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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ESM-Vertrag hat „Markierungsarbeiten“ bei der Durchsetzung des Demokratieprinzips geleistet. Konflikte zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof befürchtet der Autor allerdings bei der zu erwartenden Entscheidung über den unbeschränkten Erwerb von Staatsanleihen durch die EZB. Bedenklich findet er die zunehmende Verschränkung von Fiskal- und Geldpolitik, denn sie gefährde die vom Bundesverfassungsgericht als wichtigen Bestandteil der Stabilitätsarchitektur angesehene Unabhängigkeit der EZB.

Kaum ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)1 war in seiner mittlerweile über 60-jährigen Geschichte mit so großer Spannung erwartet worden wie das zum Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) sowie zum Fiskalpakt. National wie international richteten sich die Augen der politischen und ökonomischen Welt nach Karlsruhe. Äußerlich ließen sich die Verfassungsrichter davon wenig beeindrucken, genehmigten sich vielmehr eine – beim vorläufigen Rechtsschutz sonst eher unübliche – mündliche Verhandlung am 10. Juli 2012 und danach gute zwei Monate Überlegungs- und Beratungszeit, die bisweilen fast wie eine Trotzreaktion auf die Kurzatmigkeit und Hysterie der internationalen Finanzmärkte wirkte. Die Krisenpolitik der Kanzlerin war in dieser Phase nicht nur einem – auch dem Ausland mittlerweile sattsam bekannten – Parlamentsvorbehalt unterworfen, sondern nun auch noch der gefürchteten „Super-Revisions-Instanz“, deren Standpunkt im Spannungsfeld zwischen politischer Opportunität und juristischer Konformität schwer vorauszuahnen war.

Gegenstand des Urteils

Formal wurde nicht der völkerrechtliche ESM-Vertrag direkt in Frage gestellt, sondern insbesondere die nationalen Zustimmungsgesetze, derer es für das Inkrafttreten bedarf (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG). Auf ihre Konformität mit dem Grundgesetz waren vier Gesetze zu überprüfen:

  1. das Zustimmungsgesetz zu Art. 136 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der erstmals die Möglichkeit zur Errichtung eines ständigen Stabilitätsmechanismus in den europäischen Verträgen selbst eröffnet,
  2. das Zustimmungsgesetz zum ESM-Vertrag (ESMV) selbst,
  3. das ESM-Finanzierungsgesetz (ESMFinG), das die Mitspracherechte der parlamentarischen Gremien beim Einsatz der Instrumente regelt sowie
  4. das Zustimmungsgesetz zum sogenannten Fiskalvertrag, der durch die Förderung der einzelstaatlichen Haushaltsdisziplin sozusagen die korrektiven Elemente der Krisenbewältigung um eine präventive Komponente der Krisenverhinderung ergänzen soll.

Inhaltliche und zeitliche Reichweite des Urteils

Formal hat das BVerfG nur über die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden. Die Gewährung dieses einstweiligen Rechtsschutzes war juristisch wie ökonomisch geboten, um schwere Nachteile „für das gemeine Wohl“ abzuwenden:

  • Durch eine verfassungsgerichtlich ungeprüfte Ratifikation der Verträge wären völkerrechtliche Bindungen entstanden, aus denen sich die Bundesrepublik Deutschland nicht ohne weiteres hätte lösen können, selbst wenn im Hauptsacheverfahren Verfassungsverstöße festgestellt worden wären.
  • Ein Hinausschieben der Ratifikation bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren hätte andererseits insbesondere durch die Turbulenzen an den internationalen Finanzmärkten unabsehbare wirtschaftliche und politische Folgewirkungen gehabt.

Das BVerfG hat dieser Problematik durch eine summarische Vorabprüfung Rechnung getragen, die sich allerdings nicht – wie sonst in Eilverfahren typisch – auf eine reine Folgenabwägung beschränkt hat, sondern mit dem Demokratieprinzip (Art. 38 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG) auch einen materiellen Prüfungsmaßstab anwendet. Durch diese in der Sache begrüßenswerte richterliche Selbstbindung wurde gleichermaßen die noch ausstehende Entscheidung in der Hauptsache inhaltlich vorweggenommen.

