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Die aktuelle Finanzkrise hat es an den Tag gebracht. Die Mehrzahl der wirtschaftlichen Akteure handelt nicht in der Form rational, wie es die ökonomische Theorie erwartet, sondern nach alltagsökonomischen Faustregeln. Rational sind diese nur insoweit, als es sich nach Auffassung der Masse vor allem in Situationen der Unsicherheit bewährt hat, bei der „Herde“ zu bleiben. Der Autor befürchtet, dass die Ökonomik das Verhalten dieser Akteure nicht versteht.

Dass in der Wirtschaft Rationalität herrscht, wird in der Ökonomie allmählich systematisch bezweifelt, nicht nur in Akerlofs und Shillers Buch „Animal Spirits“,1 sondern bereits länger in den experimentellen Forschungen zum ökonomischen Verhalten, unter anderem in der neuen Richtung der Neuro­economics, die das Verhältnis von Kognition und Emotion untersucht. Unter dem Eindruck der aktuellen Krise werden diese Forschungen forciert, und es bedarf keiner großen Prophezeiungen, dass die Wirtschaftswissenschaft vor einer Wende steht, die neue Theorietypen hervorbringt.2 Die methodisch vorausgesetzte Rationalität wird sich als Spezialfall erweisen, deren Geltungsbedingungen besonders zu begründen sind. Vor allem wird genauer untersucht, welche Vorstellungen von Wirtschaft die in ihr tatsächlich beteiligten Akteure haben. Ihre mentalen Modelle unterscheiden sich zum Teil signifikant von dem, was Ökonomen ihren Modellakteuren unterstellen. Sie sind nicht nur partiell, unterkomplex, emotional, mit nicht-ökonomischen Auffassungen durchsetzt, sondern folgen oft einfachen Maximen, die zum Kulturgut einer Wirtschaftsgesellschaft zu gehören scheinen, nur nicht zur Wirtschaft und ihrer wissenschaftlichen Erklärung.

Unterschiedliche Sprachen

Ökonomen sprechen die ökonomische Sprache Ö. Jedermann spricht dagegen die Alltagssprache A, in der, unter anderem, ökonomische Vorstellungen ausgesagt werden. Das Phänomen ist vertraut, dass wirtschaftliche Tatsachen und Zusammenhänge in Ö wie auch in A benannt werden können, beachtet wird aber gewöhnlich nicht der Unterschied. In A wird über Wirtschaft in etwa so geredet: „Der Kapitalismus will nur Profit; er kümmert sich nicht um die Menschen“; „die Wirtschaft ist übermächtig“; „die Banken wollen nur an uns verdienen“, „die Werbung will uns nur für blöd verkaufen“, „Hartz IV beschleunigt die Armut in Deutschland“ etc.

Man mag das für triviale Aussagen halten. Das ist zwar richtig, aber ohne Problemhorizont. Die Mehrzahl der Menschen denkt in dieser Semantik, wenn auch unterschiedlich verteilt. Wenn aber viele in der Bevölkerung so denken, dann ist die Ökonomie, die in Sprache A ausgesagt wird, größtenteils verschieden von der Ökonomie in Sprache Ö. Man kann das weiterhin für trivial halten, aber nicht mehr dann, wenn in Sprache Ö unterstellt wird, die Handlung der Bevölkerung werde richtig als rational beschrieben. Die Menschen denken und handeln, wenn sie A statt Ö sprechen, aus anderen Gründen. Oder gar nicht aus Gründen, sondern aus Haltungen, Meinungen, Motiven, Regeln etc.3

Arjo Klamer hatte dies „ersatz-economics“ genannt, explizit mit diesem deutschen Ausdruck im Englischen.4 Philip Pettit spricht von „folk psychology“.5 Ronald A. Heiner hatte, in einem anderen Kontext, gezeigt, dass Wirtschaftsakteure immer dann, wenn sie die Wahrscheinlichkeiten eines erwarteten Ereignisses nicht einschätzen können, auf „rules of thumb“ zurückfallen, auf Faustregeln, die ihnen die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit bewahren.6 Es geht dann nicht um rationale Entscheidung, sondern generell um Entscheidungsfähigkeit: eher um Dezision als um „rational choice“.7

