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Die Finanzpolitik orientiert sich zunehmend an mechanistischen Regeln wie der Schuldenbremse. Damit werden ihre Gestaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Das Instrument der Schuldenbremse gibt den Entscheidungsträgern jedoch keine Hilfe bei der Umsetzung und Ausgestaltung der politischen Entscheidungen. Die Einführung einer Schuldenbremse gewährleistet noch nicht, dass diese Entscheidungen auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll sind.

Politik hat Gestaltung zum Ziel. Wer politisch handelt, will etwas erreichen, Änderungen erzielen oder vermeiden. Unterlassen lässt sich kaum als politisches Handeln begreifen, ausgenommen, bewusstes Unterlassen ist das Ziel. Finanzpolitik widmet sich der zielgerichteten Gestaltung der öffentlich beeinflussbaren Finanzen, den Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand. Ziele sind einzel- und vor allem gesamtwirtschaftliche Wirkungen verschiedener Art. Die gesamtwirtschaftlichen Ziele sind Ende der 60er Jahre im „Stabilitätsgesetz“1 auf der Grundlage einer Grundgesetzergänzung (Art. 109 Abs. 2 GG) ausgeformt und mit Instrumenten versehen worden. Danach sind Konzepte für die Beurteilung der Wirkungen öffentlicher Haushalte auf die Konjunktur entwickelt worden (StWG).2 Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann man es bei der Feststellung belassen, dass die damals entwickelten Maßstäbe deutlich differenzierter waren als die einfachen Saldenbetrachtungen, die seinerzeit üblich und verbreitet waren.3 Davon scheint inzwischen einiges in Vergessenheit geraten zu sein. In der gegenwärtigen Diskussion sind vor allem zwei gedankliche Stränge auszumachen:

  • die Orientierung an Überschuss oder Defizit des Jahreshaushalts, dies ist finanzpolitisch eher ein Rückschritt,4
  • die Eingrenzung der Blickrichtung auf die Schuldenentwicklung.

Beides hängt zwar miteinander zusammen, da nur ein ausgeglichener Haushalt keine zusätzliche Schuldenaufnahme erfordert, lebt aber von unterschiedlichen Begründungen im Einzelnen. Dass dazu noch die zunehmende Bevorzugung einer kurzfristigen Betrachtungsweise Platz greift – etwa bei der Verwendung der Überschüsse – bleibt weitgehend außer Betracht.

Die finanzpolitischen Orientierungen der gegenwärtigen Diskussion nähren sich weniger aus wirkungsanalytischen Ableitungen als vielmehr aus Überlegungen zur Umformung des politischen Willensbildungsprozesses durch Regeln, um so bestimmte Budgetrelationen zu erreichen oder zu vermeiden.

Ausgangspunkt: Die Theorie des multiplen Budgets

Wesentlich Musgrave ist zu verdanken, dass die Aufgaben der öffentlichen Haushaltswirtschaft beschrieben und geordnet worden sind.5 Danach sind

  • die Gestaltung des öffentlichen Güterangebots – allokative Aufgabe –,
  • die Organisation der staatlichen Verteilungsaufgaben – distributive Aufgabe – und
  • die Einwirkung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben auf die wirtschaftliche Entwicklung im Ganzen – stabilitätsbezogene Aufgabe –

zu unterscheiden. Diese Aufgaben hat Musgrave ausführlich beschrieben und strukturiert.

