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Die Ergebnisse der griechischen Wahlen vom Januar haben deutlich gemacht, dass die betroffene Bevölkerung eine einseitige Politik des Sparens nicht mitträgt. Auch in anderen Krisenländern regt sich Widerstand. Darüber, inwieweit und in welchen Ländern eine Austeritätspolitik durchgeführt wurde und ob sie ökonomisch erfolgreich war, gehen die Auffassungen ebenso auseinander wie über das weitere: Sollte Griechenland aus dem Euro aussteigen oder sind nachhaltigere Strukturreformen erforderlich?

Austerität in Europa?

Laut Google-Trends war der Begriff „austerity“ bis 2009 wenig bekannt. Die Suchanfragen kulminierten im Jahre 2012, und bis heute hält das Interesse an, wobei der Begriff oft in Verbindung mit „definition“ gesucht wird. Deshalb ist einleitend eine Begriffsklärung angebracht. Traditionell versteht man in der Finanzwissenschaft unter „Austerität“ einen Kurs rigider Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen oder eine Kombination dieser Maßnahmen. Populär kann eine solche Politik nicht sein; praktiziert wird sie vornehmlich in Notzeiten.

Wo hat es Austerität gegeben?

Während in Übersee der Eindruck vorherrscht, die gesamte Eurozone leide unter einer restriktiven Finanzpolitik, zeigt sich bei genauerem Hinsehen ein differenziertes Bild. Betrachtet man den Zeitraum zwischen der Finanzkrise 2008 und 2013, dem letzten Jahr, für das vollständige Daten vorliegen, dann lassen sich die heutigen Mitgliedstaaten der Eurozone in vier Gruppen einordnen:

  • Fünf Staaten (Deutschland, Estland, Finnland, Luxemburg und Österreich) wiesen zumindest ab 2010 durchgehend eine Defizitquote von unter 3% auf und erfüllten insoweit die Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. Hervorzuheben ist Estland, dessen Budgetsaldo in einem sehr engen Korridor mit einer Defizitquote von maximal 0,5% um den Nullpunkt pendelte.
  • Sechs Staaten (Belgien, Frankreich, Italien, Malta, Niederlande und Slowenien) haben das Defizitkriterium meist oder immer verfehlt. Ihre Schuldenstandsquoten sind gestiegen, und in einigen Fällen könnten alsbald Insolvenzen anstehen. Die gesetzliche Forderung, Schuldenstände auf 60% des BIP zurückzuführen, wird in der Praxis seit Langem ignoriert.
  • Fünf Staaten (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern) haben das Defizitkriterium stets gravierend verfehlt und als „Programmstaaten“ Beistandszahlungen erhalten, nachdem sie wirtschaftlich insolvent waren. Portugal hat seine Defizitquote zwar gesenkt, zugleich aber die Schuldenstandsquote auf 128% des BIP erhöht; dies ist nach Griechenland der zweithöchste Wert in der Eurozone.
  • Lediglich drei Staaten (Lettland, Litauen, Slowakei) betrieben eine Austeritätspolitik im oben definierten Sinn, indem sie hohe Defizitquoten durch entschiedene Konsolidierungsmaßnahmen reduzierten.
Abbildung 1
Defizitquoten der Austeritätsstaaten
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Quelle: Eurostat. Abgerufen wurden im März 2015 die Positionen B9 der Datenbank gov_10a_main.

Abbildung 1 zeigt die Konsolidierungserfolge Lettlands, Litauens und der Slowakei, die anfängliche Defizitquoten von knapp 10% binnen vier Jahren auf unter 3% reduzierten. Dreierlei ist bemerkenswert: Erstens gehören diese drei zu den ärmsten Mitgliedstaaten der Eurozone; ihr BIP pro Kopf liegt weit unter dem Griechenlands. Zweitens wuchs das reale Pro-Kopf-BIP der Austeritätsstaaten im Betrachtungszeitraum enorm, und zwar um 18,6% (Lettland), 23,5% (Litauen) und 11,1% (Slowakei).1 Dieser Befund widerspricht der bequemen Ausrede, zwischen Konsolidierung und Wachstum bestehe ein Zielkonflikt. Drittens waren Lettland, Litauen und die Slowakei in der Finanzkrise 2008 auf sich allein gestellt und nicht Mitglieder der Eurozone. Im Vergleich zu den fünf Programmstaaten, die Abermilliarden an Beistandszahlungen erhielten, drängt sich die Vermutung auf, genau diese Eigenständigkeit habe den Austeritätskurs ermöglicht bzw. erzwungen. Für die Programmstaaten ergibt sich nämlich die in Abbildung 2 dargestellte desaströse Bilanz. In der Darstellung wurde die Angabe der irischen Defizitquote 2010, die mit 32,4% die Grafik gesprengt hätte, zugunsten eines einheitlichen Maßstabes geopfert.

