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Der Krisenverlauf und die Bemühungen der Politik gegenzusteuern lassen den Eindruck entstehen, dass die Finanzmärkte die Politik vor sich hertreiben. Die Politik hat offenbar durch ein Regulierungsversagen die Marktkräfte nicht genügend gebändigt. Wurden die Kapitalmärkte nicht schon seit langem von der Politik privilegiert? Welche konkreten Vorschläge gibt es, die Euroländer von den Finanzmärkten unabhängiger zu machen? Welche Erfahrungen wurden in der Vergangenheit mit Verschuldungskrisen gemacht?

Wie können sich die Mitgliedsländer des Euroraums aus dem Würgegriff der Finanzmärkte befreien?

In den beiden letzten Jahren ist es für mehrere Mitgliedsländer des Euroraums zu einem starken Anstieg der langfristigen Zinsen gekommen. Die zunehmende Zinsbelastung erschwert nicht nur die Konsolidierungsanstrengungen in den Problemländern, über Kursverluste bei Staatsanleihen destabilisiert sie zugleich das Finanzsystem. Diese sich selbst verstärkenden Entwicklungen im Euroraum stehen in einem deutlichen Kontrast zur Situation in Japan, Großbritannien und den USA. Obwohl diese Länder ebenfalls sehr hohe und teilweise noch gravierendere Defizite als die Problemländer des Euroraums aufweisen, ist es ihnen bis zuletzt möglich gewesen, sich zu historisch niedrigen Zinsen auf den internationalen Finanzmärkten zu refinanzieren. Hohe Zinsen für Länder mit Verschuldungsproblemen sind somit kein Gott gegebenes Schicksal.

Eurobonds sorgen für stabile Staatsfinanzen

Da die Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung neben dem zu erwartenden Wachstum des nominalen Bruttoinlandsprodukts wesentlich von der Höhe der Anleihezinsen abhängt, liegt es nahe, die institutionellen Rahmenbedingungen in Europa so zu gestalten, dass sich die Mitgliedsländer des Euroraums zu ähnlich günstigen Konditionen refinanzieren können wie Japan, Großbritannien und die USA. Dies ließe sich unmittelbar durch die Einführung von Eurobonds erreichen. Indem die Teilnehmerländer der Währungsunion eine gemeinsame Haftung für Staatsanleihen übernehmen, beseitigen sie das Risiko der individuellen Zahlungsunfähigkeit eines Staates. Der Zins für Eurobonds müsste deshalb nicht wesentlich höher ausfallen als die derzeitige Rendite von Bundesanleihen. Er würde sich jedenfalls nicht als Durchschnitt aus den aktuellen Zinssätzen der Mitgliedsländer ergeben, da diese für die Problemländer einen Risikoaufschlag für das Risiko der nationalen Zahlungsunfähigkeit enthalten, das mit Eurobonds entfallen würde. Der Zins für gemeinschaftliche Anleihen dürfte vielmehr aus dem Vergleich mit US-Anleihen resultieren, die für große Investoren die einzig relevante Anlagealternative darstellen. Da die Neuverschuldung des Euroraums mit 2,9% im Jahr 2012 weniger als ein Drittel des US-Defizits (9,3%) ausmacht, müsste die Rendite für Euroanleihen im Prinzip unter dem Niveau von US-Staatsanleihen liegen, das derzeit rund 2% beträgt.

Mit Eurobonds kann also ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Staatverschuldung des Euroraums geleistet werden. Da sie die Zinsbelastung auf ein erträgliches Niveau reduzieren, ermöglichen sie es insbesondere den hoch verschuldeten Ländern, den Anstieg der Schuldenstandsquote zu stoppen und mittel- und langfristig wieder eine solide Relation der Verschuldung zur Wirtschaftsleistung zu erreichen.

Das Versagen der Marktdisziplin in der Währungsunion

Für viele Ökonomen besteht das Hauptproblem von Eurobonds darin, dass sie die Marktdisziplin außer Kraft setzen. Dies ist jedoch nur dann als Nachteil zu sehen, wenn man belegen kann, dass von der Marktdisziplin in der Vergangenheit positive Effekte ausgegangen sind und dass es zugleich nicht möglich ist, als Alternative dazu wirksame Formen der politischen Disziplinierung zu etablieren.

Es ist daher zunächst zu prüfen, ob es tatsächlich einen stabilen Zusammenhang zwischen den Zinsunterschieden in der Währungsunion und fundamentalen ökonomischen Daten gibt, so dass man daran Erfolge einer glaubwürdigen Stabilisierungspolitik „wie an einem Thermometer“1 ablesen kann.

Der Vertrag von Maastricht ist grundsätzlich so konzipiert worden, dass den Finanzmärkten eine wichtige Rolle bei der Disziplinierung der Fiskalpolitik eingeräumt wurde. So wurde mit der No-Bailout-Klausel und dem Verzicht auf Rettungsmechanismen für den Fall von Liquiditäts- oder Solvenzproblemen der Mitgliedstaaten ein klares Signal für die Märkte gesetzt, dass sie bei Zahlungsschwierigkeiten eines einzelnen Teilnehmerlandes nicht auf die Unterstützung der Gemeinschaft setzen können. Allerdings waren sich die Architekten der Währungsunion durchaus der Grenzen der Marktdisziplin bewusst. So wurde im Delors-Bericht, der 1989 von den EU-Notenbankpräsidenten und anderen Experten erstellten Blaupause für die Währungsunion2 schon frühzeitig festgestellt, dass die von Märkten ausgehenden Disziplinierungsmechanismen entweder zu langsam und zu schwach und dann aber zu plötzlich und zu abrupt ausfallen könnten. Aus diesem Grund wurde die Marktdisziplin im Vertrag von Maastricht um Mechanismen ergänzt, die auf eine politische Disziplin setzen: das Verfahren für exzessive Defizite, das durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt im Jahr 1997 zusätzlich verschärft wurde.

Die Phase von 1999 bis 2008: Marktdisziplin versagt, deutliche Erfolge durch politische Disziplin

Die Skepsis der Autoren des Delors-Berichts ist durch die Erfahrungen der letzten zwölf Jahre eindrucksvoll bestätigt worden. Nimmt man die Zinsaufschläge für langfristige Anleihen gegenüber der Bundesanleihe als Indikator für die Risikoeinschätzung der Märkte, so lässt sich feststellen, dass die Investoren über mehr als neun Jahre hinweg keinerlei Probleme bei der Fiskalpolitik der Mitgliedsländer identifiziert haben. Selbst für Griechenland ging der Zinsaufschlag bis zur Jahresmitte 2008 nicht über einen halben Prozentpunkt hinaus. Diese gravierende Fehleinschätzung ist heute kaum nahvollziehbar. Griechenland ist es während seiner Mitgliedschaft in der Währungsunion nie gelungen, das Defizit unter die 3%-Grenze des Vertrags von Maastricht zu führen, da die Steuereinnahmen des Landes traditionell extrem niedrig waren. Aus diesem Grund ist die hohe Schuldenstandsquote trotz einer bis 2007 ungewöhnlich dynamischen Wirtschaftsentwicklung nie unter 110% zurückgegangen. Im Bericht der Kommission zum exzessiven Defizitverfahren Griechenlands vom 16. Mai 2007 war außerdem deutlich zu erkennen, dass die Defizitwerte ex post fortlaufend in einem beachtlichen Ausmaß nach oben angepasst werden mussten (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Die Revision griechischer Daten – Haushaltsdefizit
in % des BIP
  2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
März 2004 -2,0 -1,4 -1,4 -1,7      
Sep. 2004 -4,1 -3,7 -3,7 -4,6      
März 2005   -3,6 -4,1 -5,2 -6,1    
Sep. 2005   -6,1 -4,9 -5,7 -6,6    
Apr. 2006     -4,9 -5,8 -6,9 -4,5  
Okt. 2006     -5,2 -6,1 -7,8 -5,2  
Apr. 2007       -6,2 -7,9 -5,5 -2,6

Quelle: Europäische Kommission, http://ec.europa.eu/economy_finance/economic_governance/sgp/pdf/30_edps/104-12_commission/2007-05-16_el_104-12_commission_en.pdf.

All das hat die Märkte über Jahre hinweg völlig kalt gelassen. Von den Ratingagenturen wurde das Rating Griechenlands in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts sogar fortlaufend verbessert. Auch die tief greifenden Strukturprobleme Italiens und sein ebenfalls anhaltend hoher Schuldenstand waren ein im letzten Jahrzehnt nicht zu übersehendes Problem, ohne dass dies die Märkte im Geringsten beunruhigt hätte.

Doch während die Marktdisziplin in dieser Phase völlig versagte, ist es mit der durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt eingeforderten Disziplin durchaus möglich gewesen, beachtliche Konsolidierungserfolge zu erreichen. Von 1998 bis 2007 konnte die Schuldenstandsquote in Finnland, Irland, Italien, den Niederlanden und Spanien in einer Größenordnung von 20 bis 30 Prozentpunkten reduziert werden (vgl. Tabelle 2). Deutschland und Österreich bewegten sich vor Ausbruch der Krise nahe an der 60%-Grenze, Luxemburg lag weit darunter. Frankreich und Portugal waren mit Schuldenstandsquoten von 72% beziehungsweise 75%, die zudem eine steigende Tendenz aufwiesen, schon problematischere Fälle. Insgesamt gesehen ist jedoch Griechenland das einzige Land, in dem die politische Disziplin in der Phase bis zum Jahr 2007 völlig versagt hat. Die insgesamt disziplinierende Wirkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts zeigt sich besonders im Vergleich mit anderen Währungsräumen. Die Reduktion der Schuldenstandsquote war in Großbritannien mit 5,3 Prozentpunkten nur halb so hoch wie im Euroraum. In den USA belief sie sich auf lediglich 2,2 Prozentpunkte und in Japan stieg diese Größe von 113% auf 167%. Im OECD-Raum insgesamt blieb die Schuldenstandsquote nahezu konstant. So gesehen ist es nicht zutreffend, wenn Anhänger der Marktdisziplin die Wirksamkeit politischer Disziplin im Euroraum grundsätzlich in Frage stellen.3 Es ist vielmehr genau umgekehrt: Während die Marktdisziplin bis zum Jahr 2008 völlig versagte, ist es mit dem Stabilitäts-und Wachstumspakt gelungen, im Euroraum insgesamt eine beachtliche Konsolidierung herbeizuführen. Der in der Folgezeit zu beobachtende deutliche Anstieg der Schuldenstandsquote in allen Mitgliedsländern ist nicht auf eine unverantwortliche Fiskalpolitik, sondern vielmehr auf die Notwendigkeit zurückzuführen, die gravierenden Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise durch staatliche Maßnahmen abzufedern. Diese unvermeidliche Zunahme der Verschuldung blieb im Euroraum jedoch deutlich geringer als in Japan, Großbritannien und den USA.

