Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Bildung und Qualifikation haben zu Recht einen sehr hohen Stellenwert in der wirtschaftspolitischen Debatte, denn die qualitative Passung von Nachfrage und Angebot ist die Voraussetzung für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung. Das Bildungssystem ist aber nicht nur Anpassungsmechanismus an sich verändernde Strukturen, sondern es ist eine wesentliche Triebkraft dieser Veränderungen. Bildung ist der „Rohstoff“ der Wissensgesellschaft, von der die Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaften abhängt, denn die Entwicklung und Produktion komplexer, technologisch fortgeschrittener Güter und Dienste bei hoher Produktivität ist ohne ein adäquates allgemeines Bildungsniveau unvorstellbar.1 Eine Qualifikationslücke – das Auseinanderfallen von qualifikationsspezifischem Arbeitsangebot und -nachfrage – kann das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft begrenzen, aber die nachgefragten und angebotenen Qualifikationen sind nicht unabhängig voneinander. Die qualifikatorischen Anforderungen an Neueinstellungen, wie auch die Entwicklung der Qualifikationen, werden substanziell von der Arbeitsmarktsituation und der historischen Entwicklung beeinflusst, wie es vor allem in den Arbeiten von Wirtschaftsnobelpreisträger Peter Diamond gezeigt wurde: „Makro beeinflusst Mikro“.

Die institutionell bedingte Fehlallokation am Arbeitsmarkt erzeuge Arbeitslosigkeit und behindere Wachstum, weshalb eine expansive Geld- und/oder Finanzpolitik wirkungslos sei und allenfalls Inflation aber kein Wirtschaftswachstum auslösen werde, so die nahezu einheitliche Meinung in Deutschland. Die hohe und bis vor kurzem zunehmende Arbeitslosigkeit sei kein Konjunkturphänomen, sondern strukturbedingt. In Deutschland, so die These, behindere eine unflexible Lohnstruktur qualifikatorische Anpassungen, weil sich Investitionen in Bildung nicht lohnen. Der Preismechanismus als steuerndes Element der Marktwirtschaft, die „unsichtbare Hand“ sei in Deutschland außer Kraft gesetzt. Mehr Markt am Arbeitsmarkt, eine flexiblere Lohnstruktur, werde die Wachstums- und Arbeitsmarktprobleme Deutschlands beheben, weil sie rasch für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage auch in qualifikatorischer Hinsicht sorge.

Mit jeder Rezession sprang die deutsche Arbeitslosenquote seit den 1970er Jahren auf immer höhere Niveaus, was als Anstieg der strukturellen oder natürlichen Arbeitslosigkeit (auch NAIRU, inflationsstabile Arbeitslosenquote) interpretiert wurde. Arbeitsangebot und -nachfrage – so die These – fallen in den Qualifikationen auseinander und eine starre Lohnstruktur verhindere die notwendigen Anpassungen. Springende „natürliche“ Arbeitslosenquoten hat Robert Solow2 eine merkwürdige Theorie genannt, die aber dennoch ohne Zögern allgemein akzeptiert wurde.

Besteht in der Bundesrepublik gegenwärtig schon eine Fachkräftelücke? Hat die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland qualifikatorische Ursachen? Wie passen sich Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage einander an? Welchen Einfluss hat die makroökonomische Situation auf die Anpassungsprozesse am Arbeitsmarkt? Diese Fragen werden im Folgenden aufgegriffen.

Deutschland: Erstarrter Arbeitsmarkt oder Flexibilitätswunder?

Wir wurden daran gewöhnt, den amerikanischen Arbeitsmarkt als besonders flexibel zu betrachten, weil dort der Lohnmechanismus stets für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage sorge und wo es deshalb auch keine Strukturprobleme gebe. Große Lohnspreizung und eine lange Zeit relativ stabile und in den 1990er Jahren sinkende Arbeitslosenquoten wurden als ausreichende Bestätigung der Theorie angesehen. Der deutsche Arbeitsmarkt wurde dagegen als unflexibel charakterisiert und eine zu geringe Spreizung der Löhne wurde als Hauptursache der deutschen Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit verkündet;3 zu einer Zeit, als die Lohnspreizung in Deutschland bereits rasant zugenommen hatte.4

Die Evidenz für diese These eines „sklerotischen Arbeitsmarktes“ in Deutschland war allerdings immer schwach: Sie beruhte vor allem auf dem statischen neoklassischen Theoriemodell, das ausschließlich auf den Preismechanismus als Anpassungsinstrument setzt, das die Verteilung vorhandener Ressourcen nicht aber die Entwicklung von Ressourcen in den Mittelpunkt stellt. Zudem wurden die USA mit dem theoretischen Ideal und Deutschland mit einer erstarrten unflexiblen Ökonomie gleichgesetzt, was in beiden Fällen fehlleitend ist.

