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Im Sonderheft 2013 „Verdient der Markt noch unser Vertrauen?“ veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz von Carl Christian von Weizsäcker mit dem Titel „Der Vorsorge-Albtraum“. Dazu äußert sich Christian Hecker kritisch. Anschließend stellt Carl Christian von Weizsäcker in einer Erwiderung seine Sicht dar.

Anmerkungen zu „Der Vorsorge-Albtraum“ von Carl Christian von Weizsäcker

Von Christian Hecker

In seinem Aufsatz „Der Vorsorge-Albtraum“1 hat Carl Christian von Weizsäcker auf der Grundlage kapitaltheoretischer Überlegungen dargelegt, dass die Volkswirtschaften, die heutzutage die Weltwirtschaft dominieren, d.h. die OECD-Staaten sowie China, dadurch gekennzeichnet sind, dass die private Sparperiode deutlich länger ist als die Produktionsperiode und damit ein Überangebot an Kapital im Verhältnis zum Kapitalbedarf der Privatwirtschaft besteht.2 Daraus ergibt sich in der Argumentation Weizsäckers, dass nur der Staat dazu in der Lage ist, die Ersparnisse, die seine Bürger zu Vorsorgezwecken bilden wollen, aufzunehmen und – aufgrund seines Gewaltmonopols – eine Rückzahlung in der Zukunft zu garantieren. Daher sei es Aufgabe des Staates, den „Vorsorge-Albtraum“ der Bevölkerung aufzulösen und den Bürgern durch Aufrechterhaltung oder gegebenenfalls Ausweitung der öffentlichen Verschuldung eine risikofreie Investition in Staatsanleihen zu ermöglichen. Diese Herangehensweise weist dem Staat gewissermaßen die Funktion eines Borrower of Last Resort zu, der Investoren in wirtschaftlich unsicheren Zeiten eine sichere Kapitalanlage bietet. Staatsschulden verlieren dadurch ihren Schrecken und werden zu einem unentbehrlichen Vorsorge­instrument.

Der Ansatz von Weizsäckers enthält gerade vor dem Hintergrund unsicherer Anlageperspektiven in vielen Regionen der Welt eine bestechende Logik. Zudem verspricht er die Verbindung unterschiedlicher sozial-, allokations- und stabilisierungspolitischer Zielsetzungen, d.h.:

  • eine sichere Zukunftsvorsorge für breite Bevölkerungsschichten,
  • die Finanzierung öffentlicher Ausgaben ohne eine entsprechende Erhebung von Steuern (einschließlich der Vermeidung der mit der Besteuerung einhergehenden Wohlfahrtsverluste) sowie
  • die Möglichkeit zur Umgehung von Instabilitäten an den Finanzmärkten durch Bereitstellung eines risikofreien Anlagemediums.

Gleichwohl wirft die Verfolgung dieses Ansatzes eine Reihe ordnungspolitischer Bedenken auf, die – zumindest bei langfristiger Betrachtung – Zweifel an dessen Zweckdienlichkeit wecken.

Ordnungspolitische Einwendungen

Zunächst stellt sich die Frage nach einer Rechtfertigung der Belastung künftiger Generationen durch die aufgenommenen Staatsschulden. Selbst unter der Annahme, dass mithilfe der aufgenommenen Schulden öffentliche Investitionen (und kein Staatskonsum) finanziert werden, kann angezweifelt werden, dass die getätigten Investitionen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit künftiger Generationen tatsächlich in dem Maße erhöhen, dass die Rückzahlung der Schulden per saldo keine Belastung darstellt. Selbst bei einem Realzins von null ergibt sich entgegen der Darstellung von Weizsäckers3 durch die Staatsverschuldung eine intergenerationale Lastenverschiebung, da auch eine real gleich bleibende Schuldenlast aufgrund der Rückzahlungsverpflichtung den Handlungsspielraum künftiger Generationen einschränkt. Auch wenn man berücksichtigt, dass neben den Schulden die entsprechenden Forderungen in Form von Staatsanleihen an die nächste Generation vererbt werden, ergeben sich zusätzliche Lasten durch die mit der Erhebung der erforderlichen Steuern verbundenen Wohlfahrtsverluste (excess burden) sowie das gegebenenfalls damit einhergehende politische Konfliktpotenzial. Dieses Problem stellt sich umso mehr, wenn die Höhe der Staatsverschuldung durch den Vorsorgewunsch der Bürger und nicht primär durch stabilisierungspolitische Zielsetzungen bzw. investive Gesichtspunkte determiniert wird. Eine Verschärfung dieser Problematik ergibt sich, wenn bei der Refinanzierung auslaufender Staatsanleihen am Kapitalmarkt ein höherer Realzins hingenommen werden muss, da es selbst bei einer Schuldenaufnahme zu einem Realzins von null keine Garantie dafür gibt, dass in einigen Jahren auch eine Anschlussfinanzierung zu einem ähnlich niedrigen Zins realisierbar ist. In diesem Falle kommt es zu einer Verstärkung der dargestellten Lastenverschiebung zum Nachteil künftiger Generationen.

Ein weiteres Problem ist die Herausforderung, im Rahmen der von von Weizsäcker vorgeschlagenen Herangehensweise einen laufenden Anstieg der Staatsverschuldung in Relation zum BIP zu vermeiden. Dies gilt umso mehr, als Politiker dazu neigen, die positiven Wirkungen der von ihnen initiierten Staatsausgaben möglichst hoch zu veranschlagen und künftige finanzielle Belastungen auszublenden, vor allem wenn diese voraussichtlich erst nach dem Ende ihrer Amtsperiode anfallen. Problematisch ist diese Entwicklung vor allem deswegen, weil mit zunehmender Höhe der Staatsverschuldung die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich die Schulden negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken, wie inzwischen durch zahlreiche Untersuchungen nachgewiesen wurde.4 So wurde beispielsweise in einer Studie der Europäischen Zentralbank aufgezeigt, dass bereits von einer Staatsverschuldung in Höhe von 70% bis 80% des BIP negative Konsequenzen für das Wachstums­potenzial ausgehen können.5 Diese Schwelle ist sowohl in Deutschland als auch in den meisten anderen westlichen Industrieländern inzwischen überschritten. Deswegen ist es auch nicht unproblematisch, hinsichtlich dieser Länder gegen eine Reduzierung der Staatsverschuldung zu argumentieren.6

