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Mit der Einführung der Grundsicherung im Sozialgesetzbuch II (SGB II) hat ein Paradigmenwechsel in der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stattgefunden. Durch den vierten und letzten Baustein der Hartz-Reformen wurde das Nebeneinander von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beendet. Ein Verschieben von Arbeitslosen zwischen den beiden Hilfeleistungen war damit nicht länger möglich. Zudem verankerte das SGB II zwei neue, miteinander verbundene Leitlinien: Erstens zielen die Maßnahmen des Gesetzes darauf, dass Leistungsempfänger ihren Lebensunterhalt möglichst durch Erwerbsarbeit sichern können. Zweitens fordert es Eigenverantwortung der Betroffenen ein, um deren Inte­grationschancen zu erhöhen. Mit den Leitlinien wurden die aktivierenden Elemente in der Arbeitsmarktpolitik gestärkt. So soll durch ein breites Spektrum arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen die Beschäftigungsfähigkeit der Leistungsempfänger gefördert und durch fordernde Elemente – wie monetäre Rahmenbedingen und Sanktionen – ihre Konzessionsbereitschaft und Suchintensität gesteigert werden.

Nach der Einführung des SGB II gab es in der Entwicklung der Leistungsempfänger gewisse Fortschritte, in der Struktur blieben jedoch Verfestigungstendenzen. Positiv ist zunächst einmal, dass zwischen 2006 und 2013 die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger (ALG-II-Empfänger) von 5,39 Mio. auf 4,43 Mio. gesunken ist. Zu den Leistungsbeziehern zählen neben den registrierten Arbeitslosen Personen in nicht geförderter Erwerbstätigkeit (Aufstocker), in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen (wie z.B. Ein-Euro-Jobber) oder auch Personen, die aufgrund von Erziehungs- oder Pflegetätigkeit nicht zur Arbeitsuche verpflichtet sind. Noch stärker als bei den Leistungsempfängern insgesamt fiel der Rückgang der Zahl der arbeitslosen ALG-II-Bezieher aus, die im selben Zeitraum von 2,69 Mio. auf 1,89 Mio. zurückging. Dagegen hat sich die Zahl der Aufstocker in den letzten Jahren nur wenig verändert (rund 1,3 Mio.). Trotz der rückläufigen Entwicklung der Zahl der Hartz-IV-Empfänger hat sich der Anteil mit langzeitigem Leistungsbezug kaum verringert. Von den im Dezember 2013 knapp 4,4 Mio. ALG-II-Beziehern empfingen 74% länger als zwölf Monate und 60% länger als 24 Monate ununterbrochen Leistungen nach dem SGB II. Betrachtet man die kumulierte Dauer des Leistungsbezugs der Hartz-IV-Empfänger, erhöhen sich die entsprechenden Langzeitanteile weiter, weil für ehemalige ALG-II-Empfänger ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht. Die massiven Verfestigungstendenzen haben viele Gründe. Empirische Analysen belegen, dass auf individueller Ebene das Fehlen von Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen, ein höheres Lebensalter, gesundheitliche Beeinträchtigungen, fehlende Sprachkenntnisse, die Pflege von Angehörigen, Mutter- bzw. Elternschaft und auch eine lange Verweildauer im Leistungsbezug das Risiko erhöhen, keine existenzsichernde Beschäftigung aufnehmen zu können. Besonders große Integrationsprobleme treten dann auf, wenn sich die genannten Risiken kumulieren.

Auch vorliegende Wirkungsanalysen zum Grundsicherungssystem offenbaren ein insgesamt gemischtes Bild, bei dem allerdings das Licht den Schatten überwiegt. Ein wichtiger Effekt der Reform liegt zunächst einmal darin, dass durch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die Armutslage erstmals in realistischer Weise abgebildet werden konnte. So führte das neue Recht Simulationsrechnungen zufolge zu einer Ausweitung des Kreises anspruchsberechtigter Haushalte und damit zu einer Verringerung verdeckt armer Haushalte. Bemerkenswert ist auch, dass in Deutschland anders als in vielen anderen EU-Ländern Personen, die zwar nicht Vollzeit, aber wenigstens drei Stunden am Tag arbeiten können, als erwerbsfähig eingestuft werden. Im Ergebnis werden damit hierzulande mehr Personen als Langzeitarbeitslose gezählt als in anderen Staaten. Dies offenbart zwar eine große Herausforderung am Arbeitsmarkt, macht aber den politischen Gestaltungsbedarf transparent.