Keinen vorläufigen Rechtsschutz hat das Gericht demgegenüber im Verfahren gegen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Euro-Rettung, insbesondere den Ankauf von Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe, gewährt. Hier wird erst eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren fallen. Sollten die am 6.9.2012 vom EZB-Rat gefassten Beschlüsse zu sogenannten Outright-Geschäften vom BVerfG als sogenannte „ausbrechende Rechtsakte“ (lateinisch „ultra vires“) angesehen werden, würde ein seit Jahren schwelender Konflikt um die richterlichen Letztentscheidungskompetenzen in Europa erneut aufbrechen.

Karlsruhe nämlich sieht sich dazu legitimiert, Rechtsakte (wie z.B. den genannten EZB-Beschluss) der europäischen Einrichtungen und Organe, die sich nicht in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte (hier durch das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag) halten, im deutschen Hoheitsbereich für unverbindlich zu erachten. Dies steht allerdings im Widerspruch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der für sich die vorbehaltlose Befugnis zur Letztentscheidung über die Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts (hier den Maastricht-Vertrag und das Protokoll zur EZB-Satzung) in Anspruch nimmt. Sollte das BVerfG den ex ante unbeschränkten Erwerb von Staatsanleihen durch die EZB für unzulässig halten, könnte daher der Fall eintreten, dass Bundesregierung oder Bundestag beim EuGH Klage gegen einen Beschluss erheben müssen, den sie politisch und ökonomisch (mehr oder weniger offen) befürworten.

Materieller Prüfungsmaßstab

In bewährter „Ja, aber….“-Tradition haben die Verfassungshüter ein weiteres Beispiel richterlicher Selbstbeschränkung gegeben und die Anträge der Kläger in ihrem Urteilstenor nur als „überwiegend erfolglos“, nicht jedoch als vollkommen unbegründet bezeichnet. Die Kläger hatten geltend gemacht, dass die Verpflichtungen aus ESM und Fiskalpakt den deutschen Gesetzgeber derart binden würden, dass künftige Generationen möglicherweise kaum noch etwas zu gestalten hätten und ihr Wahlrecht damit ins Leere liefe. Einen Verstoß gegen dieses bereits erwähnte Demokratieprinzip vermochten die Richter allerdings nicht zu erkennen. Die zu prüfenden Zustimmungsgesetze waren jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden.

Dass die Einrichtung eines unbefristeten Rettungsschirms – vorsichtig ausgedrückt – in einem Spannungsverhältnis zum bisherigen Prinzip der finanziellen Eigenständigkeit der Euro-Länder steht (formuliert in der sogenannte „No bailout“-Klausel des Art. 125 AEUV), wird zwar vom BVerfG explizit festgestellt, aber inhaltlich nicht beanstandet. Abgesehen von der Frage der formellen Zuständigkeit für diese europarechtliche Frage halten die Richter den in Art. 136 AEUV ergänzten Abs. 3 lediglich für eine Öffnungsklausel, die per se noch nicht zu einem Verlust der nationalen Haushaltsautonomie führt. Als wesentliche Bestandteile einer Stabilitätsarchitektur sieht das Gericht hingegen

  • die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank,
  • die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Haushaltsdisziplin sowie
  • die Eigenverantwortlichkeit bezüglich der nationalen Haushalte.

Die Zustimmungsgesetze tragen vor allem der letztgenannten haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages im Wesentlichen Rechnung und verletzen das Demokratiegebot daher nicht. Ein unmittelbarer Durchgriff der Organe der Europäischen Union auf die nationale Haushaltsgesetzgebung ist weder im ESM-Vertrag noch im Fiskalvertrag vorgesehen. Soviel zum „Ja“.

Jetzt zum „aber“: „Im Wesentlichen“ bedeutet, dass zwei Vorbehalte (die die Kläger als teilweisen Sieg, die Beklagten als lediglich deklaratorische Klarstellung interpretieren) im völkerrechtlichen Ratifizierungsverfahren explizit gemacht werden mussten:

  • Die Haftungsbeschränkung in Höhe von ca. 190 Mrd. Euro gemäß dem Anteil der Bundesrepublik am Stammkapital des ESM (Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV) darf auch im Falle eines sogenannten revidierten erhöhten Kapitalabrufs (Art. 25 Abs. 2 ESMV, in diesem Falle muss die ausbleibende Zahlung eines anderen Eurostaates zumindest vorübergehend ersetzt werden)2 nur mit Zustimmung des Bundestages erhöht werden.
  • Bundestag und Bundesrat müssen die für ihre Entscheidungen und eine hinreichende parlamentarische Kontrolle erforderlichen umfassenden Informationen erhalten, d.h. die Unverletzlichkeit der Unterlagen des ESM (Art. 32 Abs. 5, Art. 35 Abs. 1 ESMV) sowie die berufliche Schweigepflicht der Organmitglieder des ESM (Art. 34 ESMV) dürfen nicht gegen die Parlamente der Mitgliedstaaten geltend gemacht werden, sondern nur gegenüber unberechtigten Dritten (z.B. Beteiligte am Kapitalmarkt).

