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Eine Antwort auf die Generalfrage der Konferenz: „Verdient der Markt noch unser Vertrauen?“ fällt schwer, weil unsere gemischte Wirtschaftsordnung verschiedenste Märkte und dazu zahlreiche Nicht-Märkte, die direkt vom Staat beherrscht werden, umfasst. In einer ersten Annäherung könnte man, wie in Abbildung 1, drei breitgefasste Sektoren unterscheiden:

  • Die Realwirtschaft ist, gemessen an Kennzahlen wie der Wertschöpfung oder der Zahl der Beschäftigten, der mit Abstand bedeutendste Sektor. Dort findet man Märkte für Kraftfahrzeuge, Friseurdienstleistungen, Frühstücksbrötchen oder Messwerkzeuge, und es scheint nicht, als habe das Vertrauen in diese Märkte während der letzten Jahre gelitten. Für einen Vertrauensverlust gäbe es auch gar keinen Grund: Zwar ist die Realwirtschaft, wie alle menschengemachten Institutionen, durchaus unvollkommen, doch hat der Grad der Unvollkommenheit keineswegs zugenommen. Ganz im Gegenteil: Die Realwirtschaft hat sich nach der großen Rezession 2008/2009 erstaunlich schnell erholt, und in Deutschland haben vor allem die Arbeitsmärkte die in sie gesetzten Hoffnungen übererfüllt, denn die Beschäftigungslage stellt sich derzeit besser dar als vor der Krise.
  • Bezüglich der beiden anderen Sektoren, nämlich der Finanzindustrie und dem Staat, fällt das Urteil weniger schmeichelhaft aus. Beide haben in den vergangenen Jahren erheblich an Vertrauen verloren; die Finanzindustrie durch unzählige Skandale und Machenschaften, die europäischen Staaten durch fortgesetzte Verstöße gegen den Lissabonner Vertrag, insbesondere gegen das Beistandsverbot und das Schuldenankaufsverbot. Diese Rechtsbrüche bleiben nur deshalb ungeahndet, weil es oberhalb der Staatsebene keine weitere Instanz gibt.

Aufgrund der Grenzen, die eine so simple Dreiteilung wie die hier vorgeschlagene nun einmal hat, sei betont, dass die vorstehende negative Wertung keineswegs für jeden einzelnen Akteur aus Staat und Finanzwirtschaft gilt. Ganz im Gegenteil sind zahlreiche staatliche und finanzwirtschaftliche Institutionen weiterhin ebenso vertrauenswürdig wie die Institutionen der Realwirtschaft; gleichwohl stinkt der Fisch in beiden Fällen vom Kopf her.

Während der letzten Jahre musste sich jedem nüchternen Beobachter der Eindruck aufdrängen, dass sich die beiden kleineren Sektoren – Finanzindustrie und Staat – verbündet haben, um die Realwirtschaft gemeinsam auszunehmen. Hierfür sprechen

  1. ihre starke Verflechtung (die meisten großen Banken wie die Förderbank KfW, die Landesbanken oder die Commerzbank gehören ganz oder zum Teil dem Staat),
  2. ihre ideologische Verbundenheit (typische Vertreter dieser Sektoren sind risikoneutral, beziffern die „lange Frist“ mit drei Monaten und frönen einer Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität) und
  3. die wechselseitige finanzielle Abhängigkeit (Staaten brauchen Bankkredite, um Ausgaben zu finanzieren, Banken brauchen staatliche Bailouts, um auch in einer riskanten Welt mit Eigenkapitalquoten von 2% zu überleben).

Ein krasses Beispiel für die unheimliche Kumpanei von Finanzindustrie und Staat ist der unter der großen Koalition beschlossene § 340e Abs. 3 HGB, eine kaum bekannte Norm, die selbst in der Fachpresse noch nie erwähnt wurde. Seit dem Gründerkrach von 1873 galt im deutschen Handelsrecht das Realisationsprinzip, wonach Gewinne erst bei Realisation ausgewiesen werden dürfen. Hiermit sollte Blasenbildungen insbesondere bei Finanzaktiva entgegengewirkt werden. Seit 2010 schreibt § 340e Abs. 3 HGB den Ausweis unrealisierter Gewinne aus Finanzinstrumenten des Handelsbestands vor. Im nächsten Boom werden die Finanzinstitute „hohe Gewinne“ ausweisen und ausschütten; kollabieren die Finanzmärkte hernach, werden diese Mittel fehlen, und die Realwirtschaft wird voraussichtlich erneut in Geiselhaft genommen. Man mag fragen, wie der Deutsche Bundestag unter dem Eindruck der Finanzkrise ein so unverantwortliches Gesetz verabschieden konnte. Die einzig plausible Antwort findet sich in § 6 Abs. 1 Nr. 2b EStG. Hiernach sind die Buchgewinne auch für die Besteuerung maßgeblich. Als Folge ihrer Kurzfristorientierung teilen sich Finanzindustrie und Staat gewissermaßen den Kuchen, indem sie Boni, Dividenden und Steuereinnahmen auf Scheingewinne kassieren.

