Tabelle).

Konsolidierungsbedarf: Sonderbedarfs-BEZ und Finanzierungsdefizit

  Bremen Mecklen­burg-Vor­pommern Schleswig-Holstein Sachsen-Anhalt Thüringen Berlin Ost­deutsche Flächen­länder Ins­gesamt
Landeshaushalt ohne Kommunen 2010 in Mio. Euro
Sonder­bedarfs-BEZ 1253 921 2280 1376 1251 1663 7080 8743
Finanzierungs­defizit 762 274 364 716 1103 2824 3219 6043
Langfristiger Konsolidierungs­bedarf bis zum Jahr 2020 in % der Gesamt­ausgaben
  19,9 16,9 16,1 21,3 23,9 20,4 19,4 19,7

Im Rahmen der Föderalismusreform II wurde beschlossen, den hoch verschuldeten Ländern durch finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern die Einhaltung der grundgesetzlichen Schuldenregel ab 2020 zu ermöglichen. Artikel 143d Absatz 2 GG sieht vor, dass fünf Ländern für den Zeitraum von 2011 bis 2019 Konsolidierungshilfen gewährt werden. Diese Hilfen bieten drei finanzschwachen westdeutschen Ländern – Bremen, Saarland und Schleswig-Holstein – und zwei ostdeutschen Ländern – Berlin und Sachsen-Anhalt – einen verlässlichen finanzpolitischen Rahmen für die Gestaltung des Konsolidierungspfads. Berlin und Sachsen-Anhalt können jährlich jeweils 80 Mio. Euro beanspruchen. Voraussetzung für den Erhalt der Hilfen ist, dass die Empfängerländer sich zur Haushaltkonsolidierung verpflichten.

Zur Stärkung der Grundlagen für die Stabilität der öffentlichen Haushalte in Deutschland ist im Rahmen der Föderalismusreform II zudem die Errichtung eines Stabilitätsrates beschlossen worden. Die zentrale Aufgabe des Stabilitätsrates ist die laufende Überwachung der Haushalte des Bundes und der Länder, um so drohende Haushaltsnotlagen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig geeignete Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Die Haushalte der Gebietskörperschaften werden dabei anhand von vier Kennziffern – struktureller Finanzierungssaldo, Kreditfinanzierungsquote, Zins-Steuer-Quote und Schuldenstand – gemessen. Wenn die Mehrzahl der Kennziffern auffällige Werte annimmt, kann der Stabilitätsrat eingreifen. Ergibt eine Prüfung, dass der Gebietskörperschaft eine Haushaltsnotlage droht, kann ein Sanierungsprogramm vereinbart werden. In der nächsten Sitzung des Stabilitätsrates im Oktober 2010 werden der Bund und die Länder erstmals Berichte vorlegen, in denen u.a. diese Kennziffern dargestellt werden.

Der Stabilitätsrat überprüft zudem jährlich die Einhaltung der Konsolidierungsverpflichtungen derjenigen Länder, die Konsolidierungshilfen erhalten. Kommen die Länder ihren Konsolidierungsverpflichtungen nicht nach, entfällt der Anspruch des betroffenen Landes auf Hilfeleistung. Damit verfügt der Stabilitätsrat über ein zielgerichtetes Instrument zur Durchsetzung von Haushaltsdisziplin. Für die Funktionsfähigkeit des Stabilitätsrates ist von zentraler Bedeutung, dass seine Beschlüsse nicht einvernehmlich, sondern mehrheitlich mit den Stimmen des Bundes und von zwei Dritteln der Länder gefasst werden. Ein betroffenes Land ist dabei nicht stimmberechtigt. Der Stabilitätsrat kann bei der Durchsetzung notwendiger Konsolidierungsmaßnahmen eine wichtige Unterstützung leisten. Auch die innerstaatliche Umsetzung der Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird durch den Stabilitätsrat überwacht.

Ziel der Föderalismusreform II ist es, im Einklang mit dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt die institutionellen Voraussetzungen für die Sicherung der langfristigen Tragfähigkeit der Haushalte von Bund und Ländern zu verbessern. Nun gilt es, diese Voraussetzungen zu nutzen, um mit dem Fortgang des wirtschaftlichen Aufholprozesses auch Konvergenz im Hinblick auf die neue Schuldenregel zu erreichen. Die Grundlagen haben die ostdeutschen Länder in der Vergangenheit durch konsequente Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gelegt. Die Umsetzung der Föderalismusreform II ist die entscheidende Voraussetzung für eine tragfähige Haushaltsentwicklung aller Bundesländer nach Auslaufen des Solidarpakts II.

  • 1 Aufgrund der schwierigen Vergleichbarkeit Berlins mit anderen Gebietskörperschaften wird auf die Darstellung der Haushaltsentwicklung verzichtet. Der Haushalt Berlins entwickelte sich ähnlich dem der ostdeutschen Flächenländer.

„Nach 20 Jahren“

Der Mensch ist vergesslich, das Kollektiv auch und deshalb werden Jahrestage gefeiert. Mit den Feiern zur Wiedervereinigung ist das nicht anders. Neues zu den Ereignissen und ihren Folgen ist schon seit langem nicht mehr zu hören, gewiss nicht mehr nach zwanzig Jahren. Die Kämpfe von damals werden nachgestellt und die Kummersteine frisch aufgearbeitet, das Pastorale der Beschwörung der alten „Fehler“ ist längst aufgezehrt. Für die Zukunft und das Handeln gibt der Blick zurück immer weniger Wegweisung außer der, dass die Weltgeschichte eine Sammlung von Irrtümern ist.

Der 1. Juli 1990, das Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, steht verständlicherweise im Schatten des 9. Novembers 1989 und des 3. Oktober 1990. Ökonomische Ereignisse sind als Gedenktage nun einmal zu profan – wer will sich daran erinnern, dass die D-Mark-Einführung knapp ein Jahr vor der Gründung der Bundesrepublik erfolgte? Das Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion war ein sehr mundanes Ereignis, auch wenn bei Lichte besehen, „die D-Mark“ ein zentrales Ziel der Wiedervereinigung war und die übrigen Vereinbarungen praktisch die ökonomischen und finanziellen Dimensionen des Einigungsvertrages vorwegnahmen. Insofern ist der 2. Juli 1990 dann aber eben doch nicht nur ein ökonomisches Ereignis, sondern markiert den Zeitpunkt, an dem die „Wende“ endete und die „Vereinigung“ begann.

