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Die EWU-Schuldenkrise macht gemeinsame Aktionen der Gläubigerstaaten zur „Rettung“ der Schuldnerstaaten erforderlich. Dies war von einigen Ökonomen schon bei der Einführung des Euro befürchtet worden. Einen Keil zwischen die Mitgliedsländer treibt das auf die einzelne Nation gerichtete Denken der Regierungen. Die Bürger haben zunehmend Probleme mit der Akzeptanz der EU – vor allem, weil sie sich politisch nicht angemessen beteiligt fühlen.

Quo vadis, Europa?

Fragt man nach der Entwicklungsrichtung der Europäischen Integration, nach ihrer „Finalität“, so stellt sich zu allererst die Frage: Wie sieht denn aktuell der Ist-Zustand der EU aus? Von diesem Zustand aus mag sich – wenn überhaupt – die Einigung fortentwickeln. Schon mit der Beschreibung des Ist-Zustandes tut sich aber die Literatur seit 50 Jahren anhaltend schwer.

Walter Hallsteins (1969)1 „unvollendeter Bundesstaat“ zeugt ebenso davon wie Hans Peter Ipsens (1972)2 „Zweckverband“. Und Donald Puchalas (1972)3 „Konkordanzsystem“, Gary Marks (1996)4 „Mehrebenenregierungssystem“ und Eckart Kleins (1990)5 „Vereinigung offener Nationalstaaten“ oder Paul Kirchhofs (1992)6 „Staatenverbund“ sind nicht weniger umstritten. Selbst der wohl nachhaltigste Metaphernerfinder für den europäischen Integrationsprozess, William Wallace, blieb über die Jahre notgedrungen vage: Vom „Less than a Federation, More than a Regime“ (1983)7 kam er bis zu „Partial Polity“ (2005)8.

Das hat schon Heinrich Schneider (1969)9 vor gut vierzig Jahren zu dem eher verzweifelten Ausruf gebracht, die Europäische Einigung sei ein Ding „sui generis“ – sie sei etwas eigenes, etwas in der Geschichte schlicht noch nie Dagewesenes. Dieser Begriff wird seither von kaum einem Lehrbuch zum Thema ausgelassen. Meistens zeigen schon die Formulierungen, wie schwer dem Autor die Begriffsuche gefallen ist.

Die Europäische Einigung ist schwer auf den Begriff zu bringen

Dieser Zustand verbessert sich nicht, wenn man sich einige Details des politischen Systems der Europäischen Union genauer anschaut. Nur ein Beispiel: Wen vertritt denn Herman Van Rompuy, seit November 2009 Präsident des Europäischen Rates der EU? Die übliche Antwort lautet: Die 27 Mitgliedstaaten und ihre knapp 500 Mio. Bürgerinnen und Bürger. Daran ist aber mindestens genauso viel falsch wie wahr.

Geht es beispielsweise um drei der vier Freiheiten im Binnenmarkt – um die Waren-, Dienstleistungs- und die Kapitalverkehrsfreiheit –, dann spricht Van Rompuy für 31 Staaten, weil mit Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz über mehrere unterschiedliche Abkommen auch Nicht-EU-Staaten an diesen drei Verkehrsfreiheiten beteiligt sind. Und geht es um Handelspolitik etwa im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO), dann vertritt Van Rompuy sogar 32 Staaten, weil die Türkei seit 1995 in einer Zollunion mit der EU verbunden ist, mithin also der Gemeinsamen Außenhandelspolitik der EU folgt. Geht es aber um die vierte Freiheit im Binnenmarkt, um die Personenverkehrsfreiheit – Stichwort: „Schengen“ –, dann vertritt Van Rompuy 27 Staaten, die aber nicht identisch mit den 27 EU-Mitgliedstaaten sind. Bulgarien und Rumänien gehören noch nicht dazu, Irland und Großbritannien bestehen auf einer Ausnahme, während Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz Mitglieder von „Schengen“, aber nicht Mitglied der EU sind. Geht es um die Währungsunion und den Euro, so vertritt Van Rompuy 17 Mitgliedstaaten und 20 verschiedene Münzregale, weil Monaco, San Marino und der Vatikan, nicht aber Andorra, in Absprache mit der Europäischen Zentralbank eigene Münzen prägen dürfen. Geht es um Struktur- und Regionalpolitik, vertritt Van Rompuy 29 Staaten, nämlich neben den 27 Mitgliedstaaten zusätzlich die Schweiz und Norwegen, die jährlich beträchtliche Summen in den EU-Haushalt einzahlen, ohne über die Verwendung der Haushaltsmittel mitentscheiden zu können.

Die Liste dieser unterschiedlichen Arrangements ließe sich fortsetzen. Und, es handelt sich nicht etwa nur um ein Übergangsphänomen bis alle europäischen Staaten eben Vollmitglied der EU geworden sind und bis alle Mitglieder alle EU-Regelungen übernommen haben. Das stellen sich zwar alle vor – als Befürchtung die EU-Gegner, als Hoffnung die EU-Befürworter –, aber alle Erfahrungen der vergangenen 60 Jahre legen ein gerüttelt Maß an Skepsis nahe.

Was aber bedeutet das?

Zunächst wird deutlich, dass die Europäische Einigung sich nicht territorial bestimmen lässt, jedenfalls nicht in der vom Nationalstaat her gewohnten Art und Weise. Im Laufe von mittlerweile gut drei bis vier Jahrhunderten Staatsentwicklung haben zumindest die so genannten entwickelten Staaten der OECD-Welt eine weit ausdifferenzierte Ordnung geschaffen, mit der sie praktisch und effektiv alle wichtigen gesellschaftlichen Bereiche regulieren. Gleichzeitig sind diese Staatsapparate weiter in ihre (nationalen) Gesellschaften eingebettet,10 ihnen also über die Instrumente demokratischer Legitimation Rechenschaft schuldig. All das funktioniert(e) umstandslos aber nur bei rigoros festgelegten staatlichen Grenzen. Auf der einen Seite des Grenzpfahls unterlag alles der Jurisdiktion von Land A, auf der anderen Seite alles der von Land B.

Ferner wird damit aber ebenfalls deutlich, wie sehr die Menschen noch immer dieses territorial definierte rückwärtige Muster verinnerlicht haben. Politik funktioniert in den Köpfen der Menschen immer territorial, in der Zuständigkeit eines Staates für ein Stück Erde. Entsprechend werden nicht nur in der Umgangssprache die Begriffe „Land“ und „Staat“ synonym benutzt. Dass das nicht immer so war, kann man schon bei Otto Brunner11 nachlesen. Und, dass das eine dem Staat verpflichtete Bürokratie erst mit enormem Aufwand gegen vor allem ständische Widerstände durchsetzten musste, hat nicht nur Otto Hintze12 schon ausführlich beschrieben.

Nun sehen sich diese klassischen nationalen Territorialstaaten seit mindestens drei Jahrzehnten Dynamiken ausgesetzt, die in der Literatur gern als Globalisierung, Internationalisierung, Privatisierung, Liberalisierung oder Transnationalisierung beschrieben werden.13 Der Staat des „goldenen Zeitalters“ moderner Staatlichkeit – also der Staat in den 1960er und 1970er Jahren, der die Produktion öffentlicher Güter weitgehend monopolisierte – dieser Staat „bekommt heute“ im wahrsten Sinne des Wortes „Gesellschaft“.14 Um ihn herum lagern sich Internationale Organisationen, transnationale private Einrichtungen oder Public-Private Partnerships15 an: Sie machen zwar den Staat nicht überflüssig, übernehmen aber entweder Teile seiner bisherigen Regierungsaufgaben oder erbringen neu entstandene Governanceleistungen – man denke als Beispiel nur an die privat organisierte Domain-Namen-Verwaltung für das Internet oder an die Setzung technischer Normen und Standards durch privat organisierte transnationale Normungsinstitutionen.

Die EU ist nun zum einen Teil dieser Globalisierung, indem sie Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten abschafft und Regierungsaufgaben von ihnen übernimmt. Sie ist aber gleichzeitig auch Teil der Reaktion der Staaten auf die Globalisierung, etwa wenn die EU als Antwort auf die Spekulationswellen der globalisierten internationalen Finanzmärkte gegen das Europäische Währungssystem in den 1990er Jahren die gemeinsame Währung einführt oder wenn sie die europäisierten, denationalisierten Märkte in der Gemeinschaft auf supranationaler Ebene re-reguliert. Sie tut dies jedoch – und das führt wieder zum Kern des Problems zurück – nicht auf territorialer Ebene, sondern mit von Gegenstand zu Gegenstand sehr unterschiedlicher Reichweite.

Will man also die Frage beantworten, „Wen vertritt Herman Van Rompuy denn nun tatsächlich?“, so lautet die logische Rückfrage: „Bei welchem Thema, bei welchem Gegenstand?“

Das führt zu mehrfach paradoxen Situationen, die ein Gutteil der Verantwortung dafür tragen, dass Politik heutzutage der Bevölkerung undurchsichtig, komplex und schwer verständlich erscheint. Denn die beschriebenen Dynamiken sorgen keineswegs dafür, dass politische Probleme nicht mehr gelöst werden – auch wenn nicht nur in den Medien der Eindruck erweckt wird, Politik sei schon lange nicht mehr fähig, gesellschaftliche Fragen angemessen zu beantworten. Das Gegenteil ist der Fall: Gemessen an der Menge an Problemen, Gegenständen und Fragen – von Bildung über Sicherheit, Arbeitsplätze, Wohlfahrt bis hin zu Renten, Infrastruktur, Pflege im Alter und Schutz vor gefährlichen Krankheiten –, die heute im Zweifel als Staatsaufgaben angesehen werden, stehen der Bevölkerung diese öffentlichen Güter in erstaunlich hohen Maße und mit erstaunlich hoher Qualität weiterhin zur Verfügung.

Sie werden indessen längst nicht mehr von „dem“ Staat produziert, sondern von vielfältig ineinander greifenden, vom Staat höchstens orchestrierten Akteuren.16 Das führt in den Augen der Bevölkerung zu Komplexität, Vielschichtigkeit, Unübersichtlichkeit, zu Sorgen über die Zuverlässigkeit der Versorgung und damit insgesamt zu Unverständnis und Unsicherheit. Mitunter führt es auch zu Frustration, wenn man von Pontius zu Pilatus geschickt wird, wenn etwas nicht funktioniert. Und: Es ist und bleibt völlig unklar, welche politischen Zuständigkeiten wie und wo gesellschaftlich eingebettet sind (oder sein sollen).

Ein aktuelles Beispiel: Was ist die richtige und sinnvolle gesellschaftliche Einbettung für die Finanz- und Haushaltspolitik in der EU? Die Integration der EU-Finanzpolitik durch einen EU-Finanzminister, den Jean-Claude Trichet jüngst in Aachen gefordert hat, als ihm der Karlspreis verliehen wurde, und damit die Einbettung in rund 500 Mio. Bürgerinnen und Bürger der EU 27? Oder noch besser die Einbettung in die rund 550 Mio. Bürgerinnen und Bürger jener 29 Staaten, die in den EU-Haushalt einzahlen? Oder doch besser in die nationale Finanzverantwortung, wie sie EU-Skeptiker gern – zusammen mit einer stärkeren Koordination auf europäischer Ebene, was immer das heißen mag – verlangen? Oder aber in die regionale Verantwortung etwa in Flandern, der Wallonie oder meinetwegen in den deutschen Ländern? Oder parallel, aber getrennt, wie es etwa (teilweise) in der Schweiz oder den USA zu finden ist, wo Kantone und Einzelstaaten parallel zum Bund eigene Steuern und Abgaben erheben und dann ausgeben? Oder, oder, oder?

Wohin, also, entwickelt sich die EU? Quo vadis?

Empirisch haben wir keinen Grund anzunehmen, dass die säkularen Großtrends, die wir in den vergangenen 30 Jahren erlebt haben – also etwa Globalisierung, Individualisierung, Transnationalisierung – an Einfluss verlieren. Ebenso ist nicht zu sehen, dass es andere, neue Großtrends geben könnte. Dass sich im Moment „das Nationale“ in vielfältiger Weise wieder stärker bemerkbar macht, steht dazu nicht im Widerspruch: Wir dürfen nicht erwarten, dass Europäisierung oder Internationalisierung friktionslos einfach vonstattengeht – ebenso wenig wie die Nationalstaatsbildung kein bruchloser Prozess gewesen ist. Wir werden also auch für die Zukunft in einer Landschaft vielfältiger, paralleler, mitunter verschachtelter politisch relevanter Akteure in Europa leben, die weiterhin öffentliche Güter herstellen, das aber weiter in einer alles andere als transparenten und für alle leicht verständlichen Weise tun werden. Das lässt die schiere Komplexität nicht mehr anders zu.

