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Ende der Tarifeinheit: Politischer Handlungsbedarf

Von Hagen Lesch

Das Bundesarbeitsgericht hat den über Jahrzehnte gepflegten Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben. Tarifeinheit bedeutet: In einem Arbeitsverhältnis oder in einem Betrieb findet immer nur ein Tarifvertrag Anwendung. Schließen mehrere Gewerkschaften für einen Betrieb konkurrierende Tarifverträge ab, geht der räumlich, fachlich und persönlich nähere Tarifvertrag dem entfernten vor (Spezialitätsprinzip), also z.B. der Firmentarifvertrag dem Flächentarifvertrag oder der Tarifvertrag, der den gesamten Betrieb abbildet, der Regelung für eine einzelne Berufsgruppe. 

Die Tarifeinheit beschränkte die Handlungsmöglichkeiten von Berufsgewerkschaften wie der Vereinigung Cockpit (Piloten), dem Marburger Bund (Ärzte) oder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer. Da diese auch als Spartengewerkschaften bezeichneten Arbeitnehmerorganisationen Berufsgruppen vertreten, für die auch Branchengewerkschaften verhandelten, waren sie dazu gezwungen, der großen Gewerkschaft den Vorrang zu lassen. In den letzten Jahren setzten aber doch einige dieser Spartengewerkschaften ihre tarifpolitische Eigenständigkeit durch. Möglich war dies, weil es sich um streikmächtige Berufsgruppen mit einer wirtschaftlichen Schlüsselstellung handelte. Zudem hatte sich über Jahre ein hohes Maß an Unzufriedenheit aufgestaut, was die Konfliktbereitschaft stärkte. Noch ist die Zahl solch tarifpolitisch eigenständiger Berufsgewerkschaften überschaubar. Ohne Tarifeinheit könnten sich aber weitere Berufsgewerkschaften bilden.

Damit drohen zwar noch keine „britischen Verhältnisse“. Im Großbritannien der 1970er-Jahre existierten über 400 Gewerkschaften, darunter zahlreiche Berufsgewerkschaften. Jede für sich wollte für ihre Mitglieder bessere Bedingungen aushandeln, mit der Folge permanenter Tarifkonflikte. Mit der Thatcher-Regierung wurden die Auswüchse ab 1980 schrittweise durch verschiedene Gesetze eingedämmt. Im Verkehrs- und Gesundheitswesen sind die möglichen Wirkungen des Gewerkschaftswettbewerbs aber auch hierzulande schon sichtbar. Die Arbeitgeber müssen mit mehreren Gewerkschaften verhandeln. Dadurch häufen sich Konflikte, und unterschiedliche Laufzeiten der Tarifverträge entwerten die Friedenspflicht. Die Branchengewerkschaften werden gezwungen, weitere Abspaltungen von Berufsgruppen durch bessere Lohnabschlüsse zu vermeiden. Dabei besteht die Gefahr, dass sich die verschiedenen Gewerkschaften gegenseitig überbieten wollen. Gerade bei komplementärem Gewerkschaftswettbewerb (es konkurrieren Gewerkschaften, die die Interessen nicht austauschbarer Berufsgruppen vertreten) drohen sich hochschaukelnde Gewerkschaftsforderungen.

Um zu vermeiden, dass das ganze Tarifsystem destabilisiert wird und Belegschaften gespalten werden, fordern die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Deutsche Gewerkschaftsbund gemeinsam die Politik zum Handeln auf. Die Tarifeinheit soll gesetzlich verankert werden. Ihr Vorschlag: Bei konkurrierenden Tarifverträgen soll der Abschluss gelten, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb abgeschlossen wurde (Mehrheitsprinzip). Eine kleinere Gewerkschaft soll erst zum Streik aufrufen dürfen, wenn der für die Mehrheit geltende Tarifvertrag ausgelaufen ist. Dieser Vorschlag beinhaltet eine wichtige Anreizfunktion: Um möglichst viele Mitglieder zu gewinnen, wären Berufsgewerkschaften gezwungen, sich für möglichst viele Berufsgruppen zu öffnen. Damit müssten sie die Auswirkungen ihrer Abschlüsse – wie die Gefahr eines Stellenabbaus – stärker berücksichtigen und entsprechend moderater auftreten.

