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Ostdeutschland: Wirtschaftlich weit zurück

Von Udo Ludwig

Jetzt ist es öffentlich. Die mit Spannung erwarteten amtlichen Ergebnisse der großen Revision der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen dokumentieren dramatische Verschiebungen zwischen dem Leistungsstand der einzelnen Bundesländer. In Zahlen ausgedrückt bewegen sich die Korrekturen beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) für 2008, für das originale Berechnungen vorliegen und das bislang den Höchststand der Produktion markiert, auf Länderebene zwischen -6,5% und +6,9%. Zwar kamen auch einige westdeutsche Länder nicht ungeschoren bei den Neuberechnungen davon. Durchgängig mussten aber alle neuen Bundesländer Abwärtskorrekturen hinnehmen, die Spanne reicht von -6,5% für Thüringen bis -2,5% für Brandenburg. Bezogen auf das BIP je Einwohner wurden damit in Ostdeutschland erst 66% des Westniveaus erreicht statt der bisher gemessenen 69%. Noch größer sind jetzt die Produktivitätsabstände. Denn es wurde laut Neuberechnungen nicht nur weniger Wert geschaffen, sondern auch mehr Arbeit eingesetzt. So lag das BIP je Arbeitsstunde 2008 in den ostdeutschen Flächenländern erst bei 70% statt bei 75% des Westniveaus. Diese Datenkorrekturen sind keine „Peanuts“. In Jahren gerechnet, entsprechen sie einem Ausfall von mindestens zwei Wachstumsjahren. Einschließlich der Rückschläge durch die Wirtschaftskrise verschiebt sich der Aufholhorizont um fünf Jahre nach hinten.

Die Politik schweigt sich bislang zu den neuen Ergebnissen aus. Anlass zum Jubeln geben sie auch wenig. Geringere als bislang statistisch nachgewiesene Aufholfortschritte bedeuten weniger Erfolg bei der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft. Die Politik stellt sich nicht die Frage, ob denn die mit hohen West-Ost-Transfers verbundenen Fortschritte im Aufholprozess seit dem Neustart der ostdeutschen Wirtschaft vor 22 Jahren zu gering sind. Die vorhandene und in vielen Teilen aus dem Transformationsprozess hervorgegangene wirtschaftliche Basis ist offenbar doch zu klein ausgelegt und nicht leistungsfähig genug. Die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben die Ursachen mehrfach analysiert: fehlende Führungszentralen, verlängerte Werkbänke, überwiegend kleinteilige Produktionseinheiten, damit verbundene geringe Export- und Innovationsintensitäten, der Vorrang für Zulieferproduktionen. Das sind einige Fakten aus heutiger Sicht, die kurzfristig weder von der Tagespolitik noch von der Wirtschaft verändert werden können. Aber verdeutlichen die Ergebnisse der Neuberechnungen nicht auch, wie stark die Ausgangsbedingungen für den wirtschaftlichen Umbau und die Art und Weise der Umsetzung der ordnungspolitischen Schlüsselentscheidungen zur Herstellung der deutschen Einheit nachwirken? Zu nennen sind der ruinöse Kostendruck, der von der Umstellung der Währung mit einem Kurs von eins zu eins für alle laufenden Zahlungen sowie von der überhasteten Angleichung der Löhne an das Niveau im Hochlohnland alte Bundesrepublik Deutschland auf die Wirtschaft ausging sowie ein Privatisierungsmodell, das nicht auf den Erhalt einer breiten wirtschaftlichen Basis ausgelegt war. Die Vergangenheit hat Wirtschaft und Politik schon lange eingeholt, mit der Datenrevision ist das noch einmal sehr deutlich geworden.

Die neue Faktenlage ist kein Plädoyer für mehr finanzielle Hilfen für den Aufbau Ost, auch wenn einige Politiker sofort nach weiteren Zuweisungen aus den EU-Strukturfonds riefen. Vielmehr sollten die Ursachen für die Spätfolgen des ostdeutschen Transformationsprozesses tiefer analysiert werden. Für Deutschland lässt sich die Geschichte zwar nicht zurückdrehen, aber Lehren aus ihr können noch gezogen werden, wenn beispielsweise eine europäische Transferunion erst gar nicht begonnen wird.