Fehler bei der wirtschaftlichen Einheit

Um den „Aufbau Ost“ steht es für viele noch immer nicht gut, die Angleichung von Einkommen und Beschäftigung kommt nicht im erwarteten Tempo voran, die fiskalischen Kosten bleiben hoch, ebenso die sozialen. Das entgeht auch der Bundesregierung nicht, wenngleich sie in ihren Berichten zur Deutschen Einheit zu Recht auf viele kleine Fortschritte verweisen kann.

An Erklärungen besteht kein Mangel,1 sie reichen von sehr allgemeinen Argumenten – die „Erwartungen waren zu hoch“, die voraussehbaren Schwierigkeiten wurden „naiv unterschätzt“, wie auch der „Glaube an die Marktwirtschaft“ naiv war – über die Verweise auf politische Fehlentscheidungen – den „falschen“ Umtauschkursen der DDR-Mark in D-Mark, die Hochzinspolitik der Bundesbank zu Beginn der 1990er Jahre, die „falsche“ Lohnpolitik, den Verzicht auf einen generellen Finanzausgleich im Einigungsvertrag, die Etablierung der Treuhandanstalt in Berlin, die Vermögensregelung im Einigungsvertrag und das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“, die unmittelbare Übertragung des Ordnungsrahmens der Bundesrepublik auf Ostdeutschland, die falsche Behandlung der Unternehmens- und der Bankschulden, die „falsche Finanzierung“ der Kosten der Einheit oder die „falsche Verwendung“ der Transfers; schließlich technischen Argumenten, wie den Verweis auf die mangelhaften Kenntnisse vom Zustand der DDR-Wirtschaft oder das Fehlen einer „Transformationstheorie“. Immerhin, die in den ersten Jahren häufig beklagte „völlig veraltete Telekommunikationstechnik“ ist ebenso aus der Mängelliste verschwunden wie die „ungeschulte Bürokratie“ und die fehlenden Grundbücher.

Blickt man heute auf diese Fehlerlisten zurück, so ist nur ein Teil davon als „einigungsspezifisch“ anzusehen. Die Politik folgt selten den Vorstellungen des wirtschaftspolitischen Seminars, und, ebenso wichtig, allzu viele Rezepte wurden von den Ökonomen (oder der Politik) auch nicht angeboten. Einige der „Fehler“ wurden zwischenzeitlich korrigiert oder spielen heute keine Rolle mehr. Ohnehin relativieren die inzwischen vergangenen 20 Jahre ihre Bedeutung für die heutige Situation. Der Verweis auf räumliche und zeitliche Fernwirkungen erfreut sich zwar in der modernen Risikogesellschaft großer Beliebtheit. Wenn aber die Finanzkrise nach 2008 als Folge der Auflösung von Bretton Woods oder der Abkehr vom Goldstandard angesehen wird, erlaubt dies nicht auch, den Zusammenbruch der DDR mit als Spätfolge des 2. oder gar 1. Weltkrieges zu sehen? Vor allem bei den „politischen“ Erklärungen muss mit den Maßstäben der Stunde gemessen werden und den, aus vielen Gründen, gewaltigen Handlungsdruck wie auch die drohende massive Abwanderung in Rechnung stellen. Gleichwohl: all diese „Fehler“ beiseite gelassen – wäre die Situation ohne diese „Fehler“ oder „Versäumnisse“ heute wirklich sehr viel anders? Geben z.B. die Ergebnisse der westdeutschen Regionalpolitik – die zum Teil sehr erfolgreiche Politik einzelner Bundesländern beiseite gelassen – oder die über 40 Jahre wenig veränderte Wachstumshierarchie der westdeutschen Bundesländer berechtigten Anlass zu der Erwartung, dass ohne diese Fehler mehr erreicht worden wäre?2 Oder steht hinter den Fehlerlisten letztendlich nicht noch immer der „naive“ Glaube, dass es angesichts eines gleichen Ordnungsrahmens, günstiger Faktorkosten und Wettbewerbsbedingungen „eigentlich“ in Ostdeutschland doch binnen kurzem zu einer Angleichung von Wachstum und Beschäftigung an Westdeutschland – Bayern, Rheinlandpfalz, Saarland? – hätte kommen müssen?

Zurück zum 1. Juli 1990. Deutschland feierte „Christmas in July“: Ostdeutschland hatte die Erwartung, dank der Einführung der D-Mark, der Zugkraft des wirtschaftlich starken Westdeutschlands, seines offensichtlich Erfolg versprechenden Ordnungsrahmens und seiner finanziellen Möglichkeiten rasch zu Westdeutschland aufzuschließen. Aus den nämlichen Gründen hoffte Westdeutschland mit letztlich moderatem und temporärem fiskalischen Aufwand3 die Lasten dieser Vereinigung bewältigen zu können. Dass es auf beiden Seiten an Skeptikern, Kritikern und Mahnern nicht fehlte und diese zum Teil auch Recht behielten, gehört dabei ebenso ins Bild wie die Tatsache, dass bessere Alternativen, gar eine „autre monde“, damals wie heute schwer vorstellbar waren bzw. sind.

Differenzierte Strukturen – gemeinsamer Trend

Mehr Nutzen als wehmütige, rechthaberische oder zornige Blicke zurück verspricht der Blick auf die Gegenwart und in die absehbare Zukunft. Über die erreichte ökonomische „Anpassung“ Ostdeutschlands wird, nicht nur von der Bundesregierung, regelmäßig und ausführlich berichtet. Erstaunlich wenig Beachtung finden dabei die eigentlichen Schauplätze und Träger des Wachstums- und Angleichungsprozesses: die Branchen und Sektoren. Wie bei einem Übergang von planwirtschaftlichen zu marktwirtschaftlichen Volkswirtschaften zu erwarten, zeigt sich, dass die strukturelle Differenzierung Ostdeutschlands – in Grenzen – weiter zunimmt.4 Die Re-Industrialisierung in den drei südlichen Ländern ist deutlich weiter fortgeschritten als in den beiden nördlichen und sie knüpfen zunehmend wieder an ihre Bedeutung in der Zwischenkriegszeit an. Auf der Ebene der Länder deutet nur wenig auf eine Annäherung der Strukturen hin, zumal auch die absehbaren demografischen Entwicklungen eher für eine Verfestigung der Unterschiede sprechen; noch ausgeprägter ist allerdings die Differenzierung auf der Ebene der Städte und Kreise. Als Folge ersetzte die Politik nicht nur das ursprüngliche Ziel der durchgängigen Angleichung Ostdeutschlands, sondern auch dessen Maßstab durch die „Leuchttürme“ und die „wirtschaftsschwachen westdeutsche Flächenländer“.