So einleuchtend diese Unterscheidung grundsätzlich ist, so schwierig ist sie in der konkreten Praxis der Haushaltsgestaltung umzusetzen. Das liegt vor allem daran, dass eine Zusammenfassung der Einnahmen und Ausgaben für die verschiedenen Teilaufgaben zu einem Gesamthaushalt nicht allein additiv erfolgen kann, weil die finanzpolitische Gestaltung des Gesamtbudgets nicht ohne Rückwirkung auf das öffentliche Güterangebot und die staatlichen Verteilungsaufgaben und die dazu erforderlichen Ausgaben und Einnahmen bleiben kann und die dazu erforderlichen Einnahmen und Ausgaben auch finanzpolitisch genutzt werden. So ist anzunehmen und auch plausibel, dass etwa Einkommenszuschüsse für Gruppen mit niedrigem Einkommen stärker konsumfördernd wirken als der Abbau von Sparanreizen. Abstimmungskonflikte zwischen den verschiedenen Aufgaben der Gestaltung der Erhebung von Einnahmen und der Verausgabung öffentlicher Mittel sind von daher nicht nur nicht auszuschließen, sondern von vornherein abzusehen. Erstaunlicherweise wird das eher selten thematisiert. Allokation, Verteilung und finanzpolitische Stabilisierung werden vielfach als je für sich getrennte Aufgaben der öffentlichen Finanzwirtschaft angesehen und behandelt. Beispiele dafür lassen sich in den meisten der gängigen finanzwissenschaftlichen Lehrbücher finden, von denen eine Gesamtbetrachtung und die Abstimmung der Einzelaspekte eigentlich besonders zu erwarten gewesen wäre.6 Auch hat kaum eines der Lehrbücher die Chance genutzt, die verschiedenen Teilansätze zum Ausgangspunkt des Gliederungsaufbaus zu machen.7 Damit ist im Ergebnis auch die Chance vertan worden, das notwendige Abstimmungserfordernis zwischen den verschiedenen Anforderungen an die Finanzpolitik anzugehen und einer Lösung näher zu bringen.

Die politische Debatte ist in der Regel für eine Abstimmung der verschiedenen Facetten der finanzpolitischen Aufgaben nicht eben empfänglich. Forderungen, was an Aufgaben öffentlich organisiert und finanziert werden soll, sind Legion; dass dabei soziale Rücksichten bei der Finanzierung genommen werden, ist verbreitet, die gesamtwirtschaftlichen Folgen der damit verbundenen Einnahmen und Ausgaben bleiben aber regelmäßig außer Acht. Von daher kann kaum Wunder nehmen, dass allfällige Forderungen nach öffentlicher Finanzierung von Aufgaben, die soziale Ausgewogenheit anstreben, die argumentative Oberhand gewonnen haben gegenüber Rücksichten auf gesamtwirtschaftliche Auswirkungen dieser Finanzierung. Das gilt auch für die derzeit verbreiteten Forderungen nach massiven Steuersenkungen, die weder in Volumen noch in Struktur klar bestimmt werden, und deren gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen vor allem von der Hoffnung darauf leben, dass sie jedenfalls auf mittlere Sicht Selbstfinanzierungseffekte generieren.

Föderalismusreform ohne finanzpolitische Leitentscheidung

Die Föderalismusreform II war aus der Sicht vieler ein Erfolg, hat sie doch für Bund und Länder für das zweite und dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine gesetzlich vorgeschriebene Begrenzung der Kreditaufnahme verordnet. Aber worin ist dieser Erfolg zu sehen?

Die jährlich erforderliche Kreditaufnahme ist zunächst das geplante und später das realisierte Ergebnis der Einnahmen und Ausgaben in den öffentlichen Haushalten. Dramatisch haben das die Jahre 2008 und 2009 für die öffentlichen Haushalte auf allen Ebenen gezeigt, wenn auch auf durchaus unterschiedliche Weise. Im Jahr 2008 waren die Steuereinnahmen höher als die Erwartungen, im Jahr danach deutlich niedriger. Wegbrechende Einnahmen und überbordende Ausgabenanforderungen für konjunkturstabilisierende Maßnahmen haben die öffentlichen Haushalte ab dem Jahr 2009 deutlich und nachhaltig belastet; sie halten auch im Jahre 2010 und darüber hinaus an. Entsprechend fallen die Planungen für den Bundeshaushalt und die Länderhaushalte aus; deutlich anwachsende Kreditaufnahmeplanungen sind das Ergebnis, auch wenn sich das inzwischen abschwächt.8

Ab dem Jahr 2011 wird für Bund und Länder die Schuldenbremse gelten, die für den Bund ab dem Jahr 2016 und die Länder ab dem Jahr 2020 in jährlich ausgeglichenen oder nahezu ausgeglichenen Haushalten münden soll. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Hinzuweisen ist allerdings auf sachlich entsprechende Vorbilder, z.B. auf das Schicksal des Gramm-Rudman-Hollings-Gesetzes (1985) in den USA oder die Folgen einer sachentsprechenden Umsetzung eines Volksentscheids im Bundesstaat Kalifornien. Beide haben sich im Ergebnis nicht bewährt.9