Oder glaubt jemand ernsthaft, allein der bundesdeutsche Telekommunikationssektor hätte sich ähnlich auch unter einem fortwirkenden Monopol der Deutschen Bundespost entwickeln können? Diese Komplexität rührt nicht nur daher, dass unterschiedliche politische Themen und Gegenstände in unterschiedlichen politischen Strukturen bearbeitet werden – Wettbewerbspolitik anders als Sicherheitsfragen anders als Bildungspolitik anders als Sozialhilfe. Diese Komplexität erhöht sich zudem dadurch, dass sich – im Gegensatz zum klassischen Nationalstaat – die Funktionen von Entscheidungsfindung, Entscheidungsdurchsetzung, der Vertretung des Kollektivs nach außen und der Legitimation der Entscheidung zu unterschiedlichen politischen Akteuren hin verlagern und verlagert haben.

Das hat zwar bereits Montesquieu mit seiner Gewaltenteilung verlangt. Dort aber blieb dies alles innerhalb eines Staates eingekapselt und war eingebettet in eine nationale Gesellschaft. Heute aber entscheidet die WTO über die Frage von Umweltregulierungen als möglicherweise „nicht-tarifäre“ Handelshemmnisse, wobei die EU gezwungen ist, diese Regeln dann gegenüber ihren Mitgliedstaaten durchzusetzen, deren nationale Gesellschaften wiederum die staatlichen Regierungen dafür verantwortlich machen, dass die hart erkämpften Regeln des Umweltschutzes auch weiterhin aufrechterhalten bleiben. Die WTO besitzt also wenigstens einen Teil der Entscheidungskompetenz, die EU müsste umsetzen, ist aber auf ihre Mitgliedstaaten angewiesen, weil die EU nur rechtliche, aber nicht faktische, gewaltbasierte Umsetzungsinstrumente besitzt. Wer glaubt, all dies ließe sich vereinfachen, wenn man es nur wolle, der schaue sich bitte das Beispiel der Schweiz an: Dort verzichtet man, der Sicherung der nationalen direkten Demokratie – und damit der gesellschaftlichen Einbettung – willen, gezwungenermaßen darauf, in vielerlei Hinsicht international mitzubestimmen.

Normativ ist das alles weder wünschenswert noch vertretbar. Aber man muss ehrlicherweise hinzufügen, weder wünschenswert noch vertretbar auf dem Hintergrund normativer Maßstäbe, die wir uns in 350 Jahren Staatsentwicklung angeeignet haben. Und die Zeit des Containerstaats ist vorbei.

Solange wir bei diesen alten normativen Wertmaßstäben bleiben, werden wir uns immer in einem unauflösbaren Dilemma befinden

  • zwischen einer sinnvollen Problemlösung, die eben meist nur europäisch, international oder transnational zu haben ist, und
  • einer territorial definierten Identität, einem Wir-Gefühl, in das Politik eingebettet – und damit demokratisch legitimiert – werden kann.

Den Ausweg aus diesem Dilemma werden wir nicht mehr in einer angemessenen Metapher finden können, mit der wir den „sui generis“-Begriff endlich zu den Akten legen, ins Staatsarchiv geben können. Vielmehr müssen wir uns eingestehen, dass die Europäische Einigung nie ihr Ziel erreichen wird, so wenig wie das deutsche politische System je den Punkt erreichen wird, an dem Reformen an Verfassung und Gesetzgebung nicht mehr notwendig sind. Wir müssten uns in die Finalität der Nichtfinalität finden. Die EU ginge dann also dahin, wohin der Nationalstaat – in seinem eisernen Gehäuse an Finalitäten – nie gehen konnte. Und ehrlich gesagt: Wäre es nicht schlimm, wenn es anders wäre? Nicht in Finalitäten zu leben, macht die EU zu einem „plébiscite de tout les jours“: Es liegt in unserem Händen, dieses Europa zu gestalten, es aus seinen Krisen herauszuführen. Die Sachzwänge werden das nicht für uns erledigen: Wir müssen es selber tun, immer wieder.

  • 1 W. Hallstein: Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf 1969.
  • 2 H. P. Ipsen: Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972.
  • 3 D. J. Puchala: Of Blind Men, Elephants, and International Integration, in: Journal of Common Market Studies, 10. Jg. (1972), Nr. 3, S. 267-284.
  • 4 G. Marks: Politikmuster und Einflußlogik in der Strukturpolitik, in: M. Jachtenfuchs, B. Kohler (Hrsg.): Europäische Integration, Opladen 1996, S. 313-343.
  • 5 E. Klein: Leitsätze. Der Verfassungsstaat als Glied einer Europäischen Gemeinschaft, in: Europarecht, 25. Jg. (1990), Nr. 4, S. 389-391.
  • 6 P. Kirchhof: Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration, in: J. Isensee, P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, Heidelberg 1992, S. 855-878.
  • 7 W. Wallace: Less than a Federation, More than a Regime: The Community as a Political System, in: H. Wallace, W. Wallace, C. Webb (Hrsg.): Policy Making in the European Community, Chichester 1983, 2. Aufl., S. 403-436.
  • 8 Ders.: Post-Sovereign Governance: The EU as a Partial Polity, in: H. Wallace, W. Wallace, M. A. Pollack (Hrsg.): Policy-Making in the European Union, Oxford 2005, 5. Aufl., S. 483-503.
  • 9 H. Schneider: Zur politischen Theorie der Gemeinschaft, in: Integration, Nr. 1, 1969, S. 23-44.
  • 10 K. Polanyi: The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time, Boston, Massachusetts 1944.
  • 11 O. Brunner: Land und Herrschaft: Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Baden bei Wien 1939.
  • 12 O. Hintze: Staatenbildung und Verfassungsentwicklung. Eine historisch-politische Studie, in: Historische Zeitschrift, Bd. 88, 1902, Nr. 1, S. 1-21.
  • 13 M. Zürn: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt am Main 1998; S. Leibfried, M. Zürn: Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg.): Transformationen des Staates?, Frankfurt am Main 2006, S. 19-65; A. Hurrelmann, S. Leibfried, K. Martens, P. Mayer: Die Zerfaserung des Nationalstaates: Ein analytischer Rahmen, in: dies. (Hrsg.): Zerfasert der Nationalstaat? Die Internationalisierung politischer Verantwortung, Frankfurt am Main 2008, S. 21-52; P. Genschel, B. Zangl: Metamorphosen des Staates: Vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager, in: Leviathan, 36. Jg. (2008), Nr. 3, S. 430-454.
  • 14 P. Genschel, B. Zangl: Die Zerfaserung der Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 20-21, 2007, S. 10-16.
  • 15 T. Risse, U. Lehmkuhl: Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 20-21, 2007, S. 3-9; ders. (Hrsg.): Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Baden-Baden 2007.
  • 16 P. Genschel, B. Zangl, a.a.O.

Falsche Anreize in der Währungsunion – eine Gefahr für die EU

Die Europäische Union ist ein historisch und weltweit einmaliges Integrationsobjekt. Die ursprünglichen Ziele des EWG-Vertrags bezogen sich dabei vor allem auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und waren vor dem Hintergrund einer Gemeinschaft von sechs Gründungsmitgliedern formuliert worden. Während mehr als 35 Jahre benötigt wurden, um den Binnenmarkt nach und nach zu realisieren und die Gemeinschaft von sechs auf 15 Mitglieder auszudehnen, wurden Ende der 1990er Jahre sehr viel rasantere Entwicklungen eingeleitet: Die Mitgliederzahl wurde in kürzester Frist fast verdoppelt, und durch den Übergang zu einer gemeinsamen Währung wurde ein Integrationsschritt vollzogen, der bisher einzigartig ist für eine so große Anzahl nach wie vor souveräner Staaten. Wie sich mittlerweile herausstellt, ist der Erfolg dieses Integrationsschritts jedoch nicht mehr eindeutig.

Als 1992 mehr als 60 Professoren ein Manifest gegen den Vertrag von Maastricht unterschrieben,1 in dem sie vor einer übereilten Währungsunion warnten, wurden genau jene Entwicklungen vorausgesagt, die in letzter Zeit eingetreten sind. So lautete eine Aussage: „Die ökonomisch schwächeren europäischen Partnerländer werden bei einer gemeinsamen Währung einem verstärkten Konkurrenzdruck ausgesetzt, wodurch sie aufgrund ihrer geringeren Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit wachsende Arbeitslosigkeit erfahren werden. Hohe Transferzahlungen im Sinne eines Finanzausgleichs werden damit notwendig.“ Weiterhin hieß es: „Die überhastete Einführung einer Europäischen Währungsunion wird Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden.“ Im Jahr 1998 unterzeichneten sogar mehr als 160 Professoren ein weiteres Manifest mit dem Titel „Der Euro kommt zu früh“2, das ähnliche Kritikpunkte enthielt. In beiden Fällen wurden diese Einschätzungen von der Politik vehement zurückgewiesen und die Unterzeichner sogar als Europa-Gegner verunglimpft. Doch ging es den Kritikern der geplanten Europäischen Währungsunion in den 1990er Jahren nicht darum, den europäischen Integrationsprozess zu behindern, sondern ganz im Gegenteil darum, das bisher Erreichte zu stabilisieren und nicht ungewissen Risiken auszusetzen.

Europäische Union als Club

Die Risiken ergeben sich u.a. aus einem Zielkonflikt zwischen der Größe und dem Integrationsgrad der Gemeinschaft, d.h. zwischen Erweiterung und Vertiefung, der clubtheoretisch gut erfasst werden kann. So kann die Europäische Union als „Club“ interpretiert werden, in dem sich Clubmitglieder (Mitgliedsländer) zusammenfinden, um ein gemeinsames „Clubgut“ zu produzieren und zu nutzen.3 Das Clubgut der Europäischen Union ist die Integration, d.h. das Zusammenwachsen der beteiligten Volkswirtschaften – zum Beispiel in Form des europäischen Binnenmarktes, durch die gemeinsame Agrarpolitik, die gemeinsame Nutzung der Regional- und Strukturfonds oder eben auch durch die gemeinsame Währung. Allerdings ist die Erstellung eines solchen Clubgutes auch mit Kosten verbunden, so dass sich für die Frage, ob sich die Mitgliedschaft lohnt, eine Kosten-Nutzen-Betrachtung anbietet. In diesem Zusammenhang zeigen sich dann sehr deutliche Auswirkungen der zwei Dimensionen der Integration: der Clubgröße (Anzahl der Mitgliedsländer) und des Umfangs des gemeinsamen Clubgutes (Grad der Vertiefung).

Je größer die Zahl der Mitgliedsländer ist, umso heterogener wird die Gemeinschaft. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und wirtschaftspolitische Zielvorstellungen unterscheiden sich zunehmend und erschweren gemeinsame – für alle gleichermaßen effiziente – Politiken. Die Kosten des Integrationsprojektes steigen somit mit zunehmender Mitgliederzahl. Andererseits steigt in der Regel auch der Nutzen zusätzlicher Mitglieder für die schon bestehende Gemeinschaft. Dies gilt zum Beispiel für die Teilnahme am Binnenmarkt, die umso effizienter ist, je mehr Länder sich daran beteiligen. Dies gilt auch für die europäische Währungsunion in Hinblick auf sinkende Transaktionskosten durch eine gemeinsame Währung. Der Nutzen zusätzlicher Mitglieder wächst jedoch unterproportional, da ein solches Integrationsprojekt in der Regel zunächst mit solchen Ländern begonnen wird, mit denen die wirtschaftliche Zusammenarbeit besonders intensiv ist. Je größer die Gemeinschaft wird, umso mehr kommen eher periphere Länder hinzu, die nur einen unterproportionalen Vorteil für die Gemeinschaft insgesamt darstellen, da sie sich in der Regel in ihren wirtschaftlichen Strukturen und wirtschaftspolitischen Interessen deutlich vom Durchschnitt der bestehenden Gemeinschaft unterscheiden. Aus solchen Kosten-Nutzen-Überlegungen ergibt sich, dass ein effizienter Club nur eine begrenzte Mitgliederzahl hat.