Zur Erklärung der aktuellen Krise gibt Robert Shiller einen Hinweis: „Der Ursprung der Krise ist der Häusermarkt, da gibt es kein Vertun. Dort hatte sich eine Reihe von wirren Vorstellungen breitgemacht. Eine von ihnen war die Annahme, dass Hauspreise immer nur steigen und niemals fallen können und dass die Investition in ein Haus zu jedem Zeitpunkt eine phänomenale Anlage darstellt. Das war, wie sich inzwischen herausgestellt hat, eine grobe Fehleinschätzung.“8 Diese alltagsökonomische Regel, dass Häuser immer eine sichere Anlage seien, kennen wir auch in der deutschen Wirtschaftskultur. Sie gehört ins kollektive Gedächtnis seit der Hyperinflation 1923, in der sich die Geldvermögen auflösten, sich aber die Immobilien als sichere Anlagen erwiesen hatten. Shiller rubriziert es unter Herdenverhalten: „Immer wieder gibt es dieses Herdenverhalten. ... Warum stiegen denn die US-Häuserpreise? ... Die Baukosten waren konstant, die Bevölkerung wuchs nicht, die Zinsen fielen kaum.“9

Alltagsökonomische Faustregel

Die Menschen haben nicht kalkuliert, sondern folgen einer alltagsökonomischen Faustregel, die ihnen so einleuchtend ist, dass sie nicht mehr daran denken, die Umstände zu erwägen. Ihre Urteilsfähigkeit setzt aus, weil sie bereits über ein Urteil verfügen, das so allgemeingültig zu sein scheint, da es andere auch teilen. Solche „shared mental models“ haben, nach Douglass C. North, institutionelle Qualität.10 Man weiß sich eins mit den anderen: was alle meinen, kann nur richtig sein. Es ist eher unangebracht, sich aus diesem Konsensus auszuschließen, weil dann nach Gründen gefragt wird. Der Anschluss an Meinungen anderer erscheint rational; eine individuelle rationale Entscheidung dagegen scheint eigensinnig, sich von den anderen ausschließend, als „gegen alle Einsicht“. Es handelt sich um eine Umkehrung der individuellen Urteilskraft: statt selbständig zu überlegen, ist der Anschluss an das, was andere meinen, opportun. Der gemeinschaftliche Gedanke wird zum Attraktor. Man schließt sich dem „Man“ an. In dieser kommunikativen Geborgenheit sinkt das Risikobewusstsein. Solche Alltagsregeln beeinflussen das Handeln in einem Maße, wie es die individualistisch räsonierende Ökonomie nicht vorsieht. Menschen beobachten andere Menschen, wie sie sich verhalten, was sie meinen, um sich anzuschließen.11 Der kognitive Aufwand, den die Ökonomie für ihre „rational actors“ vorzieht, wird alltagsökonomisch häufig kollektivistisch unterlaufen. Wir haben es hier mit einer rationalen Betrachtung insofern zu tun, als der Nutzen, andere Handlungen zu kopieren, größer ist als die Kosten der rationalen Abwägung (unter der Nebenbedingung, dass so viele andere sich schon nicht irren). Hier spielen auch Risikoabwägungen eine Rolle. Individuelle Entscheidungen sind riskant; Faustregeln zu befolgen auch, aber das Risiko wird sozial abgefedert, weil alle anderen auch fehlgingen. Ein kollektiver Fehler ist keiner, der individuell zugeschrieben werden kann. In diesem Sinne sind Faustregeln in Ungewissheitssituationen rational, weil man die Kosten des Reputationsverlustes bei Fehlgängen minimiert (eine Minimal-Regret-Strategie). Es ist interessant, dass diese Verhaltensstrategie nur funktioniert, wenn man sich der Gemeinsamkeit der Weltbetrachtung versichert hat; das ist ein kommunikatives Moment. Die meisten Alltagsregeln sind ins kollektiv Unbewusste der Gesellschaft gerutscht. In ihrer Entstehung aber folgen sie rationalen Abwägungen, die kommunikativ bzw. im Diskurs erarbeitet werden.