Natürlich sind die dortigen Haushaltsbestimmungen ganz anders als hier. So konnten im Bundesstaat New York vor Jahren die Staatsbediensteten für Wochen in (unbezahlten) Urlaub geschickt werden, als der Haushalt nicht rechtzeitig verabschiedet worden war. Hierzulande ist das nicht möglich, weil das geltende Nothaushaltsrecht in Bund und Ländern eine vorläufige Haushaltsführung vorsieht, die jedenfalls auf den Bestand der staatlichen Ordnung und die Fortführung begonnener Maßnahmen gerichtet ist. Im Bund (1972) und in Hessen (2008) hat die vorläufige Haushaltsführung weit über das Halbjahr hinaus angedauert, ohne dass das haushalts- und finanzwirtschaftliche Geschehen dort nachhaltig gestört gewesen wäre. Im Saarland wurde der Landeshaushalt 2010 nach Bildung einer bunten Koalition erst im Mai 2010 beschlossen und in Kraft gesetzt. Auch dabei wurde der – zunächst nur vorläufige – Haushaltsvollzug kaum behindert.

Ausgangspunkt für das Greifen der Schuldenregel ist das Haushaltsjahr 2010. Ausgabenvolumen und Kreditfinanzierungsvolumen dieses Haushaltsjahres bestimmen zumindest teilweise für Bund und Länder die Entwicklung der Haushalte der Folgejahre.

Eine denkbare Ausweichmöglichkeit ist die Auslagerung der Kreditaufnahme in Sondervermögen noch im Jahr 2010. Diesen Weg haben der Bund und verschiedene Länder, z.B. Hamburg, bereits im Jahr 2009 beschritten. Die durchgehende Begründung war, dass die Haushaltseinnahmen und -ausgaben unter den Folgen der Banken- und Wirtschaftskrise weit hinter den Planungen zurückgeblieben sind, bzw. dass zusätzlich Ausgaben zur Konjunkturbelebung erforderlich wurden. Diese Ausgaben sind allerorten ausschließlich über Kreditaufnahmen finanziert worden. Das kann ja auch finanzpolitisch zu rechtfertigen sein. Aus Sicht einer zyklisch orientierten Budgetausgleichsforderung können im Abschwung Haushaltsdefizite hingenommen und kreditär finanziert werden, die dann in Aufschwungphasen wieder abgebaut werden. Die leidvoll zu beobachtende Praxis – allerdings nicht nur in der Bundesrepublik – ist, dass die Schuldentilgung allemal schwerer fällt als die Kreditaufnahme. Erstaunlicherweise hat das Bundesverfassungsgericht in einer Leitentscheidung die Kreditaufnahme aus konjunkturellen Gründen zwar für grundsätzlich und grundgesetzlich erlaubt gehalten, allerdings den politischen Gremien eine Darlegungslast zur Erforderlichkeit und zur Geeignetheit auferlegt, letztlich also eine finanzpolitische Wirksamkeitsbegründung.10 Der Bund und die Länder sind dem in der Folgezeit ausschließlich in einer formalen Weise nachgekommen.

Die Regeln der Europäischen Gemeinschaft gehen – allerdings zunächst ohne Berücksichtigung eines Konjunkturfaktors – z.B. davon aus, dass normalerweise Budgetdefizite von 3% des Bruttoinlandsprodukts akzeptabel sind. Indes ist das die Norm, nicht die Regel. In festgestellten Rezessionsphasen kann diese Grenze überschritten werden, in Aufschwungsphasen soll sie unterschritten werden. Im Ergebnis soll das auf einen mittelfristig ausgeglichenen Haushalt der Mitgliedsländer hinauslaufen. Auch die Bundesrepublik (öffentlicher Gesamthaushalt) ist von der Einhaltung der Norm derzeit weit entfernt und hatte wie auch andere Länder in der Vergangenheit schon Beanstandungen der EU-Kommission gegen sich hinzunehmen.

