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Die Forderung nach einem Abbau der sogenannten kalten Progression im Einkommensteuertarif ist zu einem Dauerbrenner in der steuer- und finanzpolitischen Reformdebatte geworden. Doch womit wird diese Forderung eigentlich begründet? Welche Belastungen gehen tatsächlich von der kalten Progression aus? Wie haben sie sich im Zeitablauf entwickelt und wie sind sie verteilt? Besteht tatsächlich ein akuter Entlastungsbedarf? Nach einer eingehenden Analyse melden die Autoren daran erhebliche Zweifel an.

Der Abbau der sogenannten kalten Progression – also des inflationsbedingten Hineinwachsens der Steuerpflichtigen in eine höhere Progressionszone und damit einer realen Höherbelastung, ohne dass das Realeinkommen entsprechend gestiegen wäre – dürfte neben der Bekämpfung des öffentlichen Investitionsstaus zu den derzeit prominentesten finanzpolitischen Reformforderungen gehören. Befürworter eines Abbaus oder gar einer kompletten Abschaffung der kalten Progression durch einen inflationsindexierten Einkommensteuertarif („Tarif auf Rädern“), können sich dabei der Zustimmung einflussreicher wirtschaftswissenschaftlicher Beratungsgremien sicher sein: Die Gemeinschaftsdiagnose empfiehlt regelmäßig den Abbau der kalten Progression, und im Jahresgutachten 2013/14 hat auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Sachverständigenrat) nach einer ausführlichen Analyse mehrheitlich festgestellt, „[e]ine Korrektur des Tarifs ist somit mittlerweile überfällig“1, nachdem er zwei Jahre zuvor noch keinen akuten Handlungsbedarf gesehen hatte.2

Bei der kalten Progression handelt es sich tatsächlich um ein ernstzunehmendes Problem, das grundsätzlich einen Handlungsbedarf bei der Einkommensteuer begründet. Allerdings sollte dabei berücksichtigt werden, dass es in der Vergangenheit immer wieder Entlastungen bei der Einkommensteuer gegeben hat, die die Wirkungen der kalten Progression kompensiert – für die meisten Bürger sogar überkompensiert – haben. Vor diesem Hintergrund kann es nicht mehr darum gehen, eine durch die kalte Progression hervorgerufene generelle Belastung der Steuerzahler auszugleichen; vielmehr rücken Verteilungsfragen der Einkommensbesteuerung in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Die kalte Progression als Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip

Der Tarif der deutschen Einkommensteuer ist – wie in fast allen entwickelten Volkswirtschaften – progressiv ausgestaltet, d.h. der Durchschnittssteuersatz steigt mit zunehmendem Einkommen. Dies ist aus Sicht des Leistungsfähigkeitsprinzips genau so erwünscht: Starke Schultern tragen mehr als schwache. Das Problem besteht nun aber darin, dass der Einkommensteuertarif in Bezug auf das nominale, d.h. nicht inflationsbereinigte Einkommen definiert ist. Das führt dazu, dass die prozentuale Steuerbelastung bei nominalen Einkommenssteigerungen auch dann zunimmt, wenn diese lediglich die Inflation ausgleichen; die reale Steuerlast steigt, obwohl das Realeinkommen konstant geblieben ist. Ob dies erwünscht ist oder nicht, ist eine normative Frage, bei der es darum geht, woran die steuerliche Leistungsfähigkeit gemessen werden soll. Hielte man das nominale Einkommen für den richtigen Indikator, dann ließe sich die kalte Progression sogar rechtfertigen. Allerdings wäre eine solche Definition von Leistungsfähigkeit extrem unplausibel. Daher geht man üblicherweise davon aus, dass das reale – um die Inflation bereinigte – Einkommen der richtige Indikator für die steuerliche Leistungsfähigkeit ist. Aus diesem Grund sollte der Einkommensteuertarif grundsätzlich am Realeinkommen und nicht am Nominaleinkommen anknüpfen oder zumindest nach einer gewissen Zeit immer wieder an die Inflation angepasst werden.