Die größte Beachtung verdient allerdings der Befund, dass die ostdeutsche Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre auf der Produktionsseite in erster Linie von der gesamtdeutschen Entwicklung getragen ist. Der Beitrag der die spezifisch ostdeutschen Standortbedingungen der Branchen, die „Standortkomponente“, kommt kaum über ein Drittel der „Konjunkturkomponente“ hinaus, wobei in Ost- und Westdeutschland Elemente einer dualen Entwicklung leider nicht gänzlich von der Hand zu weisen sind.5 Der ostdeutsche Branchen-Mix („Strukturkomponente“) behindert wegen des Redimensionierungsbedarfs von Bausektor und Öffentlichem Sektor vorläufig sogar noch die Angleichung.

Was den Beitrag der „Strukturkomponente“ und damit das Anpassungspotential in mittlerer Sicht angeht, so unterscheiden sich die ostdeutschen Bundesländer übrigens nur wenig voneinander. Dabei implizieren die strukturellen Trends für Ostdeutschland auf absehbare Zeit wenn nicht eine weitere Industrialisierung, so doch eine Verlangsamung der Tendenz zur Dienstleistungsgesellschaft, wie sie nach internationalen Erfahrungen mit Blick auf das Entwicklungsniveau (Pro-Kopf-Einkommen) der deutschen Wirtschaft zu erwarten wäre. Damit dürfte auch eine weiter zunehmende direkte Exportorientierung Ostdeutschlands einhergehen, die mit viel Wettbewerbs- und Innovationsdruck und guten Einkommen, aber auch mit großen Risiken verbunden ist, wie die gegenwärtige Krise illustriert. Jedenfalls spricht einiges dafür zu prüfen, ob die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland weiterhin primär am Verarbeitenden Gewerbe und an der Kapitalintensivierung oder, mit anderen Worten, so vorbehaltlos wie bisher am westdeutschen Muster auszurichten ist.

Kurz: auch wenn in absehbarer Zeit die aktuellen wirtschaftsstrukturellen Hypotheken Ostdeutschlands weggefallen sind, wird das weitere Wachstum vom gesamtdeutschen getragen – vor allem die „Standortkomponente“ ist gegenwärtig zu niedrig, um daran viel zu ändern.

Zusammen wachsen

Was das Wachstum angeht, so hat die große Krise die ostdeutsche Wirtschaft bislang weniger getroffen als die westdeutsche; ob dies angesichts der noch immer schwächeren Kapitalbasis Ostdeutschlands auch im weiteren Verlauf gilt, bleibt anzuwarten. Fest steht dagegen, dass, erstens, Demographie und Abwanderung unmittelbar sein weiteres Wachstum und die Lage der öffentlichen Haushalte beeinträchtigen werden, ohne dass Mittel und Wege erkennbar wären, dem abzuhelfen. Hinzu kommt, zweitens, dass die Solidarpakt II-Förderung von 9,5 Mrd. Euro (2009) sukzessive auf 2,1 Mrd. Euro (2019) abgeschmolzen wird. Dies wird zwar via weiterem Abbau des öffentlichen Sektors zur „Normalisierung“ der Wirtschaftsstruktur beitragen, aber vor allem spürbare realwirtschaftliche und fiskalische Konsequenzen haben, selbst wenn die Transfers nur etwa zur Hälfte in Ostdeutschland produktionswirksam werden.6

Von ausschlaggebender Bedeutung für Ostdeutschland wird indessen Deutschlands allgemeiner Wachstumsrahmen sein. Ermutigend sind die gegenwärtigen Perspektiven allerdings kaum, denn mit einem durchschnittlichen trendmäßigen Wachstum des BIP von 1% in den letzten fünf Jahren fiel es gemessen an früheren Erfahrungen und Erwartungen sehr bescheiden aus. Die „Gemeinschaftsdiagnose“7 erwartet, auch als Folge der großen Krise, dass das Wachstum 2009/2014 trendmäßig weiterhin nur ca. 1% p.a. betragen wird. Dabei sind die Annahmen bezüglich des Arbeitsmarktes – weiterer Rückgang der jährlichen Arbeitszeit um 0,5% p.a. – und bezüglich der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage – 2014 ein Außenbeitrag von 5% – nicht unproblematisch, zumal aus dem Szenario nicht ersichtlich ist, ob darin die angekündigte Konsolidierung der Staatsfinanzen enthalten ist.

Ausblick

Für den ostdeutschen Aufholprozess sind das zwar wenig erfreuliche Aussichten. So groß die Mühen der dürren und weiten Ebene jedoch auch sein werden, kleiner als die der überwundenen Berge sind sie allemal und nur noch die Politik scheint über die Möglichkeiten des skizzierten Wachstumsrahmens Illusionen zu haben. Vorerst haben wir es allerdings noch mit Prognosen zu tun und auch die lange Sicht kennt den situativ bedingten Pessimismus. Vor allem aber lässt sie Zeit für ihre Selbstaufhebung.

Mit dem 1. Juli 1990 haben doch alle diese Schwierigkeiten realistisch gesehen nur noch sehr wenig zu tun. Bereits damals war klar, dass „Zusammenwachsen“ in erster Linie „zusammen wachsen“ bedeutet, und daran hat sich nichts geändert.

  • 1 Vgl. hierzu und dem Folgenden U. Heilemann: Illusionen, Irrtümer oder Fehler? Ein kurzer Blick zurück auf die Deutsche Einigung, in: Wirtschaftsdienst, 87. Jg. (2007), H. 5, S. 279 ff.
  • 2 Siehe dazu U. Heilemann, H. Rappen: „Aufbau Ost“ – Zwischenbilanz und Perspektiven, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 45. Jg. (2000), S. 30 ff.
  • 3 Vgl. zu den Defizitschätzungen und der seinerzeitigen Diskussion der „Kosten der Einheit“ z.B. U. Heilemann, R. Jochimsen: Christmas in July – The political economy of German Unification reconsidered, Brookings Occasional Papers, Washington, D.C. 1993, S. 20 ff.
  • 4 Vgl. hierzu und dem Folgenden U. Heilemann, S. Wappler: Bald so wie überall – Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft 1992 – 2006, in: 20 Jahre Mauerfall, in: ifo Schnelldienst , 62. Jg. (2009), S. 30 ff.
  • 5 Vgl. dazu z.B. U. Ludwig: Aus zwei Volkswirtschaften mach eine. Vortrag im Rahmen der Konferenz „20 Jahre Deutsche Einheit“ am 11./12. März 2010 in Halle sowie U. Heilemann: Ostdeutschland ein „Mezzogiorno-Fall“, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jg. (2005), H. 8, S. 505 ff.
  • 6 Vgl. H. Lehmann, U. Ludwig, J. Ragnitz: Transferleistungen und Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland, IWH, Halle 2005.
  • 7 Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Erholung setzt sich fort – Risiken bleiben groß – Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2010, Essen 2010, S. 59 ff.