Unter diesen Bedingungen sieht das BVerfG die Abwehrrechte gegen einen demokratischen Substanzverlust, der durch die Übertragung von Befugnissen auf supranationale Einrichtungen wie den ESM ansonsten droht, hinreichend gewährleistet. Eine diesbezügliche völkerrechtliche Erklärung, die mit dem Urteilstenor des Gerichts übrigens identisch ist, hat die Bundesregierung mittlerweile in ihrer Kabinettsitzung vom 26.9.2012 beschlossen. Am selben Tag wurde eine sogenannte interpretative Erklärung gleichen Inhalts beim Ausschuss der Ständigen Vertreter des Rates der EU in Brüssel gebilligt. Nach Abschluss des Ratifizierungsverfahrens wird diese Erklärung beim Generalsekretariat des Rates der EU hinterlegt.

So sehr diese Vorbehalte inhaltlich zu begrüßen sind, gibt es doch zu denken, dass – abgesehen von der Linksfraktion – nicht die Parlamentarier selbst ihr Mitspracherecht eingefordert und ihren demokratischen Handlungsspielraum im Gesetzgebungsverfahren verteidigt haben. Vielmehr bedurfte es einer außerparlamentarischen Initiative,3 die sich mit den Inhalten des ESM-Vertrages offenbar gründlicher und kritischer auseinandergesetzt hat als die meisten der dafür gewählten (und bezahlten) Volksvertreter.4 Man kann dies positiv als Funktionsnachweis einer intakten Zivilgesellschaft interpretieren, eine Sternstunde der repräsentativen Demokratie ist es eher nicht.

Angesichts der Karlsruher „Markierungsarbeiten“ in Sachen Demokratie sind auch die jüngsten Pläne des ständigen EU-Ratspräsidenten Herman van Rompuy zum Umbau der Währungsunion mit großer Skepsis zu betrachten. Ein Recht der EU-Kommission zur Änderung nationaler Haushaltsentwürfe mit strafbewehrten Sanktionsmöglichkeiten für alle Länder der Eurozone5 dürfte sich grundgesetzkonform kaum verwirklichen lassen. Bei bloßer Fortschreibung weitgehend folgenloser Kooperations- und Empfehlungsprozesse à la „Europäisches Semester“6 allerdings ist keine disziplinierende Wirkung auf die nationalen Haushaltsführungen zu erwarten – am allerwenigsten bei den großen Ländern der Eurozone. Man steht hier vor der traurigen Wahl zwischen Legitimität und Effektivität der Eingriffe.

Primat der Politik

Ein Urteil darüber, ob durch das gegebene Haftungsvolumen des ESM die haushaltswirtschaftliche Belastungsgrenze der Bundesrepublik erreicht oder gar überschritten wird, maßt sich das BVerfG nicht an. Daher ist die 190 Mrd.-Euro-Grenze auch nur eine relative. Die Abwägung zwischen einer kostspieligen Stützung der Krisenstaaten und einem möglicherweise noch teureren kompletten oder partiellen Zusammenbruch der Eurozone bleibt eine politische.

Derselbe Einschätzungsspielraum gilt für die inhaltliche Fortentwicklung der Währungsunion, denn Karlsruhe kann auf Einhaltung von Verfassungsprinzipien dringen sowie demokratische Strukturen und Verfahren garantieren, aber keinesfalls eine bestimmte Haushalts- und Fiskalpolitik vorschreiben. Insoweit liegt der Ball immer noch auf dem Spielfeld der Politik, Karlsruhe hat nur die Markierungen nachgezogen. Dass die Verfassungshüter dabei die Kontinuität der eigenen Rechtsprechung gewahrt, die Prinzipien der Gewaltenteilung betont und dabei gleichzeitig dem nationalen wie internationalen Erwartungsdruck gerecht geworden sind, verdient Respekt, wird aber das Spiel aller Voraussicht nach nicht entscheiden.