Gelegentlich findet sich in der Debatte auch die Forderung nach einer Beseitigung von „heimlichen Steuererhöhungen“: Der Einkommensteuertarif soll dabei nicht nur an die Inflationsrate, sondern an die Wachstumsrate der durchschnittlichen Brutto-Nominaleinkommen angepasst werden.3 Dadurch bliebe das Einkommensteueraufkommen in Relation zum nominalen BIP konstant. Die steuerliche Leistungsfähigkeit bemäße sich in diesem Fall nicht mehr nach der Höhe des realen Einkommens, sondern nach dem Abstand zum Durchschnittseinkommen.4 Ein individueller Einkommensanstieg rechtfertigte eine Höherbesteuerung nur dann, wenn sich dadurch die Einkommensposition relativ zum Durchschnitt verbesserte. Es ist allerdings unklar, ob hinter der Forderung nach einer Vermeidung „heimlicher Steuererhöhungen“ tatsächlich solche normativen Überlegungen stehen oder ob es nicht eher um das simple Ziel einer einnahmeseitigen Begrenzung der Staatstätigkeit geht. Im Folgenden wird daher nur die übliche Definition der kalten Progression zugrunde gelegt.

Tabelle 1
Beispielrechnung zur kalten Progression für verschiedene Bruttoeinkommen1
Bruttoeinkommen 2014 10 000 15 000 20 000 40 000 60 000
Zu versteuerndes Einkommen 2014 in Euro 7234 11 370 16 005 33 177 51 329
Zu versteuerndes Einkommen 2015 in Euro 7358 11 556 16 289 33 690 52 182
Steuer/zu versteuerndes Einkommen 2014 in % 0 4,49 9,95 19,84 25,96
Steuer/zu versteuerndes Einkommen 2015 in % 0 4,73 10,22 20,04 26,21
Steuer/Bruttoeinkommen 2014 in % 0 3,40 7,97 16,46 22,21
Steuer/Bruttoeinkommen 2015 in % 0 3,59 8,20 16,63 22,46
Steuerdifferenz in Euro 0 37 71 169 354
Um 1,5% höhere Steuer 0 7,65 23,89 98,74 199,86
Effekt der kalten Progression (über Abzüge und Tarif) in Euro 0 29,35 47,11 70,26 154,14
Effekt in % des Bruttoeinkommens 0 0,19 0,23 0,17 0,25

1 Alle Werte beziehen sich auf ein ganzes Kalenderjahr.

Quelle: eigene Berechnungen auf der Grundlage des Einkommensteuertarifs 2014 und pauschaler Abzüge (Vorsorgepauschale, Arbeitnehmerfreibetrag, Sonderausgabenpauschbetrag); ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags.

Welche Wirkungen entfaltet die kalte Progression, wenn sie nicht ausgeglichen wird? Um dies in Abhängigkeit von gegebenen Bruttoeinkommen realistisch zu erfassen, muss man nicht nur den progressiven Einkommensteuertarif berücksichtigen, sondern auch die Bestimmung des zu versteuernden Einkommens als Bemessungsgrundlage, die durch Abzüge vom Bruttoeinkommen vorgenommen wird. Werden die Abzüge nicht mit der Inflation erhöht, dann steigt das zu versteuernde Einkommen rascher als das Bruttoeinkommen. Daraus ergibt sich dann eine zusätzliche Belastung. Hinzu kommt, dass das überproportional gestiegene Bruttoeinkommen auch noch mit einem höheren Steuersatz belastet wird. Diese beiden Effekte lassen sich kaum sauber trennen; daher wird in Tabelle 1 die gesamte überproportionale Mehrbelastung ausgewiesen. Hier wird für einen Alleinstehenden ohne Kinder mit Steuerklasse 1 die jeweilige Mehrbelastung für verschiedene Bruttoeinkommen aufgezeigt. Dabei wird der Effekt für 2015 (bei konstantem Steuerrecht 2014) ermittelt. Unterstellt werden eine Inflationsrate von 1,5% und ein Anstieg des nominalen Bruttoeinkommens im selben Umfang. Diese Berechnungen werden für unterschiedliche Bruttoeinkommen des Ausgangsjahres (2014) durchgeführt.