Die gegenwärtige Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise hat zahlreiche ökonomische „Weisheiten“ erschüttert, und zur großen Überraschung ist der deutsche Arbeitsmarkt vom Prügelknaben zum weltweit bestaunten Flexibilitätswunder aufgestiegen. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands ging 2009 um rund 5% zurück, aber dennoch stieg die Arbeitslosigkeit nur mäßig gegenüber dem Vorkrisenniveau an. In den USA – bislang als Flexibilitätswunder gepriesen, weil institutionell stärker am Marktmodell orientiert – schoss dagegen die Arbeitslosenquote trotz geringerer Wachstumseinbrüche als in Deutschland nach oben. In diesen unterschiedlichen Entwicklungen in der gegenwärtigen Krise offenbaren sich zwei unterschiedliche Flexibilitätsformen: In den USA reagiert die Zahl beschäftigter Personen bei ungefähr konstanter Arbeitszeit auf Nachfrageveränderungen, während in Deutschland – befördert durch die nochmals ausgeweiteten Kurzarbeitergeldregelungen der großen Koalition – die Arbeitsstunden je Beschäftigten bei geringeren Entlassungen zur Anpassung genutzt werden.

Die insgesamt gearbeiteten Stunden, das Arbeitsvolumen, werden in beiden Volkswirtschaften an die Nachfragesituation angepasst, nur die Anpassungsmodi sind vollkommen verschieden. Diese unterschiedlichen Reaktionen sind aber keinesfalls ein Phänomen der gegenwärtigen Krise, sondern waren auch in vorangegangenen Krisen zu beobachten, wie die beiden amerikanischen Ökonomen Katherine Abraham und Susan Houseman in ihrem 1993 erschienenen Buch gezeigt haben.5 Neu in Deutschland ist allenfalls die Verfügbarkeit von tarifvertraglich geregelten Arbeitszeitkonten.6 Abraham und Houseman7 heben vor allem die qualifikationserhaltende Wirkung der „atmenden Fabrik“ für die Unternehmen hervor, die es ermöglicht in der Expansionsphase mit eingearbeitetem Personal rasch die Produktion auszuweiten, wohingegen die Entlassung und Einstellung der Mitarbeiter hohe Transaktionskosten verursacht.8

Bildungsinvestitionen

Obwohl Bildungsausgaben klassische Investitionscharakteristika haben, werden sie in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht als Investition sondern als Konsumtion klassifiziert. „Humankapital“ soll den Investitionscharakter von Bildung herausstellen, was auf Adam Smith9 zurückgeht, der höher qualifizierten Arbeitnehmern eine ihre Ausbildungskosten kompensierende Lohnprämie10 zusprach. Er verglich Bildungsinvestition mit Investitionen in eine teurere aber auch produktivere Maschine, die ihre zusätzlichen Kosten ebenfalls amortisieren muss. Alfred Marshall11 warnte allerdings davor, Bildung allein auf ihren der wirtschaftlichen Aktivität nützlichen Aspekt zu begrenzen und verwies auf den kulturellen Aspekt und die Persönlichkeitsentwicklung durch Bildung, die bei aller wirtschaftlichen Relevanz nicht vernachlässigt werden sollten. Bildung hat eben auch ein „konsumtives“ Element, aber reine Konsumtion war sie allenfalls für großbürgerliche Haushalte. Individuell wie volkswirtschaftlich lohnt sich Bildung, sie reduziert das Arbeitslosigkeitsrisiko, sie erhöht die Erwerbstätigkeit und sie führt zu höheren Einkommen.