Kosten und Nutzen einer solchen Integrationsgemeinschaft können darüber hinaus sowohl ökonomischer als auch politischer Art sein. Alesina u.a. zeigen in mehreren Veröffentlichungen,4 dass bei der Bildung von Staaten ein Zielkonflikt besteht zwischen den Vorteilen der Größe eines Staates und den Kosten seiner internen Heterogenität (die umso größer ist, je größer der Staat und seine Bevölkerung sind). Ein großes Land kann die Kosten der Erstellung seiner öffentlichen Güter auf viele Steuerzahler verteilen, aber ein großes Land hat auch eine heterogenere Bevölkerung, die immer weniger durch zentrale Regierungsentscheidungen zu befriedigen ist. Die Autoren kommen daher zu dem Ergebnis, dass zur Erreichung aller ökonomischen Vorteile – aus einem großen Binnenmarkt ohne Handelsschranken, aus einer besseren Internalisierung externer Effekte oder aus geringeren Transaktionskosten – relativ große Staaten zu fordern wären. Aufgrund der großen Heterogenität der Interessen innerhalb großer Staaten sei die politische Stabilität dort jedoch deutlich geringer. Um auch politisch stabile Staaten zu gewährleisten, müssten diese somit kleiner sein.

Diese Überlegungen lassen sich ebenfalls auf eine Integrationsgemeinschaft wie die EU übertragen und zeigen auf, dass die politische Stabilität des europäischen Integrationsraums mit zunehmender Größe sukzessive abnimmt.

Zielkonflikt zwischen Größe und Integrationstiefe der Gemeinschaft

Kosten und Nutzen hängen jedoch auch von der Ausprägung des Clubgutes ab. Besitzt das Clubgut „Wirtschaftliche Integration“ nur die Gestalt einer Zollunion, oder liegt schon ein Binnenmarkt vor? Ist schon eine gemeinsame Währung vorhanden, oder gibt es gar schon eine gemeinsame Verfassung? Je tiefer die Integration ist, umso größer werden die Kosten (Entscheidungskosten, Verwaltungskosten, Umverteilungskosten, Kosten durch eine zentralisierte Politik, die nicht für alle gleichermaßen effizient ist, Kosten des Verlusts an nationaler Souveränität u.ä.). Zwar steigt in der Regel auch der Nutzen durch eine verstärkte Integration, da Transaktionskosten und Reibungsverluste durch unterschiedliche nationale Regulierungen verringert werden. Doch nimmt der Nutzenzuwachs mit zunehmender Integration ab, da immer mehr Bereiche integriert werden, die etwa nach dem Subsidiaritätsprinzip besser in nationaler Autonomie verblieben wären, deren gemeinsame Gestaltung also nicht mit positiven Skaleneffekten oder der Internalisierung externer Effekte gerechtfertigt werden könnte. Je heterogener die Mitglieder sind – und dies ist umso mehr bei größerer Mitgliederzahl der Fall –, desto höher sind die Kosten zunehmender Integration und umso geringer ist der Nutzen weiterer Integrationsschritte.

Gleichzeitige Erweiterung und Vertiefung des Clubs sind somit in der Regel nicht effizient. Auch dies wird von Alesina u.a.5 modelliert: Sie betrachten eine Gruppe von Ländern, die heterogen sind – entweder in ihren Präferenzen und/oder in ihren ökonomischen Fundamentaldaten – und sich entscheiden, gemeinsam bestimmte öffentliche Güter und Politiken bereitzustellen. Der Zielkonflikt zwischen den Vorteilen der Transaktionskostensenkung durch Koordination und den Nachteilen aus dem Verlust an unabhängiger Politikgestaltung bestimmt dann die Größe, die Zusammensetzung und die Ausgestaltung einer stabilen Gemeinschaft. Dabei ist die optimale Größe der Gemeinschaft negativ abhängig vom Grad der Heterogenität der Volkswirtschaften und vom Ausmaß der gemeinsamen Politiken.

Diese Überlegungen gelten für die EU als Ganzes, aber auch für den derzeit bestehenden „Club im Club“, die Währungsunion. Eine Währungsunion mit sehr heterogenen Mitgliedsländern, aber weiterhin nationaler Souveränität in Hinblick auf wesentliche Bestandteile der Wirtschaftspolitik, ist starken Spannungen ausgesetzt. Entscheidend ist dabei nicht unbedingt die Qualität der Wirtschaftspolitik der verschiedenen Länder – deren Bewertung ja vielfach auch von den nationalen Präferenzen abhängt, sondern es ist die strukturelle Unterschiedlichkeit an sich, die es unmöglich macht, eine gemeinsame Geld- und Währungspolitik zu praktizieren, die für alle gleichermaßen sinnvoll ist.

Wer, wie der noch amtierende EZB-Chef Trichet, nun aber der Meinung ist, dass man die Probleme der hoch verschuldeten Euroländer notfalls mithilfe direkter Eingriffsmöglichkeiten europäischer Institutionen in die Wirtschaftspolitik der betroffenen Länder lösen könne,6 der verkennt die europäischen Realität. Das Scheitern des Verfassungsentwurfs hat gezeigt, dass die Finalität des europäischen Integrationsprozesses auf absehbare Zeit nicht in einer Politischen Union besteht. Die Mitgliedsländer möchten ihre nationale Souveränität behalten – und dies betrifft insbesondere ihre finanzielle Autonomie. Vor diesem Hintergrund kann gerade auch die – gut gemeinte – Hilfe für Griechenland, Irland oder Portugal letztlich das Verhältnis zwischen den EU-Partnern vergiften. Die Kreditgeber wollen auch eine gewisse Kontrolle über die Haushaltspolitik der Schuldnerstaaten haben, aber diese werden das mehr und mehr als gravierenden und unverhältnismäßigen Eingriff in ihre nationale Souveränität auffassen. Desintegrative Kräfte können die Folge sein. In einigen Ländern zeigt sich ja auch schon eine Rückkehr zu eher national-orientierten Politiken.

Verschlechterung der Umfragewerte im Eurobarometer

Auch in den Umfragen im Eurobarometer7 zeigt sich daher eine deutliche Verschlechterung der Bewertung der Mitgliedschaft in der EU und der daraus resultierenden Vorteile. Bei der Einschätzung, ob „sich die Dinge in der Europäischen Union in die richtige Richtung entwickeln“, sind die Werte deutlich rückläufig: Mittlerweile erklären laut Eurobarometer (Umfrage vom Herbst 2010) 39% der europäischen Bürger, dass sich ihrer Ansicht nach die Dinge in die falsche Richtung entwickelten. Dies sind elf Prozentpunkte mehr als ein Jahr zuvor. Von der richtigen Entwicklung in der Europäischen Union sind dagegen nur noch 30% der EU-Bürger überzeugt. Die restlichen 31% der Befragten sind indifferent oder haben keine Meinung dazu. Greift man die Mitglieder der Eurozone heraus, so sind sie noch kritischer: Hier sind nur noch 26% von der richtigen Entwicklung in der EU überzeugt. Insbesondere zeigt sich in Griechenland, dass hier die negative Einstellung sehr weit verbreitet ist (54%) und deutlich zugenommen hat (+ 11 Punkte). In Deutschland haben sich die positiven Einschätzungen gegenüber der Herbstumfrage 2009 um zwölf Prozentpunkte verringert (auf 29%), und 33% der Befragten sind der Meinung, die derzeitige Entwicklung in der EU sei ungünstig.

Diese Anschauungen spiegeln sich auch in den Fragen zur Wahrnehmung der Vorteile einer Mitgliedschaft in der EU. Gegenüber der Befragung des Vorjahres ist die öffentliche Meinung über die Vorteile der EU-Zugehörigkeit EU-weit um sieben Punkte gesunken (auf 50%), und der Anteil an Befragten, die keine Vorteile erkennen können, ist um acht Punkte angestiegen (auf 39%). Insgesamt haben nur 38% der europäischen Bürger ein positives Bild von der Europäischen Union, in Griechenland sind es sogar nur 29%. Die größten Rückgänge sind in Spanien, Irland und Griechenland anzutreffen, wobei mit Irland und Griechenland genau jene Länder dabei sind, die doch eigentlich gerade durch die EU „gerettet“ werden.8 Die aktuellen Probleme, die aus der Währungsunion resultieren, werden somit anscheinend vielfach auf die Einschätzung der EU insgesamt übertragen. Und die „Rettung“ wird nicht unbedingt als Freundschaftsakt der Partnerländer interpretiert.

Auch die Frage zum Vertrauen in die EU dokumentiert ähnliche Tendenzen: Das Misstrauen überwiegt unter anderem in Griechenland (60% Misstrauen gegenüber 37% Vertrauen), Österreich (55% gegenüber 39%), Deutschland (51% gegenüber 36%) oder Irland (43% gegenüber 39%). Insbesondere in Griechenland und Irland sind die Vertrauenswerte zudem erheblich gesunken.

Auch wenn trotzdem für alle derzeitigen Mitgliedsländer eine positive Nutzen-Kosten-Bilanz für die Mitgliedschaft in der EU anzunehmen ist, so gilt dies für die Mitgliedschaft in der Währungsunion nicht gleichermaßen. So wären Griechenland und Portugal nicht in die Situation ihrer hohen Leistungsbilanzdefizite und hohen Auslandsverschuldung geraten, wenn sie noch ihre eigene Währung gehabt hätten. Die vor einigen Jahren noch als Erfolg gepriesene Angleichung der Renditen auf Staatstitel innerhalb der Währungsunion hat sich gerade für diese Länder als großes Problem erwiesen. Die Finanzmärkte gingen – realistischerweise – davon aus, dass die in den EU-Verträgen festgelegte „No-Bailout“-Vereinbarung letztlich nicht praktiziert würde, sondern im Zweifelsfall doch Finanzierungshilfen geleistet würden. Hierdurch schien neben dem Wechselkursrisiko auch das Länderrisiko innerhalb der Währungsunion ausgeschaltet, was zu geringeren Zinsen und somit zu den überhöhten Krediten an diese Länder führte. Erst das hohe Ausmaß der durch die falschen Anreize forcierten Verschuldung ließ dann – zu spät – die richtige Risikoeinschätzung in die Renditen einfließen. Mit eigener Währung hätte es diese ausufernde Entwicklung nicht gegeben, und auch die schrumpfende internationale Wettbewerbsfähigkeit hätte durch sukzessive Abwertungen leichter ausgeglichen werden können.

Austritt aus der Währungsunion – eine ernstzunehmende Alternative

Der Versuch, Mitgliedsländer, die gerade durch ihre Mitgliedschaft in der Eurozone in große wirtschaftliche Probleme geraten sind, mit allen Mitteln in der Währungsunion halten zu wollen, überfordert somit sowohl den Euro als auch die Europäische Union.

Ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion etwa wäre sicherlich keine leichte und unproblematische Entscheidung,9 allerdings gibt es für die derzeitige Situation in Griechenland keine schmerzfreie Lösung. Eine Umschuldung wird – trotz aller Dementi – unausweichlich sein; je länger sie durch Finanztransfers hinausgezögert wird, umso mehr Spekulationen werden angeheizt. Doch löst die Umschuldung allein nicht die grundlegenden Probleme der über die Jahre hinweg entstandenen Strukturprobleme der griechischen Wirtschaft. Zur Wiedergewinnung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist neben Strukturreformen letztlich eine reale Abwertung notwendig. Diese könnte theoretisch auch durch breite Lohnkürzungen erreicht werden, um den überproportionalen Anstieg der Lohnstückkosten des letzten Jahrzehnts zu kompensieren. Doch ist dies gegenüber den Bürgern sehr viel schwerer zu vermitteln und durchzusetzen als es eine Abwertung der Währung wäre. Auch diese reduziert letztlich die realen Konsummöglichkeiten der Verbraucher, doch ist dies weniger transparent und wird daher leichter akzeptiert. Natürlich würde ein Austritt zunächst zu einer starken, überschießenden Abwertung der Währung führen. Aber genau dies hilft letztlich, um die Leistungsbilanz rasch zu verbessern und um die Kapitalflucht zu stoppen: Je stärker die Währung abwertet, umso wahrscheinlicher ist eine künftige Erholung, die auch Kapitalrückflüsse wieder interessant macht.

Die Tatsache, dass im Vertrag von Lissabon ein Austrittsrecht aus der EU aufgenommen wurde, zeigt, dass angesichts der stark angewachsenen Mitgliederzahl und der Heterogenität der Gemeinschaft die gewünschte Integrationstiefe vielleicht irgendwann nicht mehr von allen Mitgliedsländern mitgetragen werden kann. Diese Möglichkeit des Austritts kann gegebenenfalls auf die Währungsunion übertragen werden, auch wenn es dafür noch keine expliziten rechtlichen Grundlagen gibt. Ein Austritt aus der Währungsunion würde keinen gleichzeitigen Austritt aus der EU implizieren – es gibt schließlich genügend Länder der EU, die nicht oder noch nicht Mitglieder der Eurozone sind.