Hinzu kommt, dass die Geschichte immer wieder gezeigt hat, wie schnell die Staatsverschuldung durch krisenhafte Zuspitzungen im politischen oder ökonomischen Bereich abrupt und nicht vorhersehbar ansteigen kann. Beispiele dafür sind die Entwicklungen in Spanien oder Irland im Zuge der Finanzmarktkrise. Hier zeigt sich die (von von Weizsäcker ausgeblendete)7 Gefahr, dass aus einer noch als moderat angesehenen Verschuldung schnell ein unkontrolliert wachsender Schuldenberg werden kann, insbesondere wenn ein „Teufelskreis“ aus Vertrauensverlusten, steigenden bonitätsbedingten Zinsaufschlägen (Risiko-Spreads), Kursverlusten bei Staatsanleihen, insolvenzbedrohten Banken und steigenden Staatsschulden entsteht. Insofern erweist es sich als sehr riskant, bei der Kalkulation einer tragfähigen Staatsverschuldung von dauerhaft niedrigen Realzinsen auf Staatsanleihen auszugehen und aufgrund dieser Annahme die Verschuldung bis zur ermittelten Obergrenze auszuweiten. In diesem Falle kann sich der betroffene Staat schnell mit einer verhängnisvollen Kombination hoher Realzinsen und niedriger Wachstumsraten konfrontiert sehen, aus der es keinen krisenfreien Ausweg gibt. Die Zukunft ist immer unsicher, deshalb erscheint eine generelle Vorsicht bei der Aufnahme von Staatsschulden langfristig angemessener als eine leichtfertige Ausweitung auf ein Niveau, das sich später als eine zu optimistische Kalkulation erweist. Gerade gegenüber polit-ökonomischen Unsicherheitsfaktoren, wie sie vor allem die Krise im Euroraum, aber auch in den USA dominieren, geraten modellgestützte ökonomische Analyseverfahren schnell an die Grenzen ihrer Verlässlichkeit.

Kritisch zu hinterfragen ist auch die Annahme eines dauerhaften Wirtschaftswachstums als Legitimation für eine Ausweitung der öffentlichen Verschuldung.8 Abgesehen von der dargelegten Gefahr, dass Staatsschulden zu einem Rückgang des Wachstums führen können, ergibt sich an dieser Stelle auch ein normatives Problem, da durch die mit Wachstumserwartungen begründete Schuldenaufnahme letztlich ein Wachstumszwang generiert wird. Auch wenn man den bisweilen erhobenen Forderungen nach Umgestaltung der Wirtschaft im Sinne einer Postwachstumsökonomie9 nicht folgen will, erscheint es gleichwohl angebracht, künftigen Generationen zumindest die Möglichkeit offen zu halten, sich – beispielsweise durch eine freiwillige Reduzierung der Arbeitszeit und des Konsums – für den Verzicht auf Wachstum zu entscheiden. So hat bereits Ludwig Erhard darauf hingewiesen, dass es nicht die Aufgabe der Wirtschaftspolitik sei, Wachstumsziele vorzugeben; stattdessen sollte im Rahmen einer Sozialen Marktwirtschaft allen Bürgern die Möglichkeit gesichert werden, eigene Lebensziele in Freiheit zu verfolgen und dabei auch zwischen Erwerbsarbeit und zusätzlicher Freizeit zu wählen.10 Diese Option wird hingegen für künftige Generationen erheblich beschnitten oder gar ausgeschaltet, wenn die öffentliche Verschuldung ein Ausmaß annimmt, das ein bestimmtes Wirtschaftswachstum in der Zukunft unverzichtbar macht.

Darüber hinaus legt von Weizsäcker die Annahme zugrunde, dass eine Ausweitung der öffentlichen Verschuldung in Deutschland in den Jahren vor der Finanzmarktkrise dazu geführt hätte, dass deutsche Banken heimische Staatsanleihen anstelle riskanter Finanzprodukte erworben hätten.11 Diese Annahme lässt sich jedoch unter den Bedingungen globaler Kapitalmärkte nicht ohne weiteres aufrechterhalten, da Staatsschulden kein zweckdienliches Instrument zur Behebung ökonomischer Fehlanreize darstellen. So ist durchaus eine Situation vorstellbar, in der ein Anstieg der Staatsverschuldung gleichwohl mit erheblichen Käufen risikobehafteter Wertpapiere durch deutsche Banken am internationalen Kapitalmarkt einhergeht, wenn – gerade im Falle niedriger Realzinsen bei Staatsanleihen – Banken auf der Suche nach höherer Rendite sind. In diesem Falle droht sogar eine besonders explosive Risikomischung, wenn Instabilitäten an den Finanzmärkten mit einer steigenden Verschuldung der öffentlichen Hand zusammenfallen.

In diesem Zusammenhang ist auch auf die Gefahr hinzuweisen, dass der Staat durch eine Ausweitung der öffentlichen Verschuldung früher oder später in die Abhängigkeit von Entwicklungen an den Finanzmärkten gerät, da er auf eine laufende Refinanzierung fällig werdender Staatsanleihen angewiesen ist. Dabei besteht durchaus Anlass zu der Befürchtung, dass der Staat im Zuge des Anstiegs seiner Schulden bei Banken und anderen Finanzmarktakteuren sukzessive die Fähigkeit verliert, als ordnungspolitische Instanz, d.h. regulierend, in das Marktgeschehen einzugreifen, nachdem er selbst ein wesentlicher Akteur auf diesem Markt geworden ist. So droht die Gefahr einer stabilitätswidrigen Verknüpfung der Interessen von Staaten und Banken, in dem Sinne, dass aus ordnungspolitischer Sicht erforderliche Regulierungsmaßnahmen unterbleiben, da der Staat primär daran interessiert ist, dass die Banken weiterhin Staatsanleihen erwerben. Schließlich gilt, um eine im Bereich der Ordnungspolitik häufig zitierte Metapher zu gebrauchen, die Regel, dass der Schiedsrichter in einem Spiel nicht selbst mitspielen sollte.