Der erste PISA-Schock erschütterte Deutschland, herrschte doch bis dato die Vorstellung vor, dass wir ein hohes allgemeines Bildungsniveau erreicht haben. Mit Erleichterung wurden denn auch die Ergebnisse der zweiten PISA-Studie 2010 aufgenommen, nach denen Deutschland sich leicht verbessern konnte, aber immer noch im Mittelmaß steckt. Schon das „PISA der Erwerbsbevölkerung“ (International Adult Literacy Survey, IALS) von Statistics Canada und der OECD12 stufte das durchschnittliche Qualifikationsniveau in Deutschland zwar deutlich über dem der USA ein13, aber auch substanziell unter dem skandinavischen Niveau. Neuere Ergebnisse über die Qualifikationsniveaus der erwachsenen Bevölkerung wird erst die Nachfolgestudie „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“14 mit vergleichbarer Methodik liefern, aber es wird wohl eher mit einer Verschlecherung gegenüber den Ergebnissen von Mitte der 1990er Jahre zu rechnen sein.

Hohe Schulabbrecherquoten, Jugendliche ohne Berufsausbildung sind Alarmzeichen, weil sie gesellschaftliche Segregation befördern, das Wachstumspotenzial mindern und damit zu reduzierten Einkommen führen und Anstoß zur Radikalisierung bei den Bildungsbenachteiligten wie auch in der übrigen Bevölkerung geben. Die Popularität von Geert Wilders in den Niederlanden oder hierzulande der Thesen von Thilo Sarrazin mögen Hinweise darauf sein. Rechter Populismus setzt ganze Bevölkerungsgruppen mit Bildungs- und Leistungsversagern gleich, eine Debatte, wie sie in den USA von den Soziologen Richard Hernstein und Charles Murray15 befördert wurde.

Hernstein und Murray behaupteten, dass die Lohnverteilung in den USA die vor allem genetisch bedingte Leistungsfähigkeit der Bevölkerung spiegele, die auch durch vermehrte Bildungsanstrengungen nicht zu durchbrechen sei. Mit anderen Worten: Wer am unteren Ende der Lohnskala steht – vor allem Afro-Amerikaner –, ist aus genetisch bedingten Gründen nicht so leistungsfähig wie diejenigen, die in den höheren Einkommensklassen zu finden sind. Höhere Bildungsausgaben würden diesen genetisch bedingten Zusammenhang nicht durchbrechen können, weil das Bildungsangebot auf unterschiedliche Aufnahmefähigkeit falle. Eingehende ökonometrische Analysen von Orley Ashenfelter und Cecile Rouse16 haben aber gezeigt, dass höhere Bildung (längere Schulzeiten) sich bei allen Bevölkerungsgruppen der USA positiv niederschlägt. Sie erhöhen die Einkommen selbst bei Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten in allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. In Bildung zu investieren lohnt sich für alle und vor allem für die Gesellschaft. Das Argument knapper Mittel ist politisch gesetzt, so Rouse und Ashenfelter, die mit ihrer ökonometrischen Studie die Thesen von Hernstein und Murray eindrucksvoll widerlegt haben.

Die Zukunft ist ungewiss, und niemand weiß, welche spezifischen Fähigkeiten in Zukunft besonders gefragt sein werden, weshalb Investitionen in eine breite Bildung besonders sinnvoll scheinen, denn Bildung führt zu weiterer Bildung, sie erleichtert den Zugang zu Neuem. Bildung befördert die Erwerbstätigkeit und sie „schützt“ vor Arbeitslosigkeit. Schettkat und Yocarini17 konnten den rasanten Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit in den Niederlanden seit den 1970er Jahren nahezu vollständig durch erhöhte Bildung der holländischen Frauen erklären.

Im Smithschen Investitionsgedanken und der Kompensation von Bildungskosten durch Lohnprämien liegt der Kern der Forderung nach höheren individuellen Bildungsrenditen.18 Soll der Einzelne in Bildung investieren, so muss er erwarten können, dass sich seine Investitionen amortisieren, also seine erwarteten und abdiskontierten zukünftigen Einkommen die Ausbildungskosten, die Investitionen, zumindest decken oder gar übersteigen. Alle Untersuchungen zeigen, dass sich Bildung für Individuen lohnt, denn mit dem Bildungsniveau werden in der Regel höhere Einkommen erzielt, aber die Frage bleibt, ob die individuellen Bildungsrenditen ausreichende Anreize für individuelle Bildungsinvestitionen bieten. Hier setzte in der Vergangenheit die Kritik an, die behauptete, dass Deutschland eine komprimierte Lohnstruktur hätte, die keine ausreichenden Bildungsanreize erlaube, weshalb eine größere Spreizung der Löhne, eine „Lohndifferenzierung“ gefordert wurde.19

