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Im Jahre 2011 werden wieder Sozialwahlen stattfinden, deren Bedeutung einer breiten Öffentlichkeit allerdings nicht bekannt ist. Wie sich die soziale Selbstverwaltung weiterentwickeln kann und sollte, hängt sehr stark von der künftigen Rolle der Sozialversicherung in Deutschland ab. Sie lebt von der Partizipation der Versicherten und der Arbeitgeber. Diese können einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz des Sozialversicherungssystems in der Bevölkerung leisten, wenn sie in den Selbstverwaltungsorganen im Konsens agieren.

Im Vorfeld der nächsten Sozialversicherungswahlen, die im sechsjährigen Turnus am 1. Juni 2011 stattfinden werden, wurden in den Jahren 2007 und 2008 verschiedene Stellungnahmen veröffentlicht,1 auch Ergebnisse eines Gutachtens, das vom zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur „Geschichte und Modernisierung der Sozialversicherungswahlen“ in Auftrag gegeben worden war.2 Die Sozialversicherungswahlen betreffen allerdings nur einen – wenngleich wichtigen und vielfach kritisch beurteilten – Aspekt der sozialen Selbstverwaltung. In den Veröffentlichungen aus jüngerer Zeit wurde u.a. auf die Rolle und den Gestaltungsspielraum der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung eingegangen, die nicht zuletzt durch politische Entscheidungen der letzten Jahre beeinflusst wurden. Ausgehend von verschiedentlich konstatiertem Änderungsbedarf wurden unterschiedlich weitreichende Anregungen und Vorschläge zur Weiterentwicklung gegeben. Im Folgenden wird auf einige wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Selbstverwaltung in der deutschen Sozialversicherung eingegangen.

Das Prinzip der Selbstverwaltung, das – wie der Rechtshistoriker Michael Stolleis betont – im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland „beispiellos erfolgreich war“3, wurde auch integraler Bestandteil der Ende des 19. Jahrhunderts geschaffenen ersten drei Zweige der Sozialversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung und schließlich der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies war eine bewusste Entscheidung sowohl gegen eine privatrechtlich organisierte Pflichtversicherung als auch gegen eine unmittelbare Staatsverwaltung – übrigens dann faktisch auch eine Entscheidung für die Umlagefinanzierung.4

In der Zeit des Nationalsozialismus trat dann an die Stelle der Selbstverwaltung das „Führerprinzip“, doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die soziale Selbstverwaltung bewusst wiederbelebt. Diese politische Entscheidung war zugleich verbunden mit weiteren Richtungsentscheidungen, so beispielsweise gegen „Einheitskassen“ sowohl in der Renten- als auch der Krankenversicherung.5 Ob und wie Selbstverwaltung praktiziert wird, hängt offenbar auch vom jeweils dominierenden Staatsverständnis ab.6

Heute erfreut sich diese soziale Selbstverwaltung – wie vielfach auch die Sozialversicherung selbst – in der öffentlichen Darstellung wie im politischen Raum nicht gerade besonderer Wertschätzung. Es wird deren Effizienz und Effektivität bemängelt, es werden Defizite im Hinblick auf ihre Funktionserfüllung betont, eine nur begrenzte Problemlösungsfähigkeit sowie ein strukturkonservierender Einfluss. Auch werden Defizite hinsichtlich ihrer Legitimation konstatiert. Letzteres konzentriert sich insbesondere auf die Sozialversicherungswahlen (das dabei angewandte Wahlverfahren und die geringe Wahlbeteiligung), wobei auch die mit den Wahlen verbundenen Kosten kritisiert werden.