Die auf öffentlicher Bühne ausgetragenen rhetorischen Gefechte zwischen Banken und Politik können über deren ungemein enge Verknüpfung und ihr gemeinsames Interesse nicht hinwegtäuschen. Nur gelegentlich und eher zufällig, etwa wenn ein Banker seinen Geburtstag im Kanzleramt feiert (was bei einem Stahlmanager undenkbar wäre), wenn ein Abgeordneter siebenstellige Summen mit Vorträgen bei Banken verdient oder wenn bekannt wird, dass Finanzmarktgesetze von Lobbyisten geschrieben werden, die zu diesem Zweck eigene Büros im Bundesfinanzministerium unterhalten, scheint ein wenig dieser Verbundenheit durch.1

Abbildung 1
Märkte und Staat
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Schulden

Unter allen Vorwürfen, die der Finanzbranche entgegengebracht werden, ist einer unberechtigt, nämlich die Behauptung, die letzte Finanzkrise sei hauptsächlich der Bankergier geschuldet. Den Schilderungen Robert Shillers und vieler anderer zufolge ist die Genesis von Finanzkrisen viel komplexer, und eine kurze Erinnerung an die Jahre vor 2007 zeigt Folgendes: Privatkäufer zahlten in den USA, Spanien und andernorts immer höhere Preise für Immobilien und verschuldeten sich über Gebühr; Banken gewährten diese Kredite zu bereitwillig; Wirtschaftsprüfer testierten die Jahresabschlüsse und vermochten keine Gefahren zu erkennen; die Finanzaufsicht begleitete den ganzen Prozess ohne Beanstandung; Journalisten und Politiker feierten zunehmende Bautätigkeit und Eigentumsquoten.

Kurzum, die Finanzkrise resultierte nicht aus dem Versagen einzelner Akteure, sondern sie war, wie auch die Finanzkrisen vor ihr, Ausdruck eines kollektiven Versagens, für das Shiller den treffenden Ausdruck social contagion geprägt hat: Bei scheinbar nachhaltig steigenden Preisen steckt einer den anderen mit seinem Optimismus an, und schließlich lenkt auch der letzte Skeptiker ein. Es ist deshalb verfehlt, Markt und Staat gegeneinander auszuspielen und die Finanzkrise als Marktversagen zu interpretieren, das durch staatliche Regeln vermieden werden könne. Ganz im Gegenteil versagten Markt, Staat und Zivilgesellschaft kollektiv. Hiervon abgesehen erscheint die Finanzaufsicht weltweit völlig überfordert, sie reagiert nicht einmal auf detailliert belegte Betrugsanzeigen.2 Investmentbanker durch Bürokraten mit Lehrergehältern bewachen zu lassen, ist ähnlich originell wie die Bewachung eines Löwengeheges durch Kaninchen, da darf man sich nichts vormachen.

Die der Regulierungseuphorie unterliegende Idee, alle Marktakteure durch Regelkorsetts wie Basel III oder Solvency II in den Gleichschritt zu zwingen, ist inzwischen sogar ein eigenständiger Risikofaktor; jeder Oberst, der vor Überquerung einer Brücke den Gleichschritt aufhebt, versteht das sofort. Indem der Gesetzgeber Parallelverhalten der Finanzmarktakteure erzwingt, erliegt er einem mikroökonomischen Kurzschluss. Makroökonomisch ist diese Politik völlig verfehlt, weil nicht alle Marktteilnehmer zum gleichen Zeitpunkt aussteigen können.

