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Der Lehman-Pleite im Herbst 2008 gingen bereits 2007 Turbulenzen am Geldmarkt voraus. Die EZB hat darauf und auf die immer wiederkehrende Panik an den Finanzmärkten besonnen reagiert. Allerdings wird es schwieriger, die Entwicklungen einzuschätzen, denn das Verhalten der Finanzmärkte lässt sich nicht mit der Efficient Market Hypothesis erklären. Inzwischen vertreten viele Ökonomen die Auffassung, dass die Marktteilnehmer nicht rational handeln und die Transaktionen nicht effizient abgewickelt werden.

Die Finanzmarktkrise begann für die EZB am 9. August 2007 mit Turbulenzen auf dem Geldmarkt, als es infolge der ersten Nachwirkungen der „Subprime-Krise“ in den USA1 weltweit zu einer „plötzlich“ um sich greifenden Panik und – als Folge – zu einem Austrocknen der Interbanken-Geldmärkte kam. Die EZB griff massiv mit Feinsteuerungsmaßnahmen ein, um den Banken „beizustehen“ und stellte in einem vorher noch nie gekannten Ausmaß kurzfristig zusätzliche Liquidität bereit.2 Während damals andere Zentralbanken noch zögerten und den Ernst der Lage erst langsam zu begreifen begannen, hat die EZB rasch gehandelt. Dies war aber nur der Anfang. Richtig los ging es 2008.

Zinserhöhung im Juli 2008 – eine problematische Maßnahme

Die EZB strebt an, den Anstieg des harmonisierten Verbraucherpreisindexes (HVPI) bei „knapp unter 2% zu halten“. Dies soll auch die Orientierungsmarke für die Inflationserwartungen sein. Mit ihren Zinserhöhungen im Juli 2008 wollte sie den Märkten signalisieren, dass sie nicht bereit ist, durch höhere Energie- und Nahrungsmittelpreise bedingte, breit angelegte Zweitrundeneffekte auf das Lohn- und Preissetzungsverhalten zu akzeptieren. Die Verschiebung der relativen Preise und der damit verbundene Einkommenstransfer müsse vielmehr hingenommen werden, so die EZB. Diese Entschlossenheit sollte auch klar signalisieren, dass die EZB mittelfristig den Anstieg des HVPI wieder auf etwa 2% zurückführen will. Damit sollte auch erreicht werden, dass die mittel- bis langfristigen Inflationserwartungen bei 2% verankert bleiben.3

Der nationale Verbraucherpreisindex stieg in Deutschland im Juli 2008 um 3,3% gegenüber dem Vorjahr an (der harmonisierte Verbraucherpreisindex nahm in Deutschland um 3,5% zu). Inflationstreiber waren die Nahrungsmittel (8,0%), insbesondere aber der Anstieg der Energiepreise (Haushaltsenergie 15,1%; Kraftstoffe 15,2%). Im Eurogebiet wuchs der harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) im Juni und Juli 2008 um jeweils 4,0%. Die Kerninflationsrate (ohne Energieträger und unverarbeitete Nahrungsmittel) betrug in beiden Monaten 2,5%.

Folgende Ursachen wurden für den weltweiten Anstieg der Nahrungsmittel- und Energiepreise genannt:

Nahrungsmittel:

  • Nutzung landwirtschaftlicher Nutzflächen zur Gewinnung von Biosprit;
  • zunehmende Nahrungsmittelnachfrage aus den Schwellenländern;
  • Vernachlässigung der bäuerlichen Landwirtschaft in den Entwicklungsländern;
  • Auftreten von Finanzinvestoren (Hedgefonds, Pensionsfonds) – „Spekulation“ über die Derivatemärkte.

Energie:

  • Zunahme der Nachfrage aus den Schwellenländern bei begrenztem Angebot;
  • ebenfalls das Auftreten von Finanzinvestoren.

Der drastische Anstieg bei den Energie- und Nahrungsmittelpreisen, der sich aufgrund seines abrupten Auftretens nur spekulativ, nicht aber realwirtschaftlich (Zunahme der Knappheit) erklären ließ, begann Ende 2007. Genauso „über Nacht“, wie die Preise innerhalb kürzester Zeit spekulationsbedingt explodiert waren, sind sie ab August 2008 massiv gesunken. Seit Ende 2009 kam es erneut zu einem starken Anstieg bei den Rohstoffpreisen. Offensichtlich ist die EZB mit ihrer Zinserhöhung im Juli 2008, die sie mit einem Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise begründete, einer kurzfristigen spekulativen Übertreibung der Märkte „auf den Leim“ gegangen und hat ohne Not den Zinssatz erhöht. Wie sich aber später noch zeigen wird, hat sie aus diesem Fehler mittlerweile gelernt und ihre damals zu marktgläubige Haltung aufgegeben.

Schon Anfang Juli 2008 war diese Zinserhöhung umstritten, da sich die Konjunktur im Euroraum bereits merklich abgekühlt hat. In Deutschland zeigte sich dies etwa an Frühindikatoren (ifo-Geschäftsklimaindex, Auftragseingänge) sowie an Präsensindikatoren (Produktion, BIP-Werte für das II. Quartal). Kritiker argumentierten deshalb auch, dass die Zinserhöhung der EZB ihrerseits die Konjunkturschwäche noch verschärfte.

Spekulative Übertreibungen in die eine oder andere Richtung als Anlass für Zinsentscheidungen zu nehmen, überträgt ohne Not die Volatilität der Finanzmärkte auf die Realwirtschaft. Zielführender wäre es gewesen, darauf hinzuweisen, dass der Anstieg der Inflationsrate im Juni/Juli 2008 nur spekulativen Übertreibungen geschuldet war und die Kerninflationsrate, die im Juni/Juli 2008 2,5% betrug, stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Dies wäre wohl auch im Hinblick auf die Steuerung der Inflationserwartungen ausreichend gewesen. Aber vielleicht war damals die Zeit für eine solche Erkenntnis noch nicht reif, da der „Glaube“ (!) an die Effizienz des Marktes im – damals noch – ökonomischen Mainstream der Neoklassik zu unerschütterlich war. Dies hat sich mittlerweile grundlegend geändert.