Tabelle 2
Entwicklung der Schuldenstandsquoten
  1998 2007 Veränderung der Schulden­standsquote
  in % des BIP Prozentpunkte
Belgien 123,2 88,1 -35,1
Deutschland 62,2 65,3 3,2
Finnland 61,2 41,4 -19,8
Frankreich 70,3 72,3 2,0
Griechenland 97,7 112,9 15,2
Irland 62,1 28,8 -33,3
Italien 132,6 112,8 -19,8
Luxemburg 11,2 11,7 0,4
Niederlande 80,8 51,5 -29,3
Österreich 68,4 63,1 -5,2
Portugal 63,3 75,4 12,1
Spanien 75,3 42,1 -33,2
Japan 113,2 167,0 53,9
Großbritannien 52,5 47,2 -5,3
USA 64,2 62,0 -2,2
Euroraum 81,5 71,6 -9,9
OECD insgesamt 74,2 73,1 -1,1

Quelle: OECD Economic Outlook, Nr. 89, Annex Tables.

Die Krisenphase 2010 bis 2011: Marktdisziplin unterläuft die Konsolidierungsanstrengungen

Im Laufe des Jahres 2010 wurde die jahrelange Apathie der Finanzmärkte zunehmend durch Panik ersetzt. In Wellen flüchteten die Investoren zunächst aus griechischen, dann aus irischen und portugiesischen Anleihen. Die noch bis zum Frühjahr 2011 gehegte Hoffnung, Italien, Spanien und Belgien könnten sich diesem Bond-Run entziehen, wurde im Laufe des Sommers zunehmend enttäuscht. Mittlerweile sehen sich diese Länder mit Zinsaufschlägen von rund 5 Prozentpunkten konfrontiert.

Die panische Reaktion der Anleihemärkte ist ein deutlicher Beleg dafür, wie sehr sich die Investoren vom Herdenverhalten und wie wenig sie sich von den tatsächlichen fiskalpolitischen Fundamentaldaten der Länder leiten lassen. So ist es allen Problemländern in den beiden letzten Jahren gelungen, das um Konjunktureffekte bereinigte Defizit massiv zu reduzieren (vgl. Tabelle 3). Die für das Jahr 2012 beschlossenen Maßnahmen sehen eine weitere deutliche Konsolidierung vor. So war in der Prognose der OECD vom November 2010 für Italien im Jahr 2012 noch ein konjunkturbereinigtes Defizit von 1,2% erwartet worden, in der Prognose vom November 2011 sind es nur noch 0,3%. Italien ist von seinem Haushaltsdefizit nach Deutschland das zweitstabilste G7-Land. Selbst der Rücktritt Berlusconis und die Amtsübernahme durch einen ebenso kompetenten wie stabilitätsorientierten Ökonomen wie Mario Monti konnte nicht noch mehr zur Stabilisierung der Lage beitragen.

Tabelle 3
Budgetsaldo ausgewählter Länder
  2009 2010 2011 2012 2011 gegen 2009
  in % des BIP Prozentpunkte
Griechenland -13,5 -6,5 -1,8 2,0 11,7
Irland -10,6 -25,5 -6,6 -5,3 4,0
Italien -3,9 -3,1 -2,5 -0,3 1,4
Portugal -9,1 -9,1 -4,6 -1,7 4,5
Spanien -9,8 -7,0 -3,6 -1,4 6,2
Japan -7,0 -6,5 -7,3 -7,6 -0,3
Großbritannien -9,2 -8,4 -7,5 -6,5 1,7
USA -9,8 -9,0 -8,3 -7,7 1,5
Euroraum -4,9 -4,6 -2,7 -1,3 2,2
OECD insgesamt -7,1 -6,6 -5,7 -4,9 1,4

Quelle: OECD Economic Outlook, Nr. 90, November 2011.

Wie wenig die Märkte zwischen den fiskalischen Bemühungen der einzelnen Länder differenzieren und wie sehr sie sich von der Einschätzung über Hilfen der EZB oder mögliche Rettungsfazilitäten leiten lassen, zeigt sich an der sehr engen Korrelation der täglichen Veränderungen der Zinsaufschläge für Italien und Spanien. Sie lässt sich nur schwer damit vereinbaren, dass fiskalisch relevante Maßnahmen und makroökonomisch bedeutsame Daten in beiden Ländern zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten bekannt wurden (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
Zinsaufschlag1 für italienische und spanische Anleihen gegenüber der zehnjährigen Bundesanleihe
Bofinger Abb-1.ai

1 Korrelation der täglichen prozentualen Veränderung.

Wie absurd die Marktdisziplin funktioniert, wird vollends deutlich, wenn man die Fiskaldaten der Problemländer des Euroraums mit denen Japans, Großbritanniens und der USA vergleicht. Dort sind die konjunkturbereinigten Defizite durchweg höher, was wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass die Konsolidierungsanstrengungen sehr viel weniger ambitioniert waren. Im Fall Japans liegt das Defizit im Jahr 2011 sogar über dem Wert des Jahres 2009. Wer nun erwarten würde, dass sich die unzureichende Fiskaldisziplin in hohen langfristigen Zinsen niederschlagen würde, muss erkennen, dass sich diese drei Länder in den Krisenjahren 2010 und 2011 zu historisch niedrigen langfristigen Zinsen finanzieren konnten.

Dieses Paradox verdeutlicht das Grundproblem der Marktdisziplin. Für den Inhaber einer Staatsanleihe ist es im Prinzip von geringem Interesse, wie sich die Wirtschaft eines Landes konkret entwickelt. Es geht ihm allein um die Frage, ob es zu einer Situation kommen kann, in der die Rückzahlung der Anleihe gefährdet ist. Für Japan, Großbritannien und die USA ist eine Zahlungsunfähigkeit nahezu unwahrscheinlich, da diese Länder nur in ihrer Landeswährung verschuldet sind und über Notenbanken verfügen, die durch massive Anleihekäufe den Märkten klar signalisiert haben, dass sie im Notfall bereit stehen, unbegrenzt Anleihen am Markt anzukaufen.

Für die Mitgliedsländer des Euroraums stellt sich die Situation völlig anders dar, da sie in Euro verschuldet sind, ohne dass sie in der Lage sind, die zur Rückzahlung fälliger Anleihen erforderlichen Mittel selbst zu schaffen. Durch die Beteiligung an der Währungsunion entsteht somit ein Insolvenzrisiko, dass in dieser Form sonst nicht gegeben gewesen wäre. So hätten italienische Banken und Versicherungen bei Beibehaltung der Lire weiterhin einen großen Teil italienischer Staatsanleihen gehalten, die in der Landeswährung denominiert gewesen wären. Für einen individuellen Anleger in Staatsanleihen des Euroraums ist es nun entscheidend, wie die anderen Anleger das Ausfallrisiko einschätzen, wobei diese ebenfalls Erwartungen über die Einschätzungen anderer Anleger machen müssen. In seiner „General Theory“ spricht Keynes deshalb von „Erwartungen dritten Grades“, die für das Anlageverhalten auf spekulativen Märkten entscheidend seien.4 Bei einem solchen Koordinationsproblem spielen Konventionen eine entscheidende Rolle. Bis zur Lehman-Krise galt für die Investoren die Konvention, dass alle Anleihen des Euroraums absolut sicher seien. Aus diesem Grund wurden die fiskalischen Probleme Griechenlands nicht zur Kenntnis genommen. Im Laufe der Jahre 2010 und 2011 wurde für immer mehr Länder die Sicherheit ihrer Anleihen in Frage gestellt. Hierbei hat die Politik eine entscheidende Rolle gespielt, indem sie immer deutlicher signalisierte, dass sich die Investoren grundsätzlich auf Verluste bei Staatsanleihen einstellen müssten.

So wurde von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy bei ihrem Treffen in Deauville am 17. Oktober 2010 erstmals die Beteiligung privater Gläubiger bei Zahlungsproblemen von Mitgliedstaaten ins Spiel gebracht. Für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), sollte dies dann vertraglich fixiert werden. Zudem soll durch „Collective Action Clauses“ in Staatsanleihen ein Mechanismus verankert werden, der Umschuldungsverhandlungen erleichtere. Paul de Grauwe hat darauf hingewiesen, dass solche Klauseln bisher nur für die Anleihen von Schwellen- und Entwicklungsländern Anwendung gefunden hatten5 und somit zu einer Abwertung der Bonität der Mitgliedsländer des Euroraums geführt hätten.

Die auf dem Gipfel vom 26. Oktober 2011 beschlossene „Hebelung“ des EFSF hat die Verunsicherung noch zusätzlich verstärkt. Indem den Inhabern von Staatsanleihen eine Ausfallversicherung in der Höhe von 20% in Aussicht gestellt wurde, hat die Politik den Märkten ein deutliches Signal gesetzt, das selbst für Länder wie Spanien oder Italien das Risiko eines nennenswerten „Haircuts“ bestehe.

Die in den letzten zwölf Monaten stark angestiegenen Risikoprämien für Länder wie Spanien und Italien können somit nicht als Ausdruck einer wünschenswerten Disziplinierung unsolider Staaten angesehen werden. Sie spiegeln vielmehr eine durch politische Ankündigungen geschaffene Verunsicherung der Investoren, die sich in vollem Bewusstsein des Herdenverhaltens von Staatsanleihen dieser Länder trennen. Doch anstelle die von den Problemländern konsequent in Angriff genommene Konsolidierung der Staatshaushalte zu fördern, führt diese Form der Marktdisziplin dazu, dass es für die hoch verschuldeten Länder immer schwieriger wird, ihre Verschuldung in den Griff zu bekommen.

Die Unfähigkeit der Finanzmärkte, die makroökonomische Situation einer Volkswirtschaft angemessen in Marktpreisen zu reflektieren, ist den Beobachtern der Devisenmärkte schon seit Jahrzehnten bekannt. Auch hier hatten viele Ökonomen darauf gesetzt, dass Marktmechanismen eine gute Wirtschaftspolitik belohnen und eine schlechte bestrafen würden. Für die wichtigsten Weltwährungen kommen empirische Studien jedoch übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen makroökonomischen Fundamentaldaten und den Veränderungen eines flexiblen Wechselkurses gibt. Dieses „disconnect puzzle“6 lässt sich unschwer auf die Situation auf den europäischen Anleihemärkten übertragen. Das Vertrauen deutscher Politiker und Ökonomen in die stabilisierenden Wirkungen der Marktdisziplin ist somit durch die Empirie in keiner Weise gestützt.

Die Lösung: Eurobonds und eine verstärkte Fiskaldisziplin

Eurobonds sind daher ein wichtiger Beitrag, um die Fiskalpolitik der Mitgliedsländer vor den destabilisierenden Effekten panischer Märkte zu schützen. Damit dies nicht auf einen „soft-budget constraint“ für die einzelnen Mitgliedsländer hinausläuft, muss eine Eurobonds-Lösung simultan mit einer effizienteren gemeinschaftlichen Kontrolle über die nationalen Haushalte einhergehen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt dürfte dafür auch in seiner reformierten Form nicht ausreichend stringent sein.

Zum einen besteht dabei das Problem, dass die relevanten Entscheidungen nach wie vor vom Rat der Wirtschafts- und Finanzminister getroffen werden. Bei einer allgemein angespannten Haushaltslage besteht so eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die für das Ergreifen von Sanktionen erforderliche Mehrheit nicht zustande kommt. Zum anderen sind die Prozeduren noch immer sehr langwierig und die Sanktionen in Form des Hinterlegens von Einlagen, die als „ultima ratio“ auch einbehalten werden können, wenig zielführend.