Der Gegensatz zwischen Austeritätsstaaten und Programmstaaten könnte nicht augenfälliger sein: Während die ersteren einen schmerzhaften, aber kurzen Anpassungspfad wählten, dümpeln die letzteren mit nach wie vor vertragswidrigen Defizitquoten und steigenden Schuldenstandsquoten der Insolvenz entgegen. Hervorzuheben ist Spanien, ein Land, in dem die Proteste schon 2012 eskalierten. Wie Abbildung 2 zeigt, betrug die spanische Defizitquote zwischen 2009 und 2012 beständig rund 10%. Im Jahre 2013 sank sie geringfügig auf knapp 7%, einen Wert, der die Vorgabe des Stabilitäts- und Wachstumspakts nach wie vor weit verfehlt. Bis 2012 hat Spanien kaum Anpassungen vorgenommen und die Staatsquote beständig von 38,9% vor der Finanzkrise bis auf 47,3% im Jahre 2012 erhöht; seine Schuldenstandsquote wird demnächst 100% übersteigen.

Abbildung 2
Defizitquoten der Programmstaaten
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Quelle: Eurostat. Abgerufen wurden im März 2015 die Positionen B9 der Datenbank gov_10a_main.

Während die drei Austeritätsstaaten durch Konsolidierung Vertrauen schafften und damit parallel zum Defizit­abbau enorme Wachstumserfolge erzielten, haben die Programmstaaten im Irrglauben, exzessive Staatstätigkeit begünstige die Wirtschaftsentwicklung, Vertrauen verspielt und erhebliche Einbußen erlitten: Im Betrachtungszeitraum 2009 bis 2013 schrumpfte das reale Pro-Kopf-BIP parallel zum „deficit spending“ in Portugal um 3,6%, in Spanien um 4,4%, in Zypern um 12,0% und in Griechenland um 21,7%; lediglich Irland konnte mit 1,0% ein minimales Wachstum erzielen.2

Komplettiert wird das Bild, das die Programmstaaten abgeben, durch eine Betrachtung ihrer gesamtwirtschaftlichen Konsumquoten. Eine gesamtwirtschaftliche Konsumquote ist das Verhältnis von Endverbrauch und verfügbarem Einkommen aller Sektoren – von Haushalten, Unternehmen und vom Staat. Steuern, die Einkommen zwischen Staat und Privaten umverteilen, haben keine unmittelbare Wirkung auf diese Maßzahl, können sie aber indirekt aufgrund negativer Anreizwirkungen der Besteuerung beeinflussen. Wie Abbildung 3 zeigt, liegen die Konsumquoten Griechenlands und Portugals deutlich über 100%. Finanziert werden sie durch Desinvestition und Auslandsverschuldung. Griechenlands Konsumquote liegt inzwischen bei knapp 120% des verfügbaren Einkommens; die Nettoinvestitionsquote war in den vergangenen Jahren negativ.

Abbildung 3
Konsumquoten der Programmstaaten
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Quelle: Eurostat. Abgerufen wurden im März 2015 die Positionen P3 und B6N_Nat der Datenbank name_inc_c.