Die Gefahr staatlicher Ponzi-Spiele

Auch das von von Weizsäcker vorgebrachte Argument, dass der Staat aufgrund seines Gewaltmonopols und seiner Steuererhebungsbefugnis ein legitimer Anbieter von Ponzi-Spielen sei,12 erscheint dann nicht mehr belastbar, wenn man langfristige Reaktionsmöglichkeiten der Bürger einbezieht. Ein Beispiel dafür ist die Möglichkeit einer Reduktion ökonomischer Aktivitäten (oder deren Verlagerung in den Bereich der Schattenwirtschaft), wenn notwendige Steuererhöhungen nicht akzeptiert werden. Und spätestens dann, wenn eine Monetisierung von Staatsschulden (oder auch nur die Befürchtung, dass es dazu kommt) zu inflationären Tendenzen führt, ist auch der „Vorsorge-Albtraum“ der Bürger wieder auf der Tagesordnung.

Zudem kann die von von Weizsäcker zugrunde gelegte Erwartung, dass der Staat eine risikofreie Kapitalanlage garantieren könne, zu gravierenden Fehlspekulationen führen. Ein Beispiel dafür bietet die derzeitige Krise an den Finanzmärkten, die zu einem Teil darauf zurückgeführt werden kann, dass Investoren in den Jahren zuvor beim Kauf bestimmter Staatsanleihen die damit verbundenen Risiken ausgeblendet hatten. Dazu beigetragen hat auch die nach wie vor bestehende Privilegierung von öffentlichen Anleihen im Rahmen der Bankenaufsicht, vor allem in der Form, dass Banken gemäß dem geltenden Aufsichtsrecht („Basel II“) Staatsanleihen im Gegensatz zu anderen Wertpapieren zumeist nicht mit haftendem Eigenkapital unterlegen müssen. Die Folge war, dass sich viele Anleger der (spätestens durch den Schuldenschnitt für Griechenland enttäuschten) Illusion hingegeben haben, dass es sich hierbei um risikolose Wertpapiere handle und dass die Rendite auf Staatsanleihen einen „risikolosen Zins“ darstelle. Eine Kurzfristorientierung von Investoren sowie sogenanntes „Herdenverhalten“ an den Finanzmärkten können derartige Trends noch verstärken. Gerade die derzeitige Staatsschuldenkrise hat jedoch unmissverständlich deutlich gemacht, dass auch staatlich organisierte Ponzi-Spiele unglaubwürdig werden können und sich die zwischenzeitliche Suggerierung einer risikofreien Anlagemöglichkeit oftmals als Scheinsicherheit entpuppt. Wenn dieser Punkt erreicht ist, wird aus dem vormals „risikolosen Zins“ ein „zinsloses Risiko“ in allen Anlageklassen, wie wir es gegenwärtig beobachten können.

Natürlich erscheint es ebensowenig sinnvoll, anstelle der expliziten Staatsverschuldung die impliziten Staatsschulden auszuweiten, die vor allem in Form von künftigen Ansprüchen an Sozialkassen, Pensionsverpflichtungen etc. bestehen.13 Stattdessen stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels die Herausforderung, auch die implizite Staatsverschuldung wieder mit der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hand in Einklang zu bringen. Auch bei der Bewältigung dieser Aufgabe wird in vielen Fällen an der rechtzeitigen Reduzierung von Ansprüchen und Erwartungen an den Staat kein Weg vorbei führen, ein Beispiel dafür ist die bereits in Angriff genommene Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Aus langfristiger Perspektive erscheint jedoch auch hierbei eine vorausschauende und sukzessive Anpassung von Leistungsversprechen des Staates sinnvoller als ein staatlich organisiertes Ponzi-Spiel, das irgendwann in der Zukunft zu einer abrupten Enttäuschung von Erwartungen, und möglicherweise zu einer ernsthaften politischen Krise, führt.

Ordnungspolitische Lehren aus der Krise

Aufgrund der dargelegten Probleme ist aus ordnungspolitischer Sicht große Vorsicht angebracht, wenn dem Staat die Aufgabe zugewiesen wird, den Bürgern ein risikoloses Investment zu ermöglichen.14 Sinnvoller erscheint es vielmehr, auch mit Blick auf die Zukunftsvorsorge primär den verantwortungsbewussten Umgang mit Anlagerisiken, vor allem durch Risikostreuung, zu fördern. Auch ein Schutz von Kleinsparern durch eine Einlagensicherung bis zu einer begrenzten Höhe stellt ein aus ordnungspolitischer Sicht sinnvolles Instrument zur Linderung des „Vorsorge-Albtraums“ dar. Grundsätzlich kann in einer Marktwirtschaft hingegen nur die Maxime gelten, dass jede Kapitalanlage, abgesehen von einem sozialpolitisch begründeten begrenzten Schutz für Kleinsparer, mit Risiken verbunden ist, auch wenn es sich bei der Anlageentscheidung nur um die renditelose Verlagerung einer Forderung in die Zukunft handelt. Die Tatsache, dass Staatsanleihen der Euroländer, die länger als ein Jahr laufen, seit Kurzem mit Umschuldungsklauseln (Collective Action Clauses) versehen werden, bringt auch auf juristischer Ebene zum Ausdruck, dass es risikofreie Anlageklassen grundsätzlich nicht gibt.