Der Effekt auf den Monat heruntergebrochen bliebe für alle aufgeführten Einkommen unter 60 000 Euro im einstelligen Bereich. Erst bei deutlich höheren Inflationsraten oder über einen längeren Zeitraum kommt es zu einem nennenswerten Belastungseffekt für den Einzelnen. Aufgrund der hohen Zahl von Steuerzahlern ist der Aufkommenseffekt der kalten Progression aber spürbar. Für eine Inflationsrate von 2% beträgt er gut 3 Mrd. Euro. Bei einer niedrigeren Inflationsrate – wie derzeit zu beobachten – sind alle Effekte entsprechend geringer. Wichtig ist, dass die kalte Progression einkommensabhängig wirkt. Dabei steigt die absolute Belastung mit steigendem Bruttoeinkommen, während die Belastung in Relation zum Bruttoeinkommen bei hohen Einkommen tendenziell abnimmt. Abbildung 1 zeigt die entsprechenden Belastungsprofile in Abhängigkeit vom Bruttoeinkommen.

Abbildung 1
Effekte der kalten Progression
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Quelle: eigene Berechnungen, ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags.

Wie Abbildung 1b zeigt, variiert der Effekt der kalten Progression in % des Bruttoeinkommens insbesondere für Einkommen bis rund 72 000 sehr stark, bevor er stetig zurückgeht und dann bei Einkommen, die der Reichensteuer unterliegen, noch einmal geringfügig steigt. Dabei bleibt die Mehrbelastung für den Einkommensteuertarif 2014 und eine unterstellte Inflationsrate von 1,5% für die meisten Einkommen unter einem Viertelprozent. Der auf den ersten Blick etwas merkwürdige Verlauf der Kurve ergibt sich aus dem Zusammenspiel des Steuertarifs und der verschiedenen Abzugsbeträge. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil des aus der kalten Progression resultierenden Aufkommens von hohen Bruttoeinkommen getragen wird,5 so dass ein Abbau der kalten Progression insgesamt – entgegen landläufiger Vorstellungen – auch stark den Beziehern hoher Einkommen zugute kommen würde.

Änderungen des Einkommensteuertarifs seit 1991

Auch wenn die kalte Progression grundsätzlich ein ernsthaftes Problem darstellt, muss man zur Klärung der Frage, ob ein akuter politischer Entlastungsbedarf besteht, die konkrete Belastungsentwicklung im Zeitablauf betrachten. Bei der Frage nach einem möglichen Entlastungsbedarf spielt daher die (jüngere) Geschichte der Einkommensteuer in Deutschland eine wichtige Rolle. Bekanntlich wurde der Einkommensteuertarif in der Vergangenheit permanent reformiert. Sieht man von der Einführung des Solidaritätszuschlags 1991 bzw. 1995 und der „Reichensteuer“ 2007 ab, gingen sämtliche Reformen seit 1991 für alle Einkommensgruppen fast immer in Richtung Entlastung: Der steuerliche Grundfreibetrag stieg von 2872 Euro im Jahr 1991 auf heute 8354 Euro; der 1996 von 19% auf 25,9% angehobene Eingangssteuersatz sank seit 1998 auf 14%, der Spitzensteuersatz von 53% auf 42%, ab 2007 mit „Reichensteuer“ auf 45% (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2
Tarifliche Einkommensteuersätze 1991, 1998 und 2014
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Quelle: Bundesministerium der Finanzen, eigene Berechnungen.

Konnten die Entlastungen beim Steuertarif die Belastungen aus der kalten Progression kompensieren? Um dies beurteilen zu können, wurden die Steuertarife des Jahres 1991 und 1998 inflationsbereinigt und mit dem geltenden Tarif des Jahres 2014 verglichen. Abbildung 3 zeigt die tariflichen Grenz- und Durchschnittssteuersätze des Jahres 2014 sowie der Tarife von 1991 und 1998, die um die kalte Progression bereinigt wurden. Bei den bereinigten Tarifen handelt es sich um den nach rechts – um den Faktor 1,51 bzw. 1,29 (Inflation von 1991 bis 2014 bzw. 1998 bis 2014 gemäß Verbraucherpreisindex) – verschobenen Tarif des Jahres 1998.6