LIBOR-Referenzzinssatz: Das Ende des Vertrauens?

Von Christian Klein

Mindestens über einen Zeitraum von vier Jahren, von 2005 bis 2009, war die London Interbank Offered Rate, kurz LIBOR, gar nicht der durchschnittliche Interbankenzinssatz, also der Zins, zu dem sich Banken gegenseitig Kredite gewähren. Er wurde von einer Handvoll Investmentbankern manipuliert. Diese Erkenntnis ist ein Schock. Der Schaden, der durch diese Manipulationen entstanden ist, betrifft zwei Bereiche: Erstens ist für zahlreiche Personen und Unternehmen ein finanzieller Schaden entstanden, einige sind bewusst von den Manipulierenden betrogen worden, der Großteil der Betroffenen ist aber mit den verantwortlichen Banken gar nicht im Geschäft gewesen, es handelt sich also aus Sicht der Akteure wohl um Kollateralschäden. Zweitens ist die Glaubwürdigkeit und die moralische Integrität des Bankensektors enorm beschädigt worden.

Um den finanziellen Schaden abschätzen zu können, muss man verstehen, wozu der LIBOR dient. Der LIBOR wird von vielen Marktteilnehmern als Basiszins oder Referenzzins verwendet. Wenn beispielsweise Unternehmen A bei der Stadtsparkasse B einen kurzfristigen Kredit aufnimmt, könnte der vereinbarte Zinssatz „LIBOR + X%“ betragen. Auch Tages- oder Termingeldzinsen sind mitunter an den LIBOR geknüpft. Ob nun dem Unternehmen A oder der Stadtsparkasse B ein Schaden entstanden ist und wie hoch dieser beziffert werden kann, wird schwer zu berechnen sein; dies wird Gerichte und eine Heerschar von Gutachtern einige Jahre beschäftigen. Es ist zu vermuten, dass sich die finanziellen Schäden bei Privatpersonen in Grenzen halten werden, bei einigen Unternehmen oder institutionellen Anlegern dürfte der Verlust enorm sein.

Die Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit und die Integrität des Bankensektors sind noch weitaus größer. Um dies zu verstehen muss man sich klar machen, wie die Manipulationen stattgefunden haben: Um den LIBOR zu berechnen, befragt der britische Bankenverband BBA einige Institute zu ihren Interbankzinsen, aus denen der Durchschnitt berechnet wird. Eine Manipulation ist denkbar einfach: Man nennt nicht den tatsächlichen Zins, sondern einen Zinssatz der für einen selbst vorteilhaft ist. Und genau das wurde jahrelang von Angestellten mehrerer Banken gemacht: Sie haben sich abgesprochen und im vollen Bewusstsein, dass als Folge vielen Unbeteiligten enorme finanzielle Schäden zufügt werden, dreist gelogen. Dies ist kriminell und skrupellos, die Bezeichnung „organisiertes Verbrechen“ ist in dem Zusammenhang wohl durchaus angebracht. Der Nutzen der Manipulierenden, die wahrscheinlich an Derivategeschäften, und zwar Wetten auf die Zinsentwicklung, verdient haben, steht dabei in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den sie völlig Unbeteiligten angetan haben. Das wäre in etwa so, als würde der Besitzer eines kleinen Getränkeladens das Trinkwasser einer Großstadt vergiften, um ein paar Flaschen Mineralwasser mehr verkaufen zu können.

In der Öffentlichkeit entsteht nun nachvollziehbarerweise das Bild vom gierigen Banker, der rücksichtslos jede Gelegenheit ergreifen wird, wenn sich dadurch für ihn ein Vorteil ergibt. Wenn die betroffenen Institute nun klagen, dass „Fehler Einzelner“ dem Ruf einer ganzen Branche schaden, so ist das zynisch. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Art von Unternehmenskulturen und vor allem Anreizsysteme immer wieder so viele kriminelle „Einzelne“ hervorbringen. Wenn wir also in Zukunft über die Regulierung des Bankensektors reden, müssen wir wohl davon ausgehen, es mit Akteuren zu tun zu haben, die auch jenseits des Gesetzes ihren eigenen Vorteil suchen. Es sollte deshalb im besonderen Interesse der betroffenen Banken sein, glaubwürdig einen Kulturwandel anzustoßen. Ansonsten droht ein enormer Schaden für eine Branche, deren Fundament früher aus einem bestand: Vertrauen!