Eine so weitreichende Gemeinschaftshaftung wie bei den Eurobonds setzt voraus, dass Fehlentwicklungen bereits ex ante wirksam verhindert werden können. Dies kann dadurch erreicht werden, dass nationale Haushalte durch das Europäische Parlament genehmigt werden müssen. Diese Pflicht könnte entfallen, wenn ein Mitgliedsland seine Fiskalpolitik an einer wirksamen, verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse ausrichtet oder wenn die Schuldenstandsquote unterhalb des Grenzwertes von 60% liegt. Zudem könnte dem Europäischen Parlament die Befugnis erteilt werden, für einzelne Länder temporäre Zuschläge auf die Einkommen- oder Mehrwertsteuer zu erheben, wenn die Haushaltssituation eines Landes als unsolide eingestuft wird.

Es muss also darum gehen, die erratische Marktdisziplin und die ebenfalls unbefriedigende Disziplinierung durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt durch einen wirkungsvolleren politischen Disziplinierungsmechanismus abzulösen. Das Europäische Parlament erscheint hierfür besonders geeignet zu sein, da es aufgrund seiner hohen Diversifikation nur schwer durch kurzfristige Interessen der nationalen Politik zu beeinflussen ist. Das Interesse an einer Wiederwahl, das auf der nationalen Ebene zu einer zu kurzfristig ausgerichteten Haushaltspolitik führen kann, spielt bei einer Kompetenzübertragung auf das Europäische Parlament eine weitaus geringere Rolle.

Eine Stärkung des Europäischen Parlaments würde zudem wesentlich die Legitimation von Sparprogrammen stärken, die bisher von Vertretern supranationaler Institutionen formuliert werden, die mit ihren Entscheidungen sehr weitreichende Eingriffe in das Wirtschafts-und Gesellschaftsmodell eines Landes vornehmen, ohne hierfür eine demokratisch legitimierten Institution gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen.

Vertrauen in den Markt oder in die Demokratie?

Bei der aktuellen Diskussion um die Zukunft des Euroraums geht es somit im Kern um die Frage, ob man die Gestaltung der Gesellschaften in Europa eher der unsichtbaren Hand des Marktes oder einem durch Wahlen legitimierten Parlament überlassen soll. Die Erfahrung des letzten Jahrzehnts hat überdeutlich gezeigt, welche verheerenden Effekte durch das sehr kurzfristige Denken der Finanzmärkte ausgehen können. Dies hat sich mit der panikartigen Aufspreizung der Risikoprämien für die Problemländer des Euroraums bis zuletzt fortgesetzt. Es ist daher schon erstaunlich, welches Vertrauen von deutschen Ökonomen und Politikern in die Steuerungsfähigkeit der Finanzmärkte gesetzt wird. Demgegenüber haben sich die meisten Mitgliedsländer des Euroraums darum bemüht, in der Phase bis zum Ausbruch der Krise ihre Schuldenstandsquote unter Kontrolle zu halten oder sogar deutlich zu reduzieren. Es ist daher unangemessen, das unbestreitbare Versagen der griechischen Politik als Beleg für ein generelles Versagen demokratischer Prozesse heranzuziehen. Da es zudem durchaus möglich ist, die politische Kontrolle über die Mitgliedsländer durch eine stärkere Überwachungsfunktion des Europäischen Parlaments zu stärken, gibt es nicht den geringsten Grund die Zukunft Europas von der ebenso unkontrollierten wie brutalen Hand der Finanzmärkte abhängig zu machen.

  • 1 L. Menkhoff: Zinsspreads im Euroland: Marktsignale an die Politik, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 11, S. 777.
  • 2 Committee for the Study of Economic and Monetary Union: Report on Economic and Monetary Union in the European Community, http://aei.pitt.edu/1008/.
  • 3 Siehe dazu Otmar Issing: „Das zeigt, dass in der Währungsunion wirklicher Konsolidierungsdruck nur von den Märkten ausgeht.“ Interview „Euro-Bonds sind der Tod der Währungsunion“, in: Wirtschaftswoche vom 8.9.2011.
  • 4 J. M. Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936, S. 156.
  • 5 P. de Grauwe: The Governance of a Fragile Eurozone, CEPS Working Document, Nr. 346, Mai 2011.
  • 6 M. Obstfeld, K. Rogoff: The Six Major Puzzles in International Macroeconomics: Is There a Common Cause?, NBER Working Papers 7777, National Bureau of Economic Research, 2000.

Leviathan gegen Raubtier: Zum Verhältnis von Staat und Finanzmärkten in Zeiten der Globalisierung

In der letzten Dekade hatte eine sehr expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed in Verbindung mit einem staatlichen Programm zur Förderung von Wohneigentum große Mengen liquider Finanzmittel in den US-Immobilienmarkt gelenkt. Daraus entstand zunächst eine Vermögenspreisblase. Durch die Verbriefung von Subprime-Krediten wurden danach die Risiken über global vernetzte Finanzmärkte in alle Welt gestreut – mit großzügiger Empfehlung von Ratingagenturen, die – wie wir heute wissen fälschlicherweise – den Hypothekenkredit-Derivaten eine „AAA“-Bonität bescheinigten. Über die Finanzmärkte kam es dann zur Ansteckung der Realwirtschaft. Ende 2008 musste „Lehman Brothers“ Insolvenz anmelden. Damit ging eine Investmentbank Pleite, die eigentlich – wie sich an den Folgen zeigen sollte – „too big to fail“ war, zu bedeutsam, um fallen gelassen zu werden. Der Schock, der daraufhin die Weltwirtschaft erschütterte, wirkt bis heute nach. Banken mussten gerettet und Konjunkturprogramme aufgelegt werden. Die Finanz- und Wirtschaftskrise mündete schließlich in die aktuelle Staatsschuldenkrise, die seither vor allem in Europa zu erheblichen Verwerfungen geführt hat und nun erneut die globale Konjunktur anzustecken droht – dieses Mal von Seiten hochverschuldeter Staaten über die nach wie vor geschwächten Banken und Finanzmärkte.

In diesem kurzen Abriss der Ereignisse der letzten Jahre zeigen sich bereits wesentliche Probleme und Phänomene, die das Verhältnis von Staaten und nationaler Politik einerseits und deregulierten globalen Finanzmärkten andererseits prägen. Zugleich kommen dabei verschiedene Formen von Markt- und Staatsversagen zum Tragen, die sich teilweise gegenseitig verschärft haben. Denn oft wird die Suche nach den Krisenursachen auf die Frage nach der individuellen Schuld von Spekulanten, Bankern und Fondsmanagern reduziert. Vieles spricht jedoch dafür, dass es vor allem kollektive Mechanismen waren, die zu destabilisierenden Übertreibungen auf den Finanzmärkten und zu ihrer Abkoppelung von der Realwirtschaft geführt haben. Solche Phänomene stellen aus der Sicht des Einzelnen systemische Risiken dar und können durch kein einzelwirtschaftliches Risikomanagement, das bestenfalls die „known unknowns“, aber keinesfalls die „unknown unknowns“ modelliert, adäquat abgebildet werden. Aus diesem Grund gibt es nicht nur ein individuelles, sondern – viel bedeutsamer – ein kollektives Lernen aus der Krise. Kollektives Lernen muss sich in einer besseren Regulierung und institutionellen Ausgestaltung der Finanzmärkte niederschlagen. Dem gegenüber stehen Kosten der Regulierung. Dabei geht es um eine Optimierung. Denn nicht immer ist es effizient, sehr unwahrscheinliche Ereignisse mit folgenschweren Konsequenzen („black-swan event“, „fat-tail distributions“1) durch Regulierung vollkommen vermeiden zu wollen.

Effizienzmarkthypothese und Rationalität

Über Jahrzehnte dominierte in der Ökonomie die Überzeugung, dass auf Finanzmärkten Effizienz die Regel und Marktversagen die Ausnahme sei. Die Deregulierung der Finanzmärkte in den letzten Jahrzehnten gründete auf eben dieser „Effizienzmarkthypothese“: Börsenkurse würden stets alle verfügbaren Informationen rational und richtig widerspiegeln. Neue Informationen führen zu einer sofortigen Anpassung. Jede Abweichung eines Börsenkurses nach unten oder oben ist in dieser Modellwelt völlig zufällig und unvorhersehbar.2 Dennoch kann es – wie die Realität zeigt und auch in Experimenten nachgewiesen ist – zur Entstehung von Preisblasen kommen. Und zwar selbst unter der Annahme von Informationseffizienz und Rationalität, denn auf solchen Märkten spielen nicht nur eigene Erwartungen eine Rolle, sondern – wie Keynes erkannte – insbesondere die Erwartungen über die Erwartungen aller anderen Akteure.3 Zu Ende gedacht, bedeutet dies, dass jeder Einzelne versucht zu antizipieren, wie der „Markt“ durchschnittlich eingeschätzt, was der „Markt“ durchschnittlich erwartet. Aus dieser Logik entsteht eine selbstreferentielle, immanente Neigung der Finanzmärkte zu Herdenverhalten und selbsterfüllender Prophezeihung: Erwarten die Marktakteure einen höheren Preis, lockt dies Spekulanten an, die auf steigende Preise wetten. Dadurch steigt der Preis tatsächlich, und die anfänglichen Erwartungen werden ex post gerechtfertigt, was neue Spekulanten anzieht. Wenn alle Akteure an das falsche Modell glauben, wird dieses „wahr“.

Es ist bekannt und gut analysiert,

  • dass auf Finanzmärkten Marktmacht und Marktversagen weit häufiger vorkommen, als gemeinhin vermutet.4
  • dass Banken viel zu groß werden, nicht weil sich das betriebswirtschaftlich rechnet, sondern um systemrelevant und damit „too big to fail“ zu werden.5 So werden sie im Krisenfall mit staatlicher Hilfe gerettet, während kleine Banken sich selbst überlassen bleiben.
  • dass Informationen gerade auf Finanzmärkten in der Regel asymmetrisch auftreten und unkontrollierte Informationskaskaden auslösen können.
  • dass Anpassungsgeschwindigkeiten auf Finanz- und Gütermärkten mittlerweile derart divergieren, dass daraus Dissonanzen entstehen, die in der Realwirtschaft zu höherer und damit makroökonomisch kostspieliger Volatilität werden.

Herdenverhalten, emotionale Panik, „animal spirits“, Eigendynamik und automatische Verhaltensregeln tun ein Übriges, um auf Finanzmärkten Blasen entstehen zu lassen.6 Im Weiteren argumentieren Neuroökonomen, dass Menschen nicht immer rational handeln. Vielmehr werde individuelles Handeln von Zufälligkeiten, Stimmungen, Gewohnheiten und von einem Unterbewusstsein gesteuert, das neuronalen, nicht jedoch ökonomischen Gesetzen gehorche.