Die Finanzkrise hat im Verlauf des Sommers 2008 zu einer drastischen Eintrübung des weltweiten Konjunkturgeschehens geführt, so dass sich auch die EZB – ebenso wie die anderen weltweit bedeutenden Zentralbanken – gezwungen sah, ab Anfang Oktober 2008 die Zinsen stark zu senken. Hinzu kam, dass die Inflationsrate wieder stark zurückgegangen war – auch aufgrund sinkender Energiepreise. Die Lehman-Pleite löste eine erneute Panik-Reaktion bei den Finanzinstituten aus, was insbesondere die Interbanken-Geldmärkte weltweit zusammenbrechen ließ.

Praktische Umsetzung der Zinssenkungen seit Oktober 2008

Von Mitte Oktober 2008 bis Mitte Mai 2009 senkte die EZB die Zinssätze beim Hauptrefinanzierungsgeschäft von 4,25% (Mindestbietungssatz für Zinstender bei begrenzter Zuteilung) bis auf 1,00% (Festzinssatz beim Mengentender bei voller Zuteilung der gebotenen Beträge), beim Spitzenrefinanzierungsgeschäft von 5,25% bis auf 1,75%. Der Zinssatz für die Einlagefazilität wurde von 3,25% bis auf 0,25% gesenkt. Der Zinssatz für die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte entsprach (in der Regel) dem des Hauptrefinanzierungsgeschäfts (Festzinssatz).

Tabelle 1
Verbraucherpreise im Euro-Raum 2008

Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in %

Position 1. Vj. 2. Vj. 3. Vj. 4. Vj.
HVPI gesamt 3,4 3,6 3,8 2,3
darunter:        
Energie 10,8 13,6 15,1 2,1
Unverarbeitete Nahrungs­mittel 3,5 3,7 3,9 3
         
HVPI ohne Energie und unverarbeitete Nahrungs­mittel 2,5 2,5 2,5 2,2
davon:        
Verarbeitete Nahrungs­mittel 6,4 6,9 6,7 4,3
Gewerbliche Waren 0,8 0,8 0,7 0,9
Dienstleistungen 2,6 2,4 2,6 2,6

Quelle: Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, Februar 2009, S. 21.

Beim Hauptrefinanzierungsgeschäft handelt es sich um einen Kredit mit einer Laufzeit von einer Woche auf Tenderbasis, d.h. dieses Geschäft wird von der EZB wöchentlich ausgeschrieben und die Kreditinstitute können sich daran beteiligen („bieten“). Die Kreditinstitute bekommen derzeit zu dem von der EZB festgelegten (Fest-)Zinssatz die von ihnen gewünschten Beträge. Bei den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften, die ursprünglich nur eine Laufzeit von drei Monaten hatten, wurde das Laufzeitspektrum um Ein-, Sechs- und Zwölf-Monatstender erweitert.4 Die Abwicklung erfolgt ebenfalls nach dem Tenderverfahren. Auch hier kommt es seither zu einer vollen Zuteilung der gewünschten Beträge. Bei der Spitzenrefinanzierungsfazilität handelt es sich um die Möglichkeit einer Kreditaufnahme beim Eurosystem „über Nacht“, bei der Einlagefazilität um die Möglichkeit einer Mittelanlage beim Eurosystem „über Nacht“.

Der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität bildet die Obergrenze, der für die Einlagefazilität die Untergrenze für den Tagesgeldsatz an Interbanken-Geldmärkten. Eine Kreditaufnahme beim Eurosystem muss mit Sicherheiten unterlegt werden. Im Oktober 2008 wurde der Katalog der zugelassenen Sicherheiten erweitert. Die Mindestreserve zwingt die Kreditinstitute, Guthaben beim Eurosystem auf dem Konto „Einlagen auf Girokonten“ zu halten. Da die Verzinsung der mindestreservebedingten Guthaben an den Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte gebunden ist, sanken folglich auch hier die Zinsen entsprechend.

Nach der Lehman-Pleite Mitte September 2008 kam es panikartig zu einem totalen Vertrauensverlust auf den Interbanken-Geldmärkten. Dies hatte zur Folge, dass diese Märkte schlagartig austrockneten und Banken hierüber weder kurzfristig Geld anlegen wollten, noch Geld aufnehmen konnten. Die Banken drängten daher in die Notenbank und die Zinsgebote beim Zinstender stiegen enorm an, so dass der durchschnittliche Zuteilungssatz bei Hauptrefinanzierungsgeschäften (Zinstender) vom 10.9. bis zum 8.10.2008 von 4,41% auf 4,99% stieg. Bis Anfang Oktober 2008 wurden die Hauptrefinanzierungsgeschäfte als Zinstender mit Vorgabe eines Mindestbietungssatzes ausgeschrieben. Dieser Mindestbietungssatz betrug nach seiner Erhöhung im Juli 2008 4,25%. Aus Sicht der EZB kam diesem Zinssatz eine Signalfunktion für die geldpolitisch gewünschte Höhe des Tagesgeldsatzes und damit verbunden eine Orientierungsfunktion für die Höhe der Zinsgebote der Banken zu.

Nach der „Lehman“-Pleite hatte dieser Zinssatz für die Gebote der Kreditinstitute aber keine Bedeutung mehr, da es für die Banken nur noch darum ging, auf jeden Fall Liquidität zu bekommen und – als Reaktion auf die „Panikstimmung“ unter den Banken – auch auf Vorrat zu horten – koste es was es wolle! Um den Zinssatz zu senken, stellte die EZB ab dem 15.10. auf einen Mengentender mit voller Zuteilung zu einem Festzinssatz von 3,75% um, d.h. die Banken konnten zum Zinssatz von 3,75% soviel Liquidität vom Eurosystem erhalten wie sie wollten. Dies galt sowohl für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte als auch für die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte.