Lohnt sich Bildung in Deutschland individuell und/oder gesellschaftlich?20 Die OECD publiziert Ertragsraten privater Bildungsinvestitionen in ihrem jährlich erscheinenden „Bildung auf einen Blick“, die unter anderem direkte Kosten der Bildungsinvestitionen, entgangene Einkommen, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge berücksichtigen. Für Deutschland ermittelt die OECD21 eine private Nettorendite von 6,5 bis 9,0% (abhängig von Abschlussniveau und Geschlecht). Die Ertragsraten öffentlicher Bildungsinvestitionen liegen mit 8,4% bis 13,4% sogar noch darüber. Investitionen in Bildung sind also vergleichsweise lohnend. Umso verwunderlicher ist aber die geringe öffentliche Investition Deutschlands in Bildung, angefangen bei vorschulischer Bildung bis hin in den Tertiärbereich. Bei den eigentlichen Bildungsausgaben22 pro Schüler oder Student liegt Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt (der auch durch Länder wie Mexiko oder Brasilien beeinflusst wird).23 In der Klassengröße (Schüler pro Lehrer) wird Deutschland im Primar- wie auch im Sekundarbereich I nur von wenigen OECD-Ländern wie Mexiko24, Brasilien, Korea übertroffen. Im Einkommensniveau vergleichbare Länder haben zum Teil deutlich kleinere Klassengrößen.25

Abbildung 1
Die Bildungs-Laffer-Kurve
Schettkat Abb-1 korr.ai

Quelle: R. Schettkat: In Bildung investieren? Die Bildungs-Laffer-Kurve, in: Beihefte der Konjunkturpolitik, 2001, H. 51, S. 307-317.

Die Bildungs-Laffer-Kurve?

Es gibt eine wirtschaftswissenschaftliche Literatur, die vor allem auf Arbeiten von Eric Hanushek26 zurückgeht, in der nicht nur der Zusammenhang zwischen Bildungsaufwendungen (also monetären Größen) und Bildungserfolg, sondern auch der Zusammenhang zwischen Schüler-Lehrer-Relationen (also realen Größen) und Bildungserfolg in Frage gestellt wird. In einigen Regressionsrechnungen ergeben sich sogar negative Effekte der Klassengröße auf den Bildungserfolg, d.h. kleinere Klassen vermindern den Bildungserfolg.

Trifft die Hanushek-These eines neutralen oder negativen Effektes der Klassengröße auf die Bildungserfolge zu, so wäre der optimale Faktoreinsatz (Lehrer pro Schüler) in einer Bildungs-Produktionsfunktion in einigen Ländern überschritten. Abbildung 1 zeigt solch eine Bildungs-Produktionsfunktion. Auf der vertikalen Achse ist der Bildungserfolg abgetragen und auf der horizontalen Achse die Inverse der Lehrer-Schüler Relation (die Klassengröße vermindert sich entlag der horizontalen Achse nach rechts). Diese Bildungs-Produktionsfunktion hat die Charakteristiken der Laffer-Kurve des ehemaligen Beraters von US-Präsident Ronald Reagan, Arthur Laffer, der proklamierte, dass ein niedrigerer Steuersatz zu erhöhten Staatseinnahmen führt, weil – so Laffers These – durch niedrigere Steuern die wirtschaftliche Aktivität der Bevölkerung befördert wird. Negative Koeffizienten in der Bildungs-Produktionsfunktion (Bildungs-Laffer-Kurve) zeigen an, dass eine Vergrößerung der Klassen sogar zu einem besseren Bildungserfolg führen würde. Bei einer solchen Bildungs-Produktionsfunktion wäre es sinnvoll, sehr hohe Klassengrößen zu vermindern, aber der Klassengrößeneffekt wird im mittleren Bereich neutral und bei „kleinen Klassen“ in einigen Regressionen sogar negativ.27