Um Desinvestition und Auslandsverschuldung zu bremsen, ist eine drastische Senkung der Konsumquote unabweisbar. Hierbei gibt es theoretisch zwei Wege. Der erste, nämlich starkes Wirtschaftswachstum, war schon vor der letzten Wahl in Griechenland illusionär und ist nunmehr vollkommen ausgeschlossen. Investitionen in neue Arbeitsplätze setzen Vertrauen, Sicherheit und ein stabiles Umfeld voraus; Griechenland bietet nichts von alledem. Eine ehrliche Politik kann hieraus nur eine Konsequenz ableiten, nämlich absolute Einschnitte in den privaten und öffentlichen Verbrauch. Die Ankündigungen der neuen griechischen Regierung gehen aber in die entgegengesetzte Richtung: kostenloser Strom für 300 000 Haushalte; Zahlung fälliger Steuern in 100 Raten samt Schuldenschnitt für die Hälfte der Steuerschuld; Verbot der Zwangsversteigerung von Erstwohnsitzen; Wiedereröffnung des steuerfinanzierten Senders ERT. In einem Leichtsinn, der sogar in Griechenland seinesgleichen sucht, hat die Regierung darüber hinaus die Abschaffung der ergiebigen Grundsteuer, die Beibehaltung zahlreicher Steuervergünstigungen bei der Mehrwertsteuer sowie eine Erhöhung des einkommensteuerlichen Grundfreibetrags auf beachtliche 12 000 Euro in Aussicht gestellt.

Die verlautbarten Pläne zur Gegenfinanzierung lassen hingegen schmunzeln: Erstens ist die „Bekämpfung der Steuerhinterziehung“ seit Jahrzehnten Bestseller in allen griechischen Wahlkämpfen; sie dient routinemäßig als Camouflage für unfinanzierbare Versprechen. Der neueste Vorschlag, Hausfrauen und Studenten mit Smartphones Jagd auf Steuersünder machen zu lassen, bringt ein folk­loristisches Element in die Debatte, das dem Ernst der Lage nicht angemessen ist. Zweitens, und in Deutschland wenig gewürdigt, lag die griechische Abgabenquote 2013 bei immerhin 33,5% und damit nur geringfügig unter der Abgabenquote Deutschlands (36,7%). Eine Konsolidierung durch Steuereintreibung nach preußischem Muster ist selbst mittelfristig unplausibel und würde die grundlegenden Probleme keineswegs lösen.

Zwischenbilanz

Der vorstehende Befund, der sich nicht auf Hypothesen oder Theorien stützt, sondern auf Zahlenangaben von Eurostat, steht in diametralem Gegensatz zur herrschenden Meinung: Dem hier vertretenen Standpunkt zufolge hat es Austerität zwar gegeben, jedoch nur in solchen Staaten, von denen man wenig hört und die während der Finanzkrise nicht der Eurozone angehörten. Diese Austeritätspolitik war zweifellos erfolgreich: Lettland, Litauen und die Slowakei haben ihre Finanzen konsolidiert, ihre nationale Eigenständigkeit bewahrt und beachtliche Wachstumsraten erzielt. Demgegenüber sind die Defizit- und Schuldenstandsquoten in den Programmstaaten, die seit Jahren lauthals klagen und protestieren, aus dem Ruder gelaufen, und als Folge der zunehmenden Spannungen und der Unsicherheit ist die Wirtschaft in diesen Staaten stark geschrumpft. Die Frage, ob sich Austeritätspolitik in den Programmstaaten ausgezahlt habe, ist unzulässig, weil sie etwas voraussetzt, was nicht existiert.

Wahrnehmung und Wirklichkeit fallen beträchtlich auseinander, weil die um Beistandszahlungen werbenden Programmstaaten – und ebenso die Regierungen der Geberländer, die den Wählerzorn fürchten – ein intensives Marketing betreiben. Der durchschnittliche deutsche Medienkonsument dürfte überzeugt sein, dass die Empfänger viel durchgemacht und enorme Anstrengungen unternommen haben. Er glaubt auch, dass dort „Reformen greifen“. Wenig davon stimmt. Ganz im Gegenteil ist die finanzwirtschaftliche Lage der Programmstaaten, die hunderte Milliarden erhalten haben, aussichtsloser denn je.