Aus Sicht der Ordnungstheorie ist dies nichts Überraschendes, denn schließlich stellt die Eigenverantwortung bzw. Haftung für Investitionsentscheidungen ein Grundprinzip der marktwirtschaftlichen Ordnung dar, das leider durch die vielfachen staatlichen Rettungsaktionen im Bereich der Finanzmärkte zunehmend in den Hintergrund gedrängt bzw. in sein Gegenteil verkehrt worden ist.15 Dies kommt auch auf der sprachlichen Ebene zum Ausdruck, wenn beispielsweise in der Form, dass in der Wirtschaftspresse inzwischen oftmals von einer „Enteignung“ der Investoren die Rede ist, wenn es um die (im Regelfall höchstens partielle) Übernahme von Verlusten gescheiterter Banken durch die betroffenen Anleger geht. Langfristig haben alle Versuche zur Ausschaltung des Prinzips der individuellen Haftung, auch durch staatlich organisierte Ponzi-Spiele, in der Vergangenheit nur dazu geführt, dass vorübergehende Vertrauensgewinne durch spätere (ökonomische und politische) Krisen zunichte gemacht wurden, und es besteht wenig Anlass zu der Annahme, dass dies in Zukunft anders sein könnte.

Daher erscheint es aus ordnungspolitischem Blickwinkel angemessener, verlässliche Rahmenbedingungen für den Umgang mit Risiken, die in einer dynamischen Wirtschaft nun einmal unvermeidbar sind, zu schaffen. Dazu gehört auch die Übernahme von Verlusten durch die jeweiligen Investoren. Maßnahmen zur Erhöhung der Krisenfestigkeit des Finanzsektors, auch im Interesse einer verlässlichen Zukunftsvorsorge, sollten daher an dieser Stelle ansetzen, indem die erforderlichen Voraussetzungen für eine reguläre Bewältigung derartiger Verluste geschaffen werden. Dazu gehört beispielsweise die Einrichtung eines rechtlichen Rahmens für die geordnete Abwicklung systemrelevanter Banken, der zukünftig ausschließt, dass Verluste aus dem Finanzsektor abermals durch die öffentliche Hand übernommen werden müssen.16 Hierbei handelt es sich zugleich um ein wichtiges Instrument zur Begrenzung der impliziten Staatsverschuldung in der Zukunft. Wichtig ist dabei, dass ein derartiges Rahmenwerk von Anfang an glaubhaft erscheint, damit Spekulationen von Anlegern, dass künftige Krisen erneut mithilfe von Steuermitteln gelöst werden können, konsequent der Boden entzogen wird. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang außerdem die angemessene Behandlung der mit Staatsanleihen verbundenen Adressenausfallrisiken im Risikomanagement von Banken, einschließlich einer verpflichtenden Unterlegung mit haftendem Eigenkapital.17 Risiken der öffentlichen Verschuldung sollten also explizit ausgewiesen und nicht verschleiert werden.

Eine derartige Herangehensweise hat auf den ersten Blick den Nachteil, dass den Investoren ein gewisses Maß an Risiken, das mit dem Grundsatz der Eigenverantwortung notwendigerweise einhergeht, nicht erspart werden kann. Sie ist gleichwohl unabdingbar für einen realistischen Umgang mit Anlagerisiken und daher eine zentrale Voraussetzung dafür, dass eine Zukunftsvorsorge möglich wird, die als nachhaltig angesehen werden kann, gerade weil sie nicht auf einem Ponzi-Spiel beruht.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder und ist keine offizielle Stellungnahme der Deutschen Bundesbank.

  • 1 C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), Sonderheft 2013, S. 7-15.
  • 2 Vgl. dazu auch die detaillierteren Darstellungen zur Kapitaltheorie bei C. C. von Weizsäcker: Public Debt Requirements in A Regime of Price Stability, Reprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, Bonn 2011/20; sowie C. C. von Weizsäcker: Die heutige (Krisen-)Relevanz der Kapitaltheorie, in: B. Frank (Hrsg.): Glaube und Rationalität in der Krise, Symposium zu Ehren von Hans G. Nutzinger, Marburg 2011, S. 127-150.
  • 3 Vgl. C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, a.a.O., S. 15.
  • 4 Vgl. beispielsweise M. S. Kumar, J. Woo: Public Debt and Growth, IMF Working Paper, Nr. 10/174, 2010.
  • 5 Vgl. dazu C. Checherita, P. Rother: The Impact of High and Growing Government Debt on Economic Growth: An Empirical Investigation for the Euro Area, ECB Working Paper, Nr. 1237, August 2010. Eindeutig negative Auswirkungen auf das Wachstum lassen sich gemäß dieser Untersuchung für den Euroraum ab einer Schuldenquote von 90% bis 100% feststellen. Vgl. auch EZB, Monatsbericht 3/2013, S. 92-94.
  • 6 Daher ist die bei C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, a.a.O., S. 14, formulierte Vermutung, dass „der weltweit optimale Staatsschulden-Stand höher liegt als der aktuelle“, sehr riskant.
  • 7 Deutlich wird die Ausblendung dieser Problematik bei C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, a.a.O., S. 14.
  • 8 Vgl. C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, a.a.O., S. 15.
  • 9 Vgl. zum Thema Postwachstumsökonomie beispielsweise N. Paech: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Nr. 134, 2012, S. 61-67.
  • 10 Vgl. L. Erhard: Wohlstand für alle, Düsseldorf, Wien 1964, 8. Aufl., S. 232-234. Zu den normativen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft vgl. auch C. Hecker: Soziale Marktwirtschaft und Soziale Gerechtigkeit – Mythos, Anspruch und Wirklichkeit. Die Konzeptionen des Ordoliberalismus und die praktische Wirtschaftspolitik in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftsethischen Leitmotive, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, 12. Jg. (2011) H. 2, S. 269-294.
  • 11 Diese Annahme taucht bei C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, a.a.O. nur implizit auf, sie wird jedoch explizit formuliert bei C. C. von Weizsäcker: Staatliches Gewaltmonopol, Staatsverschuldung und individuelle Vorsorge, Universität St. Gallen, Walter-Adolf-Jöhr-Vorlesung 2011, http://www.fgn.unisg.ch/de/Walter+Adolf+Joehr+Vorlesung/~/media/Internet/Content/Dateien/InstituteUndCenters/FGN/WAJoehr/Brosch%C3%BCre%202011%20CCvW.ashx (6.3.2013), S. 25.
  • 12 Vgl. C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, a.a.O., S. 14 f.
  • 13 Auf die Risiken, die mit einer Verdrängung expliziter durch implizite Staatsschulden verbunden sind, verweist auch C. C. von Weizsäcker: Staatliches Gewaltmonopol ..., a.a.O., S. 21-24.
  • 14 Vgl. C. C. von Weizsäcker: Der Vorsorge-Albtraum, a.a.O., S. 12-15.
  • 15 Die Bedeutung der individuellen Haftung als konstituierendes Prinzip der Marktwirtschaft hat bereits Walter Eucken dargestellt, der unter anderem für Kapitalgesellschaften eine Mithaftung des Managements gefordert hat. Vgl. dazu beispielsweise W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern, Tübingen 1952, S. 279-285; dort bezieht sich Eucken ausdrücklich auch auf Wilhelm Röpke, einen anderen Vordenker des Ordoliberalismus.
  • 16 Vgl. dazu unter anderem A. Dombret, A. Ebner: Default of Systemically Important Financial Intermediaries: Short-term Stability versus Incentive Compatibility, in: German Economic Review, 14. Jg. (2013), H. 1, S. 15-30.
  • 17 Vgl. dazu S. Lautenschläger: Eine Bankenunion für Europa: Welcher Bauplan ist der richtige?, in: ifo Schnelldienst, Nr. 1/2013, S. 3-9.