Ein Austritt Griechenlands – und vielleicht auch noch einiger weiterer hoch verschuldeter Staaten – aus der Währungsgemeinschaft würde für die entsprechenden Volkswirtschaften zusätzliche Optionen für eine raschere Sanierung eröffnen und den anderen Mitgliedsländern den dauerhaften Übergang zu einer Transferunion ersparen. Die EU insgesamt könnte hierdurch stabilisiert werden, und diejenigen Länder, die im Grunde zu früh in die Währungsunion eingetreten sind, hätten die Chance, gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt auf einer gesünderen strukturellen Basis wieder den Euro zu übernehmen. Zugleich könnte der Euro als solcher erhalten bleiben und in einem verkleinerten, aber dafür homogeneren Währungsraum als stabile Gemeinschaftswährung eine wichtige integrationsfördernde Rolle spielen.

  • 1 Das von Renate Ohr und Wolf Schäfer initiierte Manifest „Die währungspolitischen Beschlüsse von Maastricht: Eine Gefahr für Europa“ wurde am 11.6.2011 in der FAZ und anderen Zeitungen publiziert.
  • 2 Dieses von W. Kösters, M. J. M. Neumann, R. Ohr und R. Vaubel verfasste Manifest kam am 9.2.1998 in die Medien (FAZ, Financial Times). Die Texte beider Manifeste finden sich in dem Aufsatz von J. Starbatty: Sieben Jahre Währungsunion: Erwartungen und Realität, in: R. Ohr (Hrsg.): Europäische Union ohne Grenzen?, Berlin 2007, S. 59 ff.
  • 3 Vgl. R. Ohr: Perspektiven der europäischen Integration – einige clubtheoretische Überlegungen, in: S. Reitz (Hrsg.): Theoretische und wirtschaftspolitische Aspekte der internationalen Integration, Berlin 2003, S. 119 ff.
  • 4 Vgl. z.B. A. Alesina, E. Spolaore: On the number and size of nations, in: Quarterly Journal of Economics, 112. Jg., 1997, Nr. 4, S. 1027 ff., sowie A. Alesina, E. Spolaore, R. Wacziarg: Economic Integration and Political Disintegration, in: American Economic Review, 90. Jg., 2000, Nr. 5, S. 1276 ff.
  • 5 Vgl. A. Alesina, I. Angeloni, F. Etro: The Political Economy of International Unions, NBER Working Paper, 8645, 2001.
  • 6 So forderte Trichet im Rahmen der Entgegennahme des Karlspreises am 2.6.2011, dass in der EU – durch Eingriffsmöglichkeiten zentraler EU-Instanzen in die nationalen Budgetpolitiken – auch die Fiskalpolitik stärker zentralisiert werden solle.
  • 7 Vgl. auch im Folgenden „Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union“, in: Standard Eurobarometer, 74, Herbst 2010, Januar 2011.
  • 8 Portugal bildet hier allerdings eine Ausnahme. Hier hat nach wie vor die Mehrheit der Personen ein positives Bild der EU.
  • 9 Vgl. hierzu auch M. Kühl, R. Ohr: Exzessive Staatsdefizite – die Achillesferse der Europäischen Währungsunion, in: ifo-schnelldienst, 63. Jg. (2010), H. 4, S. 20 ff.

Auf dem Weg zu einer quasi-föderalen Haftungs- und Transfergemeinschaft

Mit dem Stabilitätsmechanismus als dauerhaftem „Rettungsschirm“ entwickelt sich die Europäische Union zu einer quasi-föderalen, bundesstaatsähnlichen Einstands- und Haftungsgemeinschaft; insofern wird in der Tat der Weg in eine Transferunion beschritten. Aus verfassungsrechtlicher wie aus europarechtlicher Sicht ist dies fragwürdig – die zwingende Beteiligung des Bundestags vor jeder Aktivierung des Stabilitätsmechanismus ist jedenfalls Conditio sine qua non. Es droht ein Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzverlust der Europäischen Union.

Rettungsschirm und das „bündische Prinzip des Einstehens füreinander“

Mit dem dauerhaften „Rettungsschirm“ für absturzgefährdete Euroländer wird der Weg in eine europäische Transferunion, wie sie bereits mit dem vorläufigen, befristeten Rettungsschirm European Financial Stability Facility (EFSF) angebahnt wurde, weiter beschritten, wenn nicht unumkehrbar. Auch wenn noch keine direkten Transferzahlungen etwa nach dem Muster des Länderfinanzausgleichs erfolgen: die Mitgliedstaaten verpflichten sich zu erheblichen Leistungen an den für nach 2013 beschlossenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), dem seinerseits Leistungen an die leistungsschwachen Euroländer obliegen, für die wiederum die Mitgliedstaaten bürgen – Bürgschaften aber haben schon so manche Existenz vernichtet, weil der Bürge darauf vertraut hat, nicht in Anspruch genommen zu werden. Er muss damit rechnen, in Anspruch genommen zu werden – eben dies ist der Sinn der Bürgschaft und auch der Gewährleistungspflichten im Rahmen des dauerhaften Rettungsschirms. Die leistungsstärkeren Mitglieder des Euroraums übernehmen Einstandspflichten für die leistungsschwächeren Länder. Es ist eben dieses „bündische Prinzip des Einstehens füreinander“, wie es das Bundesverfassungsgericht für die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes formuliert, das sich im bundesstaatlichen Finanzausgleich verwirklicht.1 So bedeutet die Schaffung eines dauerhaften Rettungsschirms einen weiteren Schritt in Richtung auf bundesstaatliche Strukturen der Europäischen Union.

Rettungsschirm und vertragliche Grundlagen der Union: Bailout-Klausel und Vertragsänderung

Im Vertrag von Lissabon wurde hiervon ganz bewusst Abstand genommen. Dass mit der Währungsunion keine Transferunion verbunden sein sollte, folgt insbesondere auch aus der No-Bailout-Klausel des Art. 125 AEUV (früher: Art. 103 EGV). Hiernach dürfen weder die Union noch die Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats eintreten oder für diese die Haftung übernehmen. Bereits mit dem temporären Rettungsschirm EFSF wurde gegen diese Bestimmung des Primärrechts der EU verstoßen. Denn dass die Schwierigkeiten der Euro-Peripheriestaaten auf Erdbeben oder Dürrekatastrophen zurückgehen, ist nicht ersichtlich. Für den Fall von „Naturkatastrophen“ erlaubt Art. 122 Abs. 2 AEUV finanziellen Beistand und ebenso für den Fall von Schwierigkeiten aufgrund von „außergewöhnlichen Ereignissen“, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaats entziehen. Hieraus vor allem wurde der temporäre Rettungsschirm gerechtfertigt.

Die Schuldenkrise der EU-Mitgliedstaaten Griechenland, Irland oder Portugal kann aber nicht auf „außergewöhnliche Ereignisse“ im Sinne von Art. 122 Abs. 2 AEUV zurückgeführt werden. Selbst wenn man die Weltwirtschaftskrise als derartiges Ereignis sehen wollte: die Haushaltsdefizite dieser (und anderer) Staaten gehen auf deren Haushalts- und Finanzpolitik zurück, sind durch sie verursacht und von ihnen zu verantworten. Wortlaut, Systematik und Normzweck des Art. 122 Abs. 2 AEUV – also die klassischen juristischen Auslegungsmethoden – sprechen gegen die Rechtfertigung des Rettungsschirms. Dies sind keine „juristischen Spitzfindigkeiten“. Die Europäische Union ist vor allem eine Rechtsgemeinschaft. Sie ist, im Unterschied zu den Mitgliedstaaten als Nationalstaaten, überhaupt erst durch ihre Rechtsordnung, durch die Verträge entstanden. Und deshalb betrifft die Vertragsverletzung die Union in ihren Grundlagen. Dass die Vertragsverletzung einvernehmlich erfolgt, macht die Sache nicht besser, im Gegenteil.

Dass Art. 122 Abs. 2 AEUV erst recht keinen dauerhaften Rettungsschirm tragen kann, dessen immerhin scheinen sich die Vertragsparteien bewusst zu sein, und beabsichtigen deshalb die No-Bailout-Klausel des Art. 125 AEUV durch einen neu einzufügenden Art. 136 Abs. 3 AEUV zu „öffnen“. Er ermächtigt in Satz 1 die Eurostaaten, einen Stabilitätsmechanismus einzurichten, „um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren“. Nach Satz 2 wird die „Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen“ jedoch „strengen Auflagen unterliegen“. Ein namhafter Ökonom allerdings ordnet das „Prinzip strenge Auflagen“ unter die Kategorie „Insolvenzverschleppung“.2

Konsequenzen aus Vertragsänderung und ESM: die Union als quasi-föderale Haftungsgemeinschaft

Entsprechend wird der Weg in eine quasi-föderale Haftungsgemeinschaft und damit in eine Transferunion auch vertraglich abgesichert. Man mag dies begrüßen oder kritisieren, wenngleich nicht zu verkennen ist, dass auch hier der zweite vor dem ersten Schritt unternommen wird. Wechselseitige Einstandspflichten im Bundesstaat beruhen auf der Voraussetzung einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die nach im Wesentlichen vergleichbaren Grundregeln erfolgt, die vor allem aber ähnlichen Vorstellungen und Zielsetzungen verpflichtet ist. Dies sind Voraussetzungen, die im Euroraum nicht gegeben sind. Dieser und weitere Einwände sollten nicht leichtfertig beiseite geschoben werden. So ist die Besorgnis nicht ganz abwegig, dass sich der versprochene strikte Auflagenkurs nicht wird durchsetzen lassen,3 dass Gläubigerstaaten auf Dauer erpressbar werden – denn ab einer gewissen Größenordnung ist es nicht mehr der Schuldner, sondern der Gläubiger, der Probleme hat.

Für eine Beteiligung der privaten Gläubiger sind entgegen den Beteuerungen der Politik nach wie vor keine klaren Regelungen vorgesehen. Sie wird nach Darstellung des Bundesfinanzministeriums in angemessener Form „erwartet“4 – soll von den Ergebnissen einer „Schuldentragfähigkeitsanalyse“ abhängen, was hinreichend Spielräume belassen dürfte. Ebenso wenig erscheint die Befürchtung abwegig, dass der dauerhafte Stabilisierungsmechanismus Anreize zu dauerhaft defizitorientierter Haushaltspolitik geben könnte – die Vorstellung, die Bundesrepublik könnte die Mitgliedstaaten von der Aufnahme einer effektiven „Schuldenbremse“ nach grundgesetzlichem Vorbild und deren tatsächlicher Durchsetzung überzeugen, ist Ausdruck von Naivität und Hybris gleichermaßen. Wie immer die Chancen und Risiken eines dauerhaften Rettungsschirms eingeschätzt werden mögen: er verändert die Union nachhaltig in ihrer Struktur und ihrer Ausrichtung.

Änderung des EG-Vertrags im vereinfachten Verfahren?

Umso bedenklicher erscheint es daher, dass die Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, des früheren EG-Vertrags, im vereinfachten Verfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV vorgenommen werden soll, also durch Beschluss des Europäischen Rates und die Ratifikation in den Mitgliedstaaten. Voraussetzung für die Anwendung des vereinfachten Verfahrens ist, dass die Kompetenzen der EU durch die Vertragsänderung nicht erweitert werden. Dies mag bei formaler Betrachtungsweise nicht der Fall sein.

Der Europäische Stabilitätsmechanismus soll durch einen völkerrechtlichen Vertrag der Eurostaaten als zwischenstaatliche Einrichtung und damit als rechtlich selbständiges Völkerrechtssubjekt entstehen. Der ESM als rechtlich selbständige Einrichtung und nicht als Organ der Europäischen Union wird also die Entscheidungen treffen. Doch bedeutet der neu in den AEUV aufzuehmende Art. 136 Abs. 3 einen Integrationsschritt, der den Charakter der Union grundsätzlich verändert. Vertragsänderungen von grundsätzlicher Bedeutung will das Bundesverfassungsgericht jedoch dem ordentlichen Verfahren vorbehalten.5

Demokratiedefizite und Parlamentsvorbehalte

Die Beschlüsse des ESM werden von den Finanzministern der Eurostaaten als Gouverneuren des ESM gefasst. Entgegen allen Bestrebungen zu einer Verringerung der Demokratiedefizite der Europäischen Union wird hier also erneut die exekutive Ebene gestärkt, fallen die Entscheidungen in intergouvernementalen Koordinierungsprozessen. Würde sich nach dem Vorbild des befristeten Rettungsschirms EFSF die Beteiligung des Bundestags auf eine bloße Benachrichtigung des Haushaltsausschusses beschränken, so würde der ESM weitgehend frei von demokratischer Legitimation und Kontrolle agieren – ein aus der Sicht des nationalen Verfassungsrechts wie des Europarechts nicht akzeptabler Zustand.