Es zeigt sich, dass die kalte Progression von 1998 bis 2014 durch die Tarifreformen seit 1998 nicht nur ausgeglichen, sondern sogar weit überkompensiert worden ist. Zwar ist die tarifliche Entlastung bei den Grenzsteuersätzen im Einkommensbereich von etwa 31 000 bis 55 000 Euro durch die Effekte der kalten Progression mittlerweile aufgezehrt worden. Der Durchschnittssteuersatz des geltenden Tarifs 2014 liegt dagegen für alle Einkommensbereiche größtenteils deutlich unterhalb des inflationsbereinigten Tarifes für das Jahr 1998. Bei dieser Betrachtung ergibt sich somit kein akuter Handlungsbedarf für einen Ausgleich der kalten Progression. Etwas anders sieht es aus, wenn man den Einkommensteuertarif 1991 als Referenz heranzieht und inflationsbereinigt. In diesem Fall liegen die Grenzsteuersätze des heute gültigen Steuertarifs bei zu versteuernden Einkommen von etwa 11 000 bis 66 000 Euro zum Teil deutlich über dem inflationsbereinigten Tarif von 1991. Und beim Durchschnittssteuersatz ergibt sich nach dem geltenden Tarif 2014 immerhin in einem Einkommensbereich von 40 000 bis 88 000 Euro eine moderat höhere Belastung.

Abbildung 3
Tarifliche Einkommensteuersätze 1991 und 1998 mit Ausgleich der kalten Progression sowie 2014
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KP = Kalte Progression

Quellen: Bundesministerium der Finanzen, Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.

Offensichtlich hängt das Urteil über eine Korrekturbedürftigkeit der kalten Progression stark vom gewählten Referenztarif ab. Nimmt man den Tarif des Jahres 1998 – unmittelbar vor den drastischen Steuersenkungen der rot-grünen Bundesregierung – als Referenz, so ergibt sich kein akuter Handlungsbedarf.7 Nimmt man dagegen den Tarif von 1991 als Referenz, liegt eine Reformnotwendigkeit aufgrund der in weiten Einkommensbereichen gestiegenen Belastung nahe. Allerdings wäre eine Entlastung wiederum auch nicht zwingend, denn unmittelbar vor dem Referenzjahr 1991 hatte die massive dreistufige Einkommensteuerreform der schwarz-gelben Koalition unter dem damaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel stattgefunden. In der Tat zeigen Boss et al., dass die kalte Progression durch die Steuertarifreformen der Vergangenheit von 1958 bis 2013 für die meisten betrachteten Haushaltstypen sogar überkompensiert worden ist.8 Die Steuerbelastung liegt heute auf jeden Fall spürbar unterhalb des Belastungsniveaus Mitte bis Ende der 1990er Jahre und weit unter derjenigen der 1970er und 1980er Jahre.

Änderungen bei Bemessungsgrundlage, Kindergeld und Kinderfreibeträgen seit 1991

Nicht berücksichtigt wurden in den bisherigen Betrachtungen die zahlreichen weiteren Steuerrechtsänderungen, die die Einkommensteuerbelastung beeinflussen: Zu den Änderungen am Einkommensteuertarif kamen bedeutende Verbesserungen beim Kindergeld (von monatlich 113 Euro im Jahr 1998 auf 184 Euro im Jahr 2010) und bei den Kinderfreibeträgen (von 3534 Euro im Jahr 1998 auf 7008 Euro im Jahr 2010). Darüber hinaus sind durch das Alterseinkünftegesetz von Jahr zu Jahr prozentual steigende Anteile der Rentenversicherungsbeiträge steuerlich absetzbar und durch das Bürgerentlastungsgesetz ein Großteil der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung.

Um einen eventuellen Entlastungsbedarf aufgrund progressionsbedingt gestiegener Belastungen nachzuweisen, wurde die Lohnsteuerbelastung für unterschiedlich hohe Einkommen von 1991 bis 2014 – ähnlich wie in der Analyse des Sachverständigenrates9 – nach dem jeweils geltenden Steuerrecht ermittelt. Dabei wurden die angenommenen Einkommen 2014 mit Hilfe des Verbraucherpreisindex bis 1991 zurückgeschrieben, so dass in der Modellrechnung zu jedem Zeitpunkt jeweils das gleiche Realeinkommen der Einkommensteuer unterworfen wird. Anders als in der Untersuchung des Sachverständigenrates, der lediglich die Wirkungen der Veränderungen beim Einkommensteuertarif und beim Solidaritätszuschlag im Zeitablauf analysiert, werden in der hier vorgelegten Analyse – wie bei der Berechnung der Lohnsteuer durch die Arbeitgeber – auch die Vorsorgepauschale, der Arbeitnehmerfreibetrag und der Sonderausgabenpauschbetrag berücksichtigt sowie darüber hinaus zusätzlich die Kinderfreibeträge und das Kindergeld einer Günstigerprüfung unterworfen. Untersucht wurden beispielhaft zehn Bruttoeinkommen für drei Gruppen von Steuerpflichtigen: eine ledige Alleinverdienerin (Steuerklasse I), eine verheiratete Alleinverdienerin ohne Kinder (Steuerklasse III) und eine verheiratete Alleinverdienerin mit zwei Kindern.

