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Zu Beginn der Wirtschaftskrisen wurde der Ruf nacheinem grundlegenden Überdenken der gängigen Erklärungsmuster zur Wirkungsweise von Märkten laut. Denn die vorherrschenden theoretischen Ansätze vermochten diese Krise nicht zu erklären. Die endgültige Antwort auf die immer wieder gestellte Frage, warum die Ökonomen die Krise nicht kommen sahen, steht noch aus. Aber immerhin eröffnet sich durch die offensichtlich unzureichende Erklärungskraft der Theorien die Chance, einen Paradigmenwechsel in der ökonomischen Wissenschaft einzuleiten, der zu einem realistischeren Abbild von Märkten und der Vermeidung von Dysfunktionen und Instabilitäten führen sollte.

Ist unser Vertrauen in den Markt und dessen inhärente Stabilität noch gerechtfertigt? Richtet sich die Politik darauf ein, dauerhaft Märkte zu stützen, deren Funktionsfähigkeit immer als perfekt galt? Wie beurteilt die Wirtschaftswissenschaft die Aktionen und Reaktionen von Wissenschaft, Markt und Politik der letzten Jahre? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Konferenz „Verdient der Markt noch unser Vertrauen?“, die im November 2012 in Berlin stattfand. Sie wurden aus wissenschaftlicher und in einem Schlusspanel auch aus politischer Perspektive von Vertretern aus Wissenschaft und Politik erörtert.

Der traditionellen ökonomischen Theorie zufolge, hätte es zu der aktuellen Finanz- und Schuldenkrise gar nicht kommen können. Spekulative Blasen und überschießende Zinsausschläge, wie sie in jüngster Zeit zunächst auf den Immobilienmärkten, dann auf den Aktien- und Rohstoffmärkten und schließlich auf den Märkten für Staatsanleihen auftraten, wären demnach lediglich vorübergehende Störungen gewesen, die sich automatisch und geräuschlos zurückgebildet hätten. Die Wirtschaft wäre auf ihren früheren Gleichgewichtspfad zurückgekehrt. Die Argumentation zur inhärenten Stabilität von Märkten klingt vom Grundsatz her auch heute noch überzeugend: Wenn der Kurswert eines Investitionsobjekts (einer Immobilie, eines Rohstoffs, einer Aktie, einer Staatsanleihe) im langfristigen Mittel etwa seinem Fundamentalwert entspricht, dann gibt es bei Abweichungen zwischen diesen beiden Werten eine größere Wahrscheinlichkeit für eine Kursbewegung zum Fundamentalwert hin als von ihm weg. Spekulanten, die auf eine Ausweitung der Abweichung setzen, werden also im statistischen Mittel Verluste erleiden. Spekulanten dagegen, die auf eine Rückkehr des Kurswertes zum Fundamentalwert setzen, werden Gewinne erzielen und durch ihre Investition die Kursbewegung in diese Richtung verstärken. Das Fazit dieser sogenannten Effizienzmarkthypothese lautet, dass gewinnbringende Spekulanten tendenziell die Kurse stabilisieren und destabilisierende Spekulanten automatisch vom Markt verschwinden, da ihnen auf Dauer das Geld ausgehen wird.

Eine zentrale Frage der Konferenz lautete, wie die Marktturbulenzen der letzten Jahre erklärt werden können, wo doch die ökonomische Theorie klar belegt, dass es solche Turbulenzen eigentlich gar nicht geben kann. Wie steht es also um die stabilisierende Wirkung von Spekulationen? Diese Frage führt unmittelbar zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Annahmen zu ökonomisch-rationalem Verhalten. Der Lösungsweg, den immer mehr Ökonomen einschlagen, liegt in der Ergänzung der herkömmlichen rein ökonomischen Theorie um Elemente aus der Sozialpsychologie, die menschliches Verhalten wesentlich realistischer abbildet. Auf der Konferenz wurde ausgelotet, welchen Beitrag diese verhaltensökonomischen Ansätze zur Erklärung und möglichst auch zur Vermeidung krisenhafter Marktturbulenzen leisten können.1