Auferstanden aus Ruinen: Ostdeutschland 20 Jahre nach der Wiedervereinigung

Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 setzte der finale Todeskampf der DDR ein, die ihre wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Ressourcen nach fast vierzigjähriger Existenz nahezu aufgebraucht hatte. Als der Schutz der Roten Armee entfiel, brach der Arbeiter-und-Bauern-Staat gleichsam über Nacht zusammen, und die Bevölkerung rettete sich in die Wiedervereinigung.

Schlussbilanz der DDR

Wer die gewaltige Aufbauleistung in den neuen Ländern und die entstandenen hohen Kosten angemessen würdigen will, sollte mit der Betrachtung der Schlussbilanz der DDR beginnen. Der nüchterne Blick auf die Hinterlassenschaften der SED offenbart, was viele vor dem Fall der Mauer ahnten, aber aufgrund fehlender Öffentlichkeit und rigider Geheimhaltungspolitik der Machthaber nicht konkretisieren konnten: Die DDR hat aus politisch-ideologischen Motiven weit über ihre Verhältnisse gelebt, die Umwelt flächendeckend zerstört, Innenstädte verfallen lassen und die Menschen in ein zentralistisch gelenktes Korsett von Vorgaben eingespannt.

Wie marode die Wirtschaft tatsächlich war, erfuhr die Öffentlichkeit erst im Oktober 1989 nach dem Sturz Erich Honeckers. Nun diagnostizierten Planer, Ökonomen und für die Volkswirtschaft zuständige Stasi-Offiziere einen weitgehenden Zerfall der zentralistischen Planwirtschaft und ihrer industriellen Basis. Jetzt wurde bekannt, wie veraltet und verschlissen die industrielle Maschinerie, wie rückständig nahezu alle Wirtschaftsbereiche und wie hoch der Aufwand für Reparaturen, Subventionen und die Aufrechterhaltung der „inneren Sicherheit“ waren. Aus eigener Kraft hätte die DDR nur mittels massiver sozialer Einschnitte überleben können. Der Sozialismus hatte in vielerlei Beziehung von der 1945 übernommenen wirtschaftlichen Substanz gelebt, sie aufgebraucht und nur unzureichend ersetzt.

Brisante Daten über den Zustand der Wirtschaft, die Außenhandelsbeziehungen mit der westlichen Welt, die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen, den Zustand der Umwelt und des Gesundheitswesens wurden auf Weisung von oben oder durch die Selbstzensur eifriger Untergebener geheim gehalten oder gefälscht. So entstand das falsche Bild einer ökonomisch starken DDR, die angeblich unter den zehn führenden Industrienationen rangierte.

Wie zahlreiche Eingaben von DDR-Bürgern an die Partei- und Staatsführung offenbarten, bestimmten von Anfang bis Ende des SED-Staates Versorgungsmängel den Alltag der meisten Bürger. Selbst in Ost-Berlin, wo die SED-Führung viele Ressourcen des privaten Verbrauchs konzentrierte, kam es immer wieder zu Engpässen bei bestimmten Produkten. Dabei ging es nicht nur um Bananen und andere Südfrüchte, sondern um Alltagsdinge wie Straßenschuhe, Bettwäsche, Puddingpulver u.ä. Die Neu- oder Ersatzbeschaffung von technischen Konsumgütern zog sich bei vielen Produkten, nicht nur bei Autos, zum Teil über Jahre hin. Selbst überhöhte Preise für diese Güter schreckten die potenziellen Käufer nicht ab, denn es gab einen Geldüberhang, der trotz der hohen Preise aufgrund mangelnder Angebote nicht abgebaut werden konnte. Viele technische Konsumgüter waren allerdings nicht nur überteuert, sondern im Vergleich zu westlichen Produkten auch hoffnungslos veraltet.

Die mangelnde Leistungsbereitschaft vieler Werktätiger, hohe Ausfallzeiten und Krankenstände etc. wurden ebenfalls erst kurz vor dem Ende des SED-Staates auf Führungsebene ausführlich wieder thematisiert. Angesichts der vorhandenen verdeckten Arbeitslosigkeit wäre auch ohne Wiedervereinigung eine Arbeitslosenrate von mindesten 10% rasch Realität geworden.1 Bei Fortbestehen der DDR hätte der Sozialstaat zur Modernisierung der Volkswirtschaft um mindestens ein Drittel seines Niveaus reduziert werden müssen,2 so dass sich die Diskrepanz im Wohlstand zwischen Ost und West noch einmal spürbar vergrößert hätte. Seit dem Untergang der DDR ist unter Wirtschaftshistorikern ein Streit entbrannt, ob die DDR-Wirtschaft in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz real überhaupt ihr Ausgangsniveau überschritten hat. Im Vergleich zur Bundesrepublik habe das Produktivitätsniveau je Erwerbstätigenstunde maximal 20% und damit in etwa das Niveau der NS-Kriegswirtschaft erreicht.3

Der Weg in den Ruin war schon in den siebziger Jahren vorgezeichnet. Zur Ruhigstellung der Bevölkerung verzichtete die SED-Führung auf eine Drosselung des Konsums, was dazu führte, dass in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre der Verbrauch die Produktion überstieg und sich Importe und Auslandsverschuldung erhöhten. Gleichzeitig sanken Investitionsquote und Wachstumsrate deutlich. Die bescheidene Steigerung des Lebensstandards schlug sich freilich weniger im individuellen Einkommen, sondern stärker in der gesellschaftlichen Konsumption nieder. Die verfügbaren Arbeitseinkommen und die Prämienfonds blieben hinter dieser Entwicklung zurück; die angestrebte Leistungsstimulierung konnte auf diese Weise nicht gelingen. Bis zum Ende blieb die Lebenswirklichkeit im SED-Staat von Materialknappheit und Versorgungsmängeln geprägt. Insofern lässt sich die DDR-Ökonomie im wahrsten Sinne des Wortes als Mangelwirtschaft bezeichnen.