Schließlich laden gewisse Marktstrukturen, Regulierungen und Absprachen geradezu ein, auf fallende Börsenkurse zu wetten. Wenn das Urteil einzelner Ratingagenturen in der Lage ist, einen Börsencrash auszulösen, dann muss die Versuchung groß sein, mit dem Wissen einer Bonitätsänderung und einem geschickt inszenierten Informationsmanagement viel Geld zu verdienen.7

Viele andere Interessengruppen wären zu untersuchen, um besser erkennen zu können, wer auf den Finanzmärkten mit welchen Maßnahmen seine eigenen Ziele verfolgt. Dabei ist aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht das Verfolgen von Einzelinteressen keinesfalls schädlich. Im Gegenteil: Kapitalismus und Marktwirtschaft leben davon, dass Menschen nach ihrem individuellen Glück streben. Aber nicht alles, was mikroökonomisch gewünscht wird, ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll – und dies auch nicht automatisch. Aus einer makroökonomischen Perspektive ist es deswegen wichtig zu untersuchen, inwieweit individuelles Gewinnstreben im konkreten Fall mit makroökonomischen Zielen übereinstimmt.8

Es gibt Marktversagen, Marktmacht, Informations- und Anpassungsdefizite sowie zeitliche Zielkonflikte, weil sich einzelne Menschen an kürzeren Perioden orientieren als Gesellschaften. Sie alle provozieren eine Diskrepanz zwischen mikro- und makroökonomischer Rationalität. Daher ist individuelles Entscheiden, Handeln und Streben nach persönlichem Erfolg so zu regulieren, dass daraus auch „überlebensfähige“ Lösungen für die Gesellschaft insgesamt entstehen.

Aus einer anthropologischen Perspektive beschreibt Jared Diamond, wie mangelnde Voraussicht, ungenügende Wahrnehmung, gesamtwirtschaftlich irrationales Verhalten als Folge individuell rationalen Verhaltens, Fehlentscheidungen und gescheiterte Lösungsversuche wichtige Erklärungsfaktoren für den Zerfall von Volkswirtschaften sein können.9 Und Mancur Olson hat in seinem Aufsatz über den „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ gezeigt, wie mikroökonomisches Gewinnstreben zu makroökonomischem Untergang führen kann. Später hat er auf den Zusammenhang von „microeconomic incentives and macroeconomic decline“ als Folge kollektiven Handelns hingewiesen.10

Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie

In letzter Zeit wurde häufig die Frage aufgeworfen, inwieweit der Einfluss globaler Finanzmärkte die demokratische Legitimation von Entscheidungen in souveränen Staaten untergräbt. Dani Rodrik hat mit seinem „Globalisierungstrilemma“ auf mögliche Konfliktlinien zwischen „Globalisierung“, „Nationalstaat“ und „Demokratie“ hingewiesen.11 Und tatsächlich wurden während der Eurokrise gewählte Regierungen in Griechenland und Italien durch technokratische Übergangsregierungen abgelöst, um das Vertrauen auf den Märkten in die Handlungsfähigkeit und in die Reformwilligkeit des Landes wieder herzustellen. Dies wurde als unzulässiger Eingriff der Finanzmärkte in die Demokratie gesehen. Es wurde argumentiert, die Finanzmärkte hätten gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung Reformen geradezu erzwungen. Doch grundsätzlich steht es jedem Staat nach wie vor frei, Entscheidungen national durchzusetzen. Dem gegenüber steht die Freiheit der Akteure auf den Finanzmärkten, ebenso unabhängig zu entscheiden, zu welchen Konditionen sie wessen Schulden finanzieren wollen. Der Politik mag es ungewohnt vorkommen, mit einem solchen Trade-off umzugehen, und sie fordert womöglich deshalb, das Primat der Politik zurückzugewinnen.

Dennoch hat die Finanzkrise gezeigt, dass es notwendig sein kann, die Finanzmärkte neu, anders und besser als bisher zu regulieren, weil sie in bestimmten Situationen zu Instabilität neigen und der Realwirtschaft großen Schaden in Form hoher Anpassungskosten zufügen können. Nationale Politik und Finanzmärkte befinden sich jedoch in einer Dysfunktion, einer institutionellen Asymmetrie der Instrumente und der Reaktions- und Anpassungsgeschwindigkeit. Während die Politik sich international koordinieren, Verfassungsfragen prüfen und Entscheidungen durch Parlamente legitimieren muss, kann der Markt mit großer Macht sehr viel schneller Lösungen einfordern, wie insbesondere die Eurokrise gezeigt hat.

Das Euro-Spiel – die Märkte treiben die Politik

Den Eindruck, die Finanzmärkte würden die Politik vor sich hertreiben, konnte man vor allem im Zuge der Eurokrise gewinnen. Von einem Euro-Gipfel zum nächsten machte die Politik immer weitergehende Zugeständnisse, die jedes Mal von den Märkten schnell als unzureichend oder unglaubwürdig bewertet worden sind. In diese Situation ist die Politik nicht ohne eigene Schuld geraten: Die Europäische Währungsunion als nicht-optimaler Währungsraum stand von Beginn an vor dem Problem, dass sich anfängliche Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen Mitgliedsländern zu dauerhaften internen Ungleichgewichten verfestigen können. Und in der Tat unterblieben notwendige Reformen in den leistungsschwächeren Ländern. Als Folge wurden innerhalb der Eurozone Divergenzen der Produktivität im Laufe der Zeit nicht abgebaut, sondern verfestigt. Die Unterschiede in den makroökonomischen Aggregaten wurden nicht kleiner, sondern größer. Die leistungsstärkeren Länder – allen voran Deutschland – erzielten Handelsbilanzüberschüsse und wurden dadurch zu immer mächtigeren Gläubigern. Die leistungsschwachen Länder wiesen Handelsbilanzdefizite und entsprechende Schuldnerpositionen aus, die insbesondere zu einer von der Politik gerne gewählten, da kurzfristig opportunen stetig wachsenden Verschuldung führte.

Diese Gefahr ist zu Beginn der Währungsunion im Prinzip erkannt worden – Defizitgrenzen und eine No-Bailout-Klausel wurden in den Maastricht-Verträgen festgeschrieben und sollten verhindern, dass sich Länder übermäßig verschulden und die Währungsunion dadurch in Gefahr bringen. Die No-Bailout-Klausel war jedoch von Anfang an unglaubwürdig bzw. nicht „teilspielperfekt“: Kommt es zu einer Verschuldungskrise, ist es aufgrund des systemischen Risikos eines Defaults rational, das betroffene Land entgegen der vertraglich fixierten Vereinbarung durch einen Bailout herauszukaufen. Genau dies wurde von den Märkten antizipiert. Für die Politik entstand daraus ein zweiseitiges Moral-Hazard-Problem: Die Mitgliedsländer verschuldeten sich in der Erwartung eines Bailouts übermäßig und die Banken finanzierten die Schulden bereitwillig ohne nennenswerte Risikoprämie – ebenfalls in der Erwartung eines Bailouts. So wurde aus einem nicht-optimalen Währungsraum eine politische Schicksalsgemeinschaft, deren Kosten auf den europäischen Steuerzahler überwälzt wurden.

Der vor diesem Hintergrund unerwartete Schuldenschnitt in Griechenland hat in der Folge zu einem hohen Ansteckungsrisiko für andere Länder des Euroraums geführt. Sämtliche Kreditgeschäfte der letzten zehn Jahre gründeten auf der Annahme, der Euro sei stabil. Die Beobachtung der Märkte, dass eine Beteiligung privater Gläubiger in Form eines Schuldenerlasses doch möglich ist, dass Reformen in den Ländern politisch nicht so leicht durchzusetzen sind und dass der Rettungsschirm womöglich nicht ausreichen könnte, musste zu großen Verwerfungen an den Finanzmärkten führen. Die Märkte begannen fortan, die Glaubwürdigkeit des politischen Stabilitätsversprechens für einen stabilen Euro zu testen. Dabei erzwingen die Märkte eine langfristige Antwort der Politik: Entweder der Euroraum wird auf einen ökonomisch stabilen Kern reduziert oder eine Transferunion wird etabliert, die einen nicht-optimalen Währungsraum durch eine Umverteilung der Nutzen und Kosten einer gemeinsamen Währung politisch stabilisiert.12 Aus Sicht der Märkte ist nach wie vor unklar, ob es tatsächlich einen politischen Willen zum Erhalt des Euroraums gibt. Eine Politik, die diesen Willen hat, hätte ein Interesse daran, sich unterscheidbar zu machen von einer Politik, die diesen Willen nicht hat („separating equilibrium“), und würde daher schnell eine Transferunion beschließen. Da die Politik jedoch bislang ein klares Bekenntnis zu Europa vermissen lässt, spekulieren die Märkte weiter auf ein Auseinanderfallen. Gleichzeitig steht die Politik – und dies ist das zweite Moral-Hazard-Problem – vor der Herausforderung, den Mitgliedsländern nicht das Signal geben zu dürfen, dass es in Zukunft Hilfen ohne Gegenleistung gibt.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Politik den Märkten hinterherläuft. Die Politik hatte die Disziplinierungsfunktion der Märkte durch implizite Garantien außer Kraft gesetzt. Jetzt, da Zweifel an dem politischen Stabilitätsversprechen aufgekommen sind, verlangen die Märkte ein langfristig glaubwürdiges Bekenntnis. Die Politik beschwerte sich darüber, dass ihre eilig gefassten Beschlüsse von den Märkten nicht honoriert worden seien. Doch wer sollte zehnjährige Staatsanleihen von Krisenländern kaufen, wenn die politischen Maßnahmen kaum die nächsten Wochen überdauern? Während die Politik gemäß ihrer Logik gerne in einem Zeithorizont von wenigen Jahren agiert, stellen Märkte – also diejenigen, die Staatsschulden langfristig finanzieren sollen – ein Korrektiv für eine solche gegenwartsverzerrte Politik dar. Die Durchsetzung von notwendigen Reformen in Griechenland oder die Ablösung der Regierung Berlusconi kann in diesem Sinne als „Erfolg“ der Märkte interpretiert werden. Die Disziplinierungsfunktion der Märkte hat jedoch ohne Zweifel viel zu spät eingesetzt. Wenn sich innerhalb weniger Wochen die Risikoprämien für Staatsanleihen um zehn und mehr Prozentpunkte erhöhen, ohne dass sich fundamental viel verändert hätte, spricht dies nicht für vorausschauende und in dieser Eigenschaft stabilisierende Märkte, sondern im Gegenteil für eine nachlaufende und somit eskalierende Wirkung.

Was ist zu tun?

In der Vergangenheit haben Staaten durch ein Politik- und Regulierungsversagen einem Marktversagen Vorschub geleistet, weil implizite Garantien ausgesprochen wurden, die zu einem hohen Moral Hazard geführt haben – insbesondere in Europa, wo sich Staaten zu geringen Zinsen stark verschuldet und Banken diese Schulden bereitwillig finanziert haben.13 In der Eurokrise ist es vielmehr die Politik, die versucht, durch Ad-hoc-Maßnahmen die Märkte zu beruhigen. Aber nur durch Maßnahmen, die langfristig glaubwürdig sind, lassen sich Märkte auch kurzfristig stabilisieren.