Sind die Hanushek-Ergebnisse plausibel? Belegen Folgestudien mit ähnlichen Ergebnissen die Hanushek-These oder unterliegen diese Studien den gleichen Problemen der Outputmessung (Bildungserfolg) und Inputkontrolle (Qualität der Lehrkräfte, Zusammensetzung der Schülerpopulation etc.)?28 Die Forderung nach „ordnungspolitischen“ Maßnahmen29, nach Wettbewerb unter Lehrkräften und Schulen als Ersatz für Bildungsinvestitionen mag vorschnell sein. Selbstverständlich sollte nach Möglichkeiten der Verbesserung (der Effizienzsteigerung) des Bildungssystems, nach neuen Unterrichtsmethoden, erhöhter Motivation der Lehrkräfte gesucht werden, aber es ist fraglich, ob der Rückgriff auf das neoklassische Marktmodell mit intensiverem Wettbewerb zwischen Lehrkräften und Schulen der erfolgsversprechende Weg ist und vor allem, ob diese möglichen Effizienzsteigerungen alternativ zu einer Verbesserung der Schüler-Lehrer-Relation sind. Sie sind als Ergänzung, aber kaum als Ersatz zu sehen, was bei den bevorstehenden finanzpolitischen Debatten zur Nutzung der „demographischen Rendite“ berücksichtigt werden sollte.

Abbildung 2
Die Beveridge-Kurve und Fachkräftemangel
Schettkat Abb-2.ai

Matching

Ökonomen verwenden zur Analyse von Arbeitsmarktprozessen Beveridge-Kurven oder Matching-Funktionen, die das Zusammenspiel von offenen Stellen (ungesättigte Arbeitsnachfrage) und Arbeitslosigkeit (überschüssiges Arbeitsangebot) darstellen. Auf der vertikalen Achse der Beveridge-Kurve ist die ungesättigte Arbeitsnachfrage (offene Stellen) und auf der horizontalen Achse überschüssiges Arbeitsangebot (Arbeitslosigkeit) aufgetragen (vgl. Abbildung 2). Die Beveridge-Kurve beruht auf der Überlegung, dass in einem realistischen Marktmodell die Einstellung von Arbeitnehmern schwierig ist, weil zunächst Kandidaten gesucht, Einstellungsgespräche geführt, Verträge geschlossen werden müssen etc., weshalb offene Stellen nicht sofort besetzt werden können, sondern es einiger Zeit bedarf, die Stelle tatsächlich zu besetzen. Es kommt in realen Märkten zu Friktionen, die im Modell des perfekten Wettbewerbsmarktes annahmegemäß ausgeschlossen sind. Für Arbeitslose ist es ebenso schwierig, einen geeigneten Arbeitgeber zu finden. Auch hier kommt es zu Friktionen. Informationsprobleme führen dazu, dass es in einer dynamischen Wirtschaft stets einige offene Stellen und einige Arbeitslose gibt. Im Gleichgewicht existiert also immer ungedeckte Arbeitsnachfrage neben Arbeitslosigkeit.

Fallen die Qualifikationen der Arbeitslosen und die Qualifikationsanforderungen der offenen Stellen auseinander – was als Qualifikationsmismatch oder populärer als Fachkräftemangel bezeichnet wird –, kommt es zu einer Verschiebung der Beveridge-Kurve vom Ursprung weg (von Kurve I nach Kurve II). So wurde in der Vergangenheit häufig die hohe persistente Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik begründet. Aus dem hohen Anteil gering Qualifizierter an den Arbeitslosen wurde geschlossen, dass deren geringe Ausbildung für die offenen Stellen für gesuchte Fachkräfte ungeeignet sei. Aber die Dauer der offenen Stellen ging deutlich zurück, es wurde also stets einfacher, die Stellen zu besetzen.30 Karl Brenke31 analysiert in seiner Studie unterschiedliche Statistiken (Lohnentwicklungen, berufsspezifische Beschäftigungsentwicklung) und zeigt überzeugend, dass es gegenwärtig keine nennenswerte Fachkräftelücke in Deutschland gibt.32 Die Fachkräftelücke wurde immer beschworen, wenn es darum ging, die hohe deutsche Arbeitslosigkeit als strukturell darzustellen. Aber auch in der Vergangenheit gab es kaum Anhaltspunkte für eine nennenswerte Fachkräftelücke.33