Gesetzliche Krankenversicherung: Hilflose Politik

Von Susanne Erbe

Bundesgesundheitsminister Rösler plant durch mehrere Maßnahmen das für 2011 erwartete Defizit bei den gesetzlichen Krankenkassen zu beseitigen: Der Beitragssatz für Kassenmitglieder soll ab 2011 wieder – wie schon nach dem Start des Gesundheitsfonds Anfang 2009 – auf 8,2% steigen, der Arbeitgeberanteil wird auf 7,3% angehoben und dort festgeschrieben. Wenn Zusatzbeiträge – die kleine Kopfpauschale – erforderlich werden, können diese bis zur Höhe von 2% des sozialversicherungspflichtigen Einkommens ohne Sozialausgleich erhoben werden, darüber hinaus sind unbegrenzt Zusatzprämien – wenn auch mit Sozialausgleich – möglich. Mit der Pharmaindustrie wurde ein Sparpaket vereinbart.

Um die Beitragserhöhungen leichter durchsetzen zu können, hat das Gesundheitsministerium eine Drohkulisse aufgebaut: In seiner Pressemitteilung nennt es für 2011 ein Kassendefizit von 11 Mrd. Euro, obwohl der dafür zuständige Schätzerkreis erst im Herbst offiziell seine Prognose für 2011 abgibt. Fest steht, dass der Bundeszuschuss von 3,9 Mrd. Euro, der im Rahmen des Sozialversicherungsstabilisierungsgesetzes gewährt wurde, 2011 wegfällt. Vorgesehen war dieser Beitrag ohnehin als Konjunkturstützung in der Finanz- und Wirtschaftskrise, er lässt sich also bei besserer Konjunktur nicht mehr rechtfertigen. Gleichzeitig wächst aber der Zuschuss für versicherungsfremde Leistungen, der schon von der Vorgängerregierung beschlossen worden war, um 2 Mrd. und damit auf den geplanten Endbetrag von 14 Mrd. Euro. Ein Rückgang des staatlichen Engagements ist jedenfalls nicht für das 11-Mrd.-Loch verantwortlich.

Ganz simpel lässt es sich durch eine weitere Steigerung der Ausgaben bei gleichzeitigem Zurückbleiben der Einnahmen erklären. Wird der Trend aus der Vergangenheit beibehalten, sind entsprechende Größenordnungen gar nicht unwahrscheinlich. In den letzten zehn Jahren sind die Ausgaben für Sachleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung um 30% angestiegen, davon allein in den letzten fünf Jahren um 20% – und auch im ersten Quartal 2010 gab es im Jahresvergleich eine Zunahme von 4,5%. Die beitragspflichtigen Einnahmen konnten und können bei dieser Entwicklung nicht mithalten. Sie wuchsen in den letzten zehn Jahren nur um 11%.

Die Gesundheitspolitik ist angesichts dieser Lage hilflos. Sie führt selbst die Ausgabensteigerungen auf die Anhebung der Ärztehonorare (Steigerung der Ausgaben für ambulante ärztliche Behandlung allein 2009 um 7,4%) und auf die steigenden Krankenhauskosten zurück. Immer wieder und vor allem nebulös wird aber für die Zukunft darauf hingewiesen, dass die demografische Entwicklung und der medizinisch-technische Fortschritt die Kosten im Gesundheitswesen weiter steigen lassen werden. Beide Effekte gibt es jetzt schon seit einiger Zeit. Inwieweit diese aber für die jüngsten Kostensteigerungen verantwortlich sind, wäre eine intensivere Erforschung wert. Ein Blick auf die Sachlage lässt eher vermuten, dass sich hier zunehmend und massiv Interessengruppen durchsetzen. Kurzfristig hat sich die Politik daher für den Weg des geringsten Widerstands entschieden: Steigende staatliche Zuschüsse (diese erreichen einen Anteil von mehr als 8% an den Ausgaben) und eine steigende Belastung der Arbeitnehmer. Der Bundesgesundheitsminister wagt es einfach nicht, sich mit den Lobby-Gruppen anzulegen und wirklich mehr Wettbewerb in den Gesundheitsbetrieb einzuführen, etwa dadurch, dass er den Kassen mehr Wettbewerbsparameter an die Hand gibt.

Arbeitsmarkt: Fachkräftereservoir füllen!