Selbstverwaltung im Gesundheitswesen

Die Selbstverwaltung im Bereich sozialer Sicherung ist im Gesundheitswesen besonders vielgestaltig und auf unterschiedlichen Ebenen anzutreffen:

  • Selbstverwaltung bei den Sozialversicherungsträgern (den verschiedenen Kassen unterschiedlicher Kassenarten),
  • Selbstverwaltung bei kassenartspezifischen Spitzenorganisationen (Verbänden der Kassenarten),
  • Selbstverwaltung beim neuen GKV-Spitzenverband, bei dem ja die Interessenprofile der verschiedenen Kassenarten Berücksichtigung finden sollen wie auch allgemein die Interessen der Versicherten und Arbeitgeber.
  • Darüber hinaus existiert die sogenannte „Gemeinsame Selbstverwaltung“ von Kassen und Leistungserbringern (wo es z.B. um die Umsetzung komplexer Regelungen zur Reform der ärztlichen Vergütung geht).
  • Außerdem gibt es die berufsständische Selbstverwaltung, und zwar einerseits in Kammern (z.B. der Ärzte und Psychotherapeuten) und andererseits in den Kassen- und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen.

Verständlicherweise bestehen unterschiedliche Interessen der Akteure, aber auch unterschiedliche Anforderungen und Aufgaben in den Gremien der Selbstverwaltung.7

Aufgaben der Selbstverwaltung

Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung (dabei insbesondere auch in der Krankenversicherung). Sie ist von den Aufgaben her komplex und vielgestaltig:

  • Zum einen bei den im Wettbewerb miteinander stehenden Kassen des Gesundheitswesens mit heterogenen Gruppen von Versicherten als Beitragszahler wie auch Leistungsempfänger8 – zumal in Kassen, bei denen es nicht allein um das „Risiko“ Krankheit geht, sondern auch um Pflegebedürftigkeit, was nicht vergessen werden sollte, aber bislang zumindest nach außen hin nicht sehr in Erscheinung getreten ist –,
  • zum anderen bei Problemen, die übergreifend für die Kassenarten entstehen,
  • und schließlich bei Aufgaben, die – wie Rehabilitation und Prävention – auch verschiedene Sozialversicherungszweige betreffen. Hier handelt es sich um wichtige Schnittstellen im Hinblick auf Gesundheit, Invalidität und Alter, die für die Zukunft stärkere Beachtung erfahren sollten (man denke u.a. an das Bestreben, den Eintritt in den „Ruhestand“ hinauszuschieben).

Allgemein sollten – auch bei der Arbeit der Selbstverwaltung – bereichsübergreifende Fragen verstärkt berücksichtigt werden, so beispielsweise das Zusammenwirken von Einkommensbelastungen durch Zuzahlungen, Praxisgebühren, Zusatzbeiträgen z.B. mit Einschnitten in das Alterssicherungssystem und deren Konsequenzen für das Leben im Alter.

Kritik an der Selbstverwaltung

Kritisiert werden im Hinblick auf die Selbstverwaltung – und zwar nicht erst heute –

  • die mit ihrer Tätigkeit verbundenen Kosten,
  • unzureichende Effizienz und Effektivität,
  • die Dominanz der Tarifparteien sowie
  • Defizite hinsichtlich der demokratischen Legitimation ihrer Gremien, wie dies jüngst wieder vom Bundesrechnungshof thematisiert wurde. Man gewinnt hierbei allerdings manchmal den Eindruck, dass die Frage der demokratischen Legitimation überhöht wird, indem sehr hohe Anforderungen gestellt werden bzw. dies als Hebel genutzt wird, um grundlegende Veränderungen z.B. in der Zusammensetzung von Selbstverwaltungsgremien durchzusetzen (insbesondere durch Einbeziehung zusätzlicher, insbesondere mit dem Gesundheitswesen in Berührung stehender Gruppen).