Währungsstabilität oder Staatsfinanzierung – der Rollenwandel der EZB

Hinsichtlich des Staatsanleihen-Ankaufprogramms OMT (Outright Monetary Transactions) der EZB, das erst wenige Tage vor dem Karlsruher Urteilsspruch beschlossen und ebenfalls angefochten wurde, haben die Verfassungshüter sowohl Prüfungsmaßstab als auch Verfahrensgegenstand begrenzt. Soweit eine Verletzung der Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 GG aufgrund des höheren Inflationspotenzials expansiver EZB-Maßnahmen geltend gemacht wurde, käme dies nur „in Fällen einer evidenten Minderung des Geldwerts in Betracht“7. Dies wurde nach Auffassung der Richter durch die Kläger weder hinreichend vorgetragen noch belegt, so dass dieser Teil der Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen wurde.

Eine Prüfung hingegen, ob es sich bei dem EZB-Beschluss um einen gegenüber dem rein geldpolitischen Mandat der Zentralbank „ausbrechenden Rechtsakt“ handelt, wird noch im Hauptsacheverfahren erfolgen und darf mit Spannung erwartet werden. Zwei deutsche Mitglieder8 des EZB-Rates haben im vergangenen Jahr ihre Ämter aufgegeben, weil sie insbesondere die Staatsanleihekäufe der EZB als nicht vereinbar mit dem geldpolitischen Stabilitätsmandat der Institution angesehen haben. Der jetzige Präsident der deutschen Bundesbank hat als einziges Mitglied gegen die sogenannten OMT gestimmt, in deren Rahmen die EZB Staatsanleihen von Euroländern auf den Sekundärmärkten9 ohne Mengenbeschränkung kaufen darf, falls

  • der reguläre Zugang zu den Anleihemärkten nicht oder nur noch eingeschränkt gegeben ist und
  • ein vollständiges wirtschaftliches Anpassungsprogramm (im Rahmen von EFSF und/oder ESM) oder ein sogenanntes Vorsorgliches Programm durchlaufen wird.

Die letztgenannte Voraussetzung wird von der EZB als „strenge und wirksame Konditionalität“ angesehen, da man im „Huckepackverfahren“ nur die Staatsanleihen solcher Länder kauft, die sich auch fiskalisch disziplinieren lassen. Unterhalb der Schwelle eines Vollprogramms mit Troika-Überwachung genügt dafür aber auch ein vorsorgliches Programm (Kreditlinie mit verschärfter Konditionalität), wie es z.B. Spanien anstrebt, das noch einen begrenzten Zugang zu den Finanzmärkten hat und sich keinen Restriktionen wie Griechenland, Irland oder Portugal unterwerfen will. Dieser „Weichspülgang“ ohne belastbare Verpflichtung hat sich aber im Fall Italien (noch unter Berlusconi) nicht bewährt, das die Aufkaufaktion der EZB nicht mit einer einzigen Reform dankte.

Nun lässt sich trefflich darüber streiten, wie ökonomisch sinnhaft eine Politik ist, die den langfristig sinnvollen Zwang zur fiskalischen Haushaltsdisziplin mit der zumindest temporären Abmilderung durch einen geldpolitischen Zwischenkredit verknüpft. Es ist aber mehr als die für Deutschland angeblich typische ordnungspolitische Selbstbespiegelung, sondern kritisch zu hinterfragen und die Plausibilität der Anreizsysteme anzuzweifeln.

Darf die EZB nur die Geldwertstabilität oder auch die Währungsexistenz einschließlich Mitgliederbestand sichern? Wie unabhängig ist eine EZB noch, die ihre Geldpolitik – wenn auch scheinbar freiwillig – von der Erfüllung fiskalpolitischer Kriterien abhängig macht? Wenn der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik nämlich tatsächlich gestört wäre – so die Rechtfertigung der EZB für ihr aktuelles Interventionsprogramm – dann muss sie als geldpolitische Instanz unabhängig von einem fiskalischen Rettungsprogramm intervenieren.10