Der Übergang zur vollkommenen Zuteilung aller Gebote bedeutete eine grundlegende Änderung der Liquiditätsversorgung des Bankensystems durch die EZB. Bis zu diesem Zeitpunkt orientierte sich die Liquiditätsversorgung des Bankensystems durch die EZB immer an der Frage, wie viel Liquidität notwendig war, damit das Bankensystem als Ganzes das Mindestreserve-Soll erfüllen konnte. Die EZB hatte also genaue Vorstellungen über die Höhe der notwenigen Liquiditätsausstattung, weshalb es auch bis Mitte Oktober klare Zuteilungsbegrenzungen gab. Dahinter stand die Vorstellung, dass es nur darauf ankomme, die Liquiditätsversorgung des Bankensystem als Ganzes im Auge zu behalten und zu decken, da Liquiditätsüberschüsse bzw. -defizite bei einzelnen Banken, die im Zuge der täglichen Bankgeschäfte an der Tagesordnung sind, stillschweigend über die Interbanken-Geldmärkte ausgeglichen werden. Dies setzte aber funktionierende Interbanken-Geldmärkte voraus. Nach der Lehman-Pleite gab es diese schlicht nicht mehr.

Seither haben sich die Interbanken-Geldmärkte noch nicht normalisiert. Dies zeigt sich daran, dass die Geschäftsbanken überschüssige Liquidität über Hauptrefinanzierungsgeschäfte und längerfristige Refinanzierungsgeschäfte teuer aufnehmen (derzeit 1%) und niedrig verzinst als Einlage im Rahmen der Einlagefazilität (derzeit 0,25%) als Liquiditätsvorsorge beim Eurosystem halten. So betrugen etwa die Guthaben für Einlagefazilitäten kurz vor der Lehman-Pleite 55 Mio. (!) Euro (12.9.2008), danach stiegen sie sprunghaft auf über 154 Mrd. Euro an (10.10.2008). Ende September 2009 lagen die Guthaben für Einlagefazilitäten bei 151 Mrd. Euro, Ende Mai 2010 als Folge der „Griechenlandkrise“ gar bei 316 Mrd. Euro, Anfang August 2010 waren es noch 161 Mrd. (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2
Konsolidierter Ausweis des Eurosystems zum 6.8.2010 – vereinfachte Darstellung
in Mrd. Euro
A.1 Währungsreserven 588 P.1 Banknotenumlauf 823
A.2a Kredite an Kreditinstitute 597 P.2 Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten 376
darunter:   darunter:  
Hauptrefinanzierungsgeschäfte 155 Einlagen auf Girokonten 154
Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte 442 Einlagefazilität 161
Spitzenrefinanzierungsfazilität   Termineinlagen 61
A.2b Wertpapiere 419 P.3 Sonstiges 766
Wertpapiere für geldpolitische Zwecke 121 darunter:  
darunter:   Einlagen von öffentlichen Haushalten 76
gedeckte Bankschuldverschreibungen 60 Ausgleichposten Neubewertung 329
Staatsanleihen 61 Kapital und Rücklagen 78
Sonstige Wertpapiere 297    
A.3 Sonstiges 361    
  1965   1965

Quelle: Europäische Zentralbank.

Erklärung des Verhaltens an den Finanzmärkten

Zur Erklärung des Verhaltens an den Finanzmärkten muss auf Elemente von Rastlosigkeit und Widersprüchlichkeit in der Wirtschaft zurückgegriffen werden, was in der Literatur nach Keynes auch als „animal spirits“ bezeichnet wird. Wichtig ist hier insbesondere die Frage des Vertrauens (Glaube oder tiefe Überzeugung). Der Kern des Vertrauens im Sinne von Glauben liegt gerade darin, dass es über das hinausweist, was vernünftig ist. Es gibt Zeiten, da sind die Menschen besonders unbekümmert und glauben an die Zukunft.5 Doch irgendwann schlägt das Instinktverhalten ins Gegenteil um und die Menschen werden zu skeptisch.6 Niall Ferguson schreibt in seinem Buch „Der Aufstieg des Geldes – die Währung in der Geschichte“7, auch von Phasenverschiebung (im Sinne des Auftretens von neuen Möglichkeiten), Euphorie, Manie, Besorgnis und schließlich Entsetzen. Er weist nachdrücklich darauf hin, dass Blasen ohne übermäßige Kreditschöpfung nicht entstehen können, d.h., dass Blasen nicht ohne „Zutun“ – oder besser Unterlassen – der Zentralbanken entstehen können.8 Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers kam es zu einem panikartigen Wegbrechen des Vertrauens auf den Finanzmärkten, so dass diese Märkte austrockneten. Die Zentralbanken hatten keine andere Möglichkeit als selbst an die Stelle der Interbanken-Geldmärkte zu treten, um das Finanzsystem vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Als Konsequenz öffneten sie alle Liquiditätsschleusen und teilten unbegrenzt Liquidität (Guthaben bei der Zentralbank) zu. Ähnliches Panikverhalten drohte im Zusammenhang mit der Griechenlandkrise im Mai 2010,9 war aber auch schon im Sommer 2007 zu beobachten.

Geldmarktzinssätze

Quelle: Europäische Zentralbank.

Unter den normalen Umständen eines funktionierenden Geldmarktes führt eine Erhöhung bzw. Verminderung des Mindestbietungssatzes beim Zinstender bzw. des Festzinssatzes beim Mengentender dazu, dass der Tagesgeldsatz (gemessen am Euro OverNight Index Average EONIA) steigt/sinkt. Der Mindestbietungssatz bzw.Festzinssatz dient als Leitzinssatz für den Tagesgeldsatz. Kommt es liquiditätsbedingt zu Anspannungen bzw. Verflüssigungen am Tagesgeldmarkt, so wirkt – unter normalen Umständen – zunächst die Stabilisierungsfunktion der Mindestreserveschwankungen des Tagesgeldsatzes entgegen.10 Reicht diese nicht aus, um unerwartete Liquiditätsschwankungen zu kompensieren, so kann das Eurosystem kurzfristig auf Feinsteuerungsoperationen zurückgreifen, um den Tagesgeldmarktsatz zu stabilisieren. Die Stabilisierungsfunktion der Mindestreserve setzt allerdings voraus, dass der Tagesgeldmarkt unter Banken auch funktioniert. Derzeit liegt der Tagesgeldsatz allerdings eher in der Nähe des Zinssatzes für die Einlagefazilität. Dies rührt daher, dass die Banken mehr Liquidität beim Eurosystem halten, als sie zur Deckung der Mindestreserve benötigen (Anfang August 2010 betrugen die mindestreservebedingt gehaltenen „Guthaben auf Girokonten“ beim Eurosystem 154 Mrd. Euro, die Guthaben in der Einlagefazilität 161 Mrd. Euro). Steigt der Tagesgeldsatz unter Banken an, so werden einige Banken ihre Guthaben in der Einlagefazilität abschmelzen und damit das Angebot am Tagesgeldmarkt erhöhen und somit einem deutlichen Anstieg des Tagesgeldsatzes über den Satz der Einlagefazilität hinaus entgegenwirken. Kommt jedoch aus irgendwelchen Gründen kurzfristig wieder Panik auf, so kommt der Interbanken-Geldmarkt wieder gänzlich zum Erliegen.