Von Holger Bonin

Der deutsche Arbeitsmarkt hat die Rezession in bemerkenswert guter Verfassung überstanden. Flammt die Finanzkrise nicht wieder heftiger auf, dürfte die Arbeitslosigkeit im Herbst unter die Marke von 3 Mio. fallen. Die Industrie klagt schon wieder über einen Mangel an Ingenieuren. Aber auch in vielen Ausbildungsberufen, etwa in der Pflege, sind Stellen schwer zu besetzen. So rückt ein altes Thema wieder in den Mittelpunkt – der Fachkräftemangel. Wären die Arbeitsmärkte genügend flexibel, sollten Lohnsteigerungen Nachfrageüberhänge zumindest längerfristig auflösen. Wenn die Arbeitgeber über nicht besetzbare Stellen klagen, kann dahinter auch der Wunsch stecken, Wettbewerbsvorteile durch niedrige Löhne zu sichern. Dennoch ist die zunehmend schwierige Suche nach Fachkräften auch eine Folge von strukturellen Problemen.

Der demografische Wandel hat den Arbeitsmarkt mittlerweile voll erreicht. Die starken Nachkriegsjahrgänge gehen derzeit in Rente und schaffen großen Ersatzbedarf. Dieser wäre schon zahlenmäßig von den durch niedrige Geburtenraten verkleinerten Jahrgängen, die am Arbeitsmarkt nachrücken, nicht zu füllen. Zuwanderung könnte hier Entlastung schaffen, doch nun rächt sich die zögerliche Politik des letzten Jahrzehnts. Deutschland hat es versäumt, attraktive Zugangswege für ökonomisch motivierte Einwanderer zu schaffen. Auch die Chance, von der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Beitrittsländern zu profitieren, wurde leichtfertig verspielt. So ist der Strom an ausländischen Fachkräften, die zur Arbeit nach Deutschland kommen und Arbeitskräftelücken füllen könnten, ausgetrocknet.

Zur ungünstigen demografischen Entwicklung kommt ein qualifikatorischer Mismatch. Dass bei 3 Mio. Arbeitslosen ein Fachkräftemangel droht, ist ein Indiz für eine zu geringe oder falsche Qualifikation vieler Langzeitarbeitsloser. Eine Weiterbildung dieser Gruppe wäre aufwändig und, wie die Evaluation entsprechender aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen lehrt, wohl oft nicht erfolgreich. Man sollte den Tatsachen ins Auge sehen. Für viele heute Langzeitarbeitslose wird nur die Beschäftigung im Niedriglohnbereich bleiben.

Notwendig, um das Fachkräftereservoir nachhaltig zu füllen, wäre eine Doppelstrategie aus gesteuerter Zuwanderung und einer Bildungsoffensive beim Arbeitsmarktnachwuchs. Zuwanderung in Mangelberufe könnte den Arbeitsmarkt kurzfristig und gezielt entlasten. Um echte Fachkräftebedarfe zu identifizieren, sollten die Arbeitgeber hierbei einen Preis für die Arbeitserlaubnisse der ins Land geholten Zuwanderer bezahlen. Dies erhält die Anreize, in die Qualifizierung heimischer Arbeitskräfte zu investieren, aufrecht. Mittelfristig muss es darum gehen, den hohen Anteil der Jugendlichen, die keine Berufsausbildung abschließen, zu senken. Nur von unten lassen sich die durch die Expansion bei der akademischen Bildung gerissenen Lücken bei den Facharbeitern schließen. Um die Ausbildungschancen zu verbessern, gehört der bestehende Förderdschungel bei den Jugendlichen endlich auf den empirischen Prüfstand. Da zu viele Abgänger die Schulen ausbildungsunreif verlassen, muss darüber nachgedacht werden, die Maßnahmen weiter in die Schulen vorzuverlagern. Auch für vorausschauend denkende Unternehmen werden benachteiligte Jugendliche als zu erschließendes Fachkräftereservoir zunehmend interessanter. Jedenfalls wächst die Zahl privater Programme für diese Zielgruppe. Im Hinblick auf den Fachkräftemangel sollte der Ruf nach dem Staat deshalb nicht vorschnell laut werden.