Daran haben auch die Regeln für die Schuldenbegrenzung, die ab dem Jahr 2011 gelten, nichts geändert, nur dass es nun Sanktionsmöglichkeiten auch im Inland gibt, beispielsweise durch den neu geschaffenen Stabilitätsrat, der deutlich stärkere Handlungsmöglichkeiten als der frühere nur mit Empfehlungsgewalt ausgestattete Finanzplanungsrat besitzt. Konkrete Eingriffsmöglichkeiten hat allerdings auch der Stabilitätsrat nicht, er sucht derzeit noch nach einer Geschäftsordnung.

Schuldenbremse als institutionelles Vehikel

Wie schon bei der Festlegung der Beitrittskriterien zur Europäischen Währungsunion (Vertrag von Maastricht) haben sich die politisch Entscheidenden nicht der Mühe unterzogen, die Wirtschafts- und Finanzkraft, und damit die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte für Zinszahlungen und Tilgungen, vor allem aber die Entsprechung von Aufgaben- und Ausgabenzuständigkeit und die Entsprechung der ihnen zugewiesenen Gestaltung der Einnahmemöglichkeiten daraufhin zu überprüfen, ob sie in einem dauerhaft gesunden Verhältnis zueinander stehen. Damit ist die Aufgabe eines Finanzausgleichs in seiner allgemeinsten Form umschrieben. Diese Überprüfung ist auch bei der Gestaltung der öffentlichen Finanzen nach der Herstellung der deutschen Einheit Anfang der 90er Jahre unterlassen worden. Stattdessen hat man sich über Jahre und eigentlich auf Dauer mit Hilfskonstruktionen für die Abmilderung der finanziellen Länderlasten begnügt (z.B. Fonds Deutsche Einheit, Erblastentilgungsfonds u.a.).

Bei der Einrichtung der Schuldenbremse ist das wieder geschehen, wenn auch für eine Reihe finanzschwacher Länder unter bestimmten Bedingungen begrenzte Hilfen vorgesehen sind, wie schon ab 1994 unter dem Eindruck eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts für die damals (und heute) finanzschwachen Länder Bremen und Saarland. Das ist allerdings nur begrenzt inhaltlich vergleichbar.11

Das Vorgehensmuster: Verzicht auf Ursachen- und Wirkungsanalyse, finanzieller Teilausgleich und institutionelle Regelungen finden sich in der Einrichtung der Schuldenbremse für Bund und Länder ab dem Jahr 2011 wieder. Von finanzpolitischen Überlegungen ist erneut keine Rede gewesen. Man könnte allerdings auch die Auffassung vertreten, das wäre gar nicht erforderlich gewesen, weil die Wirksamkeit der Schuldenbremse unweigerlich finanzpolitische Entscheidungen zur Folge haben muss.12 Ich vertrete das nicht.

Die politisch Entscheidenden sind allerdings deshalb nicht so sehr zu schelten, weil ihnen die Wissenschaft, vorweg die Finanzwissenschaft, letztlich auch nichts grundsätzlich Anderes an Ratschlägen anbietet. Sachverständigengremien und Wissenschaftliche Beiräte haben seit Jahren der Politik ähnlich konzipierte handwerkliche Vorgehensweisen zur Umsetzung angeraten, die zum Teil auch noch durch allerlei komplizierte Ausgleichsrechnungen technisch verfeinert und durch letztlich krisenverschärfende Sanktionsmaßnahmen überfrachtet sind. Sie alle sind fernab von belastbaren finanzpolitischen Wirkungsanalysen und praktischen Durchsetzungsvorschlägen.13 Auch lassen die genannten Gremien die politisch Verantwortlichen in der praktischen Durchführung der tatsächlichen Begrenzung der Kreditaufnahme, und das geht letztlich nur durch Ausgabenminderungen oder Steuererhöhungen, weitgehend allein. Die Beratenden legen nicht fest, welche Ausgaben gekürzt und welche Einnahmen erhöht werden sollen, und auch nicht in welchem Umfang. Auch zu den Folgen einer geminderten Nettokreditaufnahme oder einer Schuldentilgung ist in den beratenden Stellungnahmen nichts ausgesagt. Zu den politischen Folgen, die sich in Umfrageergebnissen und später in Wahlergebnissen zeigen, kann man ohnehin keine Ratschläge von wissenschaftlicher Seite erwarten.