Wir erleben solche Mythenbildungen gerade. Robert Shiller spricht von „Geschichten“: „In der Welt, in der wir leben, besteht eine grundlegende Unsicherheit. Ereignissen, die in der Zukunft liegen, lässt sich nicht leichter Hand eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit beimessen. Menschen bilden und organisieren ihre Erinnerungen, ihr Bewusstsein um 'Geschichten' herum. Diese 'Geschichten' beeinflussen das Verhalten der Menschen und damit den Wirtschaftskreislauf“12. Eine solche Geschichte lautet momentan: An der Finanzkrise hat niemand Schuld, sie ist ein systemischer Effekt. Hier wird das Laissez-Faire-Argument des Marktes umgedreht: statt dass der Markt alles optimal regelt, wird behauptet, dass er die Krise herbeigeführt habe. Das Argument dient vor allem der strukturierten Verantwortungslosigkeit der beteiligten Entscheider (und der Derivatenkäufer, die sich Papiere andrehen ließen, die weder sie noch ihre Verkäufer bei der Bank verstanden haben. Hierbei dominiert die Überredung die risikobewusste Entscheidung).13

Das hängt mit einer anderen Geschichte zusammen, die bis Ende 2008 das Handeln beeinflusste: Der neue Kapitalismus hätte so intelligente mathematische Optimierungsprogramme, die alle Risiken abschätzen könnten. Noch deutlicher wird Robert Shiller über eine weitere alltagsökonomische Geschichte: „In den neunziger Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, stand alles unter dem Eindruck eines aufstrebenden Kapitalismus. Jedermann glaubte plötzlich sein Talent als Investor zu erkennen. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass normale Arbeiter mehr und mehr als Verlierer angesehen wurden. Der Eindruck davon, wie die Welt wohl funktioniert, wurde sehr egozentrisch. So wurde die Grundlage für die Blase auf den Aktienmärkten geschaffen. Es war also eine durch und durch fundamentale Entwicklung ... und es setzte eine Suche nach dem Sinn bei den Menschen ein. Sie mussten sich eine andere 'Geschichte' suchen, um ihr Selbstwertgefühl zu retten. Das war der Zeitpunkt, zu dem die Hauspreise schneller zu steigen begannen, aber auch die Preise für Öl und andere Rohstoffe. Sie sehen: Es hat sehr viel mit Psychologie zu tun, was in der Wirtschaft geschieht“14.

In den USA war die Krediterleichterung für den Hauskauf ein politisches Programm gewesen, das auch den ärmeren Bevölkerungsschichten Vermögen schaffen sollte. Zwei alltagsökonomische Regeln bildeten sich heraus: 1. die Wirtschaft entwickelt sich positiv und 2. die Ärmeren können sich investiv daran beteiligen. Beide Maximen wurden grundiert durch eine ältere: 3. das eigene Haus war immer schon die beste Form der Vermögenssicherung. Nennen wir es ein liberalistisches Sozialprogramm. Fernab von jeder ökonomischen Einschätzung wurden diese Regeln euphorisch kommuniziert und fanden bei der Wirtschaft begeisterte Anbieter. Wer nachrechnete und skeptisch blieb, wurde mit zwei weiteren Regeln bedient: 4. die Banken haben mathematisch abgesicherte Risikoprogramme. Und 5. die größten Banken geben diese Papiere heraus. Da kann nichts schiefgehen. Sie sind zu groß, um unterzugehen („too big to fail“). Eine Variante 5a lautete: alle Banken geben diese Papiere heraus. Das würden sie nur machen, wenn alles sicher ist. Da wird nichts mehr übersehen. Intern beruhigten sich die Investmentbanker, die immerhin wissen konnten, dass hohe Profite hohe Risiken bergen, mit der Maxime 6. Notfalls bürgt der Staat für die Banken. Bei dieser Dimension kann er die Banken im Krisenfall nicht hängen lassen.