Reform der Rundfunkfinanzierung: Gemeinwirtschaftliche Finanzierung

Von Wolfgang Schulz

Anfang Juni 2010 haben sich die Ministerpräsidenten auf eine Reform der Rundfunkfinanzierung geeinigt. Auslöser hierfür war, dass mit der sogenannten Konvergenz – auf ganz unterschiedlichen Endgeräten, auch mit jedem an das Internet angeschlossenen PC oder mit Smartphones kann man Rundfunk empfangen – eine gerätebezogene Abgabe, wie das derzeitige Gebührenmodell, zunehmend Problemen begegnet. Zudem muss zur Kontrolle eine private Wohnung betreten werden, wenn unklar ist, ob ein Rundfunkgerät zum Empfang bereit gehalten wird und dementsprechend eine Gebührenpflicht besteht. Schließlich war für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dessen Finanzierung die Rundfunkgebühr überwiegend dient, schwer zu prognostizieren, welche Gebühreneinnahmen in Zukunft zu erwarten sind.

All diese Probleme sollen durch einen Modellwechsel gelöst werden, hin zu einem geräteunabhängigen Beitragsmodell, bei dem jeder Haushalt und jede Betriebsstätte einen einheitlichen Beitrag monatlich zu entrichten hat. Für Betriebsstätten – darum ist im Vorfeld stark gerungen worden – wird der Beitrag nach Beschäftigtenzahl gestaffelt. Die Gebührenhöhe für den Privathaushalt bleibt erhalten. Allerdings wird die Veränderung zur Folge haben, dass ein Haushalt, der bisher keine volle Gebühr bezahlt hat, da dort kein „traditionelles“ Fernsehgerät vorhanden war und ausschließlich Rundfunk genutzt wurde, nun den vollen Beitrag zahlen muss. Dafür müssen die Mitglieder eines Haushalts zusammen nur eine Gebühr zahlen – unabhängig davon, ob sie verheiratet sind. An dem System der Befreiung, etwa für soziale Härtefälle, soll sich strukturell nichts ändern.

Es wurde verschiedentlich gefordert, mit der Änderung des Gebührenmodells die Werbung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzuschaffen. Die Ministerpräsidenten haben jedoch lediglich festgelegt, dass zum Zeitpunkt des Modellwechsels Anfang 2013 an Sonn- und Feiertagen und nach 20 Uhr an Werktagen (mit Ausnahme großer Sportereignisse) Sponsoring ebenso wie Werbung unzulässig sein soll. Die Erleichterung bei den Ministerpräsidenten ist nachvollziehbar, denn in anderen Ländern – etwa in Finnland – ist eine konvergenz-orientierte Reform vorerst gescheitert. Probleme können allerdings noch im Detail schlummern, denn der Anknüpfungspunkt der „Haushaltsgemeinschaft“ muss nun im Gesetz so konkret formuliert werden, dass eine praktikable und gerechte Lösung ohne Erhöhung des Verwaltungsaufwandes möglich ist. Der Gesetzgeber ist zudem bei Modellwechseln in einer gewissen Zwickmühle, da der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes einen Anspruch auf funktionsgerechte Finanzierung hat, und nur grob prognostiziert werden kann, wie viel nach der Umstellung auf das neue Beitragsmodell tatsächlich eingenommen wird. Sollte es zu einer Unterfinanzierung kommen, müsste der Beitrag erhöht werden, was möglicherweise politisch nicht einfach durchzusetzen ist.

Der Rundfunkbeitrag reflektiert allerdings besser als die bisherige Gebühr, dass es um kommunikative Leistungen geht, von denen im Grunde jeder in der Gesellschaft profitiert, auch wenn er selbst wenig oder gar keinen Rundfunk oder jedenfalls keine öffentlich-rechtlichen Angebote nutzt. Die Akzeptanz dieser vom Bundesverfassungsgericht geprägten Sichtweise in der Bevölkerung kann aber keineswegs – gerade in der jüngeren Generation – als selbstverständlich geteilt unterstellt werden. Die Diskussion um die Finanzierung ist damit immer zugleich eine Diskussion um die Akzeptanz eines dualen Systems auch und gerade in der konvergenten, Internet-orientierten Medienwelt. Es spricht viel dafür, dass eine gemeinwirtschaftliche Finanzierung von Inhalten nicht an Bedeutung verliert.


DOI: 10.1007/s10273-010-1094-5

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