Nachdem sich der Begriff Austerität etwas abgenutzt hat, hat ihn Griechenland nunmehr durch „humanitäre Katastrophe“ ersetzt. Es stimmt, dass das griechische Sozialsystem im Vergleich zum mittel- und nordeuropäischen unterentwickelt ist. Das ist aber eine innerstaatliche Angelegenheit und hat nichts mit der Notwendigkeit makroökonomischer Anpassungen zu tun. Der Armut einerseits steht immenser Reichtum andererseits gegenüber – und der niedrigen Sozialquote die höchste Militärausgabenquote Europas. Während Deutschland 2013 rund 1,4% seines BIP für militärische Zwecke ausgab, stand Griechenland mit 2,4% an der Spitze; auf dem zweiten Platz folgte übrigens Portugal.3 Etliche Länder, deren Pro-Kopf-Einkommen nicht die Hälfte des griechischen Niveaus erreicht, haben eine funktionierende Gesundheitsversorgung; wenn es eine solche Versorgung in Griechenland nicht gibt, liegt das offenbar nicht am Geld.

Beistandspolitik und Public Choice

Nach einem geläufigen Narrativ lassen sich Programmstaaten, die auf Beistandszahlungen hoffen, kollektiv in die Hängematte fallen. Betrachtet man die Anreize der einzelnen Akteure, liegen die Dinge so einfach nicht. Vielmehr sind folgende Faktoren für das Scheitern der Beistandspolitik ausschlaggebend:

  • Der erste, wichtigste Faktor wird jedem klar, der sich einmal in die Situation einer demokratisch gewählten Regierung versetzt. Wie soll sie ihrer Bevölkerung Einschnitte vermitteln? Sie kann es nur, wenn es dazu keine Alternative gibt, wenn also das sprichwörtliche Geld fehlt. Unter dieser Voraussetzung, in der Theorie als „harte Budgetbeschränkung“ bekannt, lösen sich ökonomische Probleme automatisch. Eine weiche Budgetbeschränkung qua ausländischer Beistandszahlungen macht nachhaltige Problemlösungen unmöglich, weil die Opposition mit Fug und Recht argumentieren kann, Einschnitte seien in Wahrheit nicht erforderlich. Unter diesen Gegebenheiten entsteht ein Teufelskreis, in dem jeder Populismus durch einen noch stärkeren übertroffen wird. Die Syriza-Anel-Koalition repräsentiert den Zenit dieser Populismusspirale, möglicherweise auch ihren Endpunkt, den nach argentinischem Vorbild eine Junta setzen könnte.
  • Ein zweiter Faktor betrifft insbesondere Irland, das allein im Jahre 2010 Bankensubventionen in Höhe eines Viertels seines BIP leistete. Ohne die mit politischem Druck gepaarte „Emergency Liquidity Assistance“ der Europäischen Zentralbank und den anschließenden Verstoß gegen das Beistandsverbot des Art. 125 AEUV hätte die irische Regierung trotz des auf ihr lastenden Drucks eine solche Politik objektiv nicht durchführen können. Ihre Anleihen hätten einfach keine Abnehmer gefunden, weil die Gefahr eines irischen Staatsbankrotts auf der Hand lag. Die irische Bankenrettung wurde erst durch den Bruch des Lissabonner Vertrags und die dadurch geschaffene Gemeinschaftshaftung ermöglicht.

Schuldenschnitte?