Der konsumorientierte Vereinigungspfad

Nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der innerdeutschen Grenze ist im deutsch-deutschen Verhältnis nichts so wie in der Zeit zuvor. Bis zum 20. November 1989 konnten etwa 8 Mio. Ostdeutsche bei ihrem Besuch in der Bundesrepublik leibhaftig sehen und erfahren, wie groß die Wohlstandsdifferenz zwischen den beiden deutschen Staaten ausfiel. Bei vielen stieg nun der Zorn hoch; sie fühlten sich um die Früchte ihrer Arbeit, nicht wenige sogar um ihr bisheriges Leben betrogen. Der aus dieser Stimmung in der ostdeutschen Bevölkerung erwachsene Druck auch auf die Bundesregierung bestimmte die Entwicklung in den nachfolgenden Monaten und führte fast zwangsläufig zur Vereinigung.

Die Generallinie der Vereinigungspolitik verkündete Bundeskanzler Kohl schon am 15. Februar 1990 in einer Regierungserklärung. Bereits hier wurden die bis heute sichtbaren Stärken und Schwächen dieser Politik deutlich: „Über eines kann kein Zweifel bestehen: In einer politisch und wirtschaftlich normalen Situation wäre der Weg ein anderer gewesen, und zwar derjenige schrittweiser Reformen und Anpassungen mit der gemeinsamen Währung erst zu einem späteren Zeitpunkt. (…) Die krisenhafte Zuspitzung der Lage in der DDR macht mutige Antworten erforderlich. Politische und gesellschaftliche Umwälzungen haben zu einer dramatischen Verkürzung des Zeithorizonts geführt, so dass für – wie auch immer definierte und auch ökonomisch begründete – Stufenpläne aus meiner Sicht die Voraussetzungen entfallen sind. In einer solchen Situation geht es um mehr als um Ökonomie, so wichtig Ökonomie ist. Es geht jetzt darum, ein klares Signal der Hoffnung und der Ermutigung für die Menschen in der DDR zu setzen. (…) Für die Bundesrepublik Deutschland (…) bedeutet das, dass wir damit unseren stärksten wirtschaftlichen Aktivposten einbringen: die Deutsche Mark. Wir beteiligen so die Landsleute in der DDR ganz unmittelbar und direkt an dem, was die Bürger der Bundesrepublik in jahrzehntelanger beharrlicher Arbeit aufgebaut und erreicht haben.“4

Dieses Signal, mit dem Helmut Kohl die soziale Problematik und nicht wirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund stellte, bestimmte die nachfolgenden innenpolitischen und innerdeutschen Schritte bis zur Vereinigung, aber im Grundsatz auch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren.

Bereits im Angebot zur Wirtschafts- und Währungsunion, die auf Druck der ostdeutschen Seite um eine Sozialunion erweitert wurde, fand sich die illusionäre Vorstellung, die Einheit könne ohne zusätzliche Einnahmen und Verschuldung finanziert werden. Kurz vor den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 kündigte der Bundeskanzler nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen an, kleinere Sparguthaben sowie Löhne und Gehälter würden im Verhältnis 1 : 1 umgetauscht. Für die Berechnung der Renten wurden sogar Westeinkommen unterstellt. Zu dem für die DDR-Bevölkerung günstigen Umtauschkurs von DDR-Mark in D-Mark kam es nicht zuletzt auch deshalb, weil auf Demonstrationen eine paritätische Währungsumstellung gefordert wurde. Damit war freilich das jahrelange Dilemma der ostdeutschen Wirtschaft vorprogrammiert: der Wettbewerbsnachteil ostdeutscher Wirtschaftsunternehmen, die zudem noch hohe Lohnsteigerungen zu verkraften hatten.

Wäre die DDR ein eigenständiger Staat geblieben, hätte sie ihre Währung radikal abwerten müssen. Schließlich hatten die RGW-Staaten schon im Januar 1990 vereinbart, alle Transaktionen auch untereinander ab Januar 1991 in konvertiblen Währungen abzuwickeln. Auch ohne Wiedervereinigung wären also die Exporte der DDR massiv zurückgegangen, da ehemalige sozialistische Länder nun einkaufen konnten, wo sie wollten, aber in jedem Fall mit „harter Währung“ zahlen mussten. Die Bevölkerung hätte im Fall der Eigenständigkeit der DDR anfangs einen deutlichen Wohlstandsrückschritt gegenüber dem vorhandenen (bescheidenen) Niveau hinnehmen müssen. Im Vergleich mit der Bundesrepublik lag der durchschnittliche Wohlstand ohnehin nur in etwa auf dem Niveau der Sozialhilfe.

Das mentale Erbe

Die Ostdeutschen mussten sich quasi über Nacht in einem Gesellschaftssystem zurechtfinden, das konträr zu ihrem gewohnten stand. Sofort begann ein Anpassungsprozess, der nicht ohne Brüche und Reibungsverluste verlaufen konnte. Die Werte und Normen, die nach der Vereinigung erforderlich waren, hatten viele DDR-Bewohner nicht erlernen können. Es mangelte an unabhängigem Geist, Selbstbewusstsein, angemessenem Umgang mit Freiheit sowie Verantwortung gleichermaßen für sich selbst wie auch für das Gemeinwesen. So kann es nicht verwundern, wenn diese Dimensionen einer zivilen Gesellschaft in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung ein nur zartes Pflänzchen darstellten.

Für die ehemalige DDR-Bevölkerung hat sich durch den Systemwechsel das Leben in vielerlei Beziehung geändert. Sie verloren die gewohnte Alltäglichkeit, aber auch die diktatorischen Rahmenbedingungen und gewannen Freiheit und Demokratie, verbunden mit höheren Anforderungen an individuelle Verantwortung. Der institutionelle Wandel vollzog sich dabei schneller als der mentale. Die Schwerkraft menschlicher Einstellungen und Verhaltensweisen kam ebenso zum Tragen wie der durch die Globalisierung bewirkte permanente Wandel nach dem Systemwechsel.

Ohne Berücksichtigung dieser Ausgangsbedingungen können die immer noch bestehenden Unterschiede in der mentalen Verfasstheit zwischen Ost- und Westdeutschen nicht verstanden werden. Hinzu kam recht schnell, dass der Rückgriff auf alte Werte und Verhaltensweisen – Unterordnung, Anpassung, Zurückhaltung – eine vermeintliche Sicherheit im alltäglichen Leben vieler Ostdeutscher stiftete. Viele empfanden zudem die Kritik am sozialistischen System als pauschale Kritik an ihrer Lebensleistung und fühlten sich mit dem politischen System der DDR – der Diktatur, dem Unrechtsstaat etc. – gleichgesetzt.