Zusätzlich wird für die Steuerklasse I auch eine Variante analysiert, bei der die Abzugs- und Freibeträge sowie das Kindergeld für alle Einkommen und Jahre auf dem Stand von 1998 gehalten werden. Diese zusätzliche Variante erlaubt einen ungefähren Vergleich mit Berechnungen, die nur die Wirkung unterschiedlicher Steuertarife, aber nicht die der Abzugsbeträge, im Zeitablauf berücksichtigen und zudem eine separate Einschätzung der Auswirkungen der Abzugsbeträge auf die Steuerlast. Eine steigende prozentuale Steuerbelastung signalisiert – bei annahmegemäß konstantem Realeinkommen – eine Belastungszunahme, die aus der kalten Progression resultiert.

Abbildung 4a zeigt zunächst lediglich die Wirkungen der kalten Progression bei im Zeitablauf geänderten Einkommensteuertarifen ohne Berücksichtigung der Abzugsbeträge. Für alle hier untersuchten Einkommen ergibt sich in den vergangenen zehn Jahren seit etwa 2004 oder 2005 ein spürbarer Anstieg der Belastung – also ein messbarer Effekt der kalten Progression. Am stärksten zeigt sich dies bei den Einkommen von 20 000 bis 60 000 Euro. Zudem liegt die Belastung 2014 für diese Einkommen und auch für Einkommen bis 100 000 Euro geringfügig über der Steuerbelastung im Jahr 1991, jedoch immer unter den höchsten Belastungen Mitte bis Ende der 1990er Jahre.

Ein noch deutlich positiveres Bild ergibt sich – je nach betrachtetem Fall –, wenn man nicht nur die Wirkung der unterschiedlichen Steuertarife, sondern auch die Effekte der seit 1991 stark veränderten Abzugsbeträge und gegebenenfalls des Kindergeldes mit in die Analyse einbezieht (vgl. Abbildungen 4b bis 4d). Im Fall der ledigen Alleinverdienerin liegt die durchschnittliche Lohnsteuerbelastung 2014 für alle Einkommen unter der Belastung, die sich nach dem Stand des Steuerrechts von 1991 errechnet (vgl. Abbildung 4b). Offensichtlich schlagen sich die Entlastungen durch die Altersvorsorgepauschale und vor allem durch das Bürger­entlastungsgesetz im Jahr 2010 spürbar nieder. Ähnliches, wenngleich in abgeschwächter Form, gilt auch für die verheiratete Alleinverdienerin; allerdings sind hier die Entlastungen im Vergleich zu 1991 deutlich geringer. Für Einkommen von 100 000 Euro bzw. 150 000 Euro ergibt sich sogar eine leichte Mehrbelastung (vgl. Abbildung 4c). Diese Mehrbelastung tritt nicht mehr auf, wenn es Kinder im Haushalt gibt. Bei – wie hier unterstellt – zwei Kindern schlägt die Entlastung durch das mehrfach kräftig erhöhte Kindergeld und die Kinderfreibeträge sehr deutlich zu Buche (vgl. Abbildung 4d). Es fällt schwer, auf dieser Basis einen unausweichlichen Handlungsbedarf zur Reduktion oder gar Beseitigung der kalten Progression zu erkennen. De facto ist die kalte Progression seit 1991 fast durchweg durch die Steuerpolitik (Tarifanpassungen plus Erhöhungen von Abzugsbeträgen) deutlich überkompensiert worden.

Abbildung 4
Einkommensteuerbelastung (Arbeitnehmer)
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Zu 4a-d: Einkommen 2014 deflationiert mit dem Verbraucherpreisindex; Einkommensteuerbelastung einschließlich Solidaritätszuschlag. Abzüge: Vorsorgepauschale, Arbeitnehmerfreibetrag, Sonderausgabenpauschbetrag. Ergänzend zu 4d: Berücksichtigung von Kindergeld/Kinderfreibetrag.