Die Geltung dieser Maximen kann nur durch immerwährende Kommunikation gewährleistet sein. Alle haben bald das Gefühl, dass alle anderen das ebenso sehen. Man hört immer wieder dieselben Argumente, was dafür spricht, dass sie richtig sein müssen, denn sonst hätten kompetente Experten ja schon längst widersprochen haben müssen. Dass es diese Experten gibt (z.B. Shiller, Roubini oder Stiglitz, um nur die Prominentesten zu nennen), nimmt die allgemeine Kommunikation aber nicht wahr, oder hält sie eben für die Randmeinungen, die die allgemein richtige Einschätzung nicht berühren. Vor allem setzten die Maximen das Risikobewusstsein aus. Wenn man sich an eine Regel hält, die alle befolgen, ist das Risiko, das dann eintreten mag, kein individuelles, sondern eines, von dem alle betroffen sind. So wird das Risiko zum Schicksal, gegen das man sowieso nichts tun kann – gleichsam eine Metaregel der Alltagsökonomie. Die individuelle Entscheidung wird in kollektive Kohärenz eingebettet.

Die deutsche Wirtschaftskultur

In der deutschen Wirtschaftskultur gelten die amerikanischen Maximen 3 + 5 + 6, aber modifiziert. Die mathematische Absicherung der Risikoprogramme brauchte nicht so stark betont zu werden, weil die deutschen Anleger ihrer Bank sowieso positiv gegenüberstanden. Das Mathematik-Argument wäre ihnen zu kompliziert vorgekommen (außerdem sind die Deutschen leicht technophob). Dass alle Banken so vorgehen und dass der Staat sie sichere, ist eine Grundmaxime deutscher Wohlfahrtsstaatseinstellung. Das Vertrauen in die Bank-Staat-Relation war hoch. Alle hatten das Gefühl, extrem versichert zu sein. Dieses Gefühl hält in der Krise allgemein noch an. Die Regelvariante heißt 6d: Der Staat bürgt für die Banken (nicht nur im Notfall, sondern irgendwie generell).

Die Maxime 1 hat die deutsche Variante 1d: Deutschland ist eine der stärksten Wirtschaften der Welt. Das weicht momentan auf, bleibt aber im Grunde stabil. Maxime 2 ist in Deutschland nie virulent geworden: dass die Ärmeren Investoren werden, bleibt fremd. Man hofft lieber auf den Staat und seine Sozialtransfers. Das liberale Ideal des selbständigen und unabhängigen Bürgers ist in unserer Wirtschaftskultur nicht verallgemeinerungsfähig. Maxime 3 gehört zum Grundbestand an alltagsökonomischen Überzeugungen. Aber in spezieller Variante: man spart dafür. Meine Großeltern hielten Sparen noch für eine höhere Tugend. Das hat sich in der deutschen Wirtschaftskultur gewandelt: man spart noch weiterhin, aber eher für Konsumgüter und Reisen. Dass man für die Not spart, ist im Wohlfahrtsstaat abgeschafft. Den eigenen Spar­anteil (vornehmlich die Lebensversicherung) will man weiterhin für Konsum (im Alter) aufheben. So war die Empörung groß, als im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen die eigenen Sparvermögen für den Lebensunterhalt ausgegeben werden sollten, bevor der Staat seine Leistungen einbringt. So hatte man im Wohlfahrtsstaat nicht gewettet. Man investiert in den künftigen Konsum. Dennoch findet die Maxime: Spare! Resonanz. Sie bleibt latent. Jeder versteht und befürwortet sie. Ob sie aber das wirtschaftliche Handeln durchgehend beeinflusst, steht in Frage. Die Regel ändert sich womöglich gerade. Vor allem ist sie durch neue Formen staatlicher Investitionsangebote modifiziert, z.B. durch die Riester-Rente. Auf jeden Fall beruht ihre Einführung auf der alten Spare!-Maxime. Die neudeutsche Wirtschaftskultur des Sparens läuft über Versicherungen.

