Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Der ökonomische Beobachter der Eurozone reibt sich vor Verwunderung die Augen. Erst vor zwei Jahren wurde mit großer Begeisterung das zehnjährige Jubiläum der Einführung des Euro als beispielloses Erfolgsmodell gefeiert. Heute reden viele mit beinahe selbstverständlicher Leichtigkeit vom Zerfall der Eurozone, vom Scheitern des Euro, von einer Aufspaltung in einen Nord- und in einen Südeuro, von einer Wiedereinführung der D-Mark etc. Ebenso verwundern die bis vor kurzem noch täglich neu präsentierten Vorschläge zur Überwindung der Eurokrise, ohne dass überhaupt die Frage nach den Ursachen der Krise gestellt wird. Die Eurokrise ist eine Staatsschuldenkrise, die mit immer neuen Variationen des Themas Solidarität bzw. Finanztransfers für überschuldete Mitgliedstaaten überwunden werden soll.

Im vierten Jahr der Finanzkrise ist die Finanzpolitik vom Stabilitätsanker zum Risikofaktor geworden. Die massiven Haushaltsprobleme in den Ländern der südlichen Peripherie der EU und in Irland treiben die Eurozone an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Neben den Finanzmärkten wird vielfach der angeblich gescheiterte Stabilitäts- und Wachstumspakt für diese Schieflage verantwortlich gemacht. Vielerorts wird auch das Fehlen einer politischen Union beklagt, ohne die die europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zum Scheitern verurteilt sei. Allerdings hat bis heute keiner dieser Kritiker definiert, wie viel politische Union für den Erfolg der Eurozone notwendig sei. Das für den Erfolg der Währungsunion notwendige konstituierende Element einer politischen Union ist die Verpflichtung der dezentralen Finanzpolitik der Mitgliedstaaten auf die Sicherung der Haushaltsdisziplin, d.h. die stabilitätsgerechte finanzpolitische Koordinierung auf Gemeinschaftsebene. Dies gilt ebenso für die Wirtschaftspolitik. Allerdings wurde das WWU-Regelwerk praktisch nie angemessen angewandt. Europäische Kommission und Ministerrat haben den politischen Ermessensspielraum jeweils extensiv ausgelegt. Die politische Opportunität hat die notwendigen Korrekturen verhindert, bis sie erst im Rahmen einer tiefen Stabilisierungskrise unter dem Druck der Finanzmärkte erzwungen wurden. Der gemeinschaftliche Anpassungsdruck – die sogenannte Peer Pressure – hat klar versagt. Dies ist die eigentliche Ursache der Eurokrise.

Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs hat auf seinem Treffen am 16./17. Dezember 2010 die endgültigen Weichen für eine Überwindung der Eurokrise gestellt. Durch eine Änderung des Vertrages von Lissabon soll ab 2013 ein neuer ständiger Mechanismus Finanzhilfen für überschuldete Länder zur Verfügung stellen, wenn die Finanzstabilität der Eurozone als Ganzes gefährdet ist. Ebenso sollen der Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert und die wirtschaftspolitische Steuerung in der EU verstärkt werden. Bei dieser Reform kommt es entscheidend darauf an, die neuen Regeln der politischen Flexibilität zu entziehen. Wer weiterhin uneingeschränkt auf dem Primat der Politik besteht, hat die Eurozone als Konstrukt sui generis mit zentraler Geldpolitik und dezentraler Haushaltspolitik nicht verstanden. Ohne strikte Selbstbindung der Mitgliedstaaten für Haushaltsdisziplin wird die Eurozone nicht überleben.

Das Gleiche gilt für den Ruf nach einer Verstärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung. Seit Jahrzehnten verlangt das Gemeinschaftsrecht unmissverständlich eine strikte Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Gleichzeitig wird nunmehr selbst in Deutschland der Ruf nach einer von Frankreich seit Jahren propagierten Europäischen Wirtschaftsregierung laut, ohne dass jemand bisher eine Definition dafür geliefert hätte, welche Kompetenzen eine solche Wirtschaftsregierung haben soll. Soll die Währungsunion sich zu einer Haushalts-, Fiskal-, Sozial- oder Transferunion entwickeln? In jedem Fall dürfte eine Strategie nach dem Motto „One size fits all“ auch hier scheitern.