Auf der Ebene von „Principal-Agent“-Beziehungen ist es unverzichtbar, dass die Politik in Zukunft das Prinzip von Risiko und Haftung als Grundlage marktwirtschaftlicher Ordnungen wieder stärker durchsetzt. Systemische Risiken und Vermögenspreisblasen lassen sich dagegen durch individuelles Verhalten kaum vermeiden. Wo individuelle Anreizsysteme versagen, muss staatliche Regulierung kollektive Mechanismen des Marktversagens kontrollieren. Ob dies tatsächlich – wie zurzeit diskutiert – auf den Finanzmärkten und im Bankensektor durch Basel III oder ein Trennbankensystem erfolgreich geschehen kann, bleibt vorerst offen.

Die Annahme effizienter Finanzmärkte hat in der Vergangenheit zu einer zu starken Deregulierung globaler Märkte geführt. Die Globalisierung, aber auch neue Informationstechnologien haben jedoch systemische Risiken und Ansteckungsgefahren deutlich erhöht. Für einzelne Staaten sind daraus erhebliche konjunkturelle und makroökonomische Risiken entstanden. Eine stärkere internationale Koordination der Politik und eine institutionelle Weiterentwicklung der Finanzarchitektur sollten das Kräftegleichgewicht zwischen Staaten und Finanzmärkten wieder herstellen. Dies kann im besten Fall zu einer wechselseitigen Kontrolle („checks and balances“) führen, die dazu beitragen müsste, Krisen zukünftig effektiver zu vermeiden, früher zu erkennen und gegebenenfalls rascher zu beheben.

  • 1 Vgl. N. N. Taleb: The Black Swan: The Impact of Highly Improbable, New York 2008.
  • 2 Vgl. z.B. E. Fama: Efficient Capital Markets. A Review of Theory and Empirical Work, in: Journal of Finance, 25. Jg. (1970), H. 2, S. 383-417; und ders.: Market Efficiency, long-term returns, and behavioural finance, in: Journal of Financial Economics, 49. Jg. (1998), H. 3, S. 283-306. Wichtig ist dabei auch die Annahme, dass allen Marktakteuren stets alle Informationen zu Grenzkosten von Null zur Verfügung stehen, dass also Informationsasymmetrien und damit auch die Möglichkeit, dass Insider spezifische nur ihnen zugängliche Informationen besitzen, ausgeschlossen werden. Damit wird auch das seit Simon bekannte Phänomen der „Bounded Rationality“ vernachlässigt, wonach Menschen sich entsprechend ihrem Anspruchsniveau mit befriedigenden Ergebnissen begnügen und deshalb gar nicht nach Maximallösungen suchen wollen, vgl. H. Simon: A Behavioural Model of Rational Choice, in: Quarterly Journal of Economics, 69. Jg. (1955), H. 1, S. 99-118.
  • 3 Zu dem als „Beauty contest“ in die Literatur eingegangenen Phänomen vgl. J. M. Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936, Kapitel 12.
  • 4 Als Kronzeuge sei hier lediglich auf Hyman Minsky verwiesen: P. Mehrling: The Vision of Hyman P. Minsky, in: Journal of Economic Behavior & Organization, 39. Jg. (1999), H. 4, S. 129-158. Mit Blick auf eine Neue Makroökonomie vgl. W. White: Modern Macroeconomics Is on the Wrong Track, in: Finance & Development (IMF Washington), 46. Jg. (2009), H. 4, S. 15-18.
  • 5 Vgl. dazu neben vielen anderen: B. Shull: Too Big to Fail in Financial Crisis: Motives, Countermeasures, and Prospects, Levy Economics Institute Working Paper, Nr. 601, City University of New York (CUNY), 2010.
  • 6 Vgl. G. A. Akerlof, R. J. Shiller: Animal Spirits: How Human Psychology Drives the Economy, and Why it Matters for Global Capitalism, Princeton 2010.
  • 7 In Experimenten wurde gezeigt, dass selbst Informationen, die im Prinzip jedem Akteur schon bekannt sind, Blasen erzeugen können, wenn diese Information allgemein kommuniziert wird – etwa durch eine Ratingagentur. Anschließend – und das ist entscheidend – weiß jeder Akteur, dass diese Information jedem anderen zur Verfügung steht, vgl. hierzu z.B. M. Berlemann, H. Vöpel: On the Dynamics of a Communication-induced Speculative Bubble, Working Paper, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg 2011. Die amerikanische Börsenaufsicht prüft gerade, ob und wie die Betreiber von Hedge-Fonds und Brokerfirmen Insiderinformationen von der Ratingagentur Standard & Poor's (S&P) nutzen konnten, um auf fallende Kurse zu wetten; vgl. dazu http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,787432,00.html.
  • 8 Vgl. exemplarisch dazu F. E. Kydland, E. C. Prescott: Rules rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans, in: Journal of Political Economy, 85. Jg. (1977), H. 3, S. 473-491.
  • 9 Vgl. J. Diamond: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt am Main 2005.
  • 10 Vgl. M. Olson: The Rise and Decline of Nations, Yale 1982; und ders.: The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, Harvard 1965.
  • 11 Vgl. D. Rodrik: The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy, New York 2011.
  • 12 Für die Logik dieses Arguments ist es unerheblich, ob die Transferunion eine Umverteilung von starken zu schwachen Euroländern über fiskal- oder geldpolitische Instrument anstrebt, ob es also zu Zahlungen aus gemeinsam finanzierten Rettungsschirmen oder über einen Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB kommt.
  • 13 Dazu gehört unter anderem auch, dass Staatsanleihen von Euroländern nicht mit Eigenkapital unterlegt werden mussten.

Das Ende der Demokratie

Vor gut 15 Jahren verkündete der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, im erlauchten Kreise des Weltwirtschaftsforums Davos das Ende der Volkssouveränität. Er habe „bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden“. Das offenbar mehrheitlich marktlibertär geprägte oder vom Marktlibertarismus profitierende Publikum quittierte die Aussage im eher stillen Kreise des Weltwirtschaftsforums mit lang anhaltendem Beifall.1 Auf die Frage, wer sein Favorit im Präsidentschaftswahlkampf ist, antwortete der langjährige Vorsitzende der US-Notenbank, Alan Greenspan, im September 2007: „Vielleicht zuerst einmal das: Wir haben das Glück, dass die politischen Beschlüsse in den USA dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Marktwirkung ersetzt wurden. Mit Ausnahme des Themas der nationalen Sicherheit spielt es kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident wird. Die Welt wird durch Marktkräfte regiert.“2

Der Tatbestand

Was tief marktreligiös geprägte Notenbanker wie Tietmeyer und Greenspan beschrieben und beklatschten, nämlich die „Disziplinierung der nationalen Wirtschaftspolitik durch die internationale Kapitalmobilität“,3 zeigt sich wohl erst heute in seiner ganzen Schärfe. Als Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler jüngst meinte, mit Blick auf Griechenland dürfe es keine „Denkverbote“ geben und auch „die Möglichkeit einer geordneten Staateninsolvenz“ sei zu prüfen,4 wurden diese Ansinnen nicht etwa politisch diskutiert. Immerhin ging es um die Frage, ob Deutschland Bürgschaften in der Größenordnung von 66% seines Bundeshaushalts eingehen solle. Vielmehr wurde versucht, Rösler mit einem Sprechverbot zu belegen.

  • Finanzminister Wolfgang Schäuble reagierte sofort. Er sei „strikt dagegen, dass über eine Insolvenz öffentlich diskutiert wird“, denn dies könne zu „unkontrollierbaren Reaktionen auf den Finanzmärkten“ führen.5 „Die Märkte“ dürften, so Schäuble ein paar Tage zuvor, „keine Zweifel an der Handlungsfähigkeit Europas haben“6 – vor allem daran nicht, dass die Politik nach den Vorgaben „der Märkte“ richtig handelt.
  • Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Rösler auf, „seine Worte sehr vorsichtig abzuwägen“7. Wer dies nicht tue, sorge für „Unruhe auf den Finanzmärkten“, was offenbar unter allen Umständen zu vermeiden sei.
  • Die Opposition nutzte die Gelegenheit, um das, was gemeinhin „Wirtschaftskompetenz“ genannt wird, zu markieren. Röslers Äußerungen seien, so der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, „amateurhaft“ und zeigten, dass da ein „Praktikant im Wirtschaftsministerium“ sitze. „Die Börsen reagieren.“8 Auch schon auf bloße Meinungsbeiträge, die ein Minister und Parteivorsitzender in den politischen Diskurs einspeist. Ins gleiche Horn blies der SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Als größte Volkswirtschaft Europas trügen die Mitglieder der deutschen Regierung eine „besondere Verantwortung“, nämlich die, keine „Sätze“ zu sagen, die „die Finanzmärkte gefährlich ins Rutschen“ bringen und deren „Vertrauen“ untergraben könnten.9 Nämlich ihr „Vertrauen“ darin, ihnen die erwarteten Renditen zu verschaffen, statt diese zu gefährden.

Schöner hätten sich Huldiger des „freien“ Marktes, vor allem der „freien“ Bewegung des Kapitals, die „Disziplinierung“ (Siebert) der Politik durch „die Märkte“ – womit im Kern die Kapitalmarktakteure gemeint sind – nicht vorstellen können. Man darf noch nicht einmal mehr frei sprechen, wie gut oder wie schlecht die Argumente, die man dabei vorbringt, auch immer sein mögen. Was gute und was schlechte Argumente sind, das wird nicht mehr autonom nach Vernunftmaßstäben bestimmt, sondern ist durch „die Märkte“ vorentschieden. Es lässt sich kein Verlust an politischer Souveränität, an Volkssouveränität, denken, der weitreichender wäre. Dies gerade, weil er so unmerklich geschieht, weil da keine personal benennbare Macht ist, ein Tyrann oder ein Invasor etwa, der die Staatsgewalt an sich gerissen hätte. Und schließlich kann man ja, und man muss auch, weiterhin politisch handeln. Vorgegeben ist nur, was das „richtige“ Handeln ist, nämlich dasjenige, welches das „Vertrauen der Märkte“ nicht enttäuscht. Formal mag „alle Staatsgewalt“ noch „vom Volke ausgehen“. Doch ist neben und letztlich über das Volk, die Bürger, ein anderer Souverän getreten, der verschämt „die Märkte“ genannt wird und den die Betriebswirtschaftslehre schon lange zum „Prinzipalen“ gekürt hat. Diesem verspricht die Bundeskanzlerin dafür zu sorgen, dass die parlamentarischen Beschlüsse „trotzdem auch marktkonform“ ausfallen werden.10

Die „Hofierung“ des Kapitals

Diese Krise, die Demokratiekrise, die sogenannte „Euro“- und „Staatsschuldenkrise“, ist das Ergebnis einer gut drei Jahrzehnte währenden Politik der „Hofierung“ des Kapitals.11 Damit haben sich Politik und Gesellschaft in eine ungeheure Abhängigkeit vom Kapital gebracht und sich von ihm unter Druck setzen lassen. Die verschiedenen Krisensymptome zeigen, dass sie diesem Druck nicht standhalten.