Nach der griechischen Wahl sind erneut Rufe nach Schuldenschnitten erklungen. Da die Staatsschuldtitel der Programmstaaten von privaten Gläubigern gehalten wurden, konnten Umschuldungen bis 2010 in der Tat einen Beitrag zur Problemlösung liefern; im Londoner Club hätten Gläubiger routinemäßig auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichtet, um die übrigen Forderungen zu retten. Die staatlichen Bailouts haben diesen Weg versperrt: Ein auch nur partieller Schuldenerlass würde die Budgetbeschränkungen vollends aufweichen und bedeuten, dass baltische Kleinstverdiener Tsipras’ Versprechen freier Kost und Logis finanzieren, obwohl Griechenland dieses Versprechen durch Kürzung seiner Militärausgaben selbst einlösen könnte. Das eminent wichtige Ziel, weitere Fehlanreize zu unterbinden, gilt sowohl für die aktuellen Programmstaaten als auch im Hinblick auf die nächsten Anwärter, etwa Italien oder Slowenien. Aufgrund großzügiger Kreditkonditionen – Niedrigzinsen und Tilgungen über Jahrzehnte – würden Schuldenschnitte ohnehin keine spürbare aktuelle Entlastung bringen. Das ökonomische Grundproblem Griechenlands besteht nämlich nicht in übermäßigen Transfers an das Ausland, um Schulden zurückzuzahlen, sondern ganz im Gegenteil in übermäßigen Transfers in das Inland, die notwendig sind, um einen Konsum in Höhe von 120% des verfügbaren Einkommens aufrechtzuerhalten. Diese Transfers können nur von europäischen Steuerzahlern kommen, weil sich private Gläubiger kaum finden lassen. Falls die Politik Griechenland in der Eurozone halten will, sollte sie den Steuerzahlern ehrlich sagen, dass die Hilfsgelder verlorene Zuschüsse sind und keine Darlehen.

Schlussbemerkungen

Nach dem Fall der Berliner Mauer haben die Universitäten Vorlesungen zum Thema „Systemvergleich Kapitalismus und Sozialismus“ gestrichen. Diese Maßnahme war richtig und zugleich fatal, weil das Kernelement dieser Vorlesungen in Vergessenheit zu geraten droht. Kernelement des Systemvergleichs war die Einsicht des Ungarn János Kornai, dass weiche Budgetbeschränkungen ökonomisch ins Abseits führen. Ursächlich für das Scheitern des Sozialismus waren nicht faule Arbeiter, sondern falsche Anreize; insbesondere wurden Unternehmen durch Beistandszahlungen künstlich am Leben gehalten, wenn sie ihre volkswirtschaftliche Funktion eingebüßt hatten. Die Mitgliedstaaten der Eurozone haben das Prinzip weicher Budgetbeschränkungen für Banken initiiert und dann auf ganze Staaten übertragen.

Das neue Investitionsprogramm der Kommission passt in diese Philosophie: Künftig werden Investitionschancen und -risiken in der Eurozone nicht mehr durch private Kreditgeber bewertet, die für Fehlentscheidungen selbst einstehen, sondern durch Politiker und Beamte. Natürlich begrüßt die Finanzindustrie dieses Vorhaben; schließlich kann sie gedeckt durch unfreiwillige Garantien der Steuerzahler risikolos agieren. Volkswirtschaftlich wurde das Konzept zentraler Kapitallenkung bereits einmal in großem Stil versucht und hat sich als kapitaler Fehlschlag erwiesen. Man kann sich nur wundern, wie wenig Kritik es daran gibt. Bei unentwegt zunehmender Staatsquote und korrespondierend sinkender Investitionsquote – einem im Hayek‘schen Sinne planierten „Weg zur Knechtschaft“ – sieht die Eurozone langer Stagnation entgegen.

Die Folgen der politischen Fehlentscheidungen sind weitreichend und vor allem langlebig. Jedermann sieht, dass die Eurozone seit Jahren in Verteilungskonflikten erstarrt ist, die das Gros der politischen Ressourcen beanspruchen. Wenn der deutsche Finanzminister demnächst auf eine achtjährige Amtszeit zurückblickt, wird er feststellen müssen, dass er abgesehen von ständigen Krisensitzungen zur „Rettung“ von Banken und Staaten buchstäblich nichts zuwege gebracht hat. Inzwischen sind Geber- und Nehmerländer, Kommission und EZB in einen Kampf aller gegen alle verstrickt, dessen Ausgang niemand kennt. Im Schlepptau der florierenden Weltwirtschaft und begünstigt durch immer weitere Rechtsbrüche und Täuschungen wird die Eurozone vielleicht noch eine Zeitlang durchhalten. Spätestens mit der nächsten Weltrezession dürfte das Euro­experiment aber beendet sein.

  • 1 Eurostat: Positionen B1GQ (CLV_l10_HAB) der Datenbank nama_10_pc, abgerufen im März 2015.
  • 2 Ebenda.
  • 3 http://www.sipri.org/research/armaments/milex/milex_database.
 