Unorthodoxe Stabilisierungsmaßnahmen: Direktkauf von Bankschuldverschreibungen und Staatsanleihen

Im Zuge der Maßnahmen gegen die Finanzmarktkrisen der letzten Jahre beschloss die EZB die Durchführung von Direktkäufen am Markt für gedeckte Bankschuldverschreibungen (Juli 2009) und infolge der „Griechenland-Krise“ auch von Staatsanleihen (Mai 2010). Während beim Ankauf von gedeckten Bankschuldverschreibungen von vornherein ein Ankaufsvolumen von insgesamt 60 Mrd. Euro (Nominalwert) festgelegt war, wurde das Ankaufsvolumen bei Staatsanleihen nicht von vornherein begrenzt, um damit zusätzlich „beruhigend“ (stabilisierend) auf den Staatsanleihemarkt zu wirken. Bis August 2010 hatten sich die Ankäufe von Staatsanleihen, die seit dem 10. Mai 2010 erfolgten, auf rund 61 Mrd. Euro in der Bilanz des Eurosystems kumuliert.

Am 30. Juli 2010 war das Ankaufsprogramm für gedeckte Bankschuldverschreibungen abgeschlossen. Die erworbenen Papiere sollen von den Zentralbanken des Eurosystems bis zur Fälligkeit gehalten werden. Mit diesem Ankaufsprogramm sollte dieses spezielle Segment des Finanzmarktes, das durch die Finanzmarktkrise besonders hart getroffen wurde, gestützt werden, da es bei der Refinanzierung der Banken von Bedeutung ist.

Im Gegensatz zum Ankauf von gedeckten Bankschuldverschreibungen wurden die durch den Ankauf von Staatsanleihen beim Eurosystem geschaffenen Guthaben – mit einer abwicklungsbedingten Zeitverzögerung – durch das Angebot von Termineinlagen sterilisiert, d.h. abgeschöpft. Anfang August 2010 lagen diese bei 61 Mrd. Euro. Im konsolidierten Ausweis des Eurosystems werden die Ankäufe (der Bestand) an öffentlichen und privaten Schuldverschreibungen unter der Position „Wertpapiere für geldpolitische Zwecke“ ausgewiesen. Zum 6. August 2010 betrug der Bestand 121 Mrd. Euro, wobei 60 Mrd. auf den bereits 2009 beschlossenen Ankauf von privaten Schuldverschreibungen (sogenannte Covered Bonds von Banken) und 61 Mrd. auf den Ankauf von staatlichen Wertpapieren, der nach dem Beschluss vom 10. Mai 2010 begonnen hat, entfielen. Die Liquiditätswirkung der Ankäufe von Staatsanleihen wurde bzw. wird durch die Hereinnahme von Termineinlagen durch das Eurosystem sterilisiert, d.h. abgeschöpft.

Drohen inflationäre Gefahren durch diese Ankäufe?

Inflation kann nachfrageseitig (Nachfrage größer als das Angebot), angebotsseitig (Gewinndruck aufgrund von Preissetzungsmacht, Kostendruck) oder erwartungsbedingt (Inflationserwartungen führen zu selbsterfüllenden Effekten) entstehen.11 Es kommt also darauf an, dass das Eurosystem diese Faktoren im Auge hat und gegebenenfalls mit Zinserhöhungen bzw. mit Maßnahmen zur Erwartungsstabilisierung dem Entstehen und der Ausbreitung von Inflation entgegentritt. Allein die Entwicklung auf den Rohstoffmärkten bereitet – wie 2008 – gewisse Sorgen. Gegen spekulative Übertreibungen auf diesen Märkten kann die Geldpolitik aber nicht mit Zinserhöhungen ursachenadäquat vorgehen, will sie nicht den Fehler von 2008 wiederholen. Vielmehr helfen hier nur klare Begrenzungen der Aktivitäten für Finanzinvestoren auf den Rohstoffmärkten.12 Auf jeden Fall sollte die Politik einem Vorschlag von George Soros folgend darüber nachdenken, inwieweit nicht das Tätigwerden von Finanzinvestoren (Hedgefonds, Pensionsfonds,...) auf Nahrungsmittel- und Rohstoffmärkten eingeschränkt bzw. gänzlich verboten werden sollte, um spekulativ bedingte Verwerfungen für die Realwirtschaft zu vermeiden. Dass die Ankäufe von Staatsanleihen liquiditätsmäßig sterilisiert wurden und dies auch breit nach außen kommuniziert wurde, hat aus Sicht der EZB wohl eher eine psychologische Wirkung. Die Banken erhalten nach wie vor über die Hauptfinanzierungsgeschäfte und die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte soviel Liquidität zum Festzinssatz von 1% wie sie wollen und legen es geringverzinst zu 0,25% (Einlagefazilität) beim Eurosystem wieder an – ein bereits auf den ersten Blick „nicht sehr ertragreiches“ Geschäft.