Verhaltensökonomik

Die Diskrepanzen zwischen den Vorhersagen der traditionellen ökonomischen Theorie und den tatsächlichen Abläufen auf verschiedenen Märkten sind derart groß geworden, dass sich mittlerweile immer mehr Ökonomen zumindest partiell vom Konzept des Homo Oeconomicus verabschieden. Bahnbrechend dafür war die sogenannte Prospekt-Theorie, für deren Entwicklung David Kahneman und Amos Tversky 2002 den Nobelpreis verliehen bekamen. Der Kern dieser Theorie ist eine neu formulierte Nutzenfunktion, in der der individuelle Nutzen eines Konsumenten nicht von der absoluten Menge an verfügbaren Konsumgütern abhängt, sondern von der Veränderung dieser Menge. Zusätzlich wird unterstellt, dass negative Veränderungen (Verluste) stärker gewichtet werden als positive Veränderungen (Gewinne). Diese Annahmen sind sozialpsychologisch gut fundiert.2

Entscheidend zur Popularität der Verhaltensökonomik beigetragen hat das Buch von Akerlof und Shiller,3 in dem sie die „animal spirits“ in den Mittelpunkt stellen. Dieser von John Maynard Keynes entlehnte Begriff soll verdeutlichen, wie sehr menschliches Verhalten von (animalischen) Instinkten und wie wenig es von der Vernunft geleitet wird. Von einer etablierten, auf empirisch gesichertem Mikrofundament ruhenden Verhaltensökonomik sind wir allerdings noch weit entfernt. Die Probleme bei der Integration sozialpsychologischer Aspekte in die traditionelle Theorie rühren letztlich daher, dass wissenschaftlicher Fortschritt in der Ökonomie allzu oft als Fortschritt bei der konsistenten Modellierung ökonomischer Sachverhalte begriffen wird. Konsistent heißt dabei, dass sich in den einzelnen Analyseschritten und Modellergebnissen keine Widersprüche zu den Modellannahmen ergeben – und eine ganz zentrale Annahme ist dabei die des rationalen Verhaltens. Dieser Methodik ist irrationales Verhalten also gar nicht zugänglich.

Zur Lösung dieses Problems reicht es allerdings nicht aus, in den ökonomischen Modellen den herkömmlichen „rationalen Agenten“ willkürlich durch einen „irrationalen Agenten“ zu ersetzen, da dies in die Beliebigkeit führen würde. Die Verhaltensannahmen bedürfen einer empirischen Fundierung. Es gibt daher zahlreiche ernst zu nehmende Ökonomen, die der Verhaltensökonomik äußerst skeptisch gegenüberstehen und die trotz der unübersehbaren Realitätsferne dafür plädieren, dem aus theoretischer Perspektive bewährten Homo Oeconomicus treu zu bleiben. Doch wie erklärt man dann die Krise? Auch dieser Disput reichte in unsere Konferenz hinein.

Die Kritik an den Unvollkommenheiten der Verhaltensökonomik ist ohne Zweifel berechtigt, doch es ist nicht zu übersehen, wie sich mittlerweile als Ergebnis einer umfangreichen experimentellen Forschung und einer Öffnung der Ökonomie gegenüber der Sozialpsychologie verschiedene Grundmuster herauskristallisieren, die verbreitete Verhaltensweisen bei wirtschaftlichen Entscheidungen zumindest ansatzweise vorhersagbar machen. Können sie vielleicht in Zukunft den Grundstock einer neuen Theorie bilden, die in sich ähnlich konsistent sein könnte wie heute die neoklassische Nutzentheorie?

Mechanismen des Finanzwesens

Die in diesem Heft dokumentierten Vorträge setzen sich aus unterschiedlicher Perspektive mit Dysfunktionen des (Finanz-)Marktes auseinander. Sie zeigen, wie durch die Ereignisse der letzten Jahre das Vertrauen der Bürger in das Finanzwesen auf die Probe gestellt wurde und wird. Will man wissen, ob den Märkten – und hier offensichtlich in erster Linie den Finanzmärkten – noch zu trauen ist, gilt es zunächst, die Mechanismen des Finanzwesens zu verstehen und Schwachstellen zu entdecken, die der schönen Welt inhärenter Stabilität widersprechen. Diesem Thema widmete sich der Vortrag von Thomas Lux. Er fragt, warum der in der Theorie so elegant dargestellte Finanzmarkt schließlich an seiner eigenen Gesetzmäßigkeit gescheitert ist. Er sieht im – gegenüber der theoretischen Annahme vollkommener Information – gravierenden Informationsdefizit sowie in Informationsasymmetrien wesentliche Ursachen der Krise. Lux weist darauf hin, dass Derivate und andere Finanzinstrumente, die durch die Deregulierung der Märkte zum Einsatz kommen konnten, als Instrumente zur Stabilisierung gedacht waren. Da die Stabilität von Finanzmärkten an sich nie in Frage gestellt wurde, schien diese Einschätzung plausibel.