Quellen: Bundesministerium der Finanzen, Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.

Die zweifelhafte Analyse des Sachverständigenrates

Wie kommt aber nun der Sachverständigenrat in seiner Mehrheit zu dem Ergebnis, Tarifanpassungen seien wegen der kalten Progression überfällig?10 Neben der Tatsache, dass er die Wirkungen von Reformmaßnahmen bei der Bemessungsgrundlage nicht berücksichtigt, liegt dies vor allem daran, dass er als Referenzjahr für seine Berechnungen 2006 wählt, das nahe beim Minimum der tariflichen Belastungen, nämlich nur ein Jahr nach Abschluss der drastischen Steuersenkungen der rot-grünen Bundesregierung liegt. Seine Begründung, „[m]it dem Jahr 2006 wird im Folgenden ein Jahr gewählt, in dem die vorangegangene Anpassung ein Jahr zurücklag und die kalte Progression bereits einmal wirken konnte. Damit handelt es sich um ein Jahr mittlerer Belastung“11 ist allerdings mehr als befremdlich. Denn ganz offensichtlich handelt es sich dabei um ein Jahr mit geringer Belastung (vgl. Abbildung 4a), weil in den Jahren zuvor die große Entlastungswelle aus den rot-grünen Steuerreformen gewirkt hatte. Dem Sachverständigenrat musste dies auch bekannt sein, denn die Grafik in seiner sachkundigen Analyse der kalten Progression im Jahresgutachten 2011 zeigt dies eindeutig.12

Der Sachverständigenrat bedient sich in seinem Gutachten aus dem vergangenen Jahr aber noch an einer anderen Stelle einer zweifelhaften Argumentation bezüglich der kalten Progression: „Die Steuerquote […] übersteigt den Durchschnitt seit der Wiedervereinigung um 0,9 Prozentpunkte […]. Dies ist zu einem gewissen Teil darauf zurückzuführen, dass – trotz gestiegener Löhne und Preise – der Tarifverlauf der Einkommensteuer in den vergangenen Jahren kaum angepasst wurde. In der Folge kumulierten sich die Mehreinnahmen aus der 'kalten Progression'.“13 Hier wird die kalte Progression zur Ursache eines überdurchschnittlichen Niveaus der Steuerquote gemacht. Ein genauerer Blick in die Steuerentwicklung in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zeigt allerdings, dass ein nicht unerheblicher Teil der überdurchschnittlichen Steuerquote auf eine überdurchschnittliche Quote der indirekten Steuern – und hier vor allem der Umsatzsteuer – zurückzuführen ist. Indirekte Steuern sind jedoch bekanntlich gerade nicht von kalter Progression, sondern tendenziell eher von Proportionalität oder sogar kalter Regression geprägt.14 Zwar lag auch die Quote der direkten Steuern und hier insbesondere der Einkommensteuer 2013 über dem Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2013, doch gerade bei der Lohnsteuer, also jener Steuer, bei der der Effekt der kalten Progression am meisten greift, lag die Quote 2013 mit 6,9% des BIP um 0,3 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt von 7,2% des BIP.15 Wie eine unter dem Durchschnitt liegende Lohnsteuerquote auch nur „zu einem gewissen Teil“ dafür verantwortlich sein soll, dass die Gesamtsteuerquote oberhalb des Durchschnitts liegt, bleibt das Geheimnis des Sachverständigenrats. Offensichtlich waren die fiskalisch teuren Steuerentlastungen bei der Lohnsteuer so stark, dass sie den Effekt der kalten Progression überkompensiert haben.

Verteilungspolitische Gründe für die Korrektur der kalten Progression?

Auch wenn insgesamt kein genereller Bedarf an tariflichen Steuerentlastungen hergeleitet werden kann, bedeutet dies natürlich nicht, dass gar keine Korrekturen am Einkommensteuertarif vorgenommen werden könnten oder sollten. Denn tatsächlich zeigt die hier vorgenommene Analyse, dass sich die Belastungsstruktur der deutschen Einkommensteuer seit 1991 im Zusammenwirken von Steuerrechtsänderungen und kalter Progression erheblich verschoben hat.