Ein solches Verhalten ist wohl nur aus der nach dem Konkurs von Lehman Brothers und der Griechenland-Krise tief sitzenden Angst vor möglichen Liquiditätsengpässen heraus zu erklären. Die EZB hat es aber jederzeit in der Hand, die Banken (wieder) an die kurze Leine zu nehmen, d.h. die Bereitstellung von Liquidität über die Rückführung von Hauptrefinanzierungsgeschäften und von längerfristigen Refinanzierungsgeschäften mittels einer Rückkehr zu einer Zuteilungsbegrenzung, wie sie vor dem Oktober 2008 üblich war, zu vermindern. Zwar ist die Bilanzsumme des Eurosystems von Anfang September 2008 bis Ende Dezember 2010 von 1441,0 Mrd. Euro auf 2004,4 Mrd. Euro, also um 39%, gestiegen, dies hat jedoch aufgrund der schwachen Kreditnachfrage der Nichtbanken fast keinen Niederschlag in der umlaufenden Geldmenge M3 gefunden, die Ende Oktober 2008 bei 9370,5 Mrd. Euro lag und Ende November 2010 9531,2 Mrd. Euro ausmachte, also nur um 1,7% zugenommen hat.13

Warum sah sich der EZB-Rat gezwungen Staatsanleihen anzukaufen?

Der EZB-Rat sah sich gezwungen, auf dem Markt für Staatsanleihen zu intervenieren, um dem Ausbrechen von Panik infolge gezielter Spekulation, die auf einen Kursverfall, insbesondere (aber nicht nur) bei griechischen Staatsanleihen und beim Euro, setzte, entgegenzuwirken. „ … Insbesondere werden sie [diese Maßnahmen] dazu beitragen, das Übergreifen einer erhöhten Finanzmarktvolatilität sowie von Liquiditätsrisiken und Marktverwerfungen auf den Zugang zu Finanzmitteln in der Volkswirtschaft abzumildern“, so der EZB-Rat in seinem Beschluss vom 10. Mai 2010. Zur Frage des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB sagte Otmar Issing, der ehemalige Chefvolkswirt der EZB: „Die EZB war zunächst als einzig aktiv handelnde übrig geblieben. Sie hat sich unter dem Druck der Verhältnisse zu dieser Maßnahme bereitgefunden. Sie will nicht-funktionierende Märkte wieder funktionsfähig machen. … Nochmal, die EZB begründet ihre Intervention damit, dass die Märkte gestört sind und dadurch die Effektivität der Geldpolitik untergraben wird.“14

Die EZB hat also offensichtlich aus den Erfahrungen des Jahres 2008 Konsequenzen gezogen. Diese Konsequenzen reichen aber noch viel weiter. Im Monatsbericht vom November 2010 schreibt die EZB, dass sie nun auch frühzeitig auf Blasenbildungen auf den Vermögensmärkten, die von euphorischer Stimmung und Herdenverhalten getrieben werden, mit Leitzinserhöhungen reagieren will.15 „Im Hinblick auf das Herdenverhalten – wenn sich Investoren also von den Entscheidungen anderer Marktteilnehmer leiten lassen – gilt: Je deutlicher Märkte einem gegebenen Trend folgen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Investoren zu einer Blasenbildung beitragen. Es zeigt sich, dass Zinserhöhungen wirksam sein könnten, um Herdenverhalten aufzuhalten und die Anleger zu veranlassen, Entscheidungen auf der Grundlage ihrer eigenen Informationen über die erwartete Rentabilität von Investitionsprojekten zu treffen.“16

In ihrem Monatsbericht im Januar 2011 beschäftigt sich die Deutsche Bundesbank ausführlich – nahezu lehrbuchmäßig – mit psychologischen Ansätzen zur Erklärung des Anlegerverhalten (Behavioral Finance) und den daraus zu ziehenden Konsequenzen für die staatliche Regulierung. „Die Vorstellung eines wohl informierten, nur auf den eigenen Nutzen bedachten und vollkommen rational handelnden Homo Oeconomicus wird bei den verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen somit fallen gelassen. … Jedoch hat nicht zuletzt die jüngste Finanzkrise gezeigt, dass diese Modelle (die auf der Homo-oeconomicus-Annahme basierende klassische Finanztheorie, die Effizienzmarkthypothese und das Leitbild des mündigen und eigenverantwortlichen Anlegers, Anmerkung des Verfassers) oft nur einen begrenzten Erklärungsgehalt bieten können, da das Verhalten von Finanzmarktakteuren nicht oder nur unzureichend mit der klassischen Finanzmarkttheorie erklärt werden kann.“17

Daraus zieht die Deutsche Bundesbank den Schluss:18 „Die Erkenntnisse der Behavioral-Finance-Forschung können grundsätzlich wichtige Anregungen für den Gesetzgeber liefern, den Anlegerschutz durch eine geeignete Regulierung zu verbessern. Die verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse ermöglichen eine bessere Einschätzung der Verhaltensmuster von Wirtschaftsakteuren und zeigen mögliche Gründe auf, warum das tatsächliche Verhalten bei Anlageentscheidungen vom idealisierten Anlegerverhalten der klassischen Finanztheorie abweicht.“ Die Deutsche Bundesbank mahnt also ein grundlegendes Umdenken bei den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern an. Noch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vom 26. Oktober 2009 steht: „Unser Leitbild ist der gut informierte und zu selbstbestimmtem Handeln befähigte und mündige Verbraucher. Diesem Ziel verpflichtet, werden wir die Lebensqualität der Verbraucher erhöhen, durch mehr Transparenz, Aufklärung, Rechtsdurchsetzung und dort, wo es nötig ist, auch mit mehr Rechten.“19 Im Lichte des aktuellen Forschungsstandes können diese „heroischen“ Annahmen wohl nicht mehr gehalten werden. Es wird daher Zeit, dass die Politik ihr Handeln am real existierenden Homo sapiens und nicht an einer Homo-oeconomicus-Fiktion ausrichtet. Eine realistische Einschätzung menschlichen Handelns ist entscheidend, wenn es um Fragen der Steigerung der Lebensqualität durch staatliches Handeln geht.20