Doch gravierender als die genannten Kritikpunkte erscheinen mir für die künftige Entwicklung der Selbstverwaltung verschiedene Tendenzen, die die Rolle und die Wirkungsmöglichkeiten von Selbstverwaltung im Bereich sozialer Sicherung erheblich beeinflussen: So hat – insgesamt betrachtet – der Staat Handlungsspielräume der sozialen Selbstverwaltung immer mehr eingeengt, auch wenn der Gesetzgeber z.B. der Krankenversicherung kassenindividuell regelbare Gestaltungsmöglichkeiten insbesondere im Leistungsbereich zugewiesen hat. So stellt der einheitliche, paritätisch zu finanzierende Regelbeitragssatz eine weitreichende Veränderung dar9 wie auch die Verschiebung in der Finanzierung hin zu allein von Versicherten zu finanzierenden Zusatzbeiträgen, seien diese genereller Art (wie die 0,9% an Zusatzbeitrag seit 2005) oder kassenindividuell festzulegen – als Folge der Neuregelungen im Zusammenhang mit dem „Gesundheitsfonds“. Zudem gibt es die Tendenz, dass der Staat Sozialversicherungsleistungen in verschiedenen Zweigen (in Richtung auf eine Basis- oder Grundsicherung) reduziert, wodurch die Bürger vermehrt auf private Träger (ohne Selbstverwaltung) verwiesen werden.

Selbstverwaltung lebt von der Mitwirkung von Versicherten und Arbeitgebern sowie von deren Interesse an der Sozialversicherung, auch an deren finanzieller Stabilität. Wenn neben Versicherten und Arbeitgebern der Staat zur Finanzierung von Sozialversicherungen beiträgt – so in verschiedenen ihrer Zweige –, so kann daraus jedoch keine Mitwirkung des Staates in Selbstverwaltungsgremien abgeleitet werden, denn die Finanzierungsbeteiligung des Staates stellt die – oft zudem unzureichende – Kompensation für gesamtgesellschaftliche Aufgaben dar, die der Sozialversicherung übertragen wurden. Die – neuerdings erfolgende, allerdings nur partielle – Finanzierung familienpolitischer Leistungen in der Krankenversicherung ist dafür ein Beispiel.10

Generell entsteht der Eindruck, dass in jüngerer Zeit in der Selbstverwaltung selbst (bzw. zwischen den sie tragenden Organisationen) das Maß an gemeinsamen Grundüberzeugungen der Versicherten- und Arbeitgebervertreter über Stellenwert und Konzeption der Sozialversicherungen geschrumpft ist. Eine Folge dürfte sein, dass die Bereitschaft zur Klärung konzeptioneller Grundsatzfragen mit dem Ziel, gemeinsame Standpunkte zu finden und diese nach außen zu vertreten, abgenommen hat, was sich negativ auf die Einwirkungsmöglichkeiten auf politische Entscheidungen auswirken kann.

Zukünftige Rolle der Selbstverwaltung

Für die weitere Entwicklung der Selbstverwaltung ist von herausragender Bedeutung, welche Rolle die Sozialversicherung quantitativ und qualitativ im Bereich der sozialen Sicherung insbesondere neben privater Vorsorge (ohne Selbstverwaltung) übernehmen soll. Und wird die Rolle der Selbstverwaltung mehr oder weniger nur im Zusammenhang mit der technischen Umsetzung von Entscheidungen gesehen oder auch in der Mitwirkung bei der Vorbereitung z.B. grundsätzlicher Entscheidungen? In diesem Kontext ist auch die Rollenverteilung zwischen den in der Sozialversicherung hauptamtlich Tätigen und den ehrenamtlichen Selbstverwaltern von großer Bedeutung, die maßgebend vom Gesetzgeber geprägt wird.

Sofern die Selbstverwaltung mit einer Stimme spricht, kann sie erheblichen Einfluss auf die Gestaltung politischer Entscheidungen, auf deren Durchsetzung und Durchführung gewinnen.11 Das heißt, je besser es gelingt, über wichtige Fragen einen breiten Konsens bereits im Rahmen der Selbstverwaltung und der sie jeweils tragenden Institutionen sowie zwischen maßgebenden Personen herbeizuführen, desto größeren Einfluss kann Selbstverwaltung nehmen. Diese Konsensfindung erfordert allerdings teilweise schwierige (und manchmal zeitintensive) Abstimmungsprozesse, wenn die Ausgangsvorstellungen divergieren.

Das Zusammenwirken von Arbeitnehmern und Arbeitgebern könnte jedoch einen wichtigen Beitrag zur Wiedererlangung und schließlich dann auch zur Festigung von Akzeptanz in der Bevölkerung für die Einrichtungen der Sozialversicherung leisten, denn diese ist in vergangenen Jahren von unterschiedlichen Interessengruppen erfolgreich (insbesondere in der Alterssicherung) untergraben worden.