Diese „Hofierung“ ist einerseits der schieren Macht des global seine Entry- und Exit-Optionen wählenden Kapitals geschuldet, andererseits dem volkswirtschaftlich unaufgeklärten Glauben, dies alles sei irgendwie „gut für alle“. Zu den Erscheinungsformen dieser Hofierung zählen

  • die Minderbesteuerung bzw. die fiskalische Privilegierung von Kapitaleinkommen,12
  • damit einhergehend die Finanzierung des staatlichen Ausgabenbedarfs vermehrt durch Besteuerung von Konsum und Arbeit einerseits, Verschuldung beim Kapital statt Besteuerung desselben andererseits,
  • die zumindest partielle Ablösung des Umlage- durch das Kapitaldeckungsverfahren bei der Altersversorgung, da man annimmt, dann sei jeder „auf sich selbst gestellt“13 – als fielen die Kapitaleinkommen wie Manna vom Himmel und müssten nicht von den dann noch Beschäftigten erwirtschaftet und bereit gestellt werden,
  • eine vor allem in den USA betriebene Tiefzinspolitik, durch die „das Banksystem aufgetaut“ werden sollte;14 denn bringe man, so der New Democrat Bill Clinton, „die Zinssätze nach unten,“ würden „damit private Investitionen angeregt und die stagnierende Wirtschaft befeuert“,15
  • eine Deregulierung der Finanzmärkte, da man annahm, ein von „überflüssigen Regulierungen“ befreiter Finanzsektor einschließlich des „Ausbaus des Verbriefungsmarktes“ bilde, da er eine „kostengünstige Kapitalversorgung der Wirtschaft“ sicherstelle, „eine der wichtigsten Voraussetzungen für Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum,“ was „allen Marktteilnehmern“ zum „Nutzen“ gereiche,16
  • die Senkung des sozialstaatlich bestimmten Reservationslohns und damit die Möglichkeit zu Lohnsenkungen durch die Umsetzung der Agenda 2010.

Die Folge dieser Maßnahmen war eine Verschiebung der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung zugunsten von Kapital- und zulasten von Arbeitseinkommen (Selbständige eingeschlossen), und zwar nicht nur in Deutschland17 und, besonders gravierend, in den USA,18 sondern im gesamten OECD-Raum.19 Die Folge war auch eine wachsende globale Finanzschuld. Diese stieg von 261% des Welt-BIP im Jahre 1990 auf 356% im Jahre 2010.20 Wuchs das Weltsozialprodukt seit 1980 um den Faktor 6,3, so stieg der Gesamtbestand der nominellen finanziellen Kapitalbestände (Derivate ausgenommen) um den Faktor 17,7.21

Die Weltfinanzkrise als Folge der „Hofierung“ des Kapitals

Die Kapitalmarktgläubigkeit zeigt sich nicht nur in den Rechtfertigungen für die verschiedenen Formen der Hofierung des Kapitals. Vielmehr ist sie auch daran zu erkennen, dass – soweit ersichtlich – kein Fachökonom und auch keine volkswirtschaftliche Agentur danach fragt, wie es den realwirtschaftlichen Akteuren gelingen können sollte, die Renditen zu erwirtschaften, die mit diesen weit überproportional angewachsenen Kapitalbeständen korrespondieren müssten, oder welches realwirtschaftliche Wachstum hierfür erforderlich wäre. Statt entsprechend zu wachsen, hat sich eine Umverteilung zugunsten der Inhaber von Kapitaleinkommen vollzogen, die diese zumindest teilweise durchaus konsumieren – was sich im Erfolg sogenannter „Plutonomy stock baskets“ zeigt.22 Gegen die gegenüber der derzeitigen Entwicklung kritischen Stimmen von keynesianischer Seite23 gewandt, ließe sich formulieren: Wertschöpfungsketten lassen sich auch durch Luxuskonsum schließen.

Da Kapitaleinkommen an Vermögensbestände gekoppelt sind und sich auch in einem Zuwachs dieser manifestieren können, haben sich die globalen Ungleichgewichte zwischen Kapital und Realwirtschaften auch dadurch partiell Luft verschafft, dass die erwarteten Renditen diskontiert wurden. Mit dem Begriff des „Risikos“, das offenbar zu groß war, wie das Platzen der New-Economy-Blase ebenso wie die Eruption der Subprime-Krise in der Insolvenz von Lehman Brothers zeigt, werden die realwirtschaftlichen Zusammenhänge allerdings eher verdeckt als erhellt. Denn das Platzen von Finanzblasen zeigt lediglich an, dass die realwirtschaftlichen Akteure darin überfordert sind, den Rentiers die erwarteten Renditen zu verschaffen.

Durch die engen Abhängigkeiten einer hochgradig vernetzten Weltwirtschaft ist den Akteuren des Kapitalmarktes allerdings ein Hebel in die Hand gegeben, der es ihnen erlaubt, den Abbau der an sich illusionären Kapitalbestände zu verhindern. Dieses Problem der „Geiselhaft“24 oder der „Erpressung“25 der Staaten durch die Finanzmarktakteure hat dazu geführt, dass die (noch greifbaren) Steuerzahler der EU-Mitgliedstaaten in den letzten drei Jahren „dem Finanzsektor Finanzhilfen und Bürgschaften in Höhe von 4,6 Billionen Euro zur Verfügung gestellt“ haben,26 was 38% des EU-BIP entspricht. Die globale Staatsverschuldung und damit der staatlich zugesicherte Kapitaldienst hat sich im gleichen Zeitraum von 55% auf 69% des Welt-BIP erhöht.27

Es ist diese erhöhte Schuldenstandsquote, die die Kapitalmarktakteure in Panik versetzt und die Zinslasten vor allem für die südlichen Peripheriestaaten nach oben getrieben hat. Um eine „Euro-Krise“ handelt es sich nur insoweit, als damit das „Geschäftsmodell“ Euro in Frage gestellt wird.28 Dieses besteht darin, dass sich exportorientierte Staaten wie Deutschland (bzw. deren Nutznießer) vor der Aufwertung ihrer Währungen schützen konnten, indem sie sich hinter Staaten, denen eine solche nicht droht, gleichsam verstecken konnten. Diese Staaten konnten ihrerseits von günstigen Zinsen für Staatsanleihen profitieren (was ihre Staatsverschuldung seit der Einführung des Euro allerdings kaum erhöht hat), und zwar gerade dadurch, dass die gemeinsame Währung das verhindert, was nun auch von den Kapitalmarktakteuren sehnlich herbeigewünscht wird, nämlich eine Abwertung der Währung und insofern eine eher sanfte Vermögensentwertung.

Europa und die Welt an einer Wegscheide

Nicht nur Europa, die Welt steht an einer Wegscheide. Entweder das Kapital wird weiterhin „hofiert“ oder es wird gebändigt. Zur Hofierung gehören die Austeritätsprogramme, die jetzt überall in Europa, vor allem in den PIIGS-Staaten, installiert werden. Häufig von sogenannten „Technokraten“ statt von gewählten Politikern, da „weniger Demokratie“ offenbar „besser für die Märkte“ sei.29 Gegenüber einer solchen Politik der „Rosskur“, denen nach Deutschland nun alle EU-Staaten zu unterwerfen seien, damit diese wieder „wettbewerbsfähiger“ würden,30 gegenüber dem populistisch-neoliberalen Mainstream wenden Keynesianer zu Recht ein, dass Wettbewerbsfähigkeit ein relationales Konzept sei und somit des einen Wettbewerbsstärke des anderen Wettbewerbsschwäche.31 Der Sinn der Austeritätsprogramme kann also nur entweder darin bestehen, dem Kapital weitere Abschöpfungserfolge zu gewähren, die Wettbewerbsfähigkeit des zu einem „Standort“ degradierten Gemeinwesens Europa gegenüber der übrigen Welt im Weltwirtschaftskrieg der Nationen zu stärken oder das (Welt-)Wachstum zu steigern – oder in einer Kombination aus all dem.

Die entscheidende Frage ist allerdings, ob die Welt und vor allem: ob die reifen (OECD-)Volkswirtschaften weitere Wachstumsanstrengungen und -pflichten wollen. Und ob es den wettbewerbsfähigen und -willigen Akteuren im Verein mit dem Kapital erlaubt sein soll, den Rest zu weiteren Wertschöpfungsanstrengungen, aus denen es einen wachsenden Anteil einfordert, zu zwingen.32 Dieser Zwang, der sich in der Ökonomisierung der Lebensverhältnisse manifestiert, besteht auch dann, wenn sich der Kapitaldienst nicht – wie die Neoliberalen fordern – direkt über Privatinvestitionen, sondern – wie es Keynesianer fordern – indirekt über staatliche Investitionen, also eine weiter wachsenden Staatsverschuldung, vollzieht.

In einer globalisierten Wirtschaft lässt sich Volkssouveränität nur weltinnenpolitisch zurückgewinnen. Grundvoraussetzung dafür, die wettbewerbsethischen Grundfragen nach dem Wollen und Dürfen einer weiteren Verschärfung des Wettbewerbs zu stellen und demokratisch zu beantworten, ist es allerdings, diesen Prozess, der bekanntlich ein Prozess „schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter) ist, und die Rolle des Kapitals in ihm, breitenwirksam zu verstehen, statt die „unsichtbar“ ablaufenden Prozesse weiter zu verdunkeln. Das Kapital fungiert nämlich als eine Art „Peitsche“ der realwirtschaftlichen Akteure, indem es hier zur „Schöpfung“ (zur Schaffung von Arbeitsplätzen) beiträgt und gerade dadurch dort zur „Zerstörung“ von Einkommenspositionen, was die Wettbewerbsverlierer zu weiteren Wertschöpfungsanstrengungen nötigt.33 Dadurch entsteht das Wachstum. Doch ist die Frage, ob die sozialen und ökologischen „Kosten“ eines weiteren Wachstums nicht zu hoch ausfallen könnten. Für weiteres Wachstum zu plädieren, wie dies neoliberal wie keynesianisch geprägte Ökonomen tun, sei es ausdrücklich oder qua Implikation ihrer Vorschläge, entspricht einer Anmaßung von Wissen und einer Kompetenzüberschreitung.

Zur „Würde eines vernünftigen Wesens“ gehört, „keinem Gesetz“, keiner Vorschrift, Vorgabe, Norm usw., „zu gehorchen“ als demjenigen, das wir uns „als vernünftige Wesen“ aus freier Einsicht „selbst geben“.34 Derzeit aber werden wir von zwar menschengemachten, aber undurchschauten „Gesetzen“ bestimmt, wodurch die Volkssouveränität Schaden nimmt und wir der politischen Freiheit verlustig zu gehen drohen. Dies ist ein Zustand politischer Würdelosigkeit. „Wohlgeordnet“, schreibt John Rawls, ist eine Gesellschaft nur, wenn sie „von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert“ werde35 – statt etwa von „Marktgesetzen“.