Um so unverzichtbarer bleibt daher die Rückbindung des ESM an die nationalen Parlamente. Eben dies ist eine der zentralen Aussagen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon.6 Demokratisierung der Entscheidungsverfahren auf europäischer Ebene und demokratische Legitimation, die über die nationalen Parlamente vermittelt wird, verhalten sich zueinander nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren. Sie stehen in einem Verhältnis der Wechselbezüglichkeit. In dem Maße, in dem demokratische Legitimation der europäischen Ebene sich mindert, steigen die Anforderungen in der nationalen Sphäre. Wenn sich die supranationale Hoheitsgewalt gegenüber der Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten verselbständigt, steigen die Anforderungen an ihr demokratisches Legitimationsniveau. Ist diese demokratische Legitimation aber nur schwach ausgeprägt, weil die Entscheidungen der supranationalen Ebene maßgeblich im Rahmen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit getroffen werden, dann verstärkt sich der Legitimationsdruck, und es ergeben sich umso höhere Anforderungen an die demokratische Legitimation auf nationaler Ebene. Konkret bedeutet dies: Bundestag und Bundesrat müssen umso stärker eingebunden sein, je stärker die Politik der Union auf intergouvernementalen Koordinierungsprozessen beruht, es also die Regierungen der Mitgliedstaaten sind, die entscheiden.

Dies gilt auch für den dauerhaften Rettungsschirm des ESM. Der Europäische Stabilitätsmechanismus selbst wird nicht im Primärrecht der Union verankert werden. Er wird, wie ausgeführt, als zwischenstaatliche Einrichtung geschaffen und entsteht durch völkerrechtlichen Vertrag. Dieser bedarf der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten. Bundestag und Bundesrat müssen also zustimmen, wie sie bereits dem Währungsunion-Finanzstabilisierungsgesetz zugestimmt haben. Der Zustimmung des Bundestags und des Bundesrats bedarf ebenso die vorgesehene Änderung des AEUV, Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Dieser Gesetzesvorbehalt ist zur Wahrung der Integrationsverantwortung und zum Schutz des Verfassungsgefüges so auszulegen, dass jede Veränderung der textlichen Grundlagen des europäischen Primärrechts erfasst wird.7 An dieser Stelle könnte zumindest erwogen werden, ob die vorgesehene Änderung des Primärrechts der Union nicht deren vertragliche Grundlagen in einer Weise ändert, die den qualifizierten Zustimmungsvorbehalt des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG auslöst, ob also die Vertragsänderung so intensiv in das Verfassungsgefüge der Bundesrepublik eingreift, dass sie auf nationaler Ebene nur mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen werden kann. Die Frage kann hier nicht vertieft werden – der grundsätzlichen Veränderung des Charakters der Union, ihrer Entwicklung hin zu einer bundesstaatsähnlichen Solidar- und Haftungsgemeinschaft jedenfalls ist Rechnung zu tragen.

Budgetrecht des Parlaments und Integrationsverantwortung des Bundestags

Ob sich allerdings die parlamentarische Beteiligung in der einmaligen Zustimmung zum Gründungsakt erschöpfen kann, oder aber ob der Bundestag in begleitender Verantwortung bleibt und deshalb auch in die tatsächliche Durchführung des Stabilitätsmechanismus einzubinden ist, hierüber besteht Dissens. Dies betrifft ganz konkret die Frage, ob es ausreicht, dass Entscheidungen im Rahmen des ESM von den Finanzministern der Mitgliedstaaten als den Gouverneuren des ESM getroffen werden, oder ob der Bundestag effektiv zu beteiligen ist – also durch konstitutive Zustimmungsvorbehalte und nicht nur durch bloße Information des Haushaltsausschusses wie beim temporären Rettungsschirm.

Für weitergehende Mitwirkungsrechte des Bundestags spricht insbesondere dessen Budgetrecht. Es zählt zu den zentralen verfassungsmäßigen Befugnissen des Parlaments und ist ein wesentliches Element der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes. Auch für Entscheidungen im Rahmen des ESM gilt die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil: Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über wesentliche Ausgaben des Staates entscheiden.8 Diese Entscheidung darf nicht „supranationalisiert“ werden. Sie darf nicht auf die Union übertragen werden und ebenso wenig auf eine zwischenstaatliche Einrichtung wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus – schon der Begriff eines „Mechanismus“ zeigt, dass hier die parlamentarischen Entscheidungsbefugnisse ausgehebelt werden sollen.

Dass die Beschlüsse des ESM einstimmig gefasst werden müssen, die Bundesregierung also ein Vetorecht haben wird, ändert nichts an der verfassungswidrigen Verkürzung des parlamentarischen Budgetrechts. Die „Wiederauffüllung“ des Kapitalstocks des ESM – vom Bundesfinanzministerium eher beiläufig erwähnt – soll sogar durch bloßen Mehrheitsbeschluss verpflichtend werden; dies würde einen evidenten Verstoß gegen das Budgetrecht des Bundestags bedeuten. Dieser kann auch mit der Zustimmung zur Errichtung des ESM der Bundesregierung keine Generalermächtigung für die Zukunft erteilen, kann auf sein Budgetrecht nicht dauerhaft verzichten. Er kann dies umso weniger, als er in einer kontinuierlichen, begleitenden Integrationsverantwortung steht. Seine Integrationsverantwortung ist auch und in besonderer Weise dann gefordert, wenn die Union sich zu einer Einstands- und Haftungsgemeinschaft und in diesem Sinn zu einer Transferunion entwickelt.

Ob der Europäische Stabilitätsmechanismus tatsächlich ein geeignetes Instrument zur Bewältigung der Schuldenkrise der Euro-Peripherieländer darstellt, ob seine Risiken beherrschbar sind, dies zu beurteilen ist zunächst Sache der verantwortlich entscheidenden politischen Organe. Deren Einschätzung ist aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich zu akzeptieren, wie das Bundesverfassungsgericht auch in seinem Beschluss vom 7. Mai 2010 ausführt,9 mit dem es den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Währungsunion-Finanzstabilisierungsgesetz ablehnt. Der Bundestag jedoch ist in der Verantwortung, Alternativen zu prüfen und abzuwägen, den Risiken nachzugehen, und wird sich auch mit der Frage zu befassen haben, wie sich zu erwartende Belastungen zu dem verfassungsrechtlichen Gebot der Haushaltsstabilität und insbesondere zur Schuldenbremse des Grundgesetzes verhalten. Die Bundesregierung sieht diese schon deshalb nicht als relevant, weil die Bundesrepublik mit der Beteiligung am ESM auch anteilig an dessen Vermögen beteiligt wird, also einen Gegenwert für die aufzuwendenden Haushaltsmittel erhalten soll. Haushaltsrisiken von schwer überschaubarer Größenordnung einzugehen, liegt andererseits mit Sicherheit nicht in der Intention der „Schuldenbremse“. Auch aus diesem Grund ist ein Parlamentsvorbehalt für jede Aktivierung des ESM zu fordern.

Verluste an Akzeptanz und Glaubwürdigkeit?

Dass es zu einer Entfremdung zwischen Bürgern und EU, zwischen einem Europa der Bürger und einem Europa als Projekt der Eliten kommen kann, dies ist nicht von der Hand zu weisen – Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzverluste zumindest drohen. Man erinnere sich: Nur Staaten, die die strengen Stabilitätskriterien erfüllten, sollten in die Währungsunion aufgenommen werden – tatsächlich hatte Griechenland offenbar falsche Bilanzen vorgelegt, und die Vermutung, dass den Beteiligten dies bewusst war, ist nicht abwegig. Kritik an der Einführung des Euro und an deren Zeitpunkt wurde nicht zuletzt unter Hinweis auf die No-Bailout-Klausel beschwichtigt – diese wurde bei erster Gelegenheit beiseite geschoben. Aus dem temporären wird entgegen allen Ankündigungen ein dauerhafter Rettungsschirm. Kritik wird beschwichtigt mit dem Versprechen, es werde strenge Auflagen und eine Beteiligung privater Gläubiger geben und im Übrigen würden die Bürgschaften ohnehin nicht fällig – auch diese Zusagen könnten sich als inhaltsleer erweisen. Umso mehr würden Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Europäischen Union beschädigt, zumal dann, wenn sich der Eindruck verfestigt, dass hier langfristige, schwer abschätzbare Risiken für die Bürger der Union eingegangen werden, im Zusammenspiel von Regierungen und Finanzwirtschaft – um deren „Rettung“ es ja ganz maßgeblich geht –, aber ohne Beteiligung der Bürger und der von ihnen gewählten Parlamente.

  • 1 BVerfG, U.v. 24.6.1986, BVerfGE 72,330 (387) und LS 2.
  • 2 So der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium Konrad in einem Beitrag in: Handelsblatt, Nr. 76, 18.4.2011, S. 8.
  • 3 So die Bedenken im vorgenannten Beitrag und in einem weiteren Beitrag von Lucke an gleicher Stelle.
  • 4 BMF: Die Zukunft der Europäischen Währungsuninon – 16 Fragen und Antworten, www.bundesfinanzministerium.de, 6.4.2011.
  • 5 BVerfGE 123, 267 (385).
  • 6 BVerfG, Urteil vom 30.6.2009, BVerfGE 123, 267.
  • 7 BVerfGE 123, 267 (355).
  • 8 BVerfGE 123, 267 (361).
  • 9 BVerfG, Beschluss vom 7.5.2010, BVerfGE 125, 385.

Monetarismus und „Wettbewerb der Nationen“ sind die Totengräber des Euro

Die dramatischen Entwicklungen in der Europäischen Währungsunion (EWU) wachsen den europäischen Regierungen, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB) offenbar über den Kopf: Die nationalen Kapitalmarktzinsen driften nach knapp neun Jahren größter Übereinstimmung stark auseinander. Umfangreiche Rettungskredite für vom Kapitalmarkt mit prohibitiv hohen Zinsen belegte Mitgliedstaaten stellen sich als Tropfen auf den heißen Stein heraus. Die im Gegenzug zu den Kredithilfen verlangten Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten der Krisenländer entpuppen sich als kontraproduktiv. Folglich wird heftig darüber gestritten, ob nicht Umschuldungsmaßnahmen oder der Austritt eines Krisenlandes aus der EWU langfristig das kleinere Übel im Vergleich zu nicht enden wollenden finanziellen Hilfen seien.

Manch einer fragt sich, ob Europa diese Probleme heute genau so hätte, wenn der Euro vor zwölf Jahren nicht eingeführt worden wäre. Offensichtlich sind die Logik einer Währungsunion und damit die Voraussetzungen für ihre Funktionstüchtigkeit ebenso unverstanden geblieben wie ihr Zweck. Eindrucksvoller hätte man das nicht belegen können als mit dem Satz „Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig“, mit dem Bundeskanzlerin Merkel jüngst aufwartete.1 Ohne Verständnis für die relevanten Zusammenhänge lässt sich jedoch weder eine erfolgreiche Rettungsstrategie entwickeln noch glaubwürdig argumentieren, warum der Euro rettungswürdig ist. Es hilft nicht, seine politische Bedeutung für Europa zu bemühen, wenn er die Staatengemeinschaft vor ökonomische Probleme stellt, die den Verantwortlichen wie den Wählern nicht nachhaltig lösbar erscheinen. Die beiden Fragen, die es folglich zu klären gilt, lauten: Wie muss eine Währungsunion aufgebaut sein, damit sie langfristig funktioniert, und wozu braucht man sie?

Wettbewerb der Nationen wie Wettbewerb zwischen Unternehmen?