Die Aufgabe von Selbstverwaltung sollte sich folglich nicht in der Gestaltung der internen Organisation und der Beihilfe zur praktikablen Umsetzung politisch vorgegebener Regelungen erschöpfen, sondern Selbstverwaltung sollte auch anstreben, im Interesse der von ihr vertretenen Menschen auf Regelungen selbst Einfluss zu nehmen.12 Im Bereich der Krankenversicherung wird dies bei manchen entscheidungsbedürftigen Fragen auch einen kassenartenübergreifenden Konsens erfordern, um z.B. dem Gesetzgeber gegenüber entsprechend wirken zu können.

Aus der Selbstverwaltungsarbeit heraus sollten gegebenenfalls auch Anstöße zur Untersuchung als wichtig erachteter, nicht zuletzt programmatischer Fragen kommen, die zu Untersuchungsaufträgen führen könnten. Generell wäre wichtig, dass die spezifische Kompetenz derjenigen, die in der Selbstverwaltung engagiert sind, Eingang in die programmatischen Überlegungen der jeweiligen Trägerorganisationen findet, also von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, damit dort sozialpolitische Gesichtspunkte neben tarifpolitischen angemessene Berücksichtigung finden. Dies ist auch von Bedeutung, um sich insbesondere im politischen Entscheidungsprozess auf Bundesebene Gehör zu verschaffen.

Voraussetzungen für den Erfolg der Selbstverwaltung

Für ein erfolgreiches Wirken von Selbstverwaltungsgremien in der Sozialversicherung ist neben einem Grundstock an gemeinsamen Vorstellungen und dem Willen zum inhaltlich fundierten Konsens aber noch Weiteres erforderlich: Es müssen der Selbstverwaltung vom Staat substantielle Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Erfolgt dies nicht, so dürfte es immer schwieriger werden, qualifizierte Selbstverwalter zu gewinnen. Zudem müssen diejenigen, die in Selbstverwaltungsgremien tätig sind, in aufgabenadäquater Weise für ihre Tätigkeit vorbereitet und weiterqualifiziert werden. Dies ist von großer Bedeutung sowohl im Interesse einer guten Aufgabenerfüllung als auch, um dem Einzelnen selbst die Mitwirkung attraktiv erscheinen zu lassen. Denn für den Einzelnen dürfte nicht nur wichtig sein, etwas bewirken zu können, sondern gleichfalls, dass ihm die Chance eröffnet wird, die eigene Kompetenz zu erweitern. Das heißt aber zugleich, Selbstverwalter müssen ein Eigeninteresse an der Kompetenzerweiterung haben. Es muss aber auch geklärt sein, welche Qualifikationsanforderungen für welche Aufgabenbereiche in der Selbstverwaltung bestehen. Selbstverwaltung ist darauf angewiesen, dass Menschen bereit sind, mitzuarbeiten. Wenn Bundespräsident Köhler in seiner „Berliner Rede 2008“ betonte, es „täte unserem Land … gut, wenn wieder mehr Frauen und Männer aus allen Lebenskreisen ihre Sachkunde … in die Parteien hineintragen würden“, so gilt das nicht nur für die Parteien, sondern auch für die Gremien der Selbstverwaltung.

Sinn, Aufgaben und Zweck von Selbstverwaltung müssen aber auch bei den Sozialversicherten verankert sein. Dies erfordert eine weitaus stärkere und kontinuierliche Information der Betroffenen über das, was gemacht und geleistet wird, als dies derzeit erfolgt. Dies ist als permanente Aufgabe wahrzunehmen und darf sich nicht auf die Zeit vor Sozialwahlen beschränken. Und dies ist als gemeinsame Aufgabe von Selbstverwaltung bzw. den jeweiligen Institutionen und „der Politik“ anzusehen, die vor allem auch die Medien dafür sensibilisieren und interessieren müssen – eine wahrlich nicht leichte, aber eine notwendige Aufgabe.13