Hinter diesem „neuen“ Verhalten der EZB steht aber auch ein zunehmendes Umdenken bei führenden Vertretern der ökonomischen Zunft. In einer „Special Edition with coverage of the world financial crisis“ schreiben Gregory Mankiw und Mark Taylor in ihrem einführenden Lehrbuch „Economics“: „Much of the above reasoning (im Zusammenhang mit der Annahme effizienter Märkte, der sogenannten „efficient market hypothesis“, Anmerkung des Verfassers), however, is based on the principle of rational behavior. The question raised in the wake of the 2007-09 financial crisis, was the extent to which the ‚bubbles‘, which occurred in asset prices, represented rational behavior as opposed to a herd mentality or mass psychology as proposed by the Yale economist Robert Shiller and Richard Thaler at the University of Chicago, who are leading behavioral economists. The existence of speculative bubbles suggests the markets react to what Alan Greenspan called ‚irrational exuberance‘ and what Keynes referred to as ‚animal spirits‘. In speculative bubbles, asset prices rise, not because of the stream of income that flows from them … but solely because of an expectation of what others think, the asset will be worth in the future. … Faith in markets is fundamental to economic growth in most of the world and the financial crisis has shaken this faith to the core.“21

Mankiw und Taylor verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die Folgerungen, die Lord Adair Turner, der Vorsitzende der UK Financial Service Authority (FSA), zieht, dass die Finanzkrise den Glauben an effiziente Märkte und die damit begründeten großen Freiräume für Banken erschüttert hat und dass die Regulierer entsprechend die Annahmen, unter denen die Regulierungssysteme funktionieren, neu bedenken müssen.22 In der ersten „Dahrendorf Memorial Lecture“ an der Universität Oxford äußerte Turner auch tiefe Zweifel am gegenwärtigen Wirtschaftssystem: „Die Globalisierung muss begrenzt werden. Der Wachstumsimperativ ist zu überdenken. Das liberale Modell von Eigeninteresse und segensreicher Profitvermehrung taugt in den reichen Staaten nicht mehr zur allgemeinen Glücksvermehrung.“23

Der Vordenker der modernen Managementlehre, der Harvard-Professor Michael E. Porter, fordert eine komplett neue Unternehmensstrategie: Er spricht von der „Neuerfindung des Kapitalismus.“, da der bisherige „Kapitalismus“ massiv unter Druck stünde und sich zunehmend die Einsicht durchsetze, dass sich die Wirtschaft auf Kosten der Gemeinschaft bereichere. Nach Porter muss in Zukunft der Shared Value im Mittelpunkt stehen, wenn die Unternehmen prosperieren und gesellschaftliche Akzeptanz zurückgewinnen wollen. Unter Shared Value versteht Porter das gleichzeitige Verfolgen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zielen. Dabei müsse der Zweck von Unternehmen neu definiert werden: Statt sich auf Gewinn per se zu konzentrieren, müssten sie Shared Value schaffen.„Durch den Shared Value konzentrieren sich die Unternehmen auf die richtige Art von Gewinnen – Gewinne, die auch der Gesellschaft Vorteile bringen, anstatt ihre zu schaden ... Wir brauchen eine fortschrittliche Form des Kapitalismus, eine, die auch einen gesellschaftlichen Sinn enthält.“24

Die Erkenntnis vom geringen Erklärungsgehalt der Efficient Market Hypothesis ist aber keineswegs neu. So schreibt Leonhard Gleske, der in den 80er Jahren Mitglied des Zentralbankrates der Deutschen Bundesbank war, schon im Jahr 1987: „Indeed, exchange rate behavior often seems to owe more to market psychology than to economic reason.“25 Aber auch unter den Geschäftsbanken greift die Einsicht um sich, dass auf den (Finanz-)Märkten nicht mit schlichter Rationalität gerechnet werden kann. Tut man es dennoch, kann es (sehr) teuer werden. Deshalb sah sich die Deutsche Bank Research (wohl) auch veranlasst, eine Studie26 zu veröffentlichen, die sich mit dem tatsächlichen Verhalten auf Märkten und den daraus folgenden Erkenntnissen befasst, deren sich „Investoren und Anlageberater“ bewusst sein sollten, um Fehlentscheidungen zu vermeiden. Sogar Alan Greenspan musste bei einer Anhörung vor dem US-Kongress im Herbst 2008 zugeben: „The whole intellectual edifice collapsed in the summer of the last year.“27 Irgendwie kommt einem eine solche Antwort bekannt vor. Bereits John Law äußerte sich nach dem Platzen der Mississippi-Blase in Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts ähnlich: „Ich habe einige schwere Fehler gemacht, weil Irren menschlich ist“.28

„Solange die Zukunftserwartungen der Menschen zwischen übertriebenem Optimismus und übermäßigem Pessimismus – oder zwischen Gier und Angst – hin und her schwanken, werden Aktienkurse einem unvorhersehbaren Zickzackkurs folgen, dessen Verlauf den zerklüfteten Gipfeln der Anden nicht unähnlich ist,“ stellt Niall Ferguson fest.29 Dies gilt sinngemäß aber auch für andere (Finanz-)Märkte. Diese Argumentation findet sich bereits bei Keynes. Nach Keynes sollte auf den Devisenmärkten daher auch die „Kontrolle von Kapitalbewegungen … zu einem dauerhaften Merkmal der Nachkriegsordnung“ werden. „No one has ever made rational sense of the wild gyrations in financial prices, such as stock prices“, so George Akerlof und Robert Shiller.30

Auf der Basis dieser Erkenntnis entwickelte der „Übervater“ der Hedgefonds, George Soros, seine Reflexivitäts-Theorie, die ihm zu Spekulationsgewinnen in Milliardenhöhe verhalf. Gerade die Erkenntnis, dass der Markt eben nicht rational und effizient ist, sondern eine eigene Wirklichkeit bildet, „die zuweilen massiv auf die physische Realität einwirkt, die er der Theorie nach nur abbilden soll“31, stellt den Kern von Soros Reflexivitäts-Theorie dar. Mittlerweile basieren die Strategien der Hedgefonds wohl in der Breite auf den Einsichten Soros, was die Problematik noch verschärft.