Wirksame Beiträge zur Finanzstabilität können nicht von immer kleinteiliger werdenden Regulierungen erwartet werden, sondern von einer Rückbesinnung auf ordnungspolitische Grundregeln. Hierbei ist insbesondere in Richtung der Haftung zu denken, die laut Eucken zu den konstitutiven Regeln der Marktwirtschaft gehört. Eine Haftungsverschärfung verlangt wesentlich höhere Eigenkapitalquoten der Banken als die heute üblichen,3 möglicherweise auch ein Verbot haftungsbeschränkter Rechtsformen. Diese Lösungen werden zur Wiederherstellung eines marktwirtschaftlichen Haftungsregimes aber nicht ausreichen, sondern sie müssen mit einer Zerschlagung großer Institute verbunden werden, weil Insolvenz andernfalls keine teilspielperfekte Drohung wäre. Die heutige Situation hat nichts mit Marktwirtschaft zu tun und ist unhaltbar: Ein als Großbank getarnter Hedgefonds mit einer Bilanzsumme in Höhe des deutschen Volkseinkommen operiert hier mit 2,5% Eigenkapital und hält strukturierte Vermögenswerte im Wert von über 1 Billion Euro, die – mangels liquider Märkte – zum großen Teil gemäß „mark to model“ bewertet werden, also nach einer vom Unternehmen selbst gewählten mathematischen Methode, die ebenso wie die meisten Modelle der Regulierer auf der Hypothese unabhängig identisch verteilter Störgrößen beruht.4

Eine letzte Anmerkung zur Regulierung, in deren Details sich erneut die symbiotische Verbundenheit von Staat und Finanzindustrie zeigt: Während Mittelstandskredite und Immobilien als riskante Anlagen mit ordentlich Eigenkapital zu unterlegen sind, gilt das für europäische Staatsanleihen nicht; sie sind qua Definition vollkommen sicher. Der Grund für diese Merkwürdigkeit liegt auf der Hand: Unter dem Deckmantel des Konsumentenschutzes verbilligen die Staaten ihre eigene Refinanzierung.

Schuldenbremsen und Staatsverschuldung

Während der Vertrag von Maastricht bzw. der Stabilitäts- und Wachstumspakt, dessen strikte Befolgung die Teilnehmer der Eurozone einst wortreich beschworen, eine maximale Schuldenstandsquote von 60% vorschreibt, lag diese Quote schon vor Ausbruch der Finanzkrise permanent über dem Schwellenwert (vgl. Abbildung 2). Seither ist die Schuldenstandsquote der Eurozone beängstigend angewachsen, und sie steigt auch weiterhin. Der Wert 90%, der laut Reinhart und Rogoff5 erfahrungsgemäß als kritisch anzusehen ist, wird wohl in diesem oder im nächsten Jahr überschritten werden.6

Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob die teils tradierten, teils neuen Regeln zur Begrenzung der Staatsverschuldung in naher Zukunft wirken werden. In Bezug auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt fällt die Antwort leicht, denn er hat seit 15 Jahren nicht funktioniert, und nirgends ist ein Argument ersichtlich, warum er in Zukunft funktionieren sollte.

Wie verhält es sich aber mit den neuen Instrumenten, namentlich der deutschen Schuldenbremse gemäß Art. 109, 115, 143d GG und dem europäischen Fiskalpakt, der dieser nationalen Regelung nachempfunden wurde? Zur nationalen Regelung habe ich mich noch vor gut zwei Jahren verhalten optimistisch geäußert, weil ich glaubte, in Sachen Neuverschuldung habe nicht zuletzt unter dem Eindruck der europäischen Schuldenkrise ein grundlegendes Umdenken stattgefunden.7 Angesichts der seither verfügbar gewordenen Informationen sehe ich die Dinge jetzt anders, und zwar vor allem aufgrund des Haushaltsgebarens der Bundesregierung, die auch im dritten Jahr eines phantastischen Aufschwungs massive Defizite plant und dafür den Euphemismus „wachstumsfreundliche Konsolidierung“ erfunden hat, also offenbar meint, oder zumindest vorgibt, Wachstum setze staatliches Schuldenmachen voraus.