Will man aber verstehen, was geschehen ist, darf man auch die Entwicklung eines neuen Paradigmas nicht scheuen, das nicht auf einem „unbedingten Glauben an die Markteffizienz“ beruht. Eine kritische Diskussion der Effizienzmarkttheorie, für deren Gültigkeit empirische Beweise bisher ausstehen, führt zu der Frage, wie sich Informationen, die Marktreaktionen hervorrufen, in Preisen niederschlagen. Hier erweisen sich von der Ökonomie nicht berücksichtigte Phänomene wie das Herdenverhalten als aussagekräftiger als die gängige Vorstellung von „rationalem“ Verhalten. Basierend auf Shillers Arbeiten zu Ex-ante- und Ex-post-Preisen werden erratische und krisenbehaftete Bewegungen auf den Aktienmärkten erläutert. Das Auseinanderfallen beider Preise führt offensichtlich zu Fehleinschätzungen in der Risikobewertung. Da sich also die These von der inhärenten Stabilität der Finanzmärkte als irrig erweist, kommt Lux zu dem Schluss, dass das Deregulierungsexperiment gescheitert ist.

Das Erstaunen der Ökonomen darüber, dass neue Finanzprodukte als Stabilisatoren des Marktes versagen, wird mit der Verwurzelung der Finanzmarkttheorien in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie erklärt. Warum Derivate letztlich eher „toxisch“ als „pareto-optimal“ wirkten, wird anhand der Unzulänglichkeiten dieser Theorie erläutert. Als besonders fatal erwies sich nach Einschätzung von Lux die Ausblendung des Finanzsektors aus der makroökonomischen Betrachtung. Hier wurde keine Veranlassung gesehen, sich mit zyklischen Krisen oder ähnlichen Phänomenen auseinanderzusetzen, da der Sektor als höchst effizient auch beim quasi-automatischen Ausgleich von Schwankungen galt.

Ein alternatives Paradigma müsse, so Lux, den Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes und die Vorstellung von sich immer rational verhaltenden Akteuren aufgeben. Zudem sei es notwendig, nicht ausschließlich Optimierungsmodelle für einzelne Wirtschaftssubjekte zu entwerfen, sondern die Wechselwirkungen im Verhalten verschiedener Akteure einzubeziehen. Er mahnt eine Prüfung der Gültigkeit von aus mathematischen Modellen abgeleiteten Schlussfolgerungen durch empirische Studien an. Um Risiken beurteilen zu können, müssen Finanzgeschäfte transparent dokumentiert werden. Hier sieht Lux ordnungspolitischen Handlungsbedarf. Finanzmarktregulierung solle empirische Erkenntnisse einbeziehen und „systemrelevante“ Konstellationen verhindern: Eine Trennung von Investment- und Kundengeschäft könnte erwogen werden.