Beide Variablen werden durch Statistiken (in Deutschland: gemeldete offene Stellen, registrierte Arbeitslosigkeit) nur näherungsweise abgebildet, weil beispielsweise offene Stellen nicht gemeldet34 werden oder sie mit Personen besetzt werden können, die gar nicht als arbeitslos registriert sind, wie Studenten, Hausfrauen etc. Methodisch sind „offene Stellen“ und Arbeitslose vollkommen unterschiedliche Variablen. Arbeitslose sind zusätzliches Arbeitsangebot, aber „offene Stellen“ sind keineswegs mit zusätzlicher Arbeitsnachfrage gleichzusetzen und sind in hohem Maße endogen,35 was anhand der Einstellungskette erläutert wird (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3
Die Einstellungs- und Mobilitätskette
Schettkat Abb-3 klein.ai

Die Arbeiten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Peter Diamond36 haben deshalb gezeigt, dass die alleinige mikroökonomische Analyse des Arbeitsmarktes zu statisch und irreführend ist, weil die Mobilitätsentscheidung zwar von den einzelnen Arbeitnehmern getroffen wird, deren Optionen aber in hohem Maße von der makroökonomischen Situation beeinflusst werden. In einem Arbeitsmarkt mit geringer Arbeitslosigkeit ist die zwischenbetriebliche, freiwillige Mobilität der Arbeitnehmer hoch, weshalb sehr viele offene Stellen entstehen, die interbetriebliche Mobilität und intrabetriebliche Qualifikationsanpassungen bei relativ kleinen Qualifikationsschritten ermöglichen. Der direkte Vergleich von Qualifikationsanforderungen der offenen Stellen mit der Qualifikationsstruktur der Arbeitslosen ist deshalb eine zu statische Betrachtung, die die Mobilität und Anpassungsprozesse vollkommen vernachlässigt. In einem engen Arbeitsmarkt mit hoher – insbesondere innerbetrieblicher – Mobilität ist es gar nicht notwendig, dass die Arbeitslosen direkt zu den neu geschaffenen offenen Stellen passen müssen, sondern die hohe Mobilität erlaubt eine hohe Flexibilität in kleinen individuellen Schritten durch Aufrückprozesse. Bei hoher Arbeitslosigkeit wird eine genaue Passung von nachgefragten und angebotenen Qualifikationen verlangt, bei niedriger Arbeitslosigkeit wird dagegen nach Anpassungsmöglichkeiten gesucht und zudem sind die erforderlichen individuellen Anpassungsschritte geringer.

Neueinstellungen können aus dem Pool der Arbeitslosen (registrierte Arbeitslose plus andere Arbeitsuchende) oder aus bestehender Beschäftigung vorgenommen werden (vgl. Abbildung 3). Erfolgt die Besetzung einer zusätzlichen offenen Stelle durch einen Arbeitslosen, ist der Prozess beendet. Die Beschäftigung hat sich um eine Person erhöht und die Arbeitslosigkeit wurde entsprechend vermindert. Erfogt die Einstellung dagegen aus Beschäftigung, entsteht durch die Abwerbung eine neue offene Stelle, die wiederum zu besetzen ist. Diese Kette setzt sich fort, bis sie durch die Einstellung eines Arbeitslosen (einer Nichtarbeitsperson) oder der Abwerbung eines Beschäftigten aus einem schrumpfenden Betrieb unterbrochen wird. Es gibt deshalb auch keine Konkurrenz zwischen jobsuchenden Beschäftigten und Arbeitslosen, die Konkurrenzsituation hängt allein vom quantitativen Arbeitsmarktungleichgewicht ab.37

Die Einstellungskette ermöglicht qualifikatorische Anpassungen durch interbetriebliche aber auch durch intrabetriebliche Mobilitätsprozesse. Wird diese Mobilitätskette durch anhaltende Arbeitslosigkeit – durch einen Arbeitsangebotsüberhang – unterbrochen oder stark verlangsamt, so kann es zur Strukturierung von Arbeitslosigkeit kommen. Am Ende des Prozesses wird sich Arbeitslosigkeit bei geringer qualifizierten Arbeitslosen konzentrieren, aber dieses ist Ergebnis des anhaltenden Arbeitsangebotsüberhanges und nicht die Ursache der Arbeitslosigkeit. Ein quantitatives Ungleichgewicht wird strukturiert und wird zu einem qualitativen Ungleichgewicht. Der Vergleich von Qualifikationsanforderungen bei offenen Stellen mit den Qualifikationen der Arbeitslosen ist deshalb irreführend. Das Auseinanderfallen von qualifikationsspezifischem Arbeitsangebot und der Arbeitsnachfrage ist keine strukturelle Arbeitslosigkeit in dem Sinne, dass ein fundamentales Auseinanderfallen von qualifikatorischem Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage gegeben ist, wie Peter Diamond38 eindrucksvoll in seiner Nobelpreisrede herausgestellt hat.