Nun mag es zwar sein, dass die Gesellschaften den „Marktgehorsam“,36 der zu guten Teilen ein Kapitalmarktgehorsam ist, aus freien Stücken wollen. Dies allerdings ist schon darum unwahrscheinlich, da über die marktökonomischen Zusammenhänge beinahe vollständige Ahnungslosigkeit herrscht. Darum dürfte die Verschuldungsfinanzierung des mit der Reife einer Volkswirtschaft offenbar wachsenden staatlichen Ausgabenbedarfs, der übrigens auch wächst, um die Folgen eines verschärften Wettbewerbs abzufedern und die mangelnde Leistungsgerechtigkeit der marktwettbewerblichen Einkommensverteilung37 zu korrigieren, als unwürdig zu klassieren sein. Schon allein um wieder offen öffentlich diskutieren zu können, ohne dabei befürchten zu müssen, von „den Märkten“ abgestraft zu werden, ist der staatliche Ausgabenbedarf stattdessen vermehrt über die Besteuerung insbesondere des Kapitals zu decken und sind die Staatsdefizite, die ja auch bislang vom Kapital finanziert werden, durch dessen Besteuerung zu schließen.

Es dürfte kein Zufall sein, dass in Zeiten nicht nur hohen Wachstums, sondern auch der breiten Teilhabe aller Beschäftigten am Wohlstand das Kapital weit höher besteuert wurde als heute, obwohl ihm deutlich niedrigere Anteile an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung zukamen. In den USA etwa lag der Grenzsteuersatz in der Nachkriegszeit bis Ende der 1970er Jahre bei über 70%.38 Und natürlich sind hohe Einkommen vor allem Kapitaleinkommen. Es dürfte sich von selbst verstehen, dass eine wieder angemessene und d.h. höhere Kapitalbesteuerung nur in einer global koordinierten Anstrengung gelingen kann. Durch diese würden die Kapitalbestände verringert und dem Konsum zugeführt, statt als „Peitsche“ der Realwirtschaften zu fungieren, was diese offenbar zunehmend überfordert.

  • 1 Vgl. H. Schmale: Politik versus Märkte, in: Berliner Zeitung vom 19.5.2010.
  • 2 Interview mit A. Greenspan: Ich bin im falschen Jahrhundert geboren, in: Tages-Anzeiger vom 19.9.2007.
  • 3 H. Siebert: Disziplinierung der nationalen Wirtschaftspolitik durch die internationale Kapitalmobilität, in: D. Duwendag: Finanzmärkte im Spannungsfeld von Globalisierung, Regulierung und Geldpolitik, Berlin 1998, S. 41-67.
  • 4 P. Rösler: Europa braucht ein Insolvenzverfahren für Staaten, in: Die Welt vom 11.9.2011.
  • 5 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,786113,00.html, 14.9.2011.
  • 6 Interview W. Schäuble: Ich bin mit Leib und Seele Parlamentarier, in: Der Tagesspiegel vom 28.9.2011.
  • 7 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,785924,00.html, 13.9.2011.
  • 8 Interview mit J. Trittin: Vizekanzler vergrößert Problem der Euro-Rettung, in: Passauer Neue Presse vom 14.9.2011.
  • 9 Vgl. http://www.spd.de/aktuelles/News/17378/20110913_steinmeier_roesler.html, 13.9.2011.
  • 10 Vgl. http://www.nachdenkseiten.de/?p=10611.
  • 11 „Deutschland muss das Unternehmerkapital hofieren, weil nur dadurch Innovationen, Wachstum und Arbeitsplätze gewährleistet sind.“ Interview mit H.-W. Sinn, in: WSM Nachrichten vom 30.10.2005.
  • 12 S. Bach, P. Haan: Spitzensteuersatz: Wieder Spielraum nach oben, in: DIW Wochenbericht, Nr. 46, 2011, S. 3-9.
  • 13 S. Homburg: Kapitaldeckung als praktikable Leitidee, in: Rentenkrise. Und wie wir sie meistern können, Publikationen des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, 1997, S. 61-85, hier S. 63.
  • 14 Interview mit A. Greenspan, CBS News, 11.2.2009.
  • 15 B. Clinton: Between Hope and History, New York 1996, S. 23 f.
  • 16 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005.
  • 17 K. Brenke, M. M. Grabka: Schwache Lohnentwicklung im letzten Jahrzehnt, in: DIW Wochenbericht, Nr. 45, 2011, S. 3-15. Mehr als das gesamte Wachstum der letzten zehn Jahre kam Beziehern von Kapitaleinkommen zugute. Vgl. www.jjahnke.net/rundbr75.html#2113.
  • 18 Vgl. die vom Institute for Policy Studies aufbereiteten Daten, http://inequality.org/income-inequality.
  • 19 OECD: Growing Unequal?, Paris 2008.
  • 20 C. Roxburgh, S. Lund, J. Piotrowski: Mapping Global Capital Markets 2011, www.mckinsey.com, S. 2.
  • 21 Ebenda; D. Farell u.a.: Mapping Global Capital Markets, 2008, www.mckinsey.com, S. 10.
  • 22 A. Kapur, N. Macleod, N. Singh: Plutonomy. Buying Luxury, Explaining Global Imbalances, Citigroup, 16.10.2005.
  • 23 Vgl. etwa W. Vontobel: Europa spart sich kaputt, in: Der Freitag vom 17.9.2011; H. Flassbeck: Am Abgrund, Dezember 2011, www.flassbeck.de.
  • 24 Interview mit H.-W. Sinn, 26.11.2010, www.welt.de; U. Thielemann: System Error. Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt, Frankfurt am Main 2009, S. 212 ff.
  • 25 H. Hau, B. Lucke: Die Alternative zum Rettungsschirm, www.faz.net, 28.9.2011.
  • 26 S. M. Barroso: Rede zur Lage der Union 2011, 28.9.2011, http://europa.eu.
  • 27 C. Roxburgh, S. Lund, J. Piotrowski, a.a.O., S. 3.
  • 28 Vgl. U. Thielemann: Das Ende der Staatsverschuldung, www.mem-wirtschaftsethik.de, 1.11.2011.
  • 29 So sarkastisch J. Habermas: Rettet die Würde der Demokratie, www.faz.net, 4.11.2011.
  • 30 Interview mit H.-W. Sinn, in: Tages-Anzeiger vom 18.9.2011, www.tagesanzeiger.ch.
  • 31 H. Flassbeck: Wer im Glashaus sitzt, in: Hamburger Abendblatt vom 29.11.2011.
  • 32 Vgl. zu diesen beiden wettbewerbsethischen Grundfragen U. Thielemann: Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Kritik des Neoliberalismus, Marburg 2010, S. 329 ff.
  • 33 Vgl. ebenda, S. 357 ff.
  • 34 I. Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 1968, S. 67.
  • 35 J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, S. 21.
  • 36 K.-H. Brodbeck: Was heißt eigentlich Marktgehorsam?, in: M. Aßländer, P. Ulrich (Hrsg.): 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, Bern u.a. 2009, S. 45-67.
  • 37 Vgl. U. Thielemann: Die Verteilungsfrage als Fairnessfrage, www.mem-wirtschaftsethik.de, 1.9.2011.
  • 38 T. Piketty, E. Saez, S. Stantcheva: Optimal Taxation of Top Labor Incomes, NBER Working Paper 17616, November 2011, http://elsa.berkeley.edu/~saez/piketty-saez-stantchevaNBER11thirdelasticity.pdf, S. 48.

Staatsschuldenkrisen und ihre Bewältigung – ein historischer Rückblick

Schon in den 1980er Jahren mussten die großen Banken in den USA, Europa und Japan die Probleme einer weltweiten Schuldenkrise bewältigen. In den 1970er Jahren eröffneten die wachsenden Einlagen der OPEC-Staaten an westlichen Finanzplätzen den international tätigen Großbanken die Möglichkeit, die „Petrodollar“-Guthaben im großen Stil als Staatsanleihen an lateinamerikanische und asiatische Staaten zu recyclen. Die monetaristische Notenbankpolitik der USA und Großbritanniens führte in den frühen 1980er Jahren zu einem dramatischen Zinsanstieg, der die Zinsbelastungen der Schuldnerstaaten in die Höhe schießen ließ. Das hohe Realzinsniveau führte im Zusammenspiel mit fallenden Terms of Trade für ölimportierende Staaten, konjunktureller Stagnation, der Fehlverwendung der Kredite in den Schuldnerstaaten und der Kapitalflucht der lateinamerikanischen Eliten zu einer schweren Schuldenkrise, die einen Teil Lateinamerikas erfasste. Die größten Schuldnerstaaten Mexiko und Brasilien sahen sich gezwungen, 1982 beim IWF und in den folgenden Jahren beim Pariser Club der privaten Gläubigerbanken um eine längerfristige Umschuldung ihrer Anleiheschulden zu bitten.

Präzedenzfälle in den 1960er Jahren

Für die längerfristige Umschuldung von Staatsschulden gab es bereits Präzedenzfälle in den späten 1960er Jahren. Das diktatorisch regierte Indonesien hatte große Teile seiner Auslandsanleihen für unproduktive Rüstungsausgaben verwendet und geriet dadurch in Zahlungsverzug. Kein Geringerer als der legendäre Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs, handelte mit den Gläubigerbanken in Europa, den USA und der Sowjetunion eine sehr langfristige Umschuldung über einen Zeitraum von 30 Jahren aus. Das technische Problem der Umschuldung konnte mittels der stark gestreckten Tilgungsfristen durch eine Prolongation der Anleihen gelöst werden, was eine aufwändige Neuverhandlung der Zinskonditionen ersparte. Mit einem Gesamtumfang von 12,5 Mrd. DM waren die indonesischen Staatsschulden der bis dahin größte Betrag, den ein außereuropäisches Land umschulden musste. Abs war auf dem Gebiet der Staatsumschuldung ein weltweit anerkannter Experte: Er hatte 1952 im Auftrag der Bundesregierung das Londoner Schuldenabkommen für die Umschuldung der deutschen Vor- und Nachkriegsschulden ausgehandelt und damit ein noch größeres und sehr viel komplexeres Verschuldungsproblem gelöst. Aus diesem Grund erschien Abs den Gläubigerbanken für diese Aufgabe prädestiniert.

Abs konnte die indonesische Regierung davon überzeugen, dass ein prozentualer Schuldenschnitt („haircut“) die Kreditwürdigkeit Indonesiens auf längere Zeit beeinträchtigen würde. Der ungewöhnlich lange Rückzahlungszeitraum von 30 Jahren war keinesfalls willkürlich gewählt. Er orientierte sich an der Leistungsfähigkeit des indonesischen Staatshaushalts und an der Transferfähigkeit Indonesiens. Die Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit der Umschuldung Indonesiens sollte sich in der Schuldenkrise der 1980er Jahre erweisen. Im Unterschied zu den Philippinen wurde eine weitere Umschuldung nicht erforderlich.

Lateinamerikakrise in den 1980er Jahren

Die lateinamerikanische Schuldenkrise der 1980er Jahre beruhte weniger auf einer Überschuldung der Staatshaushalte als auf Problemen beim Schuldentransfer in US-Dollar oder andere harte Währungen. Der außergewöhnlich hohe Dollarkurs der Jahre 1983 und 1984 zwang die Zentralbanken der Schuldnerstaaten zur Aussetzung des Zins- und Tilgungstransfers und die Gläubigerbanken zu einer zeitlichen Streckung der Zahlungsfristen. Eine längerfristige Streckung der Zahlungsfristen um zehn bis 20 Jahre sollte die Transferfähigkeit des Schuldendienstes wieder herstellen.