Was man allerdings erwarten kann ist, dass bei wissenschaftlich angegangenen Untersuchungen und Argumentationen möglichst vorurteilsfrei vorgegangen wird. Leider ist das nicht immer der Fall. So wird in einer (juristischen) Habilitationsschrift das Saarland – ohne Beleg – als „mäßig verwaltetes Grenzland“14 bezeichnet, Berlin wird – ohne nachvollziehbare Begründung – attestiert, es habe eine „überdimensionierte Ausgabestruktur“, die es nicht radikal(!) an die geschrumpften Erträge angepasst habe, Bremen und dem Saarland wird angesonnen, „verwaltungstechnisch effizienter durch einen Regierungspräsidenten geleitet“ werden zu können.15 Seitz wird konkret und rät Berlin zur Privatisierung oder Schließung seiner Opernhäuser, einer starken Beschneidung der Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen und der dafür erforderlichen Ausgaben sowie einem „Abspecken aller Dienstfahrzeuge“, da ist der Stammtisch nicht allzu fern.16

Mechanik und Politökonomie von Schuldenbremsen

In der Sache ist das Problem der überbordenden Kreditaufnahme der öffentlichen Haushalte einfach und lange bekannt. Spätestens seit dem Jahr 1944 sind die rechnerischen Zusammenhänge entdeckt und beschrieben. Nettokreditaufnahme, Zins und Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts bestimmen ihre Mechanik.17 Entsprechende Darstellungen lassen sich inzwischen weit verbreitet finden.18 Verfeinert worden sind sie in den letzten Jahren durch sogenannte „Nachhaltigkeitsbetrachtungen“19 sowie durch die Berechnung von Generationenbilanzen, die auch nicht etatisierte zukünftige Zahlungsverpflichtungen der öffentlichen Gebietskörperschaften mit einbeziehen.20

Alle diese Ansätze ändern trotz ihrer längerfristigen Betrachtungsweise und des Versuches einer empirischen Fundierung nichts daran, dass es sich um die Anwendung grundlegender Algebra handelt und dass sie von daher politökonomisch und hinsichtlich der finanzpolitisch wirksamen Einnahme- und Ausgabengestaltung wenig hilfreich sind. Alle in den verschiedenen Staaten inzwischen verabredeten oder gesetzlich beschlossenen „Schuldenbremsen“ haben bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen eine Gemeinsamkeit: Sie setzen auf festgeschriebene Regelungen der Ausgaben- oder Defizitbegrenzung. Sie haben keinen Bezug zu Prüfungen oder Prognosen der mutmaßlichen Wirkungen der Haushaltsentwicklungen auf die Gesamtwirtschaft.

Als in den USA, auch infolge der Wirkungen des Gramm-Rudman-Hollings-Gesetzes, der Haushalt eine Weile lang im Überschuss war, sind sofort Diskussionen aufgekommen, dass der Kapitalmarkt „austrocknen“ könnte, weil die öffentliche Hand, insbesondere als Schuldner von längerfristigen Kreditaufnahmen, ausfallen könnte. Das war schon seinerzeit ökonomisch Unfug, weil auf der Geldvermögensebene jedem Gläubiger ein Schuldner gegenübersteht.21 Immerhin hat das die damalige Diskussion eine Weile lang bestimmt. Auch gilt: Was die öffentliche Hand an Krediten aufnimmt, müssen die anderen Wirtschaftssektoren, die Haushalte, die Unternehmen und/oder das Ausland – freiwillig oder gezwungenermaßen – bereit sein zu geben. Von daher gibt es keine Grenzen der Kreditaufnahme für öffentliche Gebietskörperschaften. Aber es gibt andere Grenzen. Sie liegen insbesondere darin, dass die Gebietskörperschaften nicht nur Lasten der Vergangenheit, sondern auch Zinsen und Personalausgaben(!) zu finanzieren haben.

Die verabredeten und gesetzlich fixierten Kreditaufnahmegrenzen oder „Schuldenbremsen“ haben offenbar eine andere Begründung zum Ausgangspunkt. Sie misstrauen dem politischen Entscheidungsprozess darin, dass er kurz- oder mittelfristig in der Lage ist, die Staatsbürger vor einer Überforderung durch die Finanzierung der öffentlichen Ausgaben zu schützen. Gerade deshalb müssen die Entscheidungsträger daran gehindert werden, fortgesetzt neue Schulden zu machen.