Vertrauen in die Sicherheit des Kapitalmarktes

Abgerundet wurde der erste Teil der Konferenz mit einem Vortrag von Carl Christian von Weizsäcker zur Frage, ob die Ansätze zum Abbau von Staatsverschuldung geeignet sind, das Vertrauen der Bürger in die Sicherheit ihrer Vorsorgebemühungen zu rechtfertigen. Carl Christian von Weizsäcker beleuchtet das Konferenzthema unter dem Blickwinkel des Vertrauens in die Sicherheit und die Vorsorgetauglichkeit von am Kapitalmarkt getätigten Investitionen. Ausgehend von Hayek betont er die Bedeutung von Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft angesichts einer immer stärker auf eine Versorgung durch private Ersparnis für Notfälle und für das Alter angelegten Politik. Er verweist auf die Fragilität eines Systems, in dem Altersvorsorge durch Sparen organisiert wird. Wird die seit 1945 durch ein Umlageverfahren „angstfrei“ gestaltete Altersvorsorge durch ein Kapitaldeckungsverfahren komplementiert oder gar ersetzt, so funktioniert dies nur unter bestimmten Bedingungen auf Geld- und Kapitalmärkten. Werden alle Wirtschaftssubjekte angehalten, größere Anteile ihres Einkommens zu sparen und so anzulegen, dass mindestens die Inflationsrate gedeckt ist und ausreichende Ersparnisse für die Zeit nach der Verrentung zur Verfügung stehen, so treten Engpässe bei der Verfügbarkeit von Anlagemöglichkeiten auf dem Kapitalmarkt auf. Bei einer rein auf Kapitaldeckung basierenden Rente könnte das Vorsorgevermögen im Weltkapitalmarkt gar nicht zu einem Zinssatz untergebracht werden, der einen „Vorsorgealbtraum“ vermeidet.

Das „übermäßige“ Sparen der Individuen lässt sich aber durch Staatsausgaben kompensieren. Nur so kann eine gravierende Nachfragelücke auf Güter- und Kapitalmärkten vermieden werden. Die Neoklassik ignoriert diesen Zusammenhang, weshalb sie eine international geltende Schuldenbremse mit einer hohen Sparquote als Vorsorge­instrument vereinbaren kann. Nach Weizsäcker gelten in der Krise Crowding-out und der Ricardo-Barro-Effekt nicht; das zentrale Problem sei die Kreditnachfrage, nicht das Kreditangebot. Übersteigt das von den Bürgern gewünschte Niveau des Vorsorgekapitals den Bedarf der Wirtschaft an Sachkapital, kann – setzt man eine geschlossene Volkswirtschaft voraus – nur der Staat als Kreditnehmer auftreten und die Vorsorgepläne der Bürger bedienen.

Bezogen auf die gegenwärtige europäische Krise bedeutet dies, dass eine allgemeine Schuldenbremse nicht nur ungeeignet ist, die Krise zu beenden, sondern auch unvereinbar mit einer zur Vorsorge nötigen Ersparnis. Weizsäcker betont, dass es kein Gleichgewicht bei hoher Beschäftigung und Staatsschulden von Null geben wird, da dann keine Anlagemöglichkeit für Vorsorge mehr zur Verfügung steht. Der Sparüberschuss in einem Land muss dann durch Schuldenaufnahme in einem anderen Land kompensiert werden. Entscheidend ist es, dass bei den trotzdem notwendigen Konsolidierungen von Staatsfinanzen erkannt wird, wo die Grenze für die Sparbemühungen liegt, jenseits derer weiteres Sparen zu neuen Verwerfungen führt. Der Staat sollte im Sinne eines „idealen Sozialstaates“ den Menschen einen „Vorsorge-Albtraum“ ersparen, indem er durch Verschuldung den Vorsorgewünschen der Bürger gerecht wird. Bei niedrigen Zinssätzen und einer wachsenden Volkswirtschaft führt dies, wie Weizsäcker zeigt, nicht zu zunehmenden Belastungen für kommende Generationen. Berücksichtigt die Wirtschaftspolitik diese Zusammenhänge, sollte auch das Vertrauen der Bürger in Wirtschaft und Staat wieder zunehmen.

Politik setzt Vielzahl der Beschlüsse um

Der zweite Teil der Konferenz galt dem Blick zurück auf die Finanzmarktkrise und daraus folgenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Es wurde gefragt, was zur Überwindung der Krise und vor allem zur Vermeidung künftiger Krisen getan wurde und ob es das Richtige war. Hier wurden vor allem die neu eingeführten Regulierungsmaßnahmen für den Finanzsektor thematisiert. Sebastian Dullien4 zeigte in seinem Vortrag, dass erstaunlich viele Entscheidungen umgesetzt wurden, die in Verhandlungen zwischen Regierungen der Eurozone, dem IWF und der EZB vereinbart worden waren. Er zweifelt aber daran, dass dies die richtigen Beschlüsse waren. Seine Analyse der Krisenursachen zeigt, dass die ergriffenen Maßnahmen nur sehr bedingt auf die tatsächlichen Probleme der Verfassung von Finanzmärkten antworten. Besonders bedenklich an dem Strauß von Reformen zur Stabilisierung der Märkte sei, dass hier das Vertrauen in die grundsätzliche Fähigkeit des Finanzsystems zur Selbstheilung bei eventuell auftretenden Krisen nicht aufgegeben wird. So glaube die Politik, dass Finanzmärkte im Prinzip weiterhin gut funktionieren.