Erwiderung auf die Replik von Christian Hecker

Von Carl Christian von Weizsäcker

Zur Frage der Belastung künftiger Generationen behauptet Christian Hecker, Staatsschulden belasteten künftige Generationen. Sein einziges Argument ist, dass diese doch in der Zukunft zurückgezahlt werden müssen. Hiernach muss es offenbar einen Zeitpunkt in der Zukunft geben, in dem die Staatsschulden Null sind. Warum? Weil Staatsschulden etwas schlechtes sind? Das ist aber ein unsinniges Gedankenexperiment. Es setzt voraus (Staatsschulden sind etwas schlechtes), was doch erst bewiesen werden soll. Somit ein logischer Zirkelschluss. Im Zeitverlauf sind die Staatsschulden in fast allen Ländern immer weiter angestiegen. Das Gedankenexperiment zur Frage, unter welchen Bedingungen Staatsschulden künftige Generationen belasten, muss also anders aussehen. Am sinnvollsten ist die Frage: Eine zeitlich konstante Staatsschuldenquote D (= Bestand an Staatsschulden geteilt durch das jährliche Sozialprodukt oder den jährlichen Konsum) vorausgesetzt, wann geht es den künftigen Generationen besser: wenn D niedrig ist oder wenn D hoch ist? Die Wirtschaftstheorie nennt das „Steady State Analyse“. Diese seit den Zeiten Böhm-Bawerks (1889), Irving Fishers, Wicksells etc. hat eine alte Tradition. Nun stellt sich heraus, dass die Antwort auf diese Frage vom Zinssatz abhängt, den der Staat seinen Gläubigern bezahlen muss. Ist dieser Realzinssatz größer als die langfristig zu erwartende reale Wachstumsrate des Sozialprodukts, dann geht es künftigen Generationen bei niedrigem D besser als bei hohem D. Ist der Realzinssatz kleiner als die langfristig zu erwartende Wachstumsrate, dann stellen sich die künftigen Generationen besser, wenn D hoch ist als wenn D gering ist. Natürlich muss man berücksichtigen, dass der Zinssatz selbst von der Höhe der Staatsschulden beeinflusst wird.

Unabhängig davon, welche Staatsschuldenquote D anzustreben ist, ist es natürlich richtig, dass eine zu Beginn geringe Staatsschuldenquote dem Fiskus einen Vorteil bietet: Er kann vorübergehend die Nettoneuverschuldung größer wählen, als wenn die anfängliche Staatsschuldenquote hoch ist. Da aber die anfängliche Staatsschuldenquote nicht frei gewählt werden kann, sondern von der Geschichte vorgegeben wird, ist diese Beobachtung für die Politik irrelevant. Anzustreben ist die optimale Staatsschuldenquote. Wir können das vergleichen mit der Frage nach dem optimalen Gewicht irgendeines Herrn Meier, der zu Übergewicht neigt. Ist das für seine Gesundheit optimale Gewicht 80 kg, dann ist es für ihn natürlich schöner, wenn er zu Beginn seiner Gewichtskontrolle 75 kg wiegt, als wenn er zu Beginn 90 kg wiegt. Das heißt aber nicht, dass 75 kg sein optimales Gewicht ist; sondern das ist eben 80 kg.

Wenn, wie ich in meinem Artikel darlege, ein gewisses Ausmaß an Staatsschulden vorhanden sein muss, damit überhaupt Preisstabilität und Prosperiät miteinander kompatibel sein können, dann würde das Anstreben einer hierfür zu niedrigen Staatsschuld die kommenden Generationen belasten: denn Preisstabilität ist dann bei Prosperität nicht möglich, was dazu führt, dass der Vorsorge-Albtraum nicht verschwunden ist. Das geht dann auf Kosten der Vorsorge. Da die Sorge für die Kinder, etwa in der Form von Erbschaften, Teil der individuellen Vorsorge ist, leiden damit auch die Kinder, also die nachfolgenden Generationen unter der Abwesenheit von Preisstabilität.