Die Kreditklemme, in der einige hoch im Ausland verschuldete EWU-Staaten stecken, beruht auf einem gravierenden Mangel an internationaler Wettbewerbsfähigkeit: Die Krisenstaaten können im internationalen Handel offenbar nicht mithalten und importieren mehr, als sie exportieren, was zu permanent wachsenden Schuldenbergen führt.2 Doch wie lässt sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern? Landläufig wird unter Wettbewerbsfähigkeit verstanden, bei der Produktivität vor der Konkurrenz zu liegen. Diese Vorstellung orientiert sich an der Perspektive eines einzelwirtschaftlichen Unternehmens. Dort gilt in der Tat der Zusammenhang, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit verbessert, wenn die unternehmensspezifische Produktivität stärker steigt als die der Konkurrenten. Höhere Produktivität schlägt sich (unter Berücksichtigung der Qualität) in einem niedrigeren Preis seiner Produkte im Vergleich zur Konkurrenz nieder. Der relative Preis entscheidet, welchen Marktanteil ein Anbieter erobern kann. Unternehmen können nur dadurch wettbewerbsfähiger werden, dass sie technologisch produktiver werden, so zu geringeren Kosten produzieren und billiger anbieten. Denn Unternehmen sind unter Wettbewerbsbedingungen Preisnehmer bei allen benötigten Vorleistungen einschließlich des Faktors Arbeit. Den Endpreis ihres Produktes bestimmen daher – abgesehen von einem Gewinnaufschlag – die Produktionskosten, die nur über die Produktivität gesteuert werden können. Ein Unternehmen, das bei der Produktivität nicht mit den Konkurrenten mithalten kann, verschwindet auf Dauer vom Markt bzw. wird von der Konkurrenz aufgekauft.

Die Übertragung des einzelwirtschaftlichen Gedankens des Wettbewerbs um Produktivität auf die Ebene von Staaten führt in die Irre. Eine Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eines Landes über eine Zunahme der nationalen Produktivität kann es nicht geben. Eine Volkswirtschaft ist im Gegensatz zu einem einzelnen Unternehmen kein Preisnehmer hinsichtlich ihrer Produktionsmittel.3 Warum? Weil auf der Ebene des Landes die Löhne ausgehandelt werden, jedenfalls solange es nationale Gewerkschaften und nur geringe internationale Mobilität von Arbeit gibt. Weil zudem die Vorleistungen eines Unternehmens (einschließlich der Maschinen) die Produktion eines anderen sind, spielen in gesamtwirtschaftlicher Betrachtung für die Produktionskosten eines ganzen Landes auf Dauer nur die Lohnkosten im Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Produktivität eine Rolle. Das sind die sogenannten gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten. Wie hoch sie ausfallen, hängt vom Kapitalstock der Volkswirtschaft und vom Lohnniveau ab. Die Veränderung der Lohnstückkosten ergibt sich aus dem Produktivitätsfortschritt, den der Wettbewerb zwischen den Unternehmen zeitigt (das entspricht der Veränderung des Kapitalstocks), und aus den Lohnsteigerungen, die in den Tarifabschlüssen vereinbart werden. Letztere sind für das Land nicht exogen wie im Fall des einzelnen Unternehmens.

Je nachdem, wie weit die nationalen nominalen Lohnsteigerungen über der nationalen realen Produktivitätszunahme liegen, verändert sich das gesamtwirtschaftliche Preisniveau. Denn wenn Wettbewerb zwischen den Firmen herrscht, werden Kostensteigerungen jenseits der Produktivitätssteigerung in den Angebotspreisen an die Kunden weitergegeben (und umgekehrt: Lohnabschlüsse unterhalb der Produktivitätsrate schlagen sich in Preissenkungen nieder). Mit anderen Worten: Die Veränderung des Preisniveaus eines Landes ist ein direktes Ergebnis der Lohnpolitik4 – und nicht der Geldpolitik, wie es etwa die Kernauffassung der monetaristischen Theorie ist.

Preisniveau und Wechselkurs

Wie aber übersetzt sich das gesamtwirtschaftliche Preisniveau, also die durchschnittlichen Produktionskosten des Landes, bzw. seine Veränderung in internationale Wettbewerbsfähigkeit? Das hängt davon ab, ob das Land über eine eigene Währung verfügt oder Mitglied einer Währungsunion ist. Hat es eine eigene Währung, legt der Wechselkurs zu den Währungen der Handelspartnerländer fest, wie hoch die inländischen Kosten und damit die Angebotspreise des Landes auf den internationalen Märkten sind. Egal ob der Wechselkurs auf freien Devisenmärkten zustande kommt, von der Zentralbank des Landes gesteuert wird oder sich an einer anderen Währung orientiert, im langjährigen Durchschnitt richtet er sich nach der Kaufkraft des Landes, gemessen an einem Warenkorb: Sind etwa der Kapitalstock und damit die Produktivität des Landes relativ hoch, ist die Währung relativ teuer, d.h. sie hat eine hohe Kaufkraft. Denn dann lassen sich mit einer Arbeitsstunde in diesem Land im Durchschnitt relativ viele Güter erzeugen. Der Wechselkurs sorgt im Durchschnitt über viele Jahre hinweg dafür, dass mit dem durchschnittlichen Stundenlohn, der ja in der Landeswährung gezahlt wird, ungefähr der gleiche Wert an Gütern in einem anderen Land mit dessen Währung gekauft werden kann. Dort müsste man z.B. bei halb so hoher Produktivität im Schnitt statt einer Stunde zwei Stunden arbeiten, um dieselbe Gütermenge zu erwirtschaften. In diesem Sinne ist die Währung des produktiveren Landes teurer.

Folgt der Wechselkurs im Großen und Ganzen diesem Bewertungsschema, ist dafür gesorgt, dass die Handelsbeziehungen zwischen den betrachteten Ländern trotz Unterschieden in der Kapitalstockausstattung auf Dauer tendenziell ausgeglichen sind. Denn dann kann ein weniger produktives Land seine Güter, für deren Produktion mehr Arbeitszeit eingesetzt werden muss, trotzdem international so preiswert anbieten, dass sie für die Käufer aus produktiveren Ländern noch attraktiv sind. Und Güter, die ein produktiveres Land mit relativ weniger Arbeitszeit herstellt, kosten auf den internationalen Märkten dank des Wechselkurses so viel, dass sie sich Käufer aus unproduktiveren Ländern nur in Maßen leisten können. Das ist sinnvoll, weil letzten Endes die Menschen in einem Land sich an ihre Verhältnisse anpassen müssen. Sie dürfen über die Jahre hinweg nur so viel in ihrem Land verbrauchen, wie sie auch produzieren können. Für dieses „gemäß den eigenen Verhältnissen leben“ sorgt ein der Kaufkraft entsprechender Wechselkurs.

Gerät ein Land durch übermäßige Lohnstückkostensteigerungen mit seinem Preisniveau beim internationalen Handel ins Hintertreffen, sinkt die Kaufkraft der Währung und muss diese deshalb abwerten. Wohlgemerkt: Dieser Ausgleich ist nicht nur im Interesse des weniger preisstabilen Landes, das durch die Abwertung seine Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellt, sondern auch in dem seiner Handelspartner. Zwar können diese nach der Abwertung nicht mehr so preisgünstig dorthin exportieren, aber sie bekommen für ihre Waren wieder den angemessenen Gegenwert.

Weil in einer Währungsunion das Wechselkursventil entfällt, ...

Im Fall eines Landes, das Mitglied einer Währungsunion ist, spielt die Überlegung der ausgeglichenen Kaufkraft für den Umrechnungskurs, mit dem die Währungen der einzelnen Mitgliedsländer zu Beginn der Union auf die gemeinsame Währung umgestellt werden, eine entscheidende Rolle. Unterschieden in den nationalen Kostenniveaus muss an diesem Punkt vollständig Rechnung getragen werden.

Nach Einführung der gemeinsamen Währung aber, wenn das Mittel der Wechselkursanpassung zwischen den Unionsmitgliedern nicht mehr zur Verfügung steht, darf es nicht mehr zu einem Auseinanderdriften der nationalen Preisniveaus kommen. Sonst büßen die weniger preisstabilen Länder dauernd Marktanteile beim internationalen Handel ein und verschulden sich zunehmend ohne jede Rückzahlungsperspektive. Um das zu vermeiden, müssen sich alle Unionsmitglieder nicht nur auf dasselbe Inflationsziel einigen, sondern dieses konsequent und permanent – sozusagen in alle Ewigkeit – jeweils durch eine entsprechende nationale Lohnpolitik ansteuern.

... müssen die nationalen Inflationsraten übereinstimmen

Dass diese zentrale Bedingung für die dauerhafte Funktionstüchtigkeit einer Währungsunion keinen Eingang gefunden hat in die Grundregeln der EWU gefunden hat, ist der Konstruktionsfehler, an dem sie jetzt zu scheitern droht. Zu erklären ist dieser eklatante Verstoß gegen die Statik einer Währungsunion nur dadurch, dass die monetaristische Grundüberzeugung der Deutschen Bundesbank, wonach die Geldpolitik direkt und allein die Inflationsrate steuert, komplett Eingang gefunden hat in den Aufbau der EWU. Spätestens bei einer supranationalen Geldpolitik wird aber dieser monetaristische Irrtum offensichtlich: Denn eine überstaatliche Geldpolitik kann definitionsgemäß nicht auf die nationalen Preisentwicklungen im Einzelnen reagieren, sondern nur auf die durchschnittliche der gesamten Währungsunion (und das auch nur über den Umweg der Sachinvestitionen, wie das schon bei der nationalen Geldpolitik der Fall ist). Weil ihr sozusagen die Hände in regionaler Hinsicht gebunden sind, ist die Zentralbank auf die Mitwirkung der Lohnpolitik in allen Mitgliedsländern angewiesen, wenn unhaltbare Verschuldungssituationen wie die derzeitige und das dadurch drohende Auseinanderbrechen der Währungsunion vermieden werden sollen. Um das zu gewährleisten, wurde übrigens 1999 der Makroökonomische Dialog von einem Europäischen Rat ins Leben gerufen. Er blieb aber vollkommen wirkungslos, weil die EZB in ihrem monetaristischen Unabhängigkeitswahn jede makroökonomische Zusammenarbeit ablehnte.5

Seit Beginn der EWU ist gegen die Grundbedingung gleich niedriger nationaler Inflationsraten verstoßen worden. Deutschland hat das gemeinsame 2%-Inflationsziel, von dem die EZB ausgeht, mit Hilfe einer extrem zurückhaltenden Lohnpolitik zehn Jahre lang unterschritten, die südeuropäischen Staaten haben es dauernd überschritten, wenn auch in geringerem Maße, als Deutschland nach unten abgewichen ist. Die Folge dieses Auseinanderdriftens der Wettbewerbsfähigkeit sind immense Handelsungleichgewichte zwischen den EWU-Staaten und die sich daraus spiegelbildlich ergebende horrende Auslandsverschuldung der Krisenstaaten bei den Überschussländern.6

Euro-Rettung nur möglich durch Lohnkoordination ...

Was also muss zur Rettung des Euro geschehen? Nun, die Preisniveaudivergenzen zwischen den Mitgliedstaaten der EWU müssen wieder komplett beseitigt werden. Denn eine anderenfalls unumgängliche dauerhafte und umfassende europäische Transferunion ist politisch undenkbar. Mit anderen Worten: Eine über viele Jahre hinweg zwischen den EWU-Ländern koordinierte Lohnpolitik, die den Krisenstaaten ein Aufholen bei der Wettbewerbsfähigkeit ermöglicht, ist zwingend erforderlich. Alle Versuche der Krisenländer, ihre Produktivität zu steigern und den öffentlichen wie den privaten Gürtel, z.B. durch Lohnverzicht, enger zu schnallen, bleiben in Hinblick auf ihre Auslandsverschuldung erfolglos, solange sich ihre Lohnstückkosten nicht relativ zu den deutschen verringern. Deutschland muss aber zulassen, dass es gegenüber seinen europäischen Handelspartnern an Wettbewerbsfähigkeit verliert und Defizite im Außenhandel akzeptieren, damit ein wirklicher Schuldenabbau (also ein Realtransfer) stattfinden kann. Wenn es dazu nicht bereit ist – und alles spricht leider für einen solchen Mangel an Bereitschaft –, ist das Scheitern der EWU unabwendbar.