Die dringend erforderlichen verbesserten Informationen über Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung sind mit Kosten verbunden. Gleiches gilt bei einer Ausweitung der „Urwahlen“ mit tatsächlicher Wahlhandlung an Stelle sogenannter „Friedenswahlen“, bei denen keine Wahlentscheidung der Versicherten erfolgt, sondern nur eine Zustimmung oder Ablehnung einer Liste. Manche benutzen deshalb anstelle des missverständlichen Ausdrucks „Friedenswahlen“ den Begriff „Verständigungswahlen“.14 Bei vermehrten Urwahlen, also einer Ausweitung der Möglichkeiten für tatsächliche Wahlhandlungen durch die Betroffenen, müssen die Wähler allerdings erkennen können, für was die zu Wählenden stehen, welche Grundpositionen sie vertreten. Und es sollte möglichst transparent sein, wie Wahlvorschläge und -listen zustande kommen – eine allgemeine Forderung im Zusammenhang mit Wahlen. Auch fehlt beispielsweise bislang ein Überblick über die Zahl und Qualifikation all derjenigen, die in den verschiedenen Selbstverwaltungsgremien aktiv sind sowie über das Ausmaß personeller Verflechtung.

Je klarer der substantielle Gestaltungsspielraum der Selbstverwaltung definiert ist, je besser dies nach außen kommuniziert und verdeutlicht wird, umso interessanter wird es für die Wahlberechtigten, tatsächlich Wahlhandlungen auszuüben15 und damit zu einer Belebung von „Gemeingeist und Bürgersinn“ beizutragen – wie dies schon vor rund 200 Jahren der preußische Reformer Freiherr vom und zum Stein zur Begründung der kommunalen Selbstverwaltung hervorhob –, um dadurch Parlament, Regierung und staatliche Verwaltung besser mit den Bedürfnissen der Menschen vertraut zu machen.16

Fazit

Die Zeit bis zu den nächsten Sozialwahlen im Jahre 2011 sollte von den Selbstverwaltungsgremien und den sie tragenden Organisationen, aber auch von Politikern und der Exekutive genutzt werden, um die praktischen Aufgaben der Sozialversicherung und deren Bedeutung für Versicherte und Arbeitgeber aktiv und medienwirksam zu verdeutlichen. Darin liegt eine Chance – wird sie nicht genutzt, dürfte nicht nur in der Bevölkerung das Interesse an der Selbstverwaltung (weiter) abnehmen, sondern auch politischen Bestrebungen zu einer weiteren Aushöhlung von Kompetenzen der Selbstverwaltung würde immer weniger entgegengesetzt.

Um die sozialpolitische Bedeutung der sozialen Selbstverwaltung im Vergleich zu rein staatlicher oder privatwirtschaftlicher Organisation sowohl im Gesundheitswesen als auch in anderen Zweigen des sozialen Sicherungssystems herauszuarbeiten, wären systematische (u.a. international vergleichende) Analysen hilfreich. Dies könnte auch im Rahmen der „offenen Methode der Koordinierung“ auf europäischer Ebene von Bedeutung sein, zum einen, um zu einem besseren Verständnis des in Deutschland praktizierten Weges beizutragen, zum anderen vielleicht auch, um zur Verbreitung des Selbstverwaltungsgedankens in der sozialen Sicherung beizutragen. Das setzt allerdings voraus, dass die Bundesregierung, die u.a. die Berichte an die europäischen Gremien im Rahmen der „offenen Methode“ erstellt, das Selbstverwaltungsprinzip selbst überzeugend vertritt. Allerdings bestehen hieran manche Zweifel, auch wenn im Koalitionsvertrag der neuen Regierung – allerdings allein im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen – die Selbstverwaltung als „ein tragendes Ordnungsprinzip“ bezeichnet wird, das es „zu bewahren und modernen Verhältnissen anzupassen“ gilt, wobei „Legitimation, Akzeptanz und Effektivität ... zu stärken ...“ seien.17