  • 1 Vgl. N. Rosenberg, L. Birdzell: How the West Grew Rich, New York 1986.
  • 2 Vgl. R. Solow: Die Beschränktheit der makroökonomischen Diskussion überwinden, in: R. Schettkat, R. Langkau (Hrsg.): Aufschwung für Deutschland, Bonn 2007.
  • 3 Vgl. E. Prasad: The Unbearable Stability of the German Wage Structure: Evidence and Interpretation, in: IMF Staff Papers, 51. Jg. (2004), Nr. 2, S. 354-385. Detaillierte mikroökonometrische Analysen der Lohnstruktur kamen regelmäßig zu anderen Ergebnissen. Vgl. OECD: Employment Outlook, Paris 2004.
  • 4 Vgl. C. Dustmann, J. Ludsteck, U. Schönberg: Revisiting the German Wage Structure, in: IZA discussion paper, Nr. 2685, 2007, revidierte Fassung, in: Quarterly Journal of Economics, 124. Jg. (2009), Nr. 2, S. 843-88; R. Schettkat: Lohnspreizung: Mythen und Fakten, Edition der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 183, Düsseldorf 2006.
  • 5 Vgl. K. Abraham, S. Houseman: Job Security in America, Lessons from Germany, Washington D.C. 1993.
  • 6 Vgl. A. Herzog-Stein, H. Seiffert: Der Arbeitsmarkt in der großen Rezession – Bewährte Strategien in neuen Formen, in: WSI-Mitteilungen, 11/2010, S. 551-559.
  • 7 Vgl. K. Abraham, S. Houseman, a.a.O.
  • 8 Die Stundenflexibilität wird in den USA u.a. durch unflexible Arbeitsverträge und hohe Überstundenzuschläge eingeschränkt.
  • 9 Vgl. A. Smith: The Wealth of Nations, London 1776.
  • 10 Lohn kann neben der monetären Komponente auch Arbeitsbedingungen etc. enthalten.
  • 11 Vgl. A. Marshal: Principles of Economics, London 1980.
  • 12 Vgl. OECD: International Adult Literacy Survey, Paris 1997.
  • 13 Vgl. R. Freeman, R. Schettkat: Skill Compression, Wage Differentials and Employment: Germany vs. the US, in: Oxford Economic Papers, 53. Jg. (2001), Nr. 3, S. 582-603.
  • 14 Vgl. OECD: Programme for the International Assessment of Adult Competencies, OECD web-page, 2011.
  • 15 Vgl. R. Hernstein, C. Murray: The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life, New York 1994.
  • 16 Vgl. O. Ashenfelter, C. Rouse: Schooling, Intelligence, and Income in America, Cracks in the Bell Curve, Discussion Paper, Industrial Relations Section, Nr. 407, Princeton University, Princeton 1998.
  • 17 Vgl. R. Schettkat, L. Yocarini: Education Driving the Rise in Dutch Female Employment, in: IAW-Report 1/2003, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Tübingen 2003, S. 27-66.
  • 18 Als Bildungsrendite wird häufig die Lohnsteigerung bezeichnet, die sich in sogenannten Mincer-Regressionen für ein Jahr zusätzlicher Bildung ergibt. Es werden dabei nicht die tatsächlichen Ausbildungskosten den erwarteten Gewinnen gegenübergestellt, sondern lediglich der Zeitinput berücksichtigt.
  • 19 Zum Beispiel K. Zimmermann: Bildung lohnt sich nicht genug, in: Financial Times Deutschland vom 11.1.2001.
  • 20 Streuen Löhne innerhalb der Qualifikationsgruppen stark (vgl. D. Devroye, R. Freeman: Does Inequlity in Skills Explain Inequality of Earnings across Advanced Countries?, 2001) so werden die Einkommenserwartungen unsicherer und damit kostspielieger. J. Agell: On the Benefits from Rigid Labour Markets: Norms, Market Failure, and Social Insurance, in: The Economic Journal, 109. Jg. (1999), Februar, S. 143-164.
  • 21 OECD: Bildung auf einen Blick 2010, Paris 2010, S. 169-170.
  • 22 Die eigentlichen Bildungsausgaben beinhalten nicht Ausgaben für Mahlzeiten in Schulen, Transport etc.