Die Gläubigerbanken kamen Mexiko auch durch eine schrittweise Senkung des Zinsniveaus entgegen. 1982 lag der Zinssatz für mexikanische Staatsanleihen noch um 2,25% über dem Londoner Geldmarktzinssatz LIBOR. Die Gläubigerbanken stimmten in der ersten Umschuldungsrunde im August 1983 noch einer vorsichtigen Zinsanpassung auf 1,8% über LIBOR bei einer zusätzlichen Umschuldungsprovision von 1% zu. In den drei weiteren Umschuldungsrunden bis zum April 1987 senkten sie den Zinsaufschlag bis auf 0,8% über LIBOR und verzichteten auf Umschuldungsprovisionen. Der dramatische quantitative Sprung der lateinamerikanischen Schuldenkrise lässt sich an der Gesamtsumme von 112,6 Mrd. US-$ ermessen, die das größte Schuldnerland Mexiko umschulden musste. Die Staatsverschuldung hatte eine Dimension erreicht, welche die Ertragslage der größten amerikanischen und europäischen Banken signifikant beeinträchtigte. Dank der Zugeständnisse bei Laufzeit und Zinsniveau erwies sich die Regelung der mexikanischen und der brasilianischen Schulden als ein langfristiger Erfolg. Verbesserte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen wie günstigere Terms of Trade, sinkende Realzinsen und ein Anziehen der konjunkturellen Entwicklung erleichterten Mexiko und Brasilien die Erfüllung der Umschuldungsabkommen.

Die Umschuldung Mexikos war mit der Umschuldung des letzten Anleihepakets im April 1987 aber noch nicht abgeschlossen. Im Juli 1989 unterzeichneten die mexikanische Regierung und die Gläubigerbanken einen neuen Umschuldungsvertrag, der die umgeschuldeten mexikanischen Anleihen wieder marktfähig machen sollte. Der nach dem amerikanischen Finanzminister Nicholas Brady benannte Plan gab den Gläubigerbanken das Wahlrecht, die Anleihen mit 35% Abschlag auf den Nennwert bei gleichem Zinssatz in neue Anleihen zu tauschen, die mit US Treasury Bonds gedeckt waren. Die Mehrzahl der Gläubiger entschied sich für die zweite Variante, bei einem Nominalwert von 100% einen niedrigeren Festzinssatz von 6,25% zu akzeptieren. Der mexikanische Fiskus und die Anleihegläubiger profitierten gleichermaßen von einem Gewinn an Erwartungssicherheit. Gläubiger und Schuldner konnten eine Win-Win-Situation realisieren: Mexiko löste die letzten Brady-Bonds 2003 ein und schloss den langfristigen Entschuldungsprozess erfolgreich ab.

Lehren aus der Vergangenheit

Eine vergleichbare Konversion griechischer Staatsanleihen in zinsreduzierte Festzinsbonds mit einer 100%-Besicherung durch AAA-Bonds – der Bundesrepublik oder anderer Eurostaaten mit erstklassiger Bonität – könnte den Weg in eine langfristige Umschuldung weisen. Erstaunlicherweise ist das Gedächtnis der Finanzmarktakteure so kurz, dass das Vorbild der Brady-Bonds bislang nicht als eine ernsthafte Option diskutiert wird. Die sehr kurzfristige Perspektive der politischen Akteure und der Gläubigerbanken spiegelt sich unter anderem in der Tatsache wider, dass sich die Umschuldung Griechenlands zu lange auf kurzfristige Schritte wie die Finanzierung neuer Anleihen durch die EFSF beschränkte. Der erste Schuldenschnitt von 21% reichte bei weitem nicht aus, um Griechenlands Zahlungsfähigkeit wiederherzustellen. Der Wissens- und Erfahrungstransfer aus früheren Staatsumschuldungen in jederzeit aktivierbare Handlungsoptionen war bei den Akteuren des Finanzsektors und der Politik erschreckend schwach.

Die Umschuldung hochverschuldeter Staaten entwickelte sich für die Gläubigerbanken in den 1980er Jahren zu einem kontinuierlichen Lern- und Anpassungsprozess. Die mexikanische Schuldenkrise brachte 1985 mit dem Debt-Equity Swap-Programm eine bemerkenswerte, aber weitgehend vergessene Innovation hervor, die einen Beitrag zur Lösung der griechischen Schuldenkrise leisten könnte. Im Rahmen des Debt-Equity-Swap-Programms konnten ausländische Investoren mexikanische Staatsanleihen mit einem Abschlag kaufen, gegen Kapitalbeteiligungen an öffentlichen oder privaten Unternehmen eintauschen oder sie zur Finanzierung von neuen Investitionen in Mexiko verwenden. Eine derartige Lösung würde einen Anreiz zum Kauf privatisierungswürdiger griechischer Unternehmen durch ausländische Investoren schaffen. Eine Voraussetzung ist jedoch, dass ausländische Investoren beim Kauf griechischer Anleihen und ihrer Einlösung gegen Aktien griechischer Unternehmen ein Agio – wie die Streichung des Paketzuschlags oder einen Kursabschlag – erzielen können, das einen angemessenen finanziellen Anreiz enthält. Auf diesem Weg könnte das innenpolitische Problem gelöst werden, dass der griechische Staat ansonsten große Teile seines Vermögens weit unter seinem langfristigen Ertragswert verkaufen müsste und der labile Konsens über die Notwendigkeit von Privatisierungen erodieren würde.

Im September 1987 sorgte Alfred Herrhausen auf der Washingtoner Jahrestagung des IWF und der Weltbank für eine Sensation, als sich der Vorstandssprecher der Deutschen Bank für einen Schuldenerlass bei hochverschuldeten Entwicklungsländern einsetzte. Herrhausens Vorschlag erschien Wirtschaftsjournalisten und einer breiten Öffentlichkeit als konsequent und einsichtig. Innerhalb der deutschen Großbanken war er höchst umstritten. Während über die prekäre Position der Schuldnerländer ein unausgesprochenes Einvernehmen bestand, hatte Herrhausen gegen das ungeschriebene und eherne Gesetz verstoßen, vor solchen weitreichenden Initiativen den Konsens der größten Banken herzustellen. Der Mut, unvermeidliche Schuldennachlässe auch öffentlich zu vertreten, scheint in der heutigen Finanzwelt weitgehend verloren gegangen zu sein. Den heutigen Akteuren im Finanzsektor ist jedoch zugute zu halten, dass die Anleihemärkte in den 1980er Jahren eine geringere kurzfristige Volatilität zeigten und institutionelle Anleger auf Bonitätsveränderungen weitaus weniger nervös reagierten. Credit Default Swaps (CDS) als extrem volatile Bonitätsindikatoren mit großer Hebelwirkung waren noch nicht existent. Der spekulative Handel mit Anleihederivaten hat sich so weit von seinen realwirtschaftlichen Grundlagen gelöst, dass die Anleihenmärkte von erratischen Spekulationsprozessen dominiert wurden.

Erforderliche Maßnahmen

Die hohe Volatilität der Anleihemärkte lässt sich nur durch eine strikte Emissionsbegrenzung für CDS in Höhe der tatsächlich vorhandenen Staatsanleihen und das generelle Verbot von Leerverkäufen bekämpfen. Angesichts des hohen Handelsvolumens mit CDS wäre auch die Transaktionssteuer ein hilfreiches Instrument, um den spekulativen Derivatehandel einzugrenzen. Die Regierungen, der EFSF, die EZB und der IWF werden die Souveränität über die Anleihemärkte nur dann wiedergewinnen können, wenn die Begrenzung von erratischen und spekulativen Störfaktoren gelingt und ein neuer Konsens über die Mittel und Ziele von Schuldensanierungen ausgehandelt ist.

Die weitere Entwicklung der Staatsverschuldung in industriell entwickelten Staaten und Schwellenländern zwang die Gläubigerbanken Anfang der 1990er Jahre, nicht nur gegenüber den ärmsten Ländern der Welt einen Schnitt der Nominalverschuldung zu akzeptieren. 1991 waren Polen und Ägypten die ersten Fälle, in denen ein „haircut“ von 50% unumgänglich wurde. Diese Entscheidung war unter den Gläubigern auch deshalb kaum umstritten, weil die Angst vor einer negativen Kettenreaktion der Märkte und einem Vertrauensverlust in die Bonität anderer gefährdeter Transformationsstaaten wie Ungarn deutlich schwächer ausgeprägt war als in der heutigen Eurozone. Im Fall Polens war der „haircut“ die Vorbedingung für eine Abwertung des Zloty, die für die Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und die Herstellung der Konvertibilität erforderlich war. Ohne den „haircut“ wäre Polen nach einer Abwertung von seinen Fremdwährungsschulden erdrückt worden. Gleiches gilt auch für andere Staaten, bei denen ausländische Gläubiger die Mehrzahl der Staatsschulden in Form von Hartwährungsbonds halten. Der immer wieder diskutierte Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone würde einen weiteren „haircut“ bei jenen griechischen Anleihen erzwingen, die sich im Besitz der EZB und anderer öffentlicher Banken befinden.

Die Lösung des griechischen Staatsschuldenproblems wäre einfacher, wenn Griechenland den offiziellen Status eines armen Landes hätte und von der Weltbank und vom IWF als „Heavily Indebted Poor Country“ anerkannt wäre. Bereits 1994 fanden die Regierungen der G-7-Staaten einen Konsens für die Entschuldung dieser Staaten. Da Griechenland in Relation zu seinen Exporterlösen überschuldet ist (Staatsschulden > 350% der Exporte), käme es als „poor country“ für einen Schuldenerlass von bis zu 67% in Betracht. Der IWF und die Weltbank senkten das Überschuldungskriterium 1996 noch weiter ab (Staatsschulden > 200% der Exporte oder wahlweise Schuldendienst > 25% der Exporte) und erweiterten damit den Kreis der Entwicklungsländer, die einen Schuldenschnitt beanspruchen können. Der Fall Griechenland zeigt aufgrund seiner Rückwirkungen auf alle Staaten der Eurozone (und darüber hinaus) die dringende Notwendigkeit einer weltweiten Insolvenzordnung für überschuldete Staaten. Auf der internationalen Ebene besteht weniger ein konzeptionelles Problem als die Schwierigkeit, eine solche Insolvenzordnung zu implementieren.

Es gibt noch weitere Gründe, die entscheidenden Defizite in der fehlenden Umsetzung von Regeln und Verfahren zu sehen. Während das Defizitkriterium der Eurozone eindeutig formuliert war, fehlte eine politische Umsetzungsautomatik. Da die Defizitsünder Deutschland und Frankreich 2005 eine qualifizierte Stimmenmehrheit gegen Sanktionen organisieren konnten, haben sich kleinere Staaten wie Griechenland zum Bruch des Stabilitätspakts ermächtigt gefühlt. Die Ursachen des gescheiterten Stabilitätspakts sind auch bei jenen Akteuren zu finden, die sich heute für weitgehende Eingriffe in das Budgetrecht der nationalen Parlamente einsetzen.


DOI: 10.1007/s10273-011-1307-6

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