Zur Frage der Stabilität des Systems

Christian Hecker bringt eine Reihe von Argumenten des Zweifels an der Stabilität eines Regimes, wie ich es vorschlage, und warnt aus diesem Grunde vor einer hohen Staatsverschuldung. Ich gehe hier nicht auf jedes seiner Argumente ein. Exemplarisch nenne ich das Argument, dass sich ein „Teufelskreis“ entwickeln könnte: steigende Zinssätze führen bei einer hohen Staatsverschuldung zu einer Überforderung des Fiskus; dies hat zur Folge, dass das Vertrauen des Kapitalmarkts in diesen Schuldner zurückgeht und dies wiederum führt zu Risikoaufschlägen bei den Refinanzierungszinsen, die den Staat noch mehr in die Bredouille bringen und so fort. Daher solle man die Staatsschulden gering halten. Viele Kommentatoren sehen derartige Gefahren für Japan mit seiner hohen Staatsverschuldung.

Meine Antwort: Ich bestreite nicht, dass es eine zu hohe Staatsverschuldung geben kann. Jeder Fiskus sollte darauf achten, dass er sein AAA-Rating behält, dass er also den Kapitalmarkt davon überzeugen kann, seine Schulden bedienen zu können. Die griechische Fiskalpolitik hat diesbezüglich versagt, nicht zuletzt, weil die Realpolitik dort darauf spekulierte, dass die anderen Eurostaaten einen schon heraushauen würden. Hätte Deutschland 2001 oder 2002 das Grundgesetz derart geändert, dass es dem deutschen Fiskus unmöglich gemacht wird, Garantien für die Staatsschulden anderer Eurostaaten zu geben, wäre die Finanzkrise in Griechenland sehr viel früher ausgebrochen und hätte sehr viel mildere Formen angenommen. Sehr wichtig für eine glaubwürdige Tragfähigkeit der Staatsschulden ist die Leistungsbilanz eines Staates. Die war stark negativ in Griechenland. Japans Fiskus verschuldet sich in Yen, da bisher die Leistungsbilanz überwiegend positiv ist. Und er zahlt für die Staatsschulden Yen-Zinsen von Null. Und dies ohne Inflationsgefahr. In Japan sind die von Hecker genannten Probleme trotz einer sehr hohen Staatsverschuldung nicht aufgetreten. Der Fiskus eines Landes mit hohem Leistungsbilanzdefizit muss sich partiell in ausländischer Währung verschulden und dann entstehen Probleme von der Art, wie sie Hecker beschreibt. Aber es können nicht alle Staaten der Welt einen Leistungsbilanzüberschuss erzielen. Wenn bei sehr niedrigem Weltzinsniveau Staaten mit Leistungsbilanzüberschüssen ihre Staatsschulden zurückfahren und damit ihre Leistungsbilanzüberschüsse sogar noch erhöhen, dann erschweren sie es den Staaten mit Leistungsbilanzdefiziten, ihre gesamtwirtschaftlichen und fiskalischen Probleme zu lösen. Wenn die Zinsen auf dem Weltkapitalmarkt hoch sind, dann ist es auch für Länder mit Leistungbilanzüberschuss angezeigt, die Staatsschulden zu reduzieren und damit den Kapitalexport zu erhöhen, weil dies für alle anderen Länder einen Beitrag zur Senkung des Zinsniveaus darstellt. Es herrscht hier eine Art „Unsichtbare Hand“: Das, was auch im Eigeninteresse des Landes ist, ist auch im Interesse der anderen Länder: expansive Fiskalpolitik bei niedrigen Weltmarktzinsen, kontraktive Fiskalpolitik bei hohen Weltmarktzinsen.

Grundsätzlich aber gilt: es mag Probleme mit der Staatsverschuldung geben. Jedoch war der ganze Ansatz meines Artikels: es gibt Probleme, wenn die Staatsverschuldung Null ist. Das Argument gegen Staatsverschuldung kann also nicht einfach darin bestehen, auf diese Probleme der Staatsverschuldung hinzuweisen. Denn es hat ja keinen Sinn, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben und vom Regen in die Traufe zu geraten. Die Probleme einer staatsschuldenfreien Welt habe ich in meinem Artikel und in anderen Arbeiten dargestellt. Kurz gesagt: niemand will eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise. Um eine Analogie zu zeigen. Es mag (klimapolitische) Probleme beim Energieverbrauch geben. Aber eine Volkswirtschaft ohne Energieverbrauch wird auch Probleme haben. Es hat keinen Sinn, aus den Problemen des Energieverbrauchs die Forderung abzuleiten, die Volkswirtschaft solle in Zukunft keine Energie mehr verbrauchen.

Das Fundamentalproblem ist dieses: es ist wichtig, dass die Menschen sparsam sind, dass sie versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen, für ihre Zukunft und für die Zukunft ihrer Kinder vorzusorgen. Dazu sollte auch weiterhin ermutigt werden. Und eine große Mehrheit der Menschen verhält sich auch so, wenn ihnen die Möglichlichkeit dazu gegeben wird. Es ist zu begrüßen, dass weltweit die mittelständischen Unternehmer überwiegend darauf achten, mit einem hinreichenden Polster an Eigenkapital zu arbeiten und das „Leveraging“ durch Fremdkapital in Grenzen zu halten. All dies trägt auch zur Stabilität der Weltwirtschaft bei. Genau deshalb ist es aber unter heutigen demografischen Bedingungen nicht möglich, dass der Vorsorgewunsch der Menschen ausschließlich durch Aufbau von Forderungen an andere Private und durch Eigentum an Realkapital befriedigt werden kann. Daher muss der Staat im großen Stile Nettoschuldner sein, wenn man die Rahmenbedingungen schaffen will, die es den Bürgern erlauben, ihre Vorsorgewünsche voll zu befriedigen. An der Festellung dieses Fundamentalproblems hat Christian Hecker keine Kritik geübt.