Die Komplexität der Finanzprodukte ebenso wie die der Vernetzung von Akteuren innerhalb eines einzigen Geschäftes führten dazu, dass weder die Risiken der Transaktionen noch die Systemrelevanz von in Not geratenen Akteuren von den Aufsichtsbehörden erkannt werden konnten. Dullien erörtert anhand von „zehn theoretischen Ursachen“ der Krise, welche Probleme von den Reformen wenigstens im Ansatz gelöst werden können und welche nach wie vor bestehen bleiben, weil weder Politik noch wissenschaftliche Berater bereit sind, ein altes Paradigma aufzugeben. Er konstatiert, dass Regeln zur Stabilisierung der Märkte, wie etwa neue Eigenkapitalauflagen für Kreditgeschäfte oder Regeln zur Vermeidung von Moral-Hazard-Problemen sowie eine Beaufsichtigung von Ratingagenturen und eine bessere Koordinierung der Finanzaufsicht bei aller Skepsis gegenüber einzelnen Maßnahmen in die richtige Richtung weisen.

Problematisch werde es hingegen, wenn sich Maßnahmen als notwendig erweisen, die über den Analyserahmen neoklassischer Modelle hinausgehen. Dullien benennt hier irrationales Verhalten (wie etwa beim Herdentrieb als Entscheidungsgrundlage), die exzessive Komplexität des Finanzsektors und makroökonomische Ungleichgewichte. Insbesondere in Bezug auf die makroökonomischen Ursachen (wachsende Ungleichgewichte in der Einkommensverteilung oder Leistungsbilanzungleichgewichte) besteht ein erheblicher Widerstand, diese in die Analyse der Krisenursachen und folglich in die Strategien zur Vermeidung zukünftiger Krisen einzubeziehen. Nach Dullien stellen daher die Beschlüsse der Krisenmanager eine notwendige Bedingung für die Krisenbewältigung dar. Ein hinreichendes Maßnahmenpaket würde die Anreizproblematik und vor allem makroökonomische Ungleichgewichte einbeziehen sowie sich mit der wachsenden Komplexität des Finanzsystems auseinandersetzen. Dazu müsse aber ein Umdenken stattfinden, das die inhärente Instabilität des Finanzsektors anerkennt und die Verantwortung nicht nur auf die Politik und deren Regulierungsdefizite verschiebt.

Ordnungspolitische Problematik

Im Zuge der Krise des Euroraums wurde eine politische Strategie erkennbar, die Anlass zur Sorge bereitet. Immer wieder mussten Banken gerettet werden – und zwar vom Staat und damit zu Lasten der Steuerzahler. Stefan Homburg zeigt die ordnungspolitische Problematik eines solchen Vorgehens auf. Die in den Beschlüssen der politisch Verantwortlichen manifestierten Maßnahmen kommen nach seiner Auffassung einem Freibrief für die Übernahme zu hoher Risiken gleich, da diese im Bedarfsfall von der Allgemeinheit getragen werden. Das sei auch der Hauptgrund für die steigende Staatsverschuldung im Zuge der Finanzmarktkrise. Homburg plädiert für ein Ende dieser Rettungsstrategie, auch um den Preis eines Bankencrashs. Er entdeckt in den Ursachen der Krise ebenso wie in den Aktivitäten zu ihrer Bewältigung eine ungute Allianz zwischen Finanzwesen und Staat. Diese manifestiere sich in der Eigentumsverflechtung zwischen Banken und Staat, der in beiden Gruppen vorhandenen kurzfristigen Orientierung des Handelns und einer „Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität“ sowie der wechselseitigen finanziellen Abhängigkeit von Staat und Banken. Beispielhaft führt er gesetzliche Regelungen zur Bilanzierung von Gewinnen sowie die Haftungsregelung bei Staatsanleihen an, die sowohl die Interessen der Banken als auch die des Staates an günstiger Refinanzierung bedienen.