... und temporäre Erhöhung des Inflationsziels der Europäischen Zentralbank

Erschwerend kommt hinzu, dass diese einzig mögliche Strategie zur dauerhaften Rettung des Euro ein heikler Balanceakt für die EZB ist, weil der Anpassungsprozess der nationalen Preisniveaus keinesfalls in einem deflationären Umfeld ablaufen darf. Die Krisenstaaten, die sich aus ihrer Verschuldung herausarbeiten müssen, können das nicht schaffen, wenn ihre Binnenwirtschaft durch absolute Lohnsenkungen und daraus zwangsläufig entstehender Deflation gelähmt wird. Um das zu vermeiden, müssen sie mindestens eine gesamtwirtschaftliche Preissteigerung von 1% erreichen. Damit aber die Anpassung an Deutschland nicht viele Jahrzehnte in Anspruch nimmt und dadurch diese Strategie von vorneherein für alle privaten Gläubiger unglaubwürdig ist, sollte die Inflationsrate in Deutschland entsprechend deutlich höher liegen, nämlich bei mindestens 3%.7 Das wiederum erforderte eine wenigstens zwischenzeitliche Anhebung des Inflationsziels der EZB auf über 2%.

Euro-Rettung nur sinnvoll bei neuem Verständnis für supranationale Geldpolitik

Wozu den Euro retten, wenn er gar nur um den Preis verringerter Preisstabilität zu haben ist? Spricht für eine Einheitswährung in Europa nur, dass sie aufzuheben, nachdem sie einmal begonnen wurde, schwere finanz- und realwirtschaftliche und damit auch politische Verwerfungen nach sich ziehen würde? Oder gibt es einen eigenständigen ökonomischen Grund, sich um den Erhalt des Euro zu bemühen? Bei den Plänen für die EWU spielte der Wegfall des Wechselkursrisikos für viele Befürworter eine entscheidende Rolle. Denn obwohl das Europäische Währungssystem (EWS) dem (oft spekulativen) Auf und Ab freier Devisenmärkte einen Riegel vorgeschoben hatte, mussten doch immer wieder Wechselkursanpassungen vorgenommen werden, wenn sich die nationalen Inflationsraten so weit auseinander entwickelt hatten, dass es zu größeren Handelsungleichgewichten kam. Wettbewerbsvorsprünge im Außenhandel hatten sich auf diese Weise für deutsche Exportunternehmen immer wieder in Luft aufgelöst, weshalb sich große Teile der deutschen Unternehmerschaft für den Euro aussprachen und bis heute auf diesen Vorteil verweisen.

Nun hat sich aber eindeutig herausgestellt, dass die Zentralbank einer Währungsunion nicht für den Gleichklang der nationalen Inflationsraten ihrer Mitgliedstaaten sorgen kann, dass aber ohne diesen Gleichklang eine Währungsunion keinen Bestand hat. Die Quadratur des Kreises, einerseits dauernd Exportüberschüsse durch quasi unaufhebbare Wettbewerbsvorsprünge erzielen zu wollen, andererseits aber auf der Zahlungsfähigkeit der Wettbewerbsschwächeren zu bestehen, kann eben nicht gelingen. Damit entfällt dieses logisch unhaltbare Argument für den Euro.

Was spricht dann noch für den Euro? Das entscheidende Argument für den Euro ist folgende Möglichkeit einer supranationalen Geldpolitik: Sie kann, wenn sie denn von allen nationalen Lohnpolitiken im Sinne gleicher Inflationsraten unterstützt wird, die Vorteile stabiler interner und externer Währungsverhältnisse mit dem Vorteil einer konjunkturgerechten Zinspolitik für den großen Wirtschaftsraum verbinden. Das verspricht dank des Wegfalls kontraproduktiver Beggar-thy-neighbour-Strategien und dank der höheren Effizienz der Geldpolitik höhere Wachstumschancen. Denn der Kreis der Sachinvestoren, den diese Geldpolitik erreicht, ist erheblich größer als ohne die gemeinsame Politik. Die Geldpolitik muss sich dann nicht an der Kapazitätsauslastung eines einzigen Ankerwährungslandes orientieren, an das sich die kleineren Partnerländer wohl oder übel anhängen müssen, sondern sie kann das gesamte Währungsgebiet zur Grundlage ihrer Zinsentscheidung machen.

Doch dieses einzige echte Argument für den Euro in sinnvolle Politik umzusetzen, erfordert im Denken des Führungspersonals der EZB eine Abkehr vom Monetarismus und im Denken der Regierungen eine Abkehr vom „Wettbewerb der Nationen“. Weil das realistisch betrachtet nahezu ausgeschlossen ist, gibt es für den Euro keine wirkliche Chance mehr. Mit ihm wird der größte Teil des europäischen Einigungsgedankens untergehen. Die Vorboten eines Rückfalls in nationalistische Politik lassen sich in ganz Europa längst nicht mehr übersehen.

  • 1 Zitiert nach Spiegel online vom 18.5.2011, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,763247,00.html.
  • 2 Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass die Verschuldung der Länder im Ausland und nicht die Verschuldung der öffentlichen Hand bei den eigenen Bürgern das Problem ist.
  • 3 Nur bei Importgütern ist sie Preisnehmer.
  • 4 Ausgenommen ist der Einfluss der Importpreise (in erster Linie für Rohstoffe) auf die nationale Inflationsrate.
  • 5 Vgl. Europäische Zentralbank: Der Zusammenhang zwischen Geld- und Finanzpolitik im Euro-Währungsgebiet, EZB-Monatsbericht, Februar 2003, S. 41-55.
  • 6 Selbst Frankreich, das eine dem Inflationsziel Jahr für Jahr fast exakt entsprechende Lohnstückkostenentwicklung zustande gebracht hat, steht bei den wettbewerbsstarken Deutschen in der Kreide.
  • 7 Bei einem deutschen Lohnstückkostenwachstum von 3% dauert die Rückführung der mittlerweile aufgebauten Wettbewerbslücke Südeuropas etwa zehn Jahre. Erst dann hört der Verlust von Marktanteilen an Deutschland auf. Bis dahin können die Schulden der Krisenländer je nach konjunktureller Entwicklung noch steigen. Der Abbau des Schuldenstands muss in erster Linie durch Wachstum erfolgen, weil das Zurückgewinnen von Marktanteilen bei wieder ungefähr ausgeglichenen Kostenniveaus nicht automatisch geschieht. Der gesamte Prozess des Schuldenabbaus dürfte auch in diesem „optimistischen“ Szenario einen Zeitraum von mindestens 20 Jahren einnehmen.

Die EU auf dem Weg in die Transferunion?

Die finanziellen Hilfspakete für Griechenland, Irland und Portugal, die Einschätzung, dass weitere Hilfspakete für finanziell wankende Länder aufgelegt werden, sowie der Beschluss, ab 2013 einen permanenten Rettungsschirm einzurichten, haben in weiten Teilen der Öffentlichkeit aber auch in der Politik zu der Befürchtung geführt, dass die EU auf dem Weg in eine Transferunion sei. Insbesondere in Deutschland aber auch in anderen finanziell vergleichsweise soliden Volkswirtschaften wird diese Befürchtung geäußert. Zu klären wäre, ob das tatsächlich der Fall ist und ob eine solche Entwicklung wünschenswert bzw. unvermeidbar ist.

Die Befürchtung, „die EU sei auf dem Weg in die Transferunion“ suggeriert, dass es bislang in der EU keine Transfers oder Umverteilungen zwischen den Mitgliedsländern gebe. Dies ist nicht der Fall. Arme Mitgliedsländer tragen pro Kopf erheblich weniger zur Finanzierung des EU-Budgets als reiche bei. Dies folgt aus der Kopplung der Beiträge, die die Mitgliedsländer an die EU abführen müssen, an die nationalen Mehrwertsteuereinnahmen und vor allem an das jeweilige Bruttonationaleinkommen. Auf der Ausgabenseite des Budgets schlagen vor allem die Transfers im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und der Kohäsionspolitik zu Buche. Da die Transfers im EU-Budget überwiegen und nur zu einem geringen Teil EU-weite öffentliche Güter finanziert werden, spiegelt die Nettoposition der einzelnen Länder im Wesentlichen wider, in welchem Ausmaß das EU-Budget bereits heute eine Umverteilung zwischen den einzelnen Ländern bewirkt. So haben z.B. Lettland und Estland 2009 Zahlungen in einer Größenordnung von 450 Euro netto pro Kopf der Bevölkerung erhalten, während Deutschland, Dänemark und Finnland netto mit 100 bis 200 Euro pro Kopf belastet waren. Die Umverteilungseffekte, die das EU-Budget zur Folge hat, scheinen in ihrer Größenordnung eher moderat. Dennoch sind die Verhandlungen über den Haushalt der EU und die damit einhergehende Frage, welche Nettozahlerposition ein Mitgliedsland einnimmt, stets von höchster politischer Brisanz. Dies dürfte die Tatsache widerspiegeln, dass die generelle Bereitschaft der Bürger in der EU, zwischenstaatliche Transfers zu leisten, gering ist.

Die empirische Föderalismusforschung hat gezeigt, dass es kaum ein Staatsgebilde gibt, das nicht in irgendeiner Form Transfers zwischen seinen Teilen (Regionen, Provinzen, Staaten) organisiert. Das gilt insbesondere, wenn es sich um einen einheitlichen Währungsraum handelt, was bei Staaten in aller Regel der Fall ist. In Deutschland beispielsweise wird durch den vertikalen und horizontalen Finanzausgleich eine weitgehende Nivellierung der Unterschiede in der Finanzkraft der Haushalte der Bundesländer herbeigeführt. Auch die bundesweit geltenden sozialen Sicherungssysteme (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflege) bewirken in erheblichem Ausmaß Transfers zwischen Regionen, da die Beiträge zu und die Leistungen aus diesen Systemen regional erheblich voneinander abweichen. In den USA gibt es zwar keinen horizontalen Finanzausgleich zwischen den Staaten, durch die zentral organisierte Arbeitslosenversicherung werden allerdings auch dort nicht unerhebliche regionale Transfers bewirkt.

Diese Erfahrungen legen den Schluss nahe, dass die EU umso mehr zwischenstaatliche Transferelemente entwickelt, je mehr sie den Charakter einer politischen Union annimmt. Ferner ist zu erwarten, dass die Zahlungsströme aus den Transfersystemen umso größer ausfallen, je heterogener die Mitgliedsländer im Hinblick auf ihr Pro-Kopf-Einkommen und ihre Verwundbarkeit bei externen Schocks sind. Für die Schaffung der Währungsunion sprachen zwar auch ökonomische Gründe wie die Senkung der Transaktionskosten bei grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb des Binnenmarktes. Sie war aber in erster Linie ein politisches Projekt auf dem Weg zu einer weiteren Integration des europäischen Kontinents. Auch waren für die Aufnahme einiger Mitgliedsländer politische Erwägungen maßgeblich, ökonomische Kriterien sprachen eindeutig dagegen. Bezeichnenderweise trifft das insbesondere auf Griechenland zu, dasjenige Land, das heute am stärksten in finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt.

In einer Währungsunion fällt das Scharnier des Wechselkurses weg, um exogene Schocks, die Länder eines Währungsraumes unterschiedlich stark treffen, aufzufangen und unterschiedliche Entwicklungen in der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder abzupuffern. Deswegen bedarf es anderer Anpassungsmechanismen. Dies kann theoretisch über zwei Kanäle geschehen: Zum einen durch eine äußerst flexible Anpassung der Preise und Löhne in einzelnen Ländern (durch interne Abwertungen), zum anderen durch zwischenstaatliche Transfermechanismen. Obwohl für die Schaffung der Währungsunion sowie die Aufnahme einzelner Länder politische Motive eine entscheidende Rolle gespielt haben, wurde davon abgesehen, diesen Integrationsschritt durch einen zwischenstaatlichen Transfermechanismus zu ergänzen, über den Staaten mit einheitlicher Währung in aller Regel in der einen oder anderen Form verfügen. Stattdessen wurde ausschließlich auf den internen Anpassungsmechanismen gesetzt. Das Bailout-Verbot ist expliziter Ausdruck des Willens, zwischenstaatliche Transfers als Anpassungsinstrument auszuschließen.