Der Beitrag von Hartz IV zur insgesamt positiven Arbeitsmarktentwicklung seit 2005 lässt sich angesichts vielfältiger weiterer Einflussfaktoren nicht genau beziffern. Es gibt aber Hinweise auf positive Impulse der Reform. Die Konzessionsbereitschaft von Beschäftigten und Arbeitslosen ist nach Einschätzung von Betrieben unmittelbar nach der Grundsicherungsreform signifikant gestiegen. Zudem hat sich nach der Reform die sogenannte „Matching-Effizienz“, also das Zusammenfinden von Arbeitsuchenden und offenen Stellen, verbessert. Auch Langzeitarbeitslose haben davon profitiert, da deren Zahl von mehr als 1,7 Mio. (2005) auf heute gut 1 Mio. abgenommen hat. Im Zuge der Reformen hat auch die strukturelle Arbeitslosigkeit – gemessen an der NAIRU (Non-Accelatering Inflation Ratio of Unemployment als Rate der inflationsneutralen Arbeitslosigkeit) – spürbar abgenommen. Ob die Reformen – wie oft behauptet – zu einer stärkeren Ungleichheit am Arbeitsmarkt, etwa durch zunehmende atypische und gering entlohnte Beschäftigungsverhältnisse beigetragen hat, kann nicht eindeutig belegt werden. Denn diese wuchsen vor den Reformen im Trend stärker als danach. Die ersten zehn Jahre nach der Reform dokumentieren aber auch, dass keine Wunderdinge vollbracht wurden. Denn offenbar ist es ohne einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt schwer, Langzeitleistungsbezug und -arbeitslosigkeit weiter abzubauen. Für Leistungsempfänger im SGB II tun sich neben den bereits genannten Risikomerkmalen weitere Schwierigkeiten auf. Gerade in Regionen mit wenig offenen Stellen und hoher Arbeitslosigkeit sind die Arbeitsmarktchancen von schwer in Arbeit vermittelbaren Personengruppen weiterhin besonders ungünstig. Als zusätzliche Hürde für die Aufnahme einer Beschäftigung dieses Personenkreises kommt hinzu, dass betriebliche Qualifikationsanforderungen in der Vergangenheit gestiegen sind und wohl auch in Zukunft weiter steigen werden. Und schließlich setzt auch die Arbeitsmarktpolitik nach Jahrzehnten der Deregulierung wieder auf Re-Regulierung (z.B. mit dem flächendeckenden Mindestlohn), wodurch sich die Zugangschancen für Outsider am Arbeitsmarkt erschweren.

Bemerkenswert ist, dass die meisten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den beiden Rechtskreisen SGB III und SGB II ähnliche Wirkungen zeigen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass in der Grundsicherung deutlich komplexere Risikokonstellationen vorzufinden sind. Von daher sind die Anforderungen an die Diagnostik und damit an die Professionalität des Fallmanagements hier besonders hoch. Der Schlüssel für weitere, jedoch nicht leicht zu erzielende Fortschritte liegt aber nicht nur in der Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne, sondern auch und gerade in der Prävention – sowohl im Sinne einer Vermeidung von Bildungs- und Ausbildungsarmut als auch in der Befähigung zur Beschäftigung. Zusätzlich kann eine Einbindung der Zivilgesellschaft, z.B. durch Patenschaften für Arbeitslose, Integrationsprozesse erleichtern. Die größte Herausforderung stellt schließlich der harte Kern von Arbeitslosen mit mehrjähriger Erwerbslosigkeit dar.

Die Bilanz nach zehn Jahren Grundsicherung legt keine Reform der Reform nahe. Ein noch stärkeres Fordern, z.B. durch Workfare-Ansätze, die auf eine weitgehende, ethisch fragwürdige Arbeitspflicht setzen, ist nicht zielführend. Ebenso wenig sind dies Konzepte eines bedingungslosen Grundeinkommens, die eine aus fiskalischen Gründen nicht akzeptable Vollkaskomentalität favorisieren. Vielmehr sollte das SGB II weiterentwickelt werden, mit dem Ziel, zu einer insgesamt erfolgreichen Beschäftigungspolitik beizutragen und damit kontinuierlich der Verfestigung von Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Tragfähige Ansätze sind in einem noch professionelleren Fallmanagement, einer insbesondere durch gezielte Qualifizierungsmaßnahmen stärkeren Befähigung des Personenkreises zur Aufwärtsmobilität und der Prävention des Langzeitleistungsbezugs zu sehen. Gerade mit Blick auf Letzteres sind aber neben der Arbeitsmarktpolitik auch andere Politikfelder, insbesondere die Bildungs- und Familienpolitik, gefragt.


DOI: 10.1007/s10273-015-1770-6

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