Entsprechend wird als Auslöser der Krise nicht nur ein Versagen der Banken, sondern auch der Finanzaufsicht und des Staates gesehen. Grundsätzlich bezweifelt Homburg zwar, dass der Staat Finanzmärkte zähmen könne, immer detailliertere Regulierungen können hier kaum helfen, vielmehr müssen ordnungspolitische Grundregeln, wie sie etwa Walter Eucken gefordert hat, wieder mehr zur Geltung kommen. Dazu gehöre ein strikt angewandtes Haftungsprinzip. Homburg hält zudem eine Zerschlagung von Banken für notwendig, da diese die Stabilität des Finanzwesens zu unterminieren drohen. So zeige die ganze Architektur des Finanzsystems mit vielen Möglichkeiten, sich zwischen regulierten und nicht regulierten Bereichen hin und her zu bewegen, dass hier ein viel umfassenderes Reformprogramm vonnöten sei als das in den bisher verabschiedeten Maßnahmen zum Ausdruck kommende. Die Pläne der Bundesregierung zum Abbau von Staatsschulden überzeugen Homburg nicht – er verweist auf die in schöner Regelmäßigkeit vorgelegten Vorhersagen der Finanzminister, die nie zum versprochenen Schuldenstand von Null führten. Vielmehr befürchtet er eine Ausweitung der Überschuldung von den Krisenstaaten auf den gesamten Euroraum. Homburg sieht schließlich die entscheidende Trennlinie in Bezug auf das Vertrauen der Bürger in die Marktwirtschaft nicht zwischen Bürgern und Märkten, sondern zwischen der Realwirtschaft auf der einen Seite, die ihm durchaus vertrauenswürdig erscheint, sowie Staat und Finanzwirtschaft auf der anderen Seite. Betrachte man die europäische Krise unter diesem Blickwinkel, erübrigten sich Feindseligkeiten zwischen Ländern und Völkern.

Legitimation der Marktwirtschaft

Von einer grundsätzlicheren Sicht her analysiert Frank Nullmeier die Auswirkungen der Krise auf das Vertrauen der Bürger in die Märkte. Er untersucht, inwiefern das Krisengeschehen die Legitimation der Marktwirtschaft in Frage stellt und wie sich dies in der öffentlichen Meinung niederschlägt. Er erinnert an die zahlreichen Möglichkeiten, Marktwirtschaften auszugestalten und mit einem politischen System zu verbinden, eine Vielfalt, die in einem politischen Prozess, der nur „alternativlose“ Handlungsmuster kennt, leicht in Vergessenheit gerät. Die Gestaltungsmöglichkeiten beziehen sich nicht nur auf die Wirtschaft selbst, sondern auch auf das Verhältnis von Wirtschaft und Politik. Wird die Politik durch die Eigendynamik der Ökonomie handlungsunfähig, so ist in der Tat nach der Bedeutung von Demokratie zu fragen, deren Einfluss wirtschaftlichen Gesetzen, d.h. nicht der demokratischen Legitimierung, unterworfen ist. Als Konsequenz wäre eine Demokratisierung der Ökonomie zu fordern. Stattdessen ist jedoch seit mehr als 30 Jahren eine Ökonomisierung der Politik zu beobachten. Demgegenüber sei, so Nullmeier, eine gegenseitige Übertragung zu fordern, es sollten nicht nur die Regelungsmechanismen der Wirtschaft in der Politik gelten, die Wirtschaft solle sich auch Prinzipien der Politik, wie etwa Gerechtigkeit, unterwerfen. Legitim sei eine Wirtschaftsordnung nur, wenn sie gleichzeitig demokratisch, partizipativ und gerecht ist.