Alltagstheorien bilden Rahmen (frames) für die eigenen wirtschaftlichen Handlungen, betten sie in eine Orientierung ein, die Gewissheit oder Sicherheit gibt. Sie reduzieren komplexe ökonomische Zusammenhänge auf handhabbare Ausführungsregeln. Als in Deutschland japanische Autos eingeführt wurden, gab es eine alltagssprachliche Regel: Japanische Autos sind Schrott. Und in einer Variante galt das auch für italienische oder französische Wagen. Daran orientierte sich das Kaufverhalten Vieler. Natürlich war es schichtenspezifisch; man müsste analysieren, welcher Sprachgemeinschaft („linguistic community“) die Befolger dieser Regel zugehörig sind, bei wem diese Kommunikation läuft. Werbung nutzt diese Alltagsökonomie in extenso. Sie versucht, mit allen Mitteln der Kunst, solche Kommunikationen zu installieren. Der Marke Nivea war es in den 1950er Jahren gelungen, sich als eine Art universale Hautcreme zu kommunizieren, auch als Sonnenschutz (was chemisch absurd ist). Einmal in die Kommunikation gedrungen, wirkt die Marke wie eine Regel, deren Sinn alle verstehen und deshalb die Creme auch bedingungslos kaufen. Die Mercedes-Automobile gelten als „sicher“, die BMW als „schnell“ etc. Wir kennen diese Codes. Sie sind keine bloße „façon de parler“, sondern wirksame Metaphern, an denen sich unser Handeln orientiert.

Netzwerkgebundene Akteure

Die Ökonomie gibt vor, Entscheidungen als individuell und unabhängig zu betrachten. Dabei ist dies lediglich eine theoretische Annahme, ohne weitere Prüfung. Die Prüfungen, die die experimentelle Ökonomie in neuerer Zeit unternimmt, kommen zu abweichenden Ergebnissen:15 die meisten Menschen sind nicht in der Lage, frei und unabhängig zu entscheiden. Sie sind es im Prinzip, aber nicht im konventionellen Wirtschaftsgeschehen. Sie verlassen sich, gerade dann, wenn es um Unsicherheiten geht, auf Regeln und Alltagstheorien. Diejenigen Akteure, die tatsächlich unabhängig entscheiden, sind eine unbekannte Elite, die die Konventionen der normalen Akteure nutzt bis ausnutzt. Eine Minderheit smarter Entscheider begibt sich aus ihrer Sprachgemeinschaft heraus und handelt selbständig. Sie entscheiden gegen die Herde, gegen den Schwarm, zumindest unabhängig von ihm.

Ist die Fähigkeit zur rationalen Entscheidung eine eher seltene Kompetenz? Harrison C. White erklärt, dass Produzenten- wie Konsumentenverhalten eher aus Netzwerkeffekten gegenseitiger Beobachtung entspringt. Produzenten beobachten das Handeln anderer Produzenten, Konsumenten das Handeln anderer Konsumenten.16 Netzwerke sind keine Regeln (auch wenn sie welche haben). Sie zeigen aber, ähnlich wie bei der Regelbefolgung, dass man sich häufig anderer Meinungen und Entscheidungen versichert, bevor man seine eigenen trifft. Es lässt sich als Versicherungseffekt des Entscheidens bezeichnen. Man meint, dann, wenn man die Entscheidungen anderer kopiert, nicht schlechter als andere zu entscheiden und mindestens deren Vorteile nutzen zu können, ohne, durch etwaige individuelle Fehler, sozial bloßgestellt zu werden.

Kann es sein, dass der Kapitalismus im Prinzip einen freien Markt anbietet, den viele aber gar nicht nutzen? Weil sie, in sozialen Netzwerken eingebettet, deren „belief structure“ oder „shared mental model“ übernehmen, um sozial unauffällig zu bleiben? Kann es sein, dass die Theorie der Ökonomie radikaler in Freiheitsbegriffen denkt, als die tatsächlichen Akteure es sich leisten können? Dass die Konnotation von Wirtschaft und Gesellschaft stärker wirksam ist, als die ökonomische Theorie erlaubt? Und kann es deshalb sein, dass die Gesellschaft hinter den Freiheitsofferten der Ökonomie hinterherhinkt? Und dass deshalb die Wirtschaft gar keine freie Wirtschaft ist, sondern eine Wirtschaft der Gesellschaft, mit den Konsequenzen, dass die Akteure netzwerkgebunden handeln, nicht in freier und ungebundener Kognition? Dass der normative Ansatz der Wirtschaftstheorie die Gesellschaft gar nicht in dem Maße durchdrungen hat, wie die Ökonomie methodologisch bereits immer schon unterstellt?