Gleichzeitig haben sich in den letzten zwanzig Jahren aber auch Angleichungsprozesse zwischen Ost und West vollzogen, sei es, dass sich alte DDR-Mentalitäten und Werte in abgeschwächter Form auch unter Westdeutschen durchsetzen, sei es, dass eine zunehmende Zahl von Ostdeutschen sich sehr gut in der Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands zurechtfinden.

Weiterhin bestehende Unterschiede in Werteauffassungen und Mentalitäten lassen sich aber auch aus der fortbestehenden unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung der Teilgesellschaften erklären. In Ostdeutschland gibt es als Erbe der verproletarisierten und ländlicheren DDR sozial und kulturell mehr Arbeiter und weniger Angehörige der Mittel- und Oberschichten als im Westen. Dies spiegelt sich in der subjektiven Schichteinordnung wider. Viele Differenzen zwischen Ost und West sind aus dieser Perspektive im Westen ebenfalls vorhandene Unterschiede zwischen sozialen Schichten.

Historisch beispiellose Wohlstandsexplosion

Durch den von der Bundesregierung unter Helmut Kohl eingeschlagenen konsumorientierten Vereinigungspfad, der zwangsläufig gewaltige finanzielle Transfers von West nach Ost voraussetzte, vollzogen sich unmittelbar nach der Vereinigung materielle und soziale Angleichungsprozesse in atemberaubender Geschwindigkeit, die freilich kein wirtschaftliches Fundament hatten.

Schon Mitte der neunziger Jahre lebten etwa zwei Drittel der Deutschen in Ost und West unter fast gleichen materiellen Bedingungen. Seither verlangsamte sich zwar die durchschnittliche materielle Annäherung der Haushalte, wiewohl inzwischen – unter Berücksichtigung fortbestehender regionaler Kaufkraftunterschiede – die durchschnittlichen realen ostdeutschen Haushaltseinkommen etwa 80% bis 85% des Westniveaus erreicht haben dürften. Noch bestehende und auch nur langfristig abschmelzende Unterschiede existieren insbesondere in der Verteilung des Vermögens und der hieraus resultierenden Einkommen. Aber selbst auf diesem Feld lässt sich eine erstaunliche relative Verbesserung für ostdeutsche Haushalte konstatieren. Ihre durchschnittlichen Geldvermögen stiegen in den letzten zwanzig Jahren von knapp einem Fünftel auf über die Hälfte des westdeutschen Niveaus. Werden die kapitalisierten Besitzansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung miteinbezogen, erreichen Ostdeutsche – je nach Alter und Geschlecht – sogar etwa 70% bis 90% des westdeutschen Niveaus.5

Der durchschnittliche Lebensstandard ostdeutscher Haushalte glich sich sowohl im Ausstattungsgrad mit langlebigen Konsumgütern als auch bei den Wohnverhältnissen dem westdeutschen weitgehend an, überholte ihn sogar in einigen Bereichen. Jenseits der Betrachtung des Durchschnitts vereinheitlichten sich freilich auch die sozialen Differenzierungsmechanismen in Ost und West, wodurch in Ostdeutschland eine nun nach anderen Kriterien als zuvor materiell und sozial ausdifferenziertere Gesellschaft entstand. Sie ist etwas – jetzt öffentlich sichtbar – ungleicher und vielfältiger und damit der westdeutschen ähnlicher geworden, aber es finden sich in ihr nach wie vor noch Überbleibsel alter Verhältnisse, die sich teils in das neue System einfügen, teils ihm fremd bleiben. Trotz der lebensgeschichtlichen Umbrüche, von denen die meisten Menschen betroffen waren, änderten sich die sozialen Hierarchien nach der Transformation nur wenig. Die in der DDR privilegierten Beschäftigtengruppen konnten, sei es als Arbeitnehmer, Selbstständige oder als Rentner, nach der Vereinigung ihre Vorrangstellung behaupten. Sie wurden seltener arbeitslos, waren weniger von sozialen Abstiegen betroffen und nahmen unterhalb der obersten Führungsebene, die zumindest in den ersten Jahren von Westdeutschen dominiert wurde, wieder leitende Funktionen ein.6 Durch die Währungsumstellung und die Sozialunion sicherten sie sich zudem ihre schon zu DDR-Zeiten vorhandenen überdurchschnittlichen Vermögensbestände und vergleichsweise hohe Renten. Wie ungleich in der DDR die Einkommen und vor allem die Geldvermögen verteilt waren, wurde erst bei der Währungsumstellung deutlich: 10% der Konteninhaber besaßen etwa 60% der Guthaben.7

Die Kosten der Wiedervereinigung …

Zum Zeitpunkt der Vereinigung nahm die Bundesregierung an, es käme nach vorübergehenden Transferzahlungen für den „Aufbau Ost“ sehr schnell zu einem sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung, der zumindest das Ausmaß der finanziellen Aufwendungen verringern würde. Doch das genaue Gegenteil trat ein: Im Laufe der Jahre stiegen die jährlichen Kosten sogar immer weiter an. Auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung besteht ein hoher Finanzbedarf, um den inzwischen erreichten Lebensstandard im Osten zu halten.

Ursprünglich – so die Simulationsrechnung der Bundesregierung – sollten die notwendigen Transfers vor allem durch den Wegfall teilungsbedingter Kosten in Höhe von jährlich etwa 30 Mrd. DM finanziert werden. Hierzu gehörten u.a. die Zahlungen an die DDR für Transit und Ähnliches, die Zonenrandförderung und die West-Berlin-Förderung. Doch das stellte sich rasch als „Milchmädchenrechnung“ heraus. In den letzten zwanzig Jahren erhöhten sich – nicht zuletzt aufgrund der demographischen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklung – die vereinigungsbedingten Transferleistungen Richtung Osten deutlich. Zur Jahrtausendwende dürften die Bruttotransferzahlungen die Grenze von jährlich 100 Mrd. Euro überschritten haben. Die Höhe der vereinigungsbedingten Kosten, die von der Bundesregierung nur bis 1999 berechnet wurden, können allerdings nur geschätzt werden, da verschiedene Daten schon seit geraumer Zeit nicht mehr nach Ost und West erhoben werden. Vorliegende Berechnungen und Schätzungen differieren insofern beträchtlich.8

Zwischen 1990 und 2009 betrugen die vereinigungsbedingten Kosten nach meiner Schätzung auf Grundlage veröffentlichter Daten und einiger Annahmen knapp 2 Billionen Euro brutto. Unter Berücksichtigung der Rückflüsse durch Steuern, Sozialbeiträge und Ähnliches lag die Transfersumme von West nach Ost netto bei ca. 1,6 Billionen Euro.9