Emissionshandel: Rettung in Sicht?

Von Markus Groth

Der Emissionszertifikatehandel ist das zentrale Instrument der europäischen Klimapolitik. Doch spätestens jetzt wird deutlich, dass er sieben Jahre nach seiner Einführung tief in der Krise steckt. Vor allem angesichts massiv gesunkener Zertifikatepreise gehen von ihm nicht die notwendigen Anreize für klimafreundliche Investitionen aus. Zudem werden weitaus geringere Finanzierungsbeiträge für andere Klimaschutzmaßnahmen, wie beispielsweise Projekte der Energiewende aus Mitteln des Energie- und Klimafonds, generiert. Schon seit fast einem Jahr liegt der Zertifikatepreis im einstelligen Euro-Bereich – aktuell bei ungefähr 7 Euro. Seitens der EU-Kommission gewünscht und erwartet waren zu Beginn 30 Euro. Hauptgrund für das geringe Preisniveau ist das große Angebot an Emissionszertifikaten im Markt, was vor allem auf die Finanz- und Wirtschaftskrise und die in großem Umfang eingeräumte Möglichkeit zurückzuführen ist, dass sich Unternehmen Emissionsminderungen aus den Instrumenten Clean Development Mechanism (CDM) und Joint Implementation (JI) gutschreiben lassen können. Die Überschüsse werden aktuell auf bis zu 1,5 Mrd. Einheiten geschätzt, wobei eine nennenswerte Reduzierung auch bis 2020 nicht absehbar ist. Eine zeitnahe Wiederherstellung eines ausreichenden Preissignals ist nicht zu erwarten.

Um auf diese Fehlentwicklungen zu reagieren, hat die EU-Kommission Ende Juli einen Vorschlag zur Änderung des Zeitplans für die Versteigerung von Emissionszertifikaten in der dritten Handelsphase (2013 bis 2020) unterbreitet. Die Kommission soll demnach die Möglichkeit erhalten, in den bisherigen Zeitplan einzugreifen und die anstehenden Auktionen zu verschieben, um eine vorübergehende Verknappung und damit Verteuerung der Zertifikate zu erreichen. Zunächst ist es ein grundsätzlich richtiger Weg, das Überangebot an Emissionsrechten zu reduzieren. Die Frage ist jedoch, wie lange die Zertifikate dem Markt entzogen werden und welche dauerhaften Effekte zu erwarten sind. Ein temporäres Zurückhalten von Zertifikaten, die dann aber bis 2020 doch wieder vollständig in den Markt gelangen, hätte wahrscheinlich nur einen kurzfristigen Preiseffekt, dessen Höhe unsicher ist. Wirkungsvoller scheint es zu sein, die notwendige Menge an Emissionszertifikaten für einen längeren Zeitraum einzubehalten oder gegebenenfalls gänzlich stillzulegen. Doch auch dann ist es offen, ob ein solches Vorgehen alleine ausreichend ist. Diskutiert werden sollte auch eine ergänzende Verschärfung des europäischen Klimaschutzziels von einer 20%-igen Reduktion bis 2020 auf 25% oder 30%. Übertragen auf den Emissionszertifikatehandel würde dies auch eine Verschärfung der jährlichen linearen Verknappung der Zertifikatemenge von den derzeit vorgesehenen 1,74% auf 2,5% bis 4% notwendig machen. Zudem sollte darüber nachgedacht werden, die Möglichkeiten der Nutzung von Emissionsminderungsgutschriften aus CDM und JI zu reduzieren oder zumindest nicht weiter zu erhöhen.

Trotz mancher Fehlentwicklungen kommt ihm als wichtigstem klimapolitischen Instrument der EU und weltweit größtem länderübergreifenden Emissionshandelssystem auch eine wichtige Bedeutung als Vorbild bei der Umsetzung einer marktorientierten Klimapolitik zu. Derzeit benötigt der Emissionszertifikatehandel jedoch Hilfe – und die sollte er bekommen. Da die Zeit drängt, sollte dies so schnell wie möglich, aber trotzdem nicht durch einzelne Schnellschüsse, sondern im Rahmen einer abgestimmten Kombination von unterschiedlichen Weiterentwicklungen geschehen. Wenn der Vorstoß von EU-Klimakommissarin Connie Hedegaard dazu führt, dass diese Diskussion wieder neue Fahrt aufnimmt, hat er schon einiges bewirkt.