Sofern die neue Architektur der Europäischen Währungsunion keinen ausreichenden Konvergenzdruck ausübt, bleibt als wirksames Disziplinierungsinstrument der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken nur der Marktmechanismus übrig, d.h. eine unsolide Haushaltspolitik wird frühzeitig durch steigende Risikoprämien bzw. Zinsen auf Anleihen überschuldeter Länder sanktioniert. Um die Funktionsfähigkeit des Marktmechanismus zu erhalten, sollte die Systemrelevanz solcher Länder abgebaut werden. Es gibt nicht nur systemrelevante Banken, sondern aufgrund der erreichten Integrationstiefe der Finanzmärkte auch systemrelevante Länder. Stellen sie weiterhin ein systemisches Risiko für die Stabilität des europäischen Bankensektors – in der Kommuniquésprache für die Stabilität des Euro – dar, haben die Regierungen der übrigen Euroländer keine andere Wahl als die Übernahme der Haftung bzw. der Schulden der Defizitländer. Die Option einer Insolvenz besteht nicht. Sie wird auf Kosten des Steuerzahlers zugunsten der Anleihegläubiger verhindert. Deutsche Bank Chef Ackermann schlussfolgert daraus in seinem Sinne richtig: „Für Europa sollte kein Preis zu teuer sein.“

Die Systemrelevanz überschuldeter Länder kann – worauf jüngst der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hingewiesen hat – durch entsprechende Eigenkapitalvorschriften für die Finanzinstitute abgebaut werden, die Staatsanleihen solcher Länder halten. Der Eigenkapitalaufbau sollte dabei auf der Zeitschiene erfolgen; eine Schocktherapie wäre kontraproduktiv. Erst dann sind Insolvenz und Ausschluss der Übernahme der Haftung durch solvente Mitgliedstaaten wieder möglich. Erst dann können auch Überlegungen für Umschuldung und Beteiligung der Privatgläubiger an der Stabilisierung der Schuldnerländer sinnvoll werden. Der Abbau der Systemrelevanz insolventer Mitgliedstaaten ist die notwendige Bedingung dafür, dass sie die Eigenverantwortung für die Stabilität ihrer Staatsfinanzen wieder übernehmen. Ein im Voraus geregeltes geordnetes Insolvenzverfahren als institutionelle Untermauerung ist dann die hinreichende Bedingung. Realistischerweise ist jedoch davon auszugehen, dass einem zahlungsunfähigen Staat auf Jahre hinaus der Zugang zum Kapitalmarkt versperrt bleibt. Eine Bedienung der Restschuld über die Finanzmärkte ist damit unmöglich. In diesem Fall wäre es vertretbar, nach einem geregelten Insolvenzverfahren als Ultima Ratio den neuen Krisenfonds mit strikten finanz- und wirtschaftspolitischen Auflagen zu aktivieren.

Die derzeitigen Reaktionen der Finanzmärkte belegen deren mangelndes Vertrauen in die nachhaltige Reformfähigkeit der Regierungen. Von vielen wird deshalb bereits der Weg in einen europäischen Finanzausgleich ökonomisch als unausweichlich angesehen. Der Ankauf von Staatsanleihen überschuldeter Euroländer durch die Europäische Zentralbank stellt bereits den ersten konkreten Schritt in eine Transferunion dar. Beinahe erschreckend mutet an, mit welcher Selbstverständlichkeit nach Auffassung mancher Europapolitiker traditionelle deutsche „Stabilitätskühe“ geschlachtet werden sollen. So stellt die im Vorfeld des Europäischen Rates diskutierte Emission von Euro-Anleihen nicht nur die Vorwegnahme einer Ausweitung des Krisenfonds dar, allerdings ohne jede Konditionalität für die Defizitländer, sondern auch eine Subventionierung überschuldeter Länder durch solvente Mitgliedstaaten. Der Weg in einen europäischen Finanzausgleich dürfte die Solidarität nicht nur des deutschen Steuerzahlers überfordern, sondern auch der Euroskepsis und dem Rechtsradikalismus Auftrieb verleihen. So unbequem manchen Politikern nicht nur in Deutschland auch die Erkenntnis sein mag, dass allein politischer Wille ökonomische Gesetzmäßigkeiten nicht überspringen kann, so gilt ohne Einschränkung weiterhin, was bereits vor knapp 100 Jahren der österreichische Nationalökonom Eugen von Böhm-Bawerk feststellte: „Macht kann sich eine Zeit lang behaupten, letztlich setzt sich aber das ökonomische Gesetz durch.“

Beitrag als PDF


DOI: 10.1007/s10273-011-1163-4