Wenn das so ist, hat die Ökonomik einen entscheidenden Mangel: Sie versteht das Verhalten ihrer Akteure nicht. Stattdessen modelliert sie sie so (rational), wie sie es braucht. Modelliert sie dann aber die tatsächlich ablaufenden Prozesse? Erzählt sie dann nicht lediglich eine Story: ein Narrativ rationaler Allokation, statt zu prüfen, wie Wirtschaft tatsächlich abläuft?

  • 1 G. A. Akerlof, R. J. Shiller: Animal Spirits: How Human Psychology Drives the Economy, and Why it Matters for Global Capitalism, Columbia, Princeton 2009.
  • 2 Vgl. z.B. U. J. Heuser: Humanomics, New York, Frankfurt 2008.
  • 3 Vgl. genauer B. P. Priddat: Economics of persuasion. Ökonomie zwischen Markt, Kommunikation und Überredung, Marburg 2014, Kap. 2.
  • 4 A. Klamer: As if economists and their subjects were rational, in: J. Nelson, A. Megill, D. M. McCloskey (Hrsg.): The Rhetoric of the Human Sciences, Madison 1987, S. 63-192.
  • 5 P. Pettit: Decision Theory and Folk Psychology, in: M. Bacherarch, S. Hurley: Foundations of Decision Theory: Issues and Advances, Oxford 1991, S. 147-163.
  • 6 R. A. Heiner: The Origin of Predictable Behavior, in: American Economic Review, 73. Jg. (1983), H. 4, S. 560 ff.; ders.: Rule-Governed Behavior in Evolution and Human Society, in: Constitutional Political Economy, 1. Jg. (1990), H. 1, S. 19 ff.; G. Gigerenzer: Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2008.
  • 7 R. Bittner: Was ist eine Entscheidung?, in: Ethik & Sozialwissenschaft, 3. Jg. (1992), H. 1, S. 17-22.
  • 8 R. Shiller: Die Märkte in den Dienst der Menschen stellen, FAZ.Net 3.3.2009.
  • 9 M. Zydra: Die zornigen Propheten, Sueddeutsche.de, 20.2.2009.
  • 10 A. T. Denzau, D. C. North: Shared Mental Models: Ideologies and Institutions, in: Kyklos, 47. Jg. (1994), H. 1, S. 3-25, S. 13 ff.
  • 11 Vgl. J. Fuhse, S. Mützel: Relationale Soziologie: Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010.
  • 12 R. Shiller, a.a.O. Forschungen zu Familienunternehmen zeigen, dass es dort auch Geschichten gibt, die als Leitbilder der Unternehmung weitergegeben werden, aber zugleich auch eine Orientierung bilden, die die Ordnung des Unternehmens perpetuiert. Vgl. M. Zwack: Die Macht der Geschichten: Erzählungen als Form der Wertevermittlung in Familienunternehmen, Heidelberg 2011; allgemeiner: K. Frenzel, M. Müller, H. Sottong: Storytelling, München, Wien 2006.
  • 13 Vgl. B. P. Priddat, a.a.O.
  • 14 R. Shiller, a.a.O.
  • 15 Als Summe der Forschungen: D. Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012.
  • 16 H. C. White: Markets from Networks, Princeton 2002.

Title:The Importance of Common Perceptions to Economic Activities

Abstract:Economics has begun to analyse its actors in a new light. Behavioural economics analyses real motives, reasons, attitudes and belief structures, individual and shared mental models, emotions, etc. The everyday behaviour of actors is generally incompatible with rational choice behaviour. Economic theory responds to this disconnect with modified models of rationality, but we have to be aware that defining rationality is aimed more at a normative conception of elegant model-building than it is at trying to explain real behaviour. “Real actors” have models, patterns and interpretations of their own in their economic everyday lives. Thus, economic theory must begin to take into account actors operating according to rules and theories different from those of the general economic models.


DOI: 10.1007/s10273-014-1691-9

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