Dafür mögen gute ökonomische Gründe sprechen: Der wichtigste Grund ist darin zu sehen, dass ein solcher Mechanismus die Anstrengungen zu internen Anpassungsprozessen systematisch schwächt. Je umfassender der Transfermechanismus ausgestaltet ist, desto weniger wird die Anpassung über Preise und Löhne laufen. In den USA mit vergleichsweise schwach ausgeprägtem Transfersystem werden z.B. notwendige regionale Anpassungsprozesse eher durch interne Lohn- und Preisanpassungen bewirkt als in Deutschland mit einem sehr stark ausgebauten Transfermechanismus. Eine Transferunion ist wie jedes Transfersystem mit dem Problem des „moral hazard“ konfrontiert. Auch politisch wäre die Währungsunion nicht umzusetzen gewesen, wenn mit ihr ein umfassendes System zwischenstaatlicher Transfers etabliert worden wäre. Dies wäre der Bevölkerung in den Ländern, die voraussichtlich die finanziellen Lasten eines solchen Systems hätten tragen müssen, nicht zu vermitteln gewesen. Indes war es vor dem Hintergrund der vorhandenen theoretischen und empirischen Erkenntnisse über die Bedingungen für das Funktionieren von Währungsunionen eine äußerst riskante und naive Strategie, bei dem überwiegend politisch motivierten Projekt der Währungsunion allein auf interne Anpassungsmechanismen als Ersatz für den Wegfall der Wechselkurse zu setzen. Aus diesem Grund war die No-Bailout-Klausel im Prinzip auch stets wenig glaubwürdig.

Transferunion realisiert

Wie die aktuelle Krise der Eurozone zeigt, ist die Strategie, sich allein auf interne Preis- und Lohnanpassungen zu verlassen, gescheitert. Es scheint, als wenn das Projekt EWU – insbesondere insoweit es politisch motiviert war – nun seinen Tribut fordert. Die bereits beschlossenen und absehbaren Hilfspakete für Griechenland, Irland und Portugal sowie die Beschlüsse über den permanenten Rettungsschirm ab 2013 können als der Preis für dieses Projekt angesehen werden. Damit realisiert sich doch noch eine Art Transferunion: allerdings nicht geplant, sondern spontan und relativ ungeordnet, unter dem Druck der Verhältnisse, zudem wenig transparent, was die Belastungen für die Bürger angeht. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die beschlossenen und absehbaren Maßnahmen alle Merkmale von zwischenstaatlichen Transfers aufweisen.

So enthalten die Zinssätze, zu denen Griechenland, Irland und voraussichtlich Portugal Kredite aus den Rettungspaketen enthalten, eindeutig Transferelemente. Der Transfergehalt ist in der Differenz des Zinssatzes für die gewährten Kredite zu dem hypothetischen Zinssatz zu sehen, den die Länder sonst auf dem freien Kapitalmarkt zu zahlen hätten, sofern ihnen dort überhaupt ein Kredit gewährt würde. Dies ist auch nicht anders vor dem Hintergrund der Behauptung zu werten, dass doch die EU oder die Länder, die diese Kredite bereitstellen, sich selbst zu einem niedrigeren Zinssatz verschulden könnten, somit an der Kreditvergabe noch verdienten. Der in Rechnung gestellte Zinssatz enthält ein Transferelement, weil die Zinsdifferenz nur eine unzureichende Kompensation für das zu tragende Ausfallrisiko der vergebenen Kredite darstellt. Ganz offensichtlich fallen zwischenstaatliche Transfers dann an, wenn die Schuldnerländer nicht in der Lage sind, die gewährten Kredite zurückzuzahlen und die Geberländer sich gezwungen sehen, auf ihre Forderungen zu verzichten; dies erscheint zumindest im Falle Griechenlands nach der Lage der Dinge sehr wahrscheinlich. Auch ein Schuldenschnitt unter Einbezug der privaten Gläubiger hätte diesen Effekt; in diesem Fall käme es zusätzlich zu zwischenstaatlichen Transfers aufgrund der Tatsache, dass die EZB wie private Gläubiger Forderungsverzichte auf Staatsanleihen aus den insolventen Ländern hinzunehmen hätte, die diese seit Mai 2010 in großem Umfang vom Markt genommen hat. Die Verluste der EZB wären dann durch die Länder der Eurozone entsprechend ihren Anteilen am Kapital der EZB zu tragen. Im Übrigen wäre auch ein Austritt von insolventen Ländern aus der Währungsunion mit erheblichen zwischenstaatlichen Finanztransfers verbunden. Die dann folgende Abwertung des austretenden Landes würde die Bedienung der Auslandsschulden noch unwahrscheinlicher machen. Ein Forderungsverzicht privater und öffentlicher Gläubiger und damit auch der Steuerzahler wäre unausweichlich.

Wie man es auch dreht und wendet, Transfers zwischen den Ländern der Eurozone sind zur Bewältigung der Krise offensichtlich unvermeidbar und die Wege dorthin sind geebnet. Insofern ist die sich zunehmend breit machende Auffassung, „die EU sei auf dem Weg in die Transferunion“ nicht von der Hand zu weisen. Allerdings wird damit auch suggeriert, dass das konstitutive Merkmal der Union in Zukunft die Leistung von Transfers zwischen Mitgliedstaaten sei. Dies würde bedeuten, dass alle bislang erreichten Errungenschaften der europäischen Integration wie der weit fortgeschrittene Binnenmarkt oder das generelle politische Ziel der Schaffung eines Raumes der Demokratie, der Sicherheit und des Rechts hinter den Transfercharakter der EU zurücktreten. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine realistische Einschätzung handelt, lässt das für die Verankerung des europäischen Integrationsprozesses in der Bevölkerung nichts Gutes erwarten. Die Einschätzung drückt zum einen die unerwünschte Entwicklung aus, dass in der zukünftigen Union wesentlich umfangreichere Transfers zwischen den Mitgliedstaaten geleistet werden als bisher. Zum anderen – und das ist vermutlich der wesentlichere Aspekt in diesem Zusammenhang – kommt darin zum Ausdruck, dass für die Bürger nicht überschaubar ist, wie umfangreich diese Transfers sein werden und nach welchen Modalitäten sie vergeben werden. Diese Ungewissheit löst großes Unbehagen aus. Sofern die Politik sich dazu äußert, wird das nicht als glaubwürdig eingestuft. Dies ist nicht weiter verwunderlich, hat doch die Politik auf europäischer wie auf deutscher Ebene sowohl im Hinblick auf die Funktionsweise der Währungsunion als auch auf die Maßnahmen zur Bewältigung der Krise Aussagen und Versprechungen gemacht, die nicht eingehalten und eingelöst wurden. Die Folge ist, dass sich die Befürchtung vor einem „Fass ohne Boden“ und einem „Schrecken ohne Ende“ ausbreitet.

Eine neue Strategie?

Die Leistung von zwischenstaatlichen Transfers in der Eurozone zur Bewältigung oder Abfederung der Krise in irgendeiner Form ist zwar unausweichlich geworden. Eine andere Frage ist jedoch, wie die mittel- und langfristigen Weichen für die Anpassungsprozesse in den Mitgliedsländern gestellt werden sollten. Konkret: Durch welchen Mechanismus soll das Scharnier des Wechselkurses, das in der Währungsunion zwischen den Mitgliedsländern nicht mehr existiert, ersetzt werden? Wie bisher allein durch länderinterne Anpassungsprozesse? Oder wäre diese Strategie zu ergänzen durch institutionalisierte und regelbasierte zwischenstaatliche Transferströme? Ein sehr weitgehender Transfermechanismus, der sich etwa an dem Vorbild und den Maßstäben des deutschen Finanzausgleichs orientieren würde, wäre extrem teuer, insbesondere deshalb, weil die Einkommensunterschiede in der Währungsunion groß sind.1 Ein nur auf den ersten Blick weniger teuer erscheinendes Konzept wäre in der Ausgabe von Eurobonds zu sehen. Neben den hohen Kosten bei beiden Konzepten wären in jedem Fall die negativen Anreize fatal, die von ihnen auf die Bereitschaft zur internen Anpassung ausgehen würden. In keinem Fall sind solche Konzepte den Bürgern in den Ländern vermittelbar, mit deren Steuergeld die Transfers finanziert werden müssten.

Mit den Beschlüssen vom März dieses Jahres zeichnet sich zwar ab, dass zur Bewältigung externer Schocks und zum Ausgleich unterschiedlicher Entwicklungen in der Wettbewerbsfähigkeit nach wie vor auf eine landesinterne Anpassung über Preise und Löhne gesetzt wird. Gleichwohl wird mit dem Beschluss, einen permanenten europäischen Stabilisierungsmechanismus ab 2013 zu etablieren, ein zwischenstaatlicher Transfermechanismus dauerhaft eingerichtet. Zwar sieht dieser Mechanismus vor – wie im Übrigen auch die bislang vergebenen Beistandskredite –, dass nur vorübergehende Hilfen bei Liquiditätsengpässen geleistet werden. Doch wie bei den schon bereits vergebenen Krediten für Griechenland und für Irland und demnächst für Portugal enthalten die vorgesehenen Konditionen Transferelemente durch verbilligte Zinssätze. Auch bei einem Schuldenschnitt insolventer Länder würden zwischenstaatliche Transfers fließen, wenngleich der geplante Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) anstrebt, private Gläubiger im Falle der Insolvenz zu beteiligen und ESM-Krediten einen Vorrang gegenüber diesen einzuräumen. Allerdings ist zweifelhaft bzw. unklar, ob und wie die Beteiligung privater Gläubiger im Falle des Falles durchgesetzt werden kann. Die Gefahr, dass nicht nur einmalige Liquiditätshilfen an ein Land gegeben werden und dass es letztlich doch zum Schuldenschnitt kommt, der dann zwischenstaatliche Transfers in erheblichem Umfang auslöst, ist jedenfalls erheblich. Und trotz aller Bemühungen, Kredite aus dem ESM durch die Bindung an strenge Auflagen zu Strukturreformen und Haushaltsanierung unattraktiv zu machen, dürfte die bloße Existenz des ESM die hinlänglich bekannten Effekte des „moral hazard“ auslösen.

Wie es scheint, ist nicht nur die Leistung von zwischenstaatlichen Transfers kurzfristig zur Abfederung der Krise unausweichlich geworden, mit dem auf Ratsebene erfolgten Beschluss zur Einrichtung des ESM ist auch ein entscheidender Schritt zur dauerhaften Ausweitung von zwischenstaatlichen Transfers in der EU oder zumindest zwischen Ländern der Eurozone getan worden. Es stellt sich die Frage, ob es zu Letzterem eine Alternative gibt.

Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass eine stabile europäische Währungsunion in der augenblicklichen Zusammensetzung und mit den bisherigen Anpassungsmechanismen eine Illusion ist. Dennoch ist es sicherlich aus politischen und ökonomischen Gründen erstrebenswert, die Währungsunion im Kern zu erhalten. Wie bisher sollte auch in Zukunft auf interne Anpassungsprozesse in den Mitgliedsländern gesetzt werden. Dazu ist es erforderlich, die Fähigkeit und Bereitschaft für solche Anpassungsprozesse außerordentlich zu stärken. Die Währungsunion braucht eine Governance, die eine verantwortliche Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten erzwingt. Nach wie vor ist diese Strategie äußerst anspruchsvoll und schwer zu verwirklichen. Das ist aber kein Grund, diesen Weg nicht weiter zu gehen und aus den Erfahrungen der letzten Jahre nicht die entsprechenden Lehren zu ziehen. Im Prinzip gehen auch die Ratsbeschlüsse, die im März neben dem Beschluss über die Errichtung des ESM getroffen wurden, in diese Richtung. Sie scheinen aber eher den ESM zu flankieren als im Mittelpunkt der Reformen zu stehen. Um die Gefahr zu bannen, dass sich die EU auch dauerhaft zu einer Union verfestigt, in der zwischenstaatliche Transfers eine prägende und dominante Rolle spielen, sollte auch die Existenz des ESM für eine bestimmte Zeit, z.B. bis 2020, befristet werden.2 Im Übrigen ist festzuhalten, dass sich zwischenstaatliche Transfers und damit der Weg in die Transferunion umso weniger vermeiden lassen werden, je stärker die Entscheidungen über die Mitgliedschaft von Ländern in der Währungsunion und über die notwendigen Governancestrukturen von politischen anstatt von ökonomischen Erwägungen getragen sind. Dies ist der Preis, der für den politischen Gehalt der Integration zu zahlen wäre, sofern dieser gegen die ökonomische Logik spricht. Wie es ausschaut, sind die Bürger zumindest in einigen Mitgliedsländern nicht bereit, diesen Preis zu zahlen.

  • 1 Vgl. Kai Konrad: Wege aus der europäischen Staatsschuldenkrise, in: Wirtschaftsdienst, 90 Jg. (2010), H. 12, S. 783-804.
  • 2 Einen entsprechen Vorschlag hat Clemens Fuest gemacht: Ein Vorschlag für einen Krisenbewältigungsmechanismus in der Eurozone nach 2013, in: Ifo Schnelldienst, Nr. 3, 2011.


DOI: 10.1007/s10273-011-1235-5

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