Betont sei nochmals, dass für die Weiterentwicklung der sozialen Selbstverwaltung von zentraler Bedeutung ist, welche Rolle die Sozialversicherung qualitativ und quantitativ künftig in Deutschland besitzen soll und tatsächlich besitzt. Und dafür ist wiederum wichtig, wie sich die Selbstverwaltung und ihre Trägerorganisationen aktiv in den politischen Prozess einschalten. Dies wird umso erfolgreicher sein, je mehr es gelingt, substantiellen Konsens in wichtigen Fragen der sozialen Sicherung und ihrer Weiterentwicklung in den Selbstverwaltungsgremien und deren Trägerorganisationen zu erreichen.

  • 1 Verwiesen sei hier nur auf einige Arbeiten (von verschiedenen der genannten Autoren gibt es weitere Veröffentlichungen): Wolfgang Schroeder: Zur Reform der sozialen Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Düsseldorf 2008; Bernhard Braun, Stefan Greß, Heinz Rothgang, Jürgen Wasem: Einfluss nehmen oder Aussteigen? Theorie und Praxis von Kassenwechsel und Selbstverwaltung in der GKV, Berlin 2008; Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG): Zur Bedeutung der Selbstverwaltung in der deutschen Sozialen Sicherung – Formen, Aufgaben, Entwicklungsperspektiven, Bonn 2007; hierzu auch Winfried Schmähl: Quo vadis Selbstverwaltung?, in: Die BKK, 96. Jg. (2008), S. 88-91.
  • 2 Bernhard Braun, Tanja Klenk, Winfried Kluth, Frank Nullmeier, Felix Welti: Geschichte und Modernisierung der Sozialversicherungswahlen, Bonn 2008; sowie hierzu und im Vergleich zu oben genannten Stellungnahmen dies.: Konjunkturen des Themas Selbstverwaltung in Wissenschaft und Politik, in: Gesundheits- und Sozialpolitik, 2008, S. 28-33.
  • 3 Michael Stolleis: Historische Grundlagen. Sozialpolitik in Deutschland bis 1945, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Baden-Baden 2001, S. 244.
  • 4 Gerade in der jetzigen Zeit gewinnt eine Aussage wieder an Aktualität, die seinerzeit Otto von Bismarck anlässlich der Vorlage des Unfallversicherungs-Gesetzes 1881 im Reichstag machte, als er sich entschieden gegen die Absicherung sozialer Risiken auf privatwirtschaftlicher Basis und (damit) durch Kapitalfundierung aussprach: „Man kann“, so Bismarck, „nicht den Sparpfennig der Armen dem Konkurse aussetzen, man kann auch nicht zugeben, daß ein Abzug von den Beiträgen als Dividende und zur Verzinsung von Aktien gezahlt würde […]“.
  • 5 Zur „organisatorischen Rekonstruktion der traditionellen Sozialversicherung“ in der Nachkriegszeit vgl. Hans Günter Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart 1980, S. 130-170.
  • 6 Zu grundsätzlichen Fragen vgl. u.a. Reinhard Hendler: Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip. Zur politischen Willensbildung und Entscheidung im demokratischen Verfassungsstaat der Industriegesellschaft, Köln u.a.O. 1984.
  • 7 Ausführlich zu den verschiedenen Formen der Selbstverwaltung innerhalb des Gesundheitswesens wie auch in anderen Zweigen der Sozialversicherung und des sozialen Sicherungssystems in Deutschland z.B. den berufsständischen Versorgungswerken, vgl. Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG), a.a.O. Für mögliche künftige Entwicklungslinien in der Gesetzlichen Rentenversicherung vgl. u.a. Tanja Klenk: Die Organisationsreform in der Gesetzlichen Rentenversicherung, in: Zeitschrift für Sozialreform, 51. Jg. (2005), S. 94-127.
  • 8 Wobei sich ein mögliches Konfliktpotenzial für die Selbstverwaltung auch aus der Aufgabenabgrenzung zwischen dem Spitzenverband und den einzelnen Kassen ergeben könnte.
  • 9 Die allerdings angesichts eines Risikostrukturausgleichs faktisch nicht so tiefgreifend ist wie es auf den ersten Blick scheint.