Daran mag ja einiges richtig beobachtet sein. Es versteckt sich darin aber auch ein Misstrauen in die demokratische Willensbildung.22 Die Regelungen über die Einführung der Schuldenbremsen für Bund und Länder23 in der Bundesrepublik Deutschland könnte man auch als Selbstbremse der Entscheidenden gegen allfällige Anforderungen begreifen.

Damit stellt sich – politökonomisch – das Problem anders dar. Offenbar ist es notwendig, dass sich die politisch Handelnden externen Regeln unterwerfen, auf die sie sich im politischen Diskurs intern nicht einigen können. Die Vergangenheit spricht dafür. Spätestens seit Mitte der 80er Jahre hat etwa das Bundesverfassungsgericht Streitfragen zwischen den Ländern und dem Bund endgültig entscheiden müssen, auf die sich die Beteiligten nicht haben politisch einigen können. Beispiele sind:

  • die Frage, ob die Einnahmen aus der Erdölförderabgabe zu den in den Länderfinanzausgleich einzubeziehenden Ländereinnahmen zu zählen sind; das Bundesverfassungsgericht hat das eindeutig und vorhersehbar bejaht,
  • die Frage ob politische Führungskosten kleiner Länder im Länderfinanzausgleich berücksichtigt werden müssen, das Bundesverfassungsgericht hat das bejaht,
  • die Frage, ob unverschuldete Haushaltsnotlagen von Ländern vom Bund und den anderen Ländern finanziell mitgetragen werden müssen, das Bundesverfassungsgericht hat das bejaht,
  • die Frage, ob die finanzielle Notlage eines einzelnen Landes von allen anderen und dem Bund ausglichen werden müssen, wenn sie nicht erkennbar fremdverschuldet ist, das Bundesverfassungsgericht hat das verneint.

Mit der Einführung der Schuldenbremsen ist ein neues Zeitalter angebrochen. Alle sind nun gesetzlich aufgerufen, stark zu sparen, d.h. ihre Ausgaben zu begrenzen und ihre Einnahmemöglichkeiten auszuschöpfen. Das ist für Bund und Länder unterschiedlich schwierig. Nicht sicher ist, ob ihnen das gelingt. Sie haben vor allem unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen. Und es gilt auch: In den vergangenen Jahren ist vielfach versäumt worden, vor allem seit der Deutschen Einigung, Aufgabenkritik zu üben und damit zu entscheiden, was an öffentlichen Aufgaben und Ausgaben nicht oder nicht mehr notwendig ist. Diese Nicht-Entscheidungen werden den politisch Entscheidenden in den nächsten Jahren wie Blei auf die Füße fallen.

Die politisch und gesetzlich verabredeten Schuldenbremsen können helfen, Ausgaben zu mindern und Einnahmen zu erhöhen. Nicht helfen werden sie bei der politisch notwendigen Umsetzung derartiger politischer Entscheidungen. Und sie werden auch nicht dabei helfen können, dass diese Entscheidungen so getroffen werden, dass sie zu einem gesamtwirtschaftlich erwünschten Ergebnis führen.

Fazit und Folgerungen

Der politische Diskurs in den letzten 40 Jahren hat es nicht geschafft, die Schuldverpflichtungen der öffentlichen Gebietskörperschaften in Deutschland und sonstwo in der Welt in dem Rahmen zu halten, der keine ernsthaften Zweifel an der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen aufkommen lässt. Es bleibt dabei außer Ansatz, dass dazu nicht nur die angehäuften Zins- und Tilgungslasten zählen, sonder auch die Personal- und Versorgungslasten beigetragen haben. Als dies (endlich) öffentlich erkannt worden ist, hat der politische Prozess zu institutionellen Regelungen gegriffen, die derzeit Schuldenbremsen genannt werden. Die Klärung steht aus, ob die daraus folgenden gesamtwirtschaftlichen Wirkungen verträglich gestaltet und beherrscht werden können.