Noch schockierender stellt sich die Mittelfristige Finanzplanung des Bundes8 dar, in der das Bundesfinanzministerium ungerührt dasselbe „Zickzackdiagramm“ präsentiert, das wir seit Jahrzehnten zur Genüge kennen: Im Haushaltsjahr ist die Nettoneuverschuldung unannehmbar hoch, aber immerhin sinkt sie im Planungszeitraum beständig, und im fünften Jahr ist der Haushalt dann ausgeglichen. So versprach es Minister Eichel für 2004. So versprach es Minister Steinbrück für 2011. Und so verspricht es nun Minister Schäuble für 2016. Leider kam in der Vergangenheit immer irgendetwas dazwischen, weil sich die Realität nicht an die zugrundeliegenden störungsfreien Projektionen halten wollte. So wird es auch in Zukunft sein, und zwar national und erst recht auf europäischer Ebene, wo die fiskalische Allmende durch Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), Emergency Liquidity Assistance (ELA), Outright Monetary Transactions (OMT) & Co. die Anreize für solides Haushaltsgebaren erheblich verschlechtert hat. Möglicherweise dauert es nicht mehr lange, bis die Kapitalmärkte nicht nur die Schuldentragfähigkeit einzelner Staaten der Eurozone in Frage stellen, sondern die Schuldentragfähigkeit der Eurozone insgesamt.

Abbildung 2
Staatsschuldenquote der Miedgliedstaaten der Eurozone (EU-17)

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Quelle: Eurostat.

Fazit

Zusammenfassend möchte ich meine persönliche Antwort auf das Generalthema wie folgt formulieren: Mein Vertrauen in die Märkte der Realwirtschaft ist ungetrübt, während ich Finanzmärkten und den mit ihnen verbandelten Staaten noch stärker misstraue als früher. Die entscheidende Grenzlinie verläuft nicht zwischen Markt und Staat, sondern zwischen der Realwirtschaft auf der einen Seite und Finanzindustrie und Staat auf der anderen.

Diese Grenzziehung lässt sich auf die internationale Ebene übertragen, denn es ist falsch, traurig und gefährlich, dass die Schuldenkrise die europäischen Völker, die eigentlich im selben Boot sitzen und von ihren jeweiligen Regierungen und Banken ausgeplündert werden, gegeneinander aufbringt. Der deutsche Mechaniker sollte nicht den griechischen Lehrer oder den spanischen Hotelier als Gegner betrachten, sondern insbesondere den feinen Kreis der „Staats- und Regierungschefs“, dessen Mitglieder durch unerfüllbare Wahlversprechen und deren Teilfinanzierung durch Budgetdefizite an ihre Posten gekommen sind und deren wichtigstes Ziel entgegen aller rhetorischen Bemäntelung darin besteht, die Schuldenmusik in Kollaboration mit der Finanzindustrie auch künftig ungebremst spielen zu lassen.

  • 1 Report Mainz : Bankenlobby im Hause Eichel: Wie im Finanzministerium Banker an Gesetzen mitschreiben, vom 6.10.2003; S. Adamek, K. Otto: Der gekaufte Staat. Wie Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben, Köln 2008.
  • 2 H. Markopolos: No One Would Listen. A True Financial Thriller, Hoboken, New Jersey 2011. Episches Werk über Bernie Madoffs Schneeballsystem und die jahrelangen erfolglosen Versuche des Autors, es durch die Securities and Exchange Commission (SEC) zu Fall zu bringen.
  • 3 Obwohl viele Banken mit zweistelligen Kernkapitalquoten operieren, liegen ihre Eigenkapitalquoten typischerweise bei 2%. Die beiden Quoten werden oft verwechselt oder gleichgesetzt.
  • 4 Vgl. Konzernabschluss der Deutschen Bank, www.unternehmensregister.de (21.01.2013). Darin wird eine Bilanzsumme von 2164 Mrd. Euro ausgewiesen, der ein Eigenkapital von 55 Mrd. Euro gegenübersteht.
  • 5 C. M. Reinhart, K. Rogoff: Growth in a Time of Debt, NBER Working Paper, Nr. 15639, Januar 2010.
  • 6 Laut Eurostat betrug die konsolidierte Bruttoschuld der Eurostaaten im 3. Quartal 2012 exakt 90,0% des Bruttoinlandsprodukts.
  • 7 Stenographisches Protokoll 15/17 des Haushaltsauschusses des Deutschen Bundestags vom 19.4.2010, S. 39.
  • 8 Finanzplan des Bundes 2012 bis 2016, Bundestagsdrucksache, 17/10201, S. 11.

Title:Debt, Debt Brakes and Sovereign Debt

Abstract:The article discusses the close collaboration between governments and the financial industry. The author argues that governments and banks have formed an alliance against the real sector. He considers recent banking regulations as basically useless, if not dangerous, and proposes to split up large banks and to increase capital requirements. The problem of excessive indebtedness within the eurozone is also discussed.

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DOI: 10.1007/s10273-013-1485-5

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