Hecker ist, so scheint mir, dem herkömmlichen ordnungspolitischen Denken verpflichtet. Dieses beruht auf dem Axiom: wenn man nur alles so macht wie Eucken und Ludwig Erhard es sich vorgestellt haben, dann wird letztlich alles gut. Ich bin ein Bewunderer von Eucken und Erhard. Hecker sieht aber nicht, dass sich die Welt seit Eucken und Erhard verändert hat: die Lebenserwartung der Menschen hat sich enorm erhöht; die Menschen leben heute im Durchschnitt 20 Jahre länger, als sie einem Broterwerb nachgehen; und dies nicht nur in den reichen Ländern, sondern auch in China. All das brauchten die Väter des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft noch nicht zu bedenken; aber wir müssen es heute tun. Wenn wir es nicht tun, können wir ein stabiles Weltwirtschaftssystem nicht erwarten. Wenn wir die Staatsschulden massiv zurückführen, mögen einige der Probleme verschwinden, auf die Hecker hinweist. Aber es kommen dann andere Stabilitätsprobleme, die weitaus gravierender sind als die von Hecker genannten. Letztlich kommen dann Zustände, die angesichts hoher Arbeitslosigkeit so unerträglich sind, dass diejenigen Politiker die Wahlen gewinnen werden, die versprechen, die Marktwirtschaft abzuschaffen.

Was folgt daraus für Deutschland?

Im 5. Buch Moses, Kapitel 15 können wir als Anweisung Gottes an das Volk Israel lesen: „Denn der HERR, dein Gott, wird dich segnen, wie er zu dir geredet hat. Und du wirst vielen Nationen ausleihen, du aber wirst dir nichts leihen. Und du wirst über viele Nationen herrschen, über dich aber werden sie nicht herrschen.“ Es ist eine alte Weisheit, dass der Gläubiger Herr über den Schuldner ist. Und es ist eine alte Weisheit, dass deswegen der Schuldner den Gläubiger hasst. Vor Jahrzehnten sprach man von der Macht der Banken, auf deren Kredite die produzierenden Unternehmen angewiesen sind. Die Banken waren damals nicht populär – und sie sind es heute auch nicht. Den Gläubigerhass des Schuldners bekommt Deutschland heute zu spüren. Der Euro spaltet Europa in Gläubiger und Schuldner, die sich feindselig gegenüberstehen.

Deutschland verschuldet sich implizit mit den Garantien, die es für ESM-Schulden gibt. Dazu kommen die riesigen Target2-Salden, die sich im Fall eines Auseinanderbrechens des Euro in Schulden der deutschen öffentlichen Hand verwandeln werden. Ohne massive implizite Staatsverschuldung Deutschlands hätten die schwächsten Eurostaaten nicht im Euro bleiben können. Es ist daher Augenwischerei, wenn die Regierung behauptet, man habe demnächst einen ausgeglichenen Bundeshaushalt.

Im Interesse der deutschen Exportwirtschaft und der Arbeitsplätze in Deutschland rettet man den Euro, weil er schwach ist – und man rettet ihn mit massiver impliziter Staatsverschuldung. Man betreibt, halb verschleiert, das, was man nunmehr nach dem japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe „Abenomics“ nennt und Japan zum Vorwurf macht. Die Entscheidungsträger betreiben – indirekt durch die Euro-Rettung – eine Politik der schwachen Währung. Hätten sie dies nicht getan und wären zur D-Mark zurückgekehrt, dann wäre man in die Lage der Schweiz mit dem Schweizer Franken gekommen. Die Schweiz hat die Aufwertungsgefahr für die heimische Wirtschaft (vorläufig) gebannt, indem sie den Franken an den schwachen Euro gekettet hat. Das hätte Deutschland mit der wieder eingeführten D-Mark nicht machen können: es hätte die D-Mark nicht an den US-Dollar binden können. Das wäre ein Verstoß gegen die Regeln der internationalen Wirtschaftsdiplomatie gewesen, den z.B. die USA nicht toleriert hätten. Ein verheerender Abwertungs- und Protektionismuswettlauf wäre politisch unvermeidlich geworden. Ohne Anbindung der neuen D-Mark an den US-Dollar wäre Deutschland wegen seiner starken Währung in eine schwere Deflationskrise geraten, aus der nur massive interne Staatsverschuldung herausgeführt hätte. So oder so: auch für Deutschland gilt in dieser Zeit: ohne erhebliche Staatsverschuldung geht es nicht. Und das, so meine Vermutung, nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer.

Ich selbst hätte in der Eurokrise vorgezogen, dass Deutschland beim No-Bailout-Prinzip geblieben wäre, aber den übrigen Euromitgliedern und auch der übrigen Welt einen Beitrag zur Finanz- und Wirtschaftsstabilität in der Form versprochen hätte: wir senken die Steuern in Deutschland und unterbrechen die Politik der Schuldenbremse bis zu dem Punkt, wo der enorm hohe Leistungsbilanzüberschuss weitgehend abgeschmolzen ist, aber nicht weiter. Und wir erhöhen die Steuern wieder, wenn die Leistungsbilanz droht, passiv zu werden. So hätte man auch das Vertrauen der Kapitalmärkte behalten, hätte den eigenen Steuerzahlern etwas Gutes getan, zugleich aber auch einen vielleicht ausreichenden Beitrag zur Stabilisierung des Euro in einem vielleicht etwas verkleinerten Euroraum geleistet.

Die Staatverschuldung ernst nehmen

Natürlich muss man die von Christian Hecker (und nicht nur von ihm) angesprochenen Probleme der Staatsverschuldung ernst nehmen. Unser Denken ist noch geprägt von einer Zeit, in der man zu Recht sagen konnte: Kapital ist knapp. Wir sind im Allgemeinen immer noch geistige Sklaven des großen Eugen von Böhm-Bawerk, der uns gelehrt hat: 1. Der Zins ist ein Preissignal für das Ausmaß der Knappheit von Kapital und 2. Der natürliche Zins ist positiv. Hieraus resultiert die Idee des Crowding Out: Die Ausgabe von Staatsanleihen verdrängt den Kredit an Private und verdrängt damit Investitionen, die zum Aufbau des Realkapitalstocks beitragen. In diesem Denken ist auch der Kapitalmarkt verhaftet. Glaubt man, dass der Zins – wegen der Knappheit des Kapitals – eines Tages wieder ansteigen wird, dann fängt man als Gläubiger an zu zittern, wenn ein staatlicher Schuldner eine sehr hohe Schuld vor sich herschiebt. Wenn dann Reinhart und Rogoff1 anhand langer historischer Reihen plausibel machen, dass hohe Staatsverschuldung das Wachstum einer Volkswirtschaft bremst, werden Gläubiger angesichts der jetzigen Staatsverschuldung erst recht nervös. Und dann kann es zu den katastrophalen selbstverstärkenden Prozessen kommen, vor denen Christian Hecker warnt.