Gesundheitsfachberufe: Akademisierung überfällig

Von Stefan Greß

In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme hat sich der Wissenschaftsrat für neue Qualifizierungswege für Gesundheitsfachberufe (Pflege, Physio-, Logo- und Ergotherapie sowie Geburtshilfe) ausgesprochen. Zur Sicherung der Qualität in der Gesundheitsversorgung werde es immer wichtiger, dass auch Angehörige dieser Berufe vermehrt eigenständig und evidenzbasiert handeln und ihre professionelle Tätigkeit auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse reflektieren könnten. Daher sollte ein Teil der Angehörigen dieser Berufe – der Wissenschaftsrat spricht von einem Anteil von 10% bis 20% – auch an Hochschulen ausgebildet werden. Besonders bemerkenswert ist die Forderung des Wissenschaftsrats, dass sich auch medizinische Fakultäten an den Universitäten für solche Studiengänge öffnen sollten.

Die reflexhafte Reaktion der Universitätsmedizin erfolgte prompt. Die Arbeitsgemeinschaft Hochschulmedizin – nach eigenen Angaben ein Zusammenschluss der maßgeblichen Institutionen der deutschen Hochschulmedizin – lehnte die Initiative des Wissenschaftsrats rundweg ab. Es sei sachlich nicht begründbar, warum ein weltweit anerkanntes und funktionierendes dreijähriges duales Ausbildungssystem durch ein dreijähriges akademisches Studium ersetzt werden solle. Aus Patientensicht ergebe sich keinerlei Vorteil. Allenfalls intensivierte Weiterbildungsmöglichkeiten an den Universitäten seien vorstellbar.

Die Initiative des Wissenschaftsrats ist jedoch uneingeschränkt zu begrüßen. Im Gegensatz zum europäischen Ausland werden Gesundheitsfachberufe in Deutschland vorwiegend an Fachschulen qualifiziert. Die Absolventen verfügen über ausgeprägte praktische Kompetenzen. Ihnen fehlen im Regelfall aber wissenschaftliche Kompetenzen, um auf Grundlage vorhandener Evidenz handeln und ihre eigene Tätigkeit angemessen reflektieren zu können. Darüber hinaus wird die Kommunikation mit den akademisch ausgebildeten Ärzten erschwert. In Zeiten zunehmender Versorgungskomplexität und einer sich verändernden Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsberufen sind diese Defizite nicht länger hinnehmbar. Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass sich bei entsprechender Qualifikation etwa von Pflegenden durchaus Vorteile für Patienten beispielsweise durch verbesserte Kommunikation ergeben.

Es ist daher unzweifelhaft, dass ein Teil der Angehörigen von Gesundheitsfachberufen zukünftig akademisch qualifiziert werden wird. Momentan liegt dieser Anteil zwar deutlich unter den genannten 10% bis 20%. Im Rahmen einer Modellklausel qualifizieren jedoch heute schon Fachhochschulen die Angehörigen von Gesundheitsfachberufen auf akademischem Niveau. Enge Kooperationen mit Praxiseinrichtungen wie Kliniken, Pflegeheimen und Geburtshäusern sorgen dafür, dass die Absolventen auch über die praktischen Kompetenzen zur Ausübung ihrer Profession verfügen. Damit leisten die beteiligten Hochschulen einen wertvollen Beitrag, die Attraktivität der Berufsbilder zu stärken und den Fachkräftemangel in diesem Bereich zu überwinden. Langfristig wird sich auch die Universitätsmedizin diesem Trend nicht entziehen können. Die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe ist jedoch nicht zum Nulltarif zu haben. Zum einen bedarf es entsprechender finanzieller Anreize für die beteiligten Hochschulen. Zum anderen muss sich die akademische Qualifikation auch in der Vergütung der Absolventen widerspiegeln.


DOI: 10.1007/s10273-012-1412-1

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