Die Abbildungen 5 a-d zeigen nochmals fokussierter die Änderungen bei der Steuerbelastung der verschiedenen Einkommenshöhen im Zeitablauf seit 1991 in % des Bruttoeinkommens. Hier wird deutlich, dass die Bezieher geringer und mittlerer Einkommen, insbesondere, wenn sie Kinder haben, kräftig entlastet worden sind. Noch kräftiger wurden prozentual die sehr hohen Einkommen (über 500 000 Euro) entlastet, während hohe Einkommen (50 000 bis 100 000 Euro für Ledige, bzw. 100 000 bis 150 000 Euro für verheiratete Alleinverdiener) nur eine verhältnismäßig geringe Entlastung erfahren haben bzw. sogar leicht stärker belastet wurden. Daraus folgt natürlich nicht automatisch, dass genau diese relative Benachteiligung der hohen Einkommen gegenüber geringen und mittleren und sehr hohen Einkommen durch gezielte Änderungen des Tarifs korrigiert werden müsste. Es zeigt jedoch, dass es bei der Frage der kalten Progression letztlich um die normative Frage eines – auch über die Zeit – gerechten Tarifverlaufs der Einkommensteuer geht.

Abbildung 5
Einkommensteuerbe- und -entlastung (Arbeitnehmer)
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Zu 5a-d: Einkommen 2014 deflationiert mit dem Verbraucherpreisindex; Einkommensteuerbelastung einschließlich Solidaritätszuschlag. Abzüge: Vorsorgepauschale, Arbeitnehmerfreibetrag, Sonderausgabenpauschbetrag. Ergänzend zu 5d: Berücksichtigung von Kindergeld/Kinderfreibetrag.

Quellen: Bundesministerium der Finanzen, Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.

Steuer- und finanzpolitische Schlussfolgerungen

Angesichts der in den vergangenen zwei Jahrzehnten trendmäßig gestiegenen Disparität in der Einkommensverteilung16 und der Tatsache, dass dies offenbar dem Gerechtigkeitsempfinden einer großen Mehrheit der Bevölkerung widerspricht,17 ließe sich durchaus die Forderung nach einer steuerlichen Entlastung der Einkommen im unteren und mittleren Bereich des Einkommensteuertarifs bei gleichzeitiger Höherbelastung der Einkommen im höchsten Bereich ableiten. Zwar muss man sich darüber im Klaren sein, dass sich die im hohen Bereich erzielbaren Mehreinnahmen eher im Bereich einstelliger Milliardenbeträge bewegen18 und damit kaum zu einer durchschlagenden Entlastung im besonders aufkommensstarken unteren und mittleren Tarifbereich geeignet wären. Jedoch könnte mit einer stärkeren Belastung hoher und höchster Einkommen immerhin eine leichte Abflachung des sogenannten „Mittelstandsbauches“ beim Einkommensteuertarif und eine weitere Anhebung des Grundfreibetrages finanziert werden, wodurch gleichzeitig auch die kalte Progression für voraussichtlich wenige Jahre ausgeschaltet würde. Die Verwendung von strukturellen Einnahmeverbesserungen zur steuerlichen Entlastung im unteren und mittleren Einkommensbereich konkurriert dabei naturgemäß immer mit der Verwendung zugunsten einer Aufstockung der öffentlichen Investitionen.

Ein nicht gegenfinanzierter Ausgleich der kalten Progression lässt sich dagegen auf Basis der hier vorgelegten Belastungsanalyse kaum rechtfertigen. Er würde zudem fiskalisch sehr teuer. Würde man den Einkommensteuertarif jährlich an die Inflationsrate anpassen (Indexierung, „Tarif auf Rädern“), so müsste bei einer Inflationsrate von 2% mit stetig steigenden Aufkommensverlusten von zusätzlich gut 3 Mrd. Euro für jedes Jahr gerechnet werden. Würde der Tarif 2015 „auf Räder“ gestellt – also indexiert – und betrüge die durchschnittliche Inflationsrate 2%, dann würde das 2018 bereits strukturelle fiskalische Kosten von 12 Mrd. Euro für die öffentlichen Haushalte bedeuten. Vor dem Hintergrund der Schuldenbremse ist dies eine Belastung, die sich eine verantwortungsvolle Finanzpolitik angesichts weiterhin ungedeckter großer – vor allem investiver – Ausgabenbedarfe und zunehmender Konjunkturrisiken nicht aufbürden sollte.