Mein Beitrag sollte dazu dienen, ein „neues Denken“ voranzubringen. Daher betone ich, dass es ja nicht nur die explizite Staatsverschuldung gibt, sondern auch die noch viel größere implizite Staatsverschuldung, die mit dem Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung und ähnlichen Institutionen des Sozialstaats einhergeht. Versteht man erst einmal, dass rund die Hälfte des Gegenpostens der privaten Vermögen (im weiteren Sinne unter Einschluss der künftigen Renten- und Pensionsansprüche) der westlichen Welt und Chinas aus Staatsschulden besteht, dann denkt man vielleicht um, und sieht bei der Staatsschuld nicht nur die negative Seite, sondern auch den Gegenposten der privaten Vermögen, die ohne die Staatsschulden in dieser Größe gar nicht hätten gebildet werden können. Wenn der Kapitalmarkt eines Tages dieses neue Denken übernimmt, dann verlieren manche großen Staatsschuldbestände auch ihren Schrecken – und man ist froh, damit Anlagemöglichkeiten zu finden. Und man versteht, dass mit den Zahlen von Reinhart und Rogoff für heute nichts zu beweisen ist, da sich diese überwiegend auf Zeiten beziehen, in denen Kapital noch knapp war.

Die Staatsschuldenquote D eines einzelnen Landes ist ein sehr unzureichender Indikator für dessen Bonität. Ein viel besserer ist die Leistungsbilanz. Wenn in aller Welt heute die Reduktion der staatlichen Nettoneuverschuldung angestrebt wird, dann kann erwartet werden, dass das (risikobereinigte) reale Weltzinsniveau bei Null oder darunter verharren wird. Dann aber ist die Schuldentragfähigkeit der Staaten weitaus höher als sie bei gleicher Staatsschuldenquote D im „alten Denken“ war.

Dem „neuen Denken“ entsprechen dann auch neue Finanz­instrumente. Die Furcht vor der Inflation hat früher zu inflationsindexierten Anleihen geführt, die inzwischen bei guter Bonität des Staatsschuldners nur noch zu negativen Renditen erworben werden können. Andere Formen der Indexierung sind denkbar, z.B. eine Indexierung nach der Leistungsbilanz. Je höher der Leistungsbilanzsaldo ausfällt, desto geringere Zinsen müssen bezahlt werden. Deutschland würde heute dann vielleicht einen „Coupon“ von -2% p.a. bezahlen, Frankreich einen von +2% p.a. Das Signal an Frankreichs Fiskus wäre: „Sparen“. Das Signal an Deutschlands Fiskus wäre: „Investieren.“ Hören die Fisken auf diese Signale, dann schmelzen die Leistungsbilanzsalden ab. Die Erwartung darauf macht den Kauf von Anleihen dieser Art trotz anfänglich negativer Renditen attraktiv. Derartige Finanzinstrumente könnten die Schuldentragfähigkeit enorm steigern. Sie würden die Erkenntnis in Finanzprodukte fließen lassen, dass ein Land mit positivem Leistungsbilanzsaldo in der Lage ist, seine Staatsschulden zu bedienen.

Der Phantasie des Kapitalmarktes sind keine Grenzen gesetzt, wenn er erst einmal verstanden hat, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist: Böhm-Bawerk ist „out“; der „natürliche Zins“ ist negativ. Das Zeitalter der Kapitalknappheit ist vorbei. Die von Christian Hecker genannten Probleme der Staatsverschuldung können mittels der Kreativität des Kapitalmarktes eingegrenzt werden. Ich stehe nicht an, jedem, der daran interessiert ist, ein halbes Dutzend von Ideen zu präsentieren, wie neue Finanzprodukte entwickelt werden können, die den Bürger auch mittels angemessener Staatsverschuldung vom Vorsorge-Albtraum befreien. Leitlinie einer möglichwerweise international koordinierten Fiskalpolitik könnte sein, den risikobereinigten realen Weltkapitalmarktzins in der Nähe von Null zu halten. Dazu könnte gehören, dass bei aktuell niedrigem Zins Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen die Nettoneuverschuldung erhöhen und Länder mit Leistungsbilanzdefiziten die Nettoneuverschuldung reduzieren. Bei höherem aktuellen risikobereinigten Zins wären alle Länder aufgefordert, die Nettoneuverschuldung zu reduzieren.

  • 1 C. M. Reinhart, K. S. Rogoff: Growth in a Time of Debt, NBER Working Paper 15639, Cambridge 2010.

Title:Remarks on “The Nightmare of Provision” by Carl Christian von Weizsäcker

Abstract:Weizsäcker suggests that maintenance or even an increase in the current level of government debt is necessary to provide people with opportunities to save for the future. However, there are several politico-economic reasons for a reduction of public debt. Moreover, if people start to doubt the sustainability of an increasing percentage of public debt, a vicious circle can lead to a debt crisis, which would threaten the country’s political and economic stability. Public debt is not a burden for later generations when the rate of interest is below the rate of growth. Public debt may cause problems for the economy, but the absence of public debt also causes problems. Germany raised substantial implicit public debt by providing guarantees for the public debt of other euro countries, but if Germany had let the euro collapse, the “new Deutsche Mark” would have caused a severe deflation, which also would have led to increased public debt. The new era of the “provision nightmare” requires a “new thinking” concerning public debt. Whenever the capital market adopts this new thinking, it will develop instruments to stabilise the economy even at high levels of public debt.


DOI: 10.1007/s10273-013-1554-9