Für die Finanzpolitik muss eine neue Ausrichtung gesucht und gefunden werden: Weg von mechanistischen Ausrichtungen24 hin zu empirisch gestützten modellhaften Hypothesen über Wirkungszusammenhänge. Es reicht nicht aus, aus algebraisch fassbaren Zusammenhängen zwischen Definitionen und Saldenzusammenhängen Folgerungen abzuleiten. Verhaltensvermutungen als Reaktion auf wirtschaftliche Impulse und das Nachspüren ihrer praktisch beobachteten Bewährung müssen wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt werden, um daraus Regeln für die wirtschaftliche Gestaltbarkeit finanzpolitischen Handelns zu gewinnen. Da sehnt man doch die Auseinandersetzungen zwischen Keynesianern und Monetaristen früherer Jahre zurück.25

Ein Ansatz könnte die Revitalisierung des Konzepts des konjunkturneutralen Haushalts des Sachverständigenrates sein. Dieser hatte vor Jahren eine Aufspaltung des Haushaltsgebarens der öffentlichen Haushalte danach vorgeschlagen, inwiefern es als konjunkturneutral, konjunkturfördernd oder konjunkturbremsend eingestuft werden kann.26 Auch R. Musgrave hat die „Theorie des multiplen Budgets“ so aufgezogen.27 Danach gehören öffentliche Ausgaben für allokative Maßnahmen (Infrastrukturausbau und -förderung) sowie zur Einkommensumverteilung in den konjunkturneutralen Teil, der absichtsvoll konjunktur- und wachstumsgestaltende Teil könnte davon organisatorisch und darstellungstechnisch abgespalten werden und auch anderen Finanzierungsregeln unterliegen.

Bund und Länder haben in den Jahren ab 2008 aus anderen Gründen den Weg der Seitenfinanzierung (Landesbetriebe und Sondervermögen) beschritten, um die Bankenrettung nach der Finanzkrise (z.B. SOFFIN) und den Konjunkturanschub zu gestalten (Konjunkturfonds). Auf diesem Weg könnte man haushaltstechnisch und finanzpolitisch weitergehen, allerdings mit besseren Gründen.28

Der Verfasser dankt seinem langjährigen Kollegen, Diplom-Volkswirt Wolfgang Förster, erneut dafür, dass er sich früheren Fassungen des Textes kritisch angenommen hat. Er hat den Verfasser allerdings nicht von der Grundausrichtung des Textes abbringen können, und er ist auch nicht für die sicherlich verbliebenen gedanklichen Mängel verantwortlich. Auch Michael Hasselberg hat Anteil daran, dass der Text so geworden ist, wie er ist. Ich danke auch ihm.