Der überwiegende Teil – etwa zwei Drittel – entfällt auf soziale Leistungen. Wachstumsorientierten Ausgaben kommt dagegen nur eine untergeordnete und im Laufe der Jahre auch noch abnehmende Bedeutung zu.10 Die meisten Transfers resultieren aus gesetzlichen Regelungen, die für Gesamtdeutschland gelten. Diese betreffen u.a. Leistungen der Sozialversicherungskassen oder den Länderfinanzausgleich. Ein kleinerer Teil – die reinen Aufbauhilfen – besteht aus nur auf Ostdeutschland zielenden Sonderprogrammen. So zum Beispiel der Solidarpakt II, der zwischen 2005 und 2019 Transfers in Höhe von 156 Mrd. Euro vorsieht. Diese Mittel flossen bisher allerdings in den meisten neuen Ländern weniger in zusätzliche Investitionen als in die Finanzierung des allgemeinen Haushaltes.11

Die soziale Dimension der Transfers wird bei einer Betrachtung des Jahres 2005, für das entsprechende Daten vorliegen, plastisch deutlich. Für Renten wurden in diesem Jahr in den neuen Ländern einschließlich Berlin knapp 60 Mrd. Euro ausgegeben. Die Beitragseinnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung betrugen dagegen dort nur gut 29 Mrd. Euro, d.h. etwa 30 Mrd. Euro mussten durch Überweisungen der Rentenversicherung und Bundeszuschüsse finanziert werden. Knapp jeder zweite Euro, der an ostdeutsche Rentner ausgezahlt wird, war mithin transferbedingt.12

Über Bundeszuschüsse bzw. Solidarpaktmittel werden auch die Folgekosten der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme der DDR für ehemalige höherrangige Funktionäre und „Sicherheitskräfte“ bezahlt. Zu DDR-Zeiten stellten sie eine Belohnung für parteiloyale Kräfte dar, waren also nicht leistungsbedingt. Es entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, dass nun westdeutsche Steuerzahler die Renten ehemaliger MfS-Bediensteter sowie höherer Partei- und Staatsfunktionäre, die die Westdeutschen einst als Klassenfeind bekämpften, erwirtschaften müssen. Im Jahr 2005 erhielten ehemalige staatstragende Kräfte der DDR hierüber etwa 4 Mrd. Euro. So spendabel sind Bund und Länder nicht, wenn es um die erst seit 2007 gewährten Opferrenten geht. Hierfür werden jährlich nur etwa 100 Mio. Euro bereitgestellt.

Im Bereich der Arbeitslosenversicherung beliefen sich im gleichen Jahr die Transfers auf knapp 7 Mrd. Euro, bei den gesetzlichen Krankenversicherungen auf knapp 4 Mrd. Euro, bei der Pflegeversicherung auf etwa 1 Mrd. Euro. Hinzu kamen soziale Leistungen wie Wohngeld, Kindergeld und Ähnliches. Insgesamt sicherten im Jahre 2005 Transfers von über 60 Mrd. Euro die sozialen Leistungen in den neuen Ländern.

Durch die politisch gewollte soziale Abfederung des Transformationsprozesses von einer zentralistischen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft erreichte die Sozialleistungsquote in Ostdeutschland ein historisch und weltweit einmaliges Niveau. Sie lag nach der Wiedervereinigung in der Spitze bei über 55% und oszillierte in den Jahren bis 2004 um die 50%-Marke. Seither weist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Sozialleistungsquoten nicht mehr für Ost und West getrennt aus.

… ihre Finanzierung …

Die Finanzierung des Vereinigungsprozesses konnte entgegen den Versprechungen nicht aus den laufenden Einnahmen und in nur begrenztem Umfang aus dem Solidaritätszuschlag erfolgen. Letzterer wird in West- und Ostdeutschland erhoben und bringt jährliche Einnahmen von 10 bis 13 Mrd. Euro, wovon knapp 95% aus dem Westen (inkl. Berlin) stammen. Insgesamt nahm der Bund hierdurch im Zeitraum von 1991 bis 2009 etwa 165 Mrd. Euro ein. Die Mittel sind allerdings nicht zweckgebunden, d.h. sie fließen nicht direkt in den „Aufbau Ost“ ein und entpuppen sich damit als verschleierte Steuererhöhung.

Der größte Teil der Ausgaben für Transfers wird über die allgemeinen Steuern und eine zunehmende Verschuldung finanziert. Der Anteil der aus Ostdeutschland stammenden Steuereinnahmen des Bundes lässt sich nur schwer berechnen, zum Teil nur schätzen. Der Anteil dürfte seit der Jahrtausendwende zwischen 10% und 13% liegen.

Die Steuereinnahmen reichten zur Finanzierung der Vereinigung bei weitem nicht aus, so dass sich die öffentlichen Haushalte seit 1991 deutlich stärker als in den Jahren zuvor verschuldeten. Die Gesamtschulden der öffentlichen Haushalte erhöhten sich zwischen 1991 und 2009 von knapp 600 Mrd. auf 1,76 Billionen Euro, was einem Anstieg der Schuldenquote von 38,8% im Jahre 1991 über 54,6% (1995) auf 73,2% im Jahre 2009 entspricht. Faktisch liegt die Gesamtverschuldung noch deutlich höher als die offiziell ausgewiesenen 1,76 Billionen Euro, da die Verpflichtungen aus den Sozialsystemen und den Pensionslasten hinzugezählt werden müssen. Demnach beläuft sich die deutsche Staatsschuld derzeit auf etwa 7,86 Billionen Euro, was dem Bruttoinlandsprodukt von gut drei Jahren entspricht.13

Durch die Art der Finanzierung, die das tatsächliche Ausmaß der Vereinigungskosten verschleiern soll, tragen nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zum „Aufbau Ost“ bei. Beamte und Selbstständige leisten ihren Zwangsbeitrag nur über die Steuern, die unteren Einkommensklassen zahlen kaum Steuern und weniger Sozialbeiträge, die ganz Reichen transferieren ihr Geld ins Ausland. Der Hauptfinancier der Vereinigung sind sowohl aufgrund ihrer Anzahl als auch ihrer relativen Belastung die oberen mittleren Einkommensklassen zwischen 3500 und 6000 Euro Bruttomonatseinkommen.

… und die Ergebnisse

Die enormen konsumorientierten Transfersummen haben nicht nur einen historisch beispiellosen Wohlstandsgewinn für die meisten Ostdeutschen binnen kurzer Zeit hervorgebracht, sondern den vom SED-Staat hinterlassenen ökonomischen Modernisierungsrückstand inzwischen zu einem großen Teil kompensiert.