  • 10 Nach langjährigen erheblichen Widerständen gegen eine Steuerfinanzierung familienpolitisch motivierter Ausgaben in der GKV (vor allem im Zusammenhang mit der beitragsfreien Familienmitversicherung von Ehegatten und Kindern) soll 2009 ein Steuerzuschuss von 7 Mrd. Euro, ab 2010 von 11,5 Mrd. bis schließlich auf 14 Mrd. Euro gezahlt werden. Dies wird allerdings nur zum Teil die oftmals sogenannten „versicherungsfremden Leistungen“ in der gesetzlichen Krankenversicherung decken, die mit etwa 20% der Ausgaben anzusetzen sind, was bei einem Ausgabenvolumen von etwa 155 Mrd. Euro eine Summe von gut 30 Mrd. erfordern würde. Vgl. zu diesem Themenkomplex Winfried Schmähl: Sachgerechte Finanzierung der Sozialversicherung als politische Aufgabe, in: WSI Mitteilungen, 62. Jg., 7/2009, S. 390-397.
  • 11 Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Entscheidungsprozess zum 1989 beschlossenen „Rentenreformgesetz 1992“, das maßgeblich durch Arbeiten der Sozialversicherungsträger und ihrer Selbstverwaltung mitgeprägt wurde. Vgl. dazu ausführlich Winfried Schmähl: Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene, in: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7: 1982-1989 Bundesrepublik Deutschland – Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Bandherausgeber Manfred G. Schmidt, Baden-Baden 2005, S. 315-388.
  • 12 So formulierte von Ferber vor über 30 Jahren u.a., dass es zu den Aufgaben der Selbstverwaltung gehöre, „die Bedürfnisse der Adressaten sozialstaatlicher Leistungen zu ermitteln, die Gruppenspezifität der Interessen zum Ausdruck zu bringen…“ Christian von Ferber: Soziale Selbstverwaltung – Fiktion oder Chance?, in: Walter Bogs, Christian von Ferber: Soziale Selbstverwaltung. Aufgaben und Funktion der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Band 1. Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1976, S. 188.
  • 13 Übrigens stellt die Sozialwahl – was die Anzahl der Wahlberechtigten betrifft – nach Bundestags- und Europawahl die drittgrößte Wahlhandlung dar.
  • 14 So fordert der neue Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversichungswahlen – der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Gerald Weiß –, dass sie wieder Ausnahme werden. Und sein Stellvertreter – der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus Kirschner – verwies auf das auf Arbeitgeberseite praktizierte „Delegationsverfahren“, über das auch zu diskutieren sei; vgl. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Protokoll 17/7 vom 27.1.2010.
  • 15 In gewissem Sinne ähnelt in der Wahrnehmung der Bürger die Situation hinsichtlich der Selbstverwaltung der bei der Europawahl, wo bislang auch vielfach unklar blieb, was im Europaparlament entschieden wird, welche Handlungsmöglichkeiten bestehen und wofür die Kandidaten eintreten (sieht man von höchst allgemeinen und plakativen Aussagen ab).
  • 16 So wird eine der wichtigen Zukunftsaufgaben z.B. bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit die Versorgung in ländlichen Räumen sein, insbesondere dort, wo es im Zuge des demographischen und erwerbsstrukturellen Wandels zu einer alternden und zahlenmäßig abnehmenden Bevölkerung kommt. Dieses berührt viele weitere Bereiche, so den der Infrastruktur. Vgl. hierzu Winfried Schmähl: Sozialpolitische Rahmenbedingungen für Alter(n) auf dem Lande: Ressourcen, Politikfelder und Entwicklungstendenzen, in: Ulla Walter, Thomas Altgeld (Hrsg.): Altern im ländlichen Raum – Ansätze für eine vorausschauende Alten- und Gesundheitspolitik, Frankfurt a.M. 2000,
    S. 40-58.
  • 17 CDU, CSU und FDP: Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, Berlin 2009.


DOI: 10.1007/s10273-010-1100-y