Letztendlich führt ihn diese Argumentation zu einem Prinzip der Verantwortlichkeit von Eliten gegenüber den Bürgern. An die Stelle der unvereinbaren Prinzipien von Wirtschaft und Demokratie entsteht ein Eliten-Verantwortungsmodell. Entscheidungen werden von unabhängigen, gleichwohl in Organisationen tätigen Individuen gefällt. Diese Eliten sind Bürgern und „Kunden“ gegenüber rechenschaftspflichtig. In ihren Entscheidungen greifen sie auf die Expertise der Wissenschaft zurück und bedienen sich des Instruments freier Diskurse. Eliten zeichnen sich damit durch höchste Kompetenz in dem zu „regierenden“ Feld aus. Diese von Nullmeier beschriebene neue Elite wird nun anhand der europäischen Krise auf ihre Durchsetzbarkeit geprüft. Zunächst ist zu fragen, ob die gegenwärtig für die EU geltende Form der Entscheidungsfindung nicht de facto dem Elitenmodell schon sehr nahe kommt – die unüberhörbaren Rufe nach mehr Demokratie scheinen dies zu bestätigen.

Nullmeier belegt die zunehmende Intensität der Debatte um die Legitimität der Marktwirtschaft in Europa mit einer Untersuchung zu Äußerungen über Marktwirtschaft und Kapitalismus in europäischen Medien. Hier lässt sich eine deutliche und dauerhafte Präsenz der Marktwirtschaft und dem Kapitalismus kritisch gegenüberstehender Stimmen finden. Es zeigt sich jedoch, dass diese kritische Haltung nicht in eine Veränderung von Grundhaltungen und Überzeugungen mündet. Auch während der Krise steht der Fortbestand der Marktwirtschaft außer Frage. Es wird zwar nach mehr Demokratie in Europa verlangt, aber die tatsächliche Gestaltung läuft auf eine von Eliten verwaltete „marktkonforme Ausgestaltung der EU“ hinaus, nicht auf eine supranationale Demokratie. Nullmeier sieht hier schließlich Elemente einer Postdemokratie im Sinne von Crouch.5

Abschließende Paneldiskussion

Die politischen Implikationen der spezifischen Art der europäischen Krisenbewältigung wurden in einer Paneldiskussion zwischen Wissenschaftlern und Vertretern der Politik thematisiert. Die politische Schlussdiskussion fokussierte auf die Frage, ob die wirtschaftspolitischen Interventionen der vergangenen Jahre gerechtfertigt, vergeblich oder angemessen gewesen seien. Während man sich auf einige Grundpositionen einigen konnte, so wurden etwa eine höhere Eigenkapitalausstattung der Banken sowie eine grundsätzliche und umfassende Anwendung des Haftungsprinzips von allen Diskussionsteilnehmern befürwortet, zeigte die Diskussion, dass einzelne Maßnahmen und deren Wirkung umstritten sind. Auf der einen Seite stand die Einschätzung, dass die Märkte trotz der jüngsten Krisen ungebrochenes Vertrauen verdienten. Denn die Krisen seien das Ergebnis falscher wirtschaftspolitischer bzw. regulatorischer Entscheidungen gewesen und nicht auf ein originäres Marktversagen zurückzuführen. Auf der anderen Seite wurde angeführt, dass sich gerade wegen der Rücknahmen regulatorischer Beschränkungen der unsichere Charakter der Märkte offenbart habe. Sie bedürften der Bereitschaft des Staates zur Stabilisierung. Ansonsten drohten immer wiederkehrende Krisen. Mit anderen Worten: Zu einem funktionierenden Marktsystem gehört der stabilisierende Staat.

  • 1 Armin Falk hielt hierzu einen Vortrag mit dem Thema: Rettung durch Verhaltensökonomie?, der nicht in diesem Heft erscheint. Er zeigte am Beispiel eines Experimentes, in dem über Leben oder Tod einer Maus individuell oder über Marktmechanismen entschieden werden konnte, dass insbesondere auf einem multilateralen Markt die Preise für das Leben der Maus zusammenbrechen. Er schloss daraus, dass der Markt die Bewertung von Leid und Schäden an Dritten extrem herabsetzt.
  • 2 D. Kahneman, A. Tversky: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica, 47 Jg. (1979), S. 263-291.
  • 3 G. A. Akerlof, R. J. Shiller: Animal Spirits. How Human Psychology Drives the Economy and why it Matters for Global Capitalism, Princeton 2009.
  • 4 Siehe auch S. Dullien: EU-Fiskalunion: Masterplan mit Konstruktionsfehler, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 11, S. 720.
  • 5 C. Crouch: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008.

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DOI: 10.1007/s10273-013-1481-9