Dass die Zentralbank der Begründung ihres vermeintlich geldpolitischen Eingriffs selbst nicht recht glaubt, wird in einem Halbsatz der letzten Monatsberichte11 gut versteckt: die beklagten Zinsunterschiede für Wohnungsbau- und Unternehmenskredite sind nach eigenem Bekunden vor der Krise (insbesondere von 2004 bis 2006) deutlich höher gewesen, ohne dass die obersten Währungshüter damals eingegriffen hätten. Dies sieht sehr nach einer aktuellen Überdehnung des EZB-Mandats aus.12 Unter dem vorherigen EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet gab es für das damalige Ankaufprogramm SMP (Security Markets Programme) zwar eine andere Begründung in Form der behaupteten Finanzmarktspannungen,13 wirklich überzeugen konnte diese allerdings ebenso wenig: wenn die Kredite an überschuldete Staaten immer teurer oder irgendwann ganz versagt wurden, funktionierte der Markt ja im Prinzip.

In dem Umfang, in dem die Zentralbank jedoch ihr rein geldpolitisches Mandat hintanstellt, muss sie sich vor allem die Legitimationsfrage stellen lassen, womit wir wieder bei den Leitsätzen des BVerfG zum Demokratieprinzip sind. Das Ankaufprogramm der EZB verteilt Haftungsrisiken zwischen den Steuerzahlern der Eurozone um, ohne dass die Mitglieder des EZB-Rates hinreichend demokratisch legitimiert wären14 oder gar Parlamente beteiligt würden. Darüber hinaus kommt es durch eine Umschichtung von Staatsanleihen von privaten Gläubigern zu ESM und EZB tendenziell zu einer Verlagerung der Risiken von Reich zu Arm und von Finanzinvestoren zu heimischen Steuerzahlern.

Inflation als Lösung?

Politisch wohl nicht unwillkommen wäre ein durch Niedrigzins und Inflation quasi automatisch eintretender Staatsschuldenabbau auf Kosten von Verbrauchern und Kleinsparern. Denn einerseits ergibt bereits die rechnerische Beziehung zwischen Staatschuldenquote und Inflationsrate, dass Wachstumserhöhung und Preissteigerung mathematisch denselben senkenden Effekt auf die Verschuldung besitzen – mit diesem Rezept senkten die USA ihre Nachkriegsverschuldung von 108,6% (1946) auf nur noch 36% (2003).15

Andererseits bildet die Kombination aus niedrigem Zins und höherer Inflation eine „Enteignungszange“ für Besitzer von Lebensversicherungen oder ähnlichen Anlageformen, die vielen Sparern durch die schleichenden Langzeiteffekte nicht bewusst wird. Zum Risikotransfer von Banken und Großanlegern hin zu Steuerzahlern durch die Rettungsschirm-Politik gesellt sich also eine geldpolitisch induzierte Umverteilungswirkung in dieselbe Richtung, also zu Lasten des Kleinsparers. Neben diesen distributiven Effekten sind weitere institutionelle Defizite zu beklagen. Der rechtliche Rahmen der EZB nämlich sieht – anders als z.B. der ESM-Vertrag – gleiche Stimmgewichte („Ein Mann, eine Stimme“) ohne Rücksicht auf Kapitalanteile und Haftungsrisiken der Mitgliedesländer vor. Diesbezüglich bleibt zu hoffen, dass das BVerfG bei seinem im Dezember erwarteten Urteil zum EZB-Ankaufprogramm seinem inhaltlichen Prüfungsmaßstab treu bleibt.

In der Stellungnahme der Bevollmächtigten der öffentlich-rechtlich Beklagten zum ESM-Urteil formulieren die Professoren Möllers und Nettesheim die Erwartung, „dass sich hier Fragestellungen ergeben, die das Bundesverfassungsgericht zu weiteren grundsätzlichen Aussagen über die Grenze der Tragfähigkeit der demokratischen Architektur des Grundgesetzes veranlassen“ werden.16 Dem ist nichts hinzuzufügen.

Verfassungsgrundsätze sind keine beliebig disponiblen Rechtsgüter. Sie im Sinne von Stabilität und Vertrauen durchzusetzen, muss auch um den Preis institutioneller Konflikte erlaubt sein, ohne dass sich die Deutschen deshalb als schlechte Europäer fühlen müssten. Wenn aber Politiker meinen, dass deutsche Grundgesetz behindere unsere Entwicklung zu „echten“ Europäern, müssten sie Volk und Volksvertretung vom Nutzen einer – erst noch zu erarbeitenden – neuen Verfassung überzeugen und sie dann darüber abstimmen lassen.17 Sicher wäre bei einem solchen Projekt nur eines: es würde – wenn überhaupt – für die Bewältigung der jetzigen Krise zu spät vollendet werden.