  • 1 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967.
  • 2 Vgl. K.-P. Fox: Konzepte zur Beurteilung der konjunkturellen Wirkungen öffentlicher Haushalte, Bern u.a. 1974.
  • 3 Vgl. ebenda, S. 22.
  • 4 Siehe dazu vor allem und ausführlich: K.-P. Fox, a.a.O., S. 22 ff.
  • 5 Vgl. R. A. Musgrave: Finanztheorie, Tübingen 1966, Tei II.
  • 6 Vgl. etwa N. Andel: Finanzwissenschaft, 4. Aufl., Tübingen 1978; E. Nowotny: Der öffentliche Sektor, 2. Aufl., Berlin u.a. 1992; D. Wellich: Finanzwissenschaft I, München 2000; D. Brümmerhoff: Finanzwissenschaft, 6. Aufl., München und Wien 1992.
  • 7 Eine Ausnahme stellt das Lehrbuch von Zimmermann und Henke dar. Vgl. H. Zimmermann, K. D. Henke: Finanzwissenschaft, München 1994.
  • 8 Vgl. dazu J. Eekhoff, L. P. Feld, O. Sievert: Neuen Schuldenargumenten kein Ohr leihen, in: Frakfurter Allgemeine Zeitung, 16. Juli 2010, S. 12.
  • 9 Vgl. grundsätzlich zu Schuldenbremsen: T. Gruber: Rechtliche Schranken für staatliche Haushaltsdefizite, Europäische Hochschulschriften, Reihe V, Bd. 1905, Frankfurt u.a. 1995.
  • 10 Vgl. BVerfGE 79, 311, zur Situation der Länderhaushalte siehe: K.-P. Fox: Noch einmal: Kreditaufnahmegrenzen für Länderhaushalte, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1991, H. 21, S. 927 - 930.
  • 11 Auf diesen (Nicht-)Zusammenhang hat mich Wolfgang Förster aufmerksam gemacht.
  • 12 Diesen Hinweis verdanke ich Michael Hasselberg.
  • 13 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Haushaltskrisen im Bundesstaat, Schriftenreihe des Bundesministerium der Finanzen, H. 78, Berlin 2005; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit: Zur finanziellen Stabilität des Deutschen Föderalstaates, 2005; Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Staatsverschuldung wirksam begrenzen, Wiesbaden 2007. Für eine grundsätzliche Zusammenfassung siehe: K.-P. Fox: (Teil-)Entschuldung von Ländern in Rückblick und Ausblick, Schriftenreihe der Fachhochschule für Verwaltung des Saarlandes, H. 21, Saarbrücken 2005.
  • 14 Natürlich muss der Verfasser als langjähriger Bewohner dieses Landes dagegen Stellung beziehen, allerdings auch aus sachlichen Gründen.
  • 15 M. C. Kerber: Der verdrängte Finanznotstand, Berlin u.a. 2002, S. 217 bzw. 218 f.
  • 16 H. Seitz: Bailout für Berlin?, in: K. A. Konrad, B. Jochimsen (Hrsg.): Finanzkrise im Bundesstaat, Frankfurt u.a. 2006, S. 133-160, hier S. 154 f. Seitz hat sich allerdings darin gründlich geirrt, als er angenommen hat, das Bundesverfassungsgericht müsse(!) dem Land Berlin einen Ausgleichsanspruch im bundesstaatlichen Finanzausgleich im Haushaltsnotlage-Klageverfahren zubilligen. Vgl. ebenda, S. 154.
  • 17 Vgl. E. D. Domar: The „Burden of the Debt“ and the National Income, in: The American Economic Review, 34 (1944), H. 4, S. 789 ff.
  • 18 Vgl. etwa M. C. Kerber, a.a.O., S. 57 ff.
  • 19 Vgl. dazu etwa B. Huber, M. Runkel: Nachhaltigkeit, Haushaltsnotlagen und die Finanzpolitik Berlins, in: K. A. Konrad, B. Jochimsen, a.a.O., S. 117-131.
  • 20 Vgl. etwa B. Raffelhüschen, L. J. Kotlikoff: Generational Accounting – Eine Alternative zur Messung intergenerativer Umverteilungspolitik, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 1996, S. 181 ff.
  • 21 Vgl. grundlegend: W. D. Graß, W. Stützel: Volkswirtschaftslehre – Eine Einführung, 2. Aufl., München 1988, S. 89 ff.
  • 22 Vgl. dazu: J. M. Buchanan, R. E. Wagner: Democracy in Deficit – The Political Legacy of Lord Keynes, New York u.a. 1977; siehe auch D. Duwendag: Staatsverschuldung – Notwendigkeit und Gefahren, Baden-Baden 1983, S. 145 ff.
  • 23 Für die Begrenzung der Kreditaufnahme der Kommunen sind „ihre“ Länder – denn die Kommunen sind verfassungsrechtliche Teile der Länder – verantwortlich.
  • 24 Vgl. etwa V. Anhäuser: Zur Koordinierung der Schuldenstruktur in Europa, Frankfurt u.a. 2006.
  • 25 Vgl. dazu jüngst A. Meltzer: Unhaltbare Versprechen der Populär-Keynesianer, in: Handelsblatt vom 12. Juli 2010.
  • 26 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1967/68. Stabilität im Wachstum, Stuttgart und Mainz 1967, Ziffer 184. Eine vergleichende Darstellung der seinerzeit entwickelten Konzepte hat Fox gefertigt. Vgl. K.-P. Fox: Konzepte zur Beurteilung der konjunkturellen Wirkungen öffentlicher Haushalte, Frankfurt u.a. 1974.
  • 27 Vgl. R. A. Musgrave, a.a.O., Kapitel 1 und 2.
  • 28 Vgl. dazu K.-P. Fox: Sondervermögen zu Sonderschulden, Schriftenreihe der Fachhochschule der Verwaltung des Saarlandes, Band 23, Saarbrücken 2010.

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DOI: 10.1007/s10273-010-1114-5