In einem Interview mit der Börsen-Zeitung32 kommt Reinhard Selten, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, vor diesem Hintergrund zu dem Schluss: „Man denke nur an die zum Teil unüberlegte, nicht konsequent in ihrer Wirkungsweise durchdachte Liberalisierung der Finanzmärkte in den letzten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, die ein wesentlicher Grund für die aktuelle Finanzkrise ist. … die postulierte Effizienz des Marktes wurde geradezu vergöttert.“33 Der Ende Januar 2011 veröffentlichte Untersuchungsbericht des US-Kongresses zur Finanzkrise macht das Versagen der amerikanischen Aufsichtsbehörden, in erster Linie das der US-Notenbank „Fed“, d.h. insbesondere die von ihrem früheren Vorsitzenden Alan Greenspan betriebene Deregulierung des Finanzsektors, maßgeblich für die Finanzkrise verantwortlich.34

Hätte man ein bisschen zurück in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geblickt, dann hätte man sich wohl viel ersparen können: In der Veröffentlichung „The Federal Reserve System: Purposes and Functions“ führt die US-amerikanischen Notenbank aus, dass der Grund für die Gründung der US-Zentralbank im Jahr 1913 auf irrationalem Marktverhalten beruhte: „During the nineteenth century and the beginning of the twentieth century, financial panics plagued the nation, leading to bank failures and business bankruptcies that severely disrupted the economy.“