Der vorliegende Beitrag basiert zum Teil auf Berechnungen und Argumenten aus K. Rietzler, D. Teichmann, A. Truger: IMK-Steuerschätzung 2014-2018, Mehreinnahmen verantwortungsvoll nutzen – mit Rückschlägen rechnen, IMK Report, Nr. 93, Düsseldorf 2013. Diese wurden aktualisiert und weiterentwickelt.

  • 1 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/14, Wiesbaden 2013, S. 368.
  • 2 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Verantwortung für Europa wahrnehmen, Jahresgutachten 2011/12, Wiesbaden 2011, S. 208.
  • 3 Vgl. A. Boss, A. Boss, T. Boss: Der deutsche Einkommensteuertarif. Weiterhin eine Wachstumsbremse?, Institut für Weltwirtschaft, Kieler Arbeitspapier, Nr. 1304, Kiel 2006.
  • 4 A. Boss, H. C. Müller, A. Schrinner: Einkommensteuerbelastung ausgewählter Haushaltstypen in Deutschland von 1958 bis 2013, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 187-193.
  • 5 Vgl. S. Bach, P. Hahn, R. Ochmann: Reformvorschläge zur Einkommensteuer: Mehr echte und weniger kalte Progression, in: DIW Wochenbericht, 80. Jg. (2013), Nr. 30, S. 8 f.
  • 6 Vgl. zur tariflichen Berücksichtigung der kalten Progression auch P. Gottfried, D. Witczak: Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen der „heimlichen Steuerprogression“ und steuerpolitische Handlungsoptionen zur Entlastung von Bürgern und Wirtschaft, Endbericht zum Projekt I D 4 – 60/07 im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, IAW-Kurzbericht, Nr. 1/2008, Tübingen.
  • 7 Vgl. A. Truger: Rot-grüne Steuerreformen, Finanzpolitik und makroökonomische Performance – was ist schief gelaufen?, in: E. Hein, A. Heise, A. Truger (Hrsg.): Finanzpolitik in der Kontroverse, Marburg 2004, S. 169-208; A. Truger: Ökonomische und soziale Kosten von Steuersenkungen, in: Prokla 154, 39. Jg. (2009), H. 1, S. 27-46; A. Truger: Schwerer Rückfall in alte Obsessionen – Zur aktuellen deutschen Finanzpolitik, in: European Journal of Economics and Economic Policies: Intervention, 7. Jg. (2010), H. 1, S. 11-24.
  • 8 Vgl. A. Boss, A. Boss, T. Boss, a.a.O.
  • 9 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2011/12, a.a.O., S. 208.
  • 10 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2013/14, a.a.O., S. 367 ff.
  • 11 Ebenda, S. 367.
  • 12 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2011/12, a.a.O., S. 208.
  • 13 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2013/14, a.a.O., S. 309.
  • 14 J. Boysen-Hogrefe, D. Groll, N. Jannsen, S. Kooths, B. van Roye, J. Scheide: Deutsche Wirtschaft am Rande einer Rezession, Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Kieler Diskussionsbeiträge, Nr. 496, Kiel 2011, S. 12.
  • 15 In der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Dieser Zusammenhang galt auch vor der jüngsten VGR-Revision.
  • 16 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2013/14, a.a.O., S. 376 ff.
  • 17 Institut für Demoskopie Allensbach: Was ist gerecht? Gerechtigkeitsbegriff und -wahrnehmung der Bürger, Allensbach 2013.
  • 18 Vgl. S. Bach, P. Hahn, R. Ochmann, a.a.O.

Title:Bracket Creep: Sober Analysis Required

Abstract:The call for indexing the German income tax schedule to inflation in order to eliminate bracket creep has become widespread in the German tax policy debate. While it is indeed problematic that tax rates rise even when real incomes remain constant, the authors show that currently this is no reason for tax cuts. Changes in both the tax schedule and deductible allowances have more than offset the effects of bracket creep for most taxpayers since 1991. This is illustrated with calculations for a range of constant real incomes and family constellations. However, as the relative tax relief since 1991 has strongly favoured top incomes, a reform of the tax schedule that raises the top tax rate while providing some tax relief for lower and medium incomes may be justified.

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DOI: 10.1007/s10273-014-1761-z