  • 1 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012.
  • 2 Einer entsprechenden Zahlungsaufforderung muss grundsätzlich unwiderruflich und uneingeschränkt innerhalb von sieben Tagen gefolgt werden (§ 9 ESMV).
  • 3 Mit ungefähr 37 000 Unterstützern hat die Initiative „Mehr Demokratie“ diese Klage zur Verfassungsbeschwerde mit der bisher höchsten Zahl von Klägern in der Geschichte der Bundesrepublik gemacht.
  • 4 Ausgenommen sei hier ausdrücklich der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler, den weite Teile von Politik und Öffentlichkeit jedoch eher als folkloristische Personifizierung weiß-blauen Renegatentums in der mitunter erratischen Tradition von Franz Josef Strauß wahrnehmen.
  • 5 Eine Festschreibung soll nach dem Papier durch individuelle Reformverträge zwischen Brüssel und den 17 Euro-Staaten erfolgen, http://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-van-rompuy-schlaegt-reformvertraege-fuer-euro-laender-vor-a-859346.html vom 3.10.2012 (16.10.2012).
  • 6 Das im September 2010 beschlossene Verfahren sieht vor, dass die Mitgliedstaaten ihre mittel- bzw. langfristigen Finanzplanungen jeweils im Frühjahr nach Brüssel melden, wo sie von EU-Kommission und Rat auf Ungleichgewichte und Widersprüche analysiert werden. Die nationalen Haushalte sollen dann erst nach einer EU-Stellungnahme mit eventuellen Handlungsempfehlungen beschlossen werden, http://www.euractiv.de/finanzen-und-wachstum/artikel/finanzminister-beschlieen-europaisches-semester-003602 vom 7.9.2010 (16.10.2012).
  • 7 Vgl. BVerfG 129, 124<174>.
  • 8 Es handelt sich um den Bundesbankpräsidenten Axel Weber (Rücktritt im Februar 2011) sowie den EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark (Rücktritt im September 2011).
  • 9 Auf dem Primärmarkt – also direkt vom Emittenten – ist dies nach Art. 123 AEUV verboten.
  • 10 J. Stark, zitiert nach: Der Spiegel, Nr. 40/2012, S. 82.
  • 11 Beurteilung der Finanzierungsbedingungen des privaten Sektors im Euro-Währungsgebiet während der Staatsschuldenkrise, in: Monatsbericht August der EZB, Frankfurt a.M. 2012, S. 101.
  • 12 C. Fuest, zitiert nach: Der Spiegel, Nr. 40/2012, S. 82.
  • 13 M. C. Kerber: Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB: Wie ist die neue Offenmarktpolitik der Europäischen Zentralbank zu bewerten?, in: ifo schnelldienst, 63. Jg., Nr. 21/2010, S. 4, http://www.cesifo-group.de/portal/pls/portal/docs/1/1201985.PDF (17.10.2012).
  • 14 Die Ernennung der Zentralbankpräsidenten sowie des Direktoriums (beide zusammen bilden den EZB-Rat) erfolgt auf Vorschlag der jeweiligen Regierungen.
  • 15 http://www.institutional-money.com/magazin/theorie-praxis/artikel/inflation-spiel-mit-dem-feuer/.
  • 16 Zitiert nach P. Gauweiler: „Wer spart, geht am Ende leer aus“, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/europas-zukunft/peter-gauweiler-zur-zukunft-europas-wer-spart-geht-am-ende-leer-aus-11917052.html vom 8.10.2008 (16.10.2012).
  • 17 Art. 146 Grundgesetz: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Title:Has the Euro Been Saved?

Abstract:The paper analyses the German Federal Constitutional Court’s ruling on the ESM Treaty and the Fiscal Pact in the framework of the interim measures and provides an outlook on the decision in the main action. The material scope of the judgment and the standards of review are identified as well as the possible effects on the political scope of further euro bailout policy.The current crisis does not allow sufficient time for making the required changes to the EU treaties and to the German constitution. In view of the expected decision on the monetary policy strategy of the ECB, legal and economic aspects are considered, and the role of the central bank is critically reflected.


DOI: 10.1007/s10273-012-1449-1

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