  • 23 OECD: Bildung auf einen Blick 2010…, a.a.O., S. 213.
  • 24 Mexiko nur im Sekundarbereich I (vgl. ebenda, S. 468)
  • 25 Vgl. ebenda.
  • 26 E. Hanushek: Assessing the Effects of Resources on Student Performance: An Update, in: Educational Evaluation and Policy Analysis, 19. Jg. (1997), Nr. 2, S. 141-164.
  • 27 Für eine Übersicht vgl. E. Gundlach, L. Wößmann: Der Produktivitätsverfall der schulischen Ausbildung: Internationale Evidenz, Beihefte der Konjunkturpolitik, 2001, H. 51, S. 287-306.
  • 28 Vgl. A. Krueger: An Economist’s View of Class Size Research, mimeo, Princeton University, Princeton 1999; A. Krueger, D. Whitmore: The Effect of Attending a Small Class in the Early Grades on College-Test Taking and Middle School Test Results: Evidence from Project STAR, Princeton University, Industrial Relation Section, Working Paper Nr. 427, 1999. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich nicht um monetäre Ausgaben für Bildungseinrichtungen handelt, die auch durch hohe Lehrergehälter oder eine ineffiziente Struktur des Bildungssystems entstehen können.
  • 29 Vgl. auch L. Wößmann, M. Piopiunik: Folgekosten unzureichender Bildung durch entgangenes Wirtschaftswachstum, in diesem Heft, S. 34-41.
  • 30 R. Schettkat: The Labor Market Dynamics of Economic Restructuring: The United States and Germany in Transition, New York 1992.
  • 31 K. Brenke: Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 46, Berlin 2010.
  • 32 Im gleichen Wochenbericht des DIW prophezeit DIW-Präsident und IZA-Direktor Zimmermann allerdings dennoch Fachkräftemangel als mittelfristig bestimmendes Thema des Arbeitsmarktes. Im Spiegelinterview zum Wochenbericht weist Zimmermann zudem darauf hin, dass der Befund einer gegenwärtig nicht bestehenden Fachkräftelücke natürlich nicht bedeutet, dass es sie auch in aller Zukunft nicht geben wird. K. Zimmermann: Deutschland braucht auf Dauer Fachkräfte – auch durch Zuwanderung, DIW-Wochenbericht, Nr. 46, Berlin 2010.
  • 33 Vgl. R. Schettkat: Mismatch in the West German Labor Market? Economic Restructuring and Unemployment in the 1980s, in: Labour, 6. Jg. (1992), Nr. 1, S. 121-139.
  • 34 Das Institut der Deutschen Wirtschaft (O. Koppel, V. Erdmann: Methodenbericht. Industriemonitor – Fachkräftebedarf und -angebot nach Berufsordnungen und regionalen Arbeitsmärkten, IW, Köln 2009) ermittelt in Befragungen den Anteil gemeldeter an den insgesamt vorhandenen offenen Stellen und rechnet die gemeldeten offenen Stellen mit dem ermittelten Faktor hoch. So gerechnet werden die „offenen Stellen“ den Arbeitslosen gegenübergestellt und es ergeben sich teils beträchtliche „Fachkräftelücken“. Aus mehreren Gründen ein problematisches Verfahren, denn offene Stellen sind nicht mit zusätzlicher Arbeitsnachfrage gleichzusetzen (vgl. R. Schettkat: On Vacancies in Germany, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 213. Jg. (1993), Nr. 2, S. 209-222) wohl aber Arbeitslose mit zusätzlichem Arbeitsangebot.
  • 35 vGL: ebenda.
  • 36 Vgl. zusammenfassend P. Diamond: Nobel-Lecture delivered on 8 December 2010, Stockholm 2010.
  • 37 R. Schettkat, C. Gorter: On Musical Chairs and Matching Models: Do Employed Job Seekers Crowd Out the Unemployed?, in: The Indian Journal of Economics, 3. Jg., special issue in honor of Professor Paul A. Samuelson, 2000.
  • 38 P. Diamond, a.a.O.


DOI: 10.1007/s10273-011-1176-z