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Fast genau ein Jahr ist es her, dass die Staats- und Regierungschefs der EU den Pakt für Wachstum und Beschäftigung verabschiedet haben. Vollmundig versprachen sie auf dem Gipfel im Juni 2012 ein Paket von Maßnahmen zur „Ankurbelung von Wachstum, Investitionen und Beschäftigung und zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas“. Das Signal sollte sein: Seht her, wir setzen nicht nur auf Austerität, sondern auch auf Wachstum. Und um das ganze politische Spektrum mit ins Boot zu bekommen, enthielt der Pakt nicht nur das Versprechen von Strukturreformen, sondern auch jenes für mehr öffentlich geförderte und öffentliche Investitionen. Heute sind alle Beteiligten enttäuscht. Wie man der deutschen Presse entnehmen kann, ist das Kanzleramt frustriert, weil die gewünschten Strukturreformen nicht vorankommen. Und insbesondere in Frankreich ist man genervt, weil die erhofften Investitionsimpulse aus dem Wachstumspakt nicht greifen. Den größten Grund zur Frustration aber haben Europas Bürger. Bislang ist nämlich von einem Wachstumsimpuls in Europa wenig zu erkennen. Im Gegenteil: Die Dynamik in Europa hat sich weiter verschlechtert. Vor einem Jahr ging die EU-Kommission noch von einer zügigen Erholung der Euro-Wirtschaft aus. Die Rezession wurde damals mit einem Gesamtrückgang von lediglich 0,3% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) taxiert, schon zur Jahreswende 2012/2013 sollte die Wirtschaft wieder wachsen. In der aktuellen Prognose sieht die Kommission nun eine Schrumpfung der Euro-Ökonomie von insgesamt 1% über zwei Jahre. Ein erstes, kaum messbares Plus erwartet die Kommission für das zweite Quartal 2013 – allerdings ist selbst diese verzögerte Erholung bislang wenig mehr als ein Hoffnungswert. Die Arbeitslosenquote soll derweil auf den Rekordwert von 12,2% steigen – im vergangenen Jahr hatte die Kommission den Höhepunkt noch auf knapp über 11% taxiert.

Dabei sollte eigentlich das Scheitern des Wachstumspakts für ökonomisch vorgebildete Menschen keine Überraschung sein. Seine Versprechungen basierten von Anfang an auf einem falschen oder zumindest übermäßig vereinfachten ökonomischen Weltbild. Die in der Öffentlichkeit kommunizierte Grundidee des Wachstumspakts war, ein Gegengewicht zum gerade verabschiedeten Fiskalpakt zu schaffen, der künftig die Eurostaaten über einen neuen völkerrechtlichen Vertrag zu strukturell ausgeglichenen Haushalten verpflichtet, und für all jene Staaten, die heute einen öffentlichen Schuldenstand von mehr als 60% des BIP aufweisen, einen zügigen Abbau der Schuldenquote vorschreibt. Dazu sollten vor allem Strukturreformen vorangetrieben und ein kleiner Nachfrageimpuls für mehr Investitionen gesetzt werden. Doch die auf dem Gipfel vor einem Jahr festgelegten Details machten dieses Versprechen von Anfang an unrealistisch. Über die speziell vorgeschlagenen Strukturreformen mag man streiten. Relativ klar ist aber aus historischer Erfahrung, dass Strukturreformen selten kurzfristig das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Strukturreformen verbessern die Angebotsbedingungen, brauchen aber einige Jahre und üblicherweise auch eine ausreichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage, bis sie sich in stärkerer Dynamik und fallender Arbeitslosigkeit niederschlagen.

Stattdessen gibt es einen offensichtlichen Faktor, der in den vergangenen Jahren das Wirtschaftswachstum in Europa maßgeblich bestimmt hat: Der massive Austeritätskurs. Nach Schätzungen der EU-Kommission ist das strukturelle Defizit der öffentlichen Hand in der Eurozone von 2010 bis 2013 um deutliche 3,7 Prozentpunkte zurückgefahren worden, was einem negativen Nachfrageimpuls von fast 350 Mrd. Euro entspricht. Im Vergleich zu dieser Größenordnung war die Nachfragekomponente des Wachstums­pakts kaum der Rede wert. Drei Elemente hatten dabei die Staats- und Regierungschefs versprochen: über die Europäische Investitionsbank (EIB) mehr Kredite für die schwächelnde Wirtschaft zur Verfügung zu stellen, über sogenannte Projektbonds in geringem Umfang eine Finanzierung für Infrastruktur zu organisieren und „ungenutzte“ Mittel aus den EU-Strukturfonds zügig für Wachstumsprojekte auszugeben.