  • 1 „It is now widely recognized that in the run-up to the crisis, there was a significant underappreciation of systemic risk, so much so that many viewed policymakers as having established an era of sustained and stable expansion – labeled the ‚Great Moderation‘. With the benefit of hindsight, low nominal interest rates, abundant liquidity, and a favorable macroeconomic environment encouraged the private sector to take on ever-increasing risks. Financial institutions provided loans with inadequate checks on borrowers’ ability to pay and developed new and highly complex financial products in an attempt to extract higher returns. Many financial regulators and supervisors were lulled into complacency and did not respond to the building up of vulnerabilities.“ IMF: Shaping the New Financial System, IMF Staff Position Note, 3. Oktober 2010.
  • 2 „Die EZB reagierte umgehend und stellte Banken im Euroraum noch am selben Tag Liquidität in jeder gewünschten Höhe als Tagesgeld gegen Sicherheiten zum geltenden Hauptrefinanzierungssatz zur Verfügung. Insgesamt schöpften die Banken Liquidität im Umfang von 95 Mrd. Euro ab; daran lässt sich die Schwere des Schocks ablesen.“ EZB: Die Reaktion der EZB auf die Finanzkrise, Monatsbericht Oktober 2010, S. 68.
  • 3 Vgl. hierzu ebenda, S. 69. „It is paramount, that medium and long-term inflation expectations remain firmly anchored in line with price stability. Reflecting its mandate, such anchoring is of the highest priority to the Governing Council“, so Jean-Claude Trichet, Präsident der EZB, im Februar 2008.
  • 4 Mittlerweile bietet die EZB nur noch Ein- und Dreimonatsgeschäfte an.
  • 5 Siehe hierzu auch die Beschreibung der Vorgeschichte der Finanzkrise durch den IMF in Fußnote 1.
  • 6 Zur Rolle der „Animal Spirits“ im Wirtschaftsablauf im Einzelnen siehe George Akerlof, Robert Shiller: Animal Spirits – wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Frankfurt/New York 2009.
  • 7 Niall Ferguson: Der Aufstieg des Geldes – die Währung in der Geschichte, Berlin 2009.
  • 8 Vgl. ebenda, S. 110 f.
  • 9 So sahen sich die Regierungschefs der Staaten der Eurozone, die EU-Kommission, der IWF sowie die Europäische Zentralbank gezwungen, über das Wochenende vom 8./9. Mai 2010 mit ungewöhnlichen Maßnahmen (750 Mrd. Hilfspaket; Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank) die Märkte zu beruhigen. Am Montag (10.5.2010) mussten sich dann Leerverkäufer kurzfristig am Markt eindecken, was etwa dazu führte, dass die Rendite für 10-jährige griechische Staatsanleihen von 12,45% (7.5.) auf 6,75% (10.5.) zurückging (vgl. „Leerverkäufer erleben schwarzen Montag“, in: Financial Times Deutschland vom 11.5.2010, S. 5). Hätten Politik und Zentralbank nichts unternommen, wäre es wohl zu einem erneuten Wegbrechen der Finanzmärkte aufgrund mangelnden Vertrauens unter den Finanzinstituten („Wer hat welche Staatsanleihen in seinen Büchern stehen?“) wie nach dem Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers Mitte September 2008 gekommen. Zum Vortrag von EZB-Präsident Jean Claude Trichet vor den Staats- und Regierungschefs beim „Krisentreffen“ am Freitag den 7.5.2010 in Brüssel, schreibt der Spiegel: „Trichet lässt keinen Zweifel daran, wie ernst er die Lage einschätzt. Der Interbankenhandel sei praktisch zum Erliegen gekommen, auf den Märkten breite sich Panik aus. Wenn nichts geschehe, drohe eine neue Finanzkrise, schlimmer sogar als nach dem Kollaps von Lehman Brothers.“ Vgl. „Wir haben nur einen Schuss“, in: Spiegel, Nr. 20 vom 17.5.2010, S. 81.
  • 10 Zur Geldmarktsteuerung im Einzelnen vgl. Egon Görgens, Karlheinz Ruckriegel, Franz Seitz: Europäische Geldpolitik – Theorie, Empirie, Praxis, 5., völlig neu bearbeitete Auflage mit einem Geleitwort von Jürgen Stark, Stuttgart 2008, Kapitel III. 4 „Geldmarktsteuerung“.
  • 11 Vgl. im Einzelnen hierzu etwa Egon Görgens, Karlheinz Ruckriegel: Inflation und Deflation, in: Das Wirtschaftsstudium, 38. Jg (2009), S. 1361-1367.
  • 12 Im Dezember 2010 betrug die gewichtete Inflationsrate gemäß dem Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) im Eurowährungsraum 2,2% (Deutschland 1,9% gemäß HVPI). Die Kerninflationsrate, also die Inflationsrate gemäß HVPI des Eurowährungsraums ohne Energie und unverarbeitete Nahrungsmittel lag lediglich bei 1,1%. Gemäß nationalem Verbraucherpreisindex betrug die Inflationsrate in Deutschland im Dezember 1,7%, wobei die Kerninflationsrate bei 1,0% lag. Der Anstieg der Kosten der Lebenshaltung von 1,7% lässt sich in folgende Teilindizes zerlegen: Wohnungsnutzung: +1,3% (Gewicht: 23,1%); Dienstleistungen: +0,5% (Gewicht: 27,2%); Gewerbliche Waren: +0,6% (Gewicht: 29,9%); Nahrungsmittel: +3,6% (Gewicht: 9,4%); Energieträger: +8,2% (Gewicht: 10,4%). „Die Kletterpartie der Preise für Lebensmittel und Energie weckt Erinnerungen an die Jahre 2007 und 2008. Damals hatte sich die Inflationsrate im Euro-Raum binnen weniger Monate von rund 2 auf 4% verdoppelt. Auslöser waren spekulative Übertreibungen bei den Preisen von Öl, Weizen, Mais und anderen Rohstoffen. Als die Weltwirtschaft im Gefolge der Lehman-Pleite in die Rezession stürzte, platze die Preisblase ebenso rasch, wie sie zuvor entstanden war. Mitte 2009 rutschte die Teuerungsraten sogar in den negativen Bereich, an den Finanzmärkten machte sich Angst vor Deflation breit. Geht es nun auf der Preis-Achterbahn wieder nach oben?“, vgl. Geld jagt Güter (Titelgeschichte), Wirtschaftswoche, Nr. 4, vom 24.1.2011, S. 22.
  • 13 Zum Zusammenhang zwischen Geldbasis, Geldmenge und Geldpolitik vgl. im Einzelnen, Egon Görgens, Karlheinz Ruckriegel, Franz Seitz: Europäische Geldpolitik, a.a.O., Kapitel III.1 „Die vier Ebenen der Geldpolitik“.
  • 14 Otmar Issing: Der Euro ist immer noch eine Erfolgsgeschichte, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Bd. 40, 2011, S. 38. Eine solche oder ähnliche Formulierung findet sich mittlerweile zunehmend auch bei anderen deutschen Ökonomen: „Auf dem Weg zur dauerhaften Marktdisziplin stellen sich allerdings Fragen im Hinblick auf mögliche grundsätzlich nicht gerechtfertigte Vertrauenskrisen um die Zahlungsfähigkeit von Euro-Staaten. Das Phänomen sich selbst erfüllender Prophezeiungen ist nicht auszuschließen. Kommt es zu einer panischen Fluchtbewegung aus den Anleihen eines Staates, dann kann dieser Staat illiquide werden, sogar wenn er solvent ist.“, so Friedrich Heinemann: Marktdisziplin: die entpolitisierte Schuldenbremse, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Nr. 126 vom Dezember 2010, S. 8. Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, sagt: „Die Finanzkrise hat uns gelehrt: Märkte neigen zu unkontrollierbaren Kettenreaktionen.“, in: Spiegel-Streitgespräch, „Schrecken ohne Ende“, in: Spiegel, Nr. 51 vom 20.12.2010, S. 52.
  • 15 Vgl. EZB: Vermögensblasen und Geldpolitik, in: Monatsbericht, November 2010, S. 77 f.
  • 16 Ebenda, S. 78.
  • 17 Deutsche Bundesbank: Anlegerverhalten in Theorie und Praxis – Die klassische Finanztheorie, die Effizienzmarkthypothese und das Leitbild des mündigen und eigenverantwortlichen Anlegers, in: Monatsbericht, Januar 2011, S. 46 f.
  • 18 Ebenda, S. 55 f.
  • 19 Ebenda, S. 47, Fußnote 2.
  • 20 Vertiefend hierzu: Karlheinz Ruckriegel: Die Rückkehr des Menschen in die Ökonomie, Dezember 2010, www.ruckriegel.org.
  • 21 Gregory Mankiw, Mark Taylor: Economics, 2010, S. 822 und 828
  • 22 Vgl. ebenda, S. 845.
  • 23 So die Süddeutsche Zeitung, die in dem Artikel „Nagen am Liberalismus“ am 7. Mai 2010 darüber berichtete. Zu den Ansätzen für eine Glücksvermehrung siehe etwa Karlheinz Ruckriegel: Glücksforschung – Erkenntnisse und Konsequenzen, in: Das Wirtschaftsstudium, 39. Jg. (2010), S. 1140-1147.
  • 24 Michael E. Porter, Mark R. Kramer: Die Neuerfindung des Kapitalismus, in: Harvard Business manager, Februar 2011, S. 72 f.
  • 25 Zitiert nach Karlheinz Ruckriegel: Finanzinnovationen und nationale Geldpolitik, Bayreuth 1988, S. 37; siehe hierzu auch ebenda, S. 32-40.
  • 26 Vgl. Deutsche Bank Research: Homo Oeconomicus oder doch eher Homer Simpson?, 30. April 2010, www.dbresearch.de.
  • 27 Justin Fox: The Myth of the Rational Market, New York 2009, S. xi f. (introduction).
  • 28 Zitiert nach Niall Ferguson, a.a.O., S.137.
  • 29 Niall Ferguson, a.a.O., S. 156 f.
  • 30 George Akerlof, Robert Shiller, a.a.O., S. 131.
  • 31 So Daniel Eckert und Holger Zschäpitz in ihrem Vorwort „Meisterspekulant mit Mission“ zu George Soros: Die Analyse der Finanzkrise und was sie bedeutet – weltweit, München 2009, S. 21.
  • 32 Interview mit Reinhard Selten „Ich befürworte die Einschränkung von Leerverkäufen“, in: Börsenzeitung vom 17.7.2010, das auch in den Auszügen aus Presseartikeln der Deutschen Bundesbank (Nr. 30 vom 21. Juli 2010, S. 11) abgedruckt wurde.
  • 33 Zum aktuellen Stand der Reform der Bankenaufsicht siehe etwa: Thomas Hartmann-Wendels: Reform der Bankenaufsicht nach der Finanzmarktkrise, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Nr. 126 vom Dezember 2010, S. 20-26.
  • 34 Vgl. Lucas Zeise: Die Versager dürfen weitermachen, in: Financial Times Deutschland vom 1.2.2011.


DOI: 10.1007/s10273-011-1190-1