Trotz der Mitnahmeeffekte und einiger spektakulärer Fehlinvestitionen kann die Industrieförderung in einigen Ländern Ostdeutschlands als Erfolgsgeschichte betrachtet werden. Vor allem über die zu gleichen Teilen von Bund und Ländern finanzierte „Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ flossen seit der Vereinigung etwa 38 Mrd. Euro von West nach Ost. Die gewährten Mittel brachten ein Investitionsvolumen von etwa 180 Mrd. Euro hervor. Im gleichen Zeitraum erreichten die im Rahmen der Regionalförderung für wirtschaftsnahe Infrastruktur erteilten Zulagen ein Volumen von etwa 22 Mrd. Euro, die Investitionen in Höhe von etwa 33 Mrd. Euro anstießen. Zusätzlich flossen über zwei Konjunkturprogramme zur Stützung der wirtschaftlichen Entwicklung zusätzliche Milliarden in die neuen Länder.14 Weitere Mittel kommen aus dem EU-Strukturfonds, und zwar rund 15 Mrd. Euro zwischen 2007 und 2013. Durch diese Maßnahmen und zusätzliche zur Förderung von Existenzgründungen, Investitionen und Innovationen erlebte Ostdeutschland einen wahren Gründungsboom, in dessen Folge eine knappe halbe Million – überwiegend kleine und mittlere – Unternehmen neu entstanden.

Im Laufe der letzten zwanzig Jahre erlebte die ostdeutsche Industrie, die unmittelbar nach der Einführung der D-Mark und der Marktwirtschaft einen Transformationsschock zu verarbeiten hatte, nicht zuletzt gefördert durch staatliche Maßnahmen eine Revitalisierung. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Gesamtwirtschaft nähert sich inzwischen dem Westniveau, wobei es ähnlich wie im Westen ein Nord-Süd-Gefälle gibt. Weiterhin sollte daher die Stärkung der Innovationskraft im Vordergrund staatlicher Fördermaßnahmen stehen, was auch bedeutet, die mentalen Nachwirkungen des Sozialismus nachhaltig zu bekämpfen.15

Da inzwischen die stärksten ostdeutschen Regionen/Kreise die schwächsten westdeutschen erreicht haben, sollten nach dem Auslaufen des Solidarpakts II und anderer nur auf Ostdeutschland bezogener Fördermaßnahmen die Zielsetzungen neuer Maßnahmen nicht mehr nach dem Ost-West-Schema, sondern nach strukturschwachen Regionen generell ausgerichtet werden. Abwanderung und Alterung in den neuen Ländern können nur gestoppt werden, wenn ostdeutsche Großstädte attraktiv für die Ansiedlung junger aufstiegsorientierter Menschen werden. Von daher sollte – seitens des Bundes und der Länder – ein besonderes Augenmerk auf ihre Förderung gerichtet werden. Darüber hinaus sollten weiterhin zukunftsträchtige Branchen – wie in den letzten Jahren zum Beispiel die Photovoltaik und die erneuerbaren Energien – besonders gefördert werden, allerdings mit dem mittelfristigen Ziel, sie von Subventionen unabhängig zu machen. Zudem müssten die in den neuen Ländern überrepräsentierten wissensintensiven Dienstleistungen stärker in den Fokus staatlicher Innovationsförderung kommen. Ein Strategiewechsel hinsichtlich des Sozialstaates, der freilich ganz Deutschland betrifft, sollte zumindest angedacht werden: die gesamte Finanzierung von Sozialleistungen über Steuern.

  • 1 Vgl. Joachim Gürtler, Wolfgang Ruppert, Kurt Vogler-Ludwig: Verdeckte Arbeitslosigkeit in der DDR, Ifo-Studien zur Arbeitsmarktforschung 5, München 1990.
  • 2 Vgl. das so genannte „Schürer-Papier“, abgedruckt in: Deutschlandarchiv 10/1992, S. 1112 ff. sowie die Ausführungen des für Volkswirtschaft zuständigen MfS-Generals Kleine in: Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft, München 1998 und 2000, S. 716 ff.
  • 3 Vgl. Oskar Schwarzer: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945-1989), Stuttgart 1999; sowie Ulrich Blum: Honeckers langer Schatten oder die aktuelle Wirtschaftsschwäche Ostdeutschlands, in: Wirtschaft im Wandel 4/2007, S. 109 ff.
  • 4 Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe III, Bd. 8a, Bonn 1990, S. 115.
  • 5 Vgl. Andreas Ammermüller u.a.: Die Entwicklung und Verteilung des Vermögens privater Haushalte unter besonderer Berücksichtigung des Produktivvermögens, Mannheim 2005.
  • 6 Vgl. Karl-Ulrich Mayer, Martin Diewald: Kollektiv und Eigensinn. Die Geschichte der DDR und die Lebensverläufe ihrer Bürger, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/1996, S. 8 ff.
  • 7 Vgl. Monika Deutz-Schroeder, Klaus Schroeder: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – ein Ost-West-Vergleich, Stamsried 2008, S. 412 ff.
  • 8 Vgl. Klaus Schroeder: Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Stamsried 2006, S. 227 ff.
  • 9 Vgl. Klaus Schroeder: Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall. Eine Wohlstandsbilanz. Gutachten für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Berlin 2009, S. 118 ff.
  • 10 Vgl. Ulrich Blum, Joachim Ragnitz, Sabine Freye, Simone Scharfe, Lutz Schneider: Regionalisierung öffentlicher Ausgaben und Einnahmen – eine Untersuchung am Beispiel der neuen Länder – IWH Sonderheft Nr. 4/2009, Halle/Saale 2009, S. 118.
  • 11 Vgl. Helmut Seitz: SoBEZ-Verwendungsrechnung für 2005, Manuskript, Dresden 2006.
  • 12 Vgl. Daniel Schnitzlein, Kerstin Bruckmeier: Ausgleichspolitische Bedeutung der Sozialversicherungssysteme, Nürnberg 2008, S. 56 ff.
  • 13 Vgl. Philip Plickert: Der unsichtbare Schuldenberg, in: FAZ vom 26.4.2010, S. 14; und Stiftung Marktwirtschaft: Kurzinformation vom 25.5.2010.
  • 14 Vgl. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2009, S. 12 ff.
  • 15 Vgl. Klaus Schroeder: Das neue Deutschland. Zusammenwachsen kann nur, was zusammengehören will, Berlin 2010 (im Erscheinen).


DOI: 10.1007/s10273-010-1083-8