Zwar wurde von der Politik das Gesamtvolumen des Paketes auf 120 Mrd. Euro taxiert, allerdings war dies ein großzügig gerechneter Bruttoeffekt, von dem schon bei Verabschiedung klar war, dass netto nur ein Bruchteil übrig bleiben würde. Der Posten mit dem laut Gipfeldokument größten erhofften Erfolg war eine Aufstockung des Grundkapitals der EIB um 10 Mrd. Euro, aus dem sich die Staats- und Regierungschefs eine Kreditausweitung von 60 Mrd. Euro erhofften. Allerdings war von Anfang an fragwürdig, ob diese neuen Kredite von 60 Mrd. Euro tatsächlich zu einem entsprechenden Zuwachs der privaten Investitionen führen würden. Die EIB vergibt Kredite wie andere Banken auch nur an kreditwürdige Kreditnehmer. Nur solange tatsächlich in den Krisenländern ausreichend Kreditnachfrage von kreditwürdigen Unternehmen besteht, die aufgrund von Problemen in den Bilanzen der Banken nicht bedient werden, war somit von einem Zuwachs der Nettokredite auszugehen – ansonsten dürften die EIB-Kredite bestenfalls zur Verdrängung anderer Finanzierungsquellen führen. Viel deutet aber derzeit darauf hin, dass der Grund für die Investitions- und Kreditschwäche ist, dass die Betriebe in den Krisenländern entweder als nicht kreditwürdig angesehen werden oder in der aktuellen Situation ihre unterausgelasteten Kapazitäten nicht ausweiten wollen – und mithin netto kein großer Effekt von den EIB-Krediten übrig bleibt.

Auch das versprochene Volumen der Projektbonds war ein Hoffnungswert. Projektbonds sollten Projektgesellschaften günstigeren Zugang zu Kapitalmarktmitteln, die im Rahmen von Private-Public-Partnerships in Infrastruktur investieren, bringen. Dazu sollten mit 230 Mio. Euro öffentlichen Mitteln über ein Special-Purpose-Vehicle Garantien für eine Kreditaufnahme von 4,5 Mrd. Euro geschaffen werden. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich beim Start des Projektbonds-Vorhabens ergeben haben, stehen die Projektbonds damit vor einem ähnlichen Problem wie die EIB-Kredite: Es ist nicht klar, welcher Anteil lediglich andere Finanzierungsarten verdrängt. Zudem ist das Volumen von 4,5 Mrd. Euro angesichts des konsolidierungsbedingten Nachfrageausfalls von 350 Mrd. Euro weitgehend zu vernachlässigen.

Die Nutzung bislang nicht ausgegebener Strukturfondsmittel erweist sich ebenfalls schnell als makroökonomische Luftbuchung: Dadurch, dass diese Mittel von der EU ausgegeben werden, fließen sie nicht an die nationalen Budgets zurück, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Für alle Länder, die sich im Rahmen der Stabilitätsprogramme auf Budgetziele festgelegt haben (und das sind praktisch alle Euroländer), bedeutet dies, dass eben die nationalen öffentlichen Ausgaben genau um die von der EU getätigten Ausgaben geringer ausfallen müssen. Der makroökonomische Effekt ist gleich Null. Der Misserfolg des Wachstumspakts zeigt, dass Wirtschaftspolitik eben doch mehr ist als nur Psychologie. Ein Placebo zur Nachfragestabilisierung kann kaum helfen, wenn auf der anderen Seite weitgehend ohne Rücksicht auf die makroökonomischen Folgen Staatsausgaben drastisch gekürzt und Abgaben rabiat erhöht werden.

Tragisch ist aber vor allem, dass mit dieser Art der Politik das politische Kapital für wirklich sinnvolle Strukturreformen verspielt wird. Politikern, die den Menschen mit Fiskalpakt und Wachstumspakt eine schnelle Wirtschaftserholung versprochen haben, werden die Wähler kaum die Stimme für weitere Reformvorhaben geben. Am Ende droht Europa so die schlechteste aller Welten: durch undifferenzierte Kürzungen verfallende öffentliche Infrastruktur und Bildungseinrichtungen, schwache Nachfrage und falsch regulierte Märkte.


DOI: 10.1007/s10273-013-1534-0

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