Austerität in Griechenland: doch ein Erfolg?

Fünf Jahre nach Ausbruch der Eurokrise spaltet weiter die Frage die ökonomische Zunft, ob die Austeritätsprogramme in den Krisenländern die richtige Politik war. Insbesondere in der angelsächsischen Welt ist das Unbehagen mit den Anpassungsprogrammen über die vergangenen Jahre sogar noch gewachsen. Innerhalb Deutschlands dagegen wird der Politikansatz der Troika weitgehend verteidigt und in einigen Kreisen sogar als Erfolg gewertet.

Exemplarisch für diese Position ist ein aktueller Kurzkommentar aus der Feder von vier der fünf Mitglieder sowie des Generalsekretärs des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.1 Die fünf Autoren argumentieren, die Wahrnehmung, das Austeritätsprogramm in Griechenland sei gescheitert, sei „faktisch falsch“. Angesichts großer Budget- und Leistungsbilanzdefizite 2009 hätte das Land ohnehin einen harten Anpassungskurs durchleben müssen und deshalb keine Alternative zu den Ausgabenkürzungen und den Steuererhöhungen gehabt, auch nicht bei einem sofortigen Default. „Eine Einstellung der Zahlungen auf ausstehende Schulden hätte nichts an der Notwendigkeit der Anpassung geändert, da auch ohne Zinszahlungen das Budgetdefizit riesig war“2, so die Autoren.

In einem zweiten Schritt wird argumentiert, dass auch ein Ausstieg aus der Eurozone die Anpassungslast nicht verändert hätte. Um dies zu belegen, vergleichen die Autoren die Anpassung in Griechenland mit jener in anderen Krisenländern wie Südkorea und Indonesien Ende der 1990er Jahre und in den baltischen Staaten während der jüngsten Krise. Da all diese Länder massive Einbrüche bei der Wirtschaftsleistung und einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit erleben mussten, einige von ihnen jedoch feste Wechselkurse verteidigten, während andere eine kräftige Abwertung zuließen, schließen die Autoren, dass ein Ausstieg aus der Eurozone keine Alternative gewesen wäre, um die Anpassungslasten zu mindern.

Aus wissenschaftslogischer Sicht ist diese Herangehensweise zur Bewertung der Sparprogramme freilich fraglich. Lässt man als Beleg für den Erfolg der Austerität gelten, dass es keine Alternative zu dem eingeschlagenen Kurs in Griechenland gab, so kann ein Austeritätsprogramm logisch nie ein Misserfolg sein.

Auch der Vergleich mit Krisenländern wie Südkorea, Lettland, oder Estland ist logisch nicht stringent: Alle diese Länder folgten im Großen und Ganzen dem gleichen Grundkonzept der Strukturanpassungsprogramme wie Griechenland: Mit oder ohne IWF-Unterstützung wurden zügig Staatsausgaben gesenkt und Steuereinnahmen erhöht, selbst wenn – wie im Fall Koreas 1997/1998 – das öffentliche Defizit objektiv eigentlich kein Problem war.3 Ein Schuldenschnitt fand nicht statt. Was dieser Vergleich logisch deshalb nur zeigen kann, ist, dass Länder, die ihre Schulden weiter bedienen, gleichzeitig aber massiv ihr Staatsdefizit zurückfahren, einen dramatischen Einbruch der Wirtschaftsleistung erleben. Die Frage, ob diese Kombination ökonomisch richtig oder falsch ist, vermag ein solches Forschungsdesign nicht zu beantworten.

Wissenschaftlicher Maßstab

Eine ernsthafte, wissenschaftlich fundierte Debatte der Austerität müsste zunächst einmal die Frage stellen, an welchem Maßstab Erfolg oder Misserfolg überhaupt gemessen werden soll. Zwei denkbare Möglichkeiten drängen sich hierfür auf: Erstens könnte man überprüfen, ob die Programme die angepeilten breiten Ziele erreicht haben. Eine zweite Möglichkeit wäre, die Wirkungen der Programme auf makroökonomische Variablen mit der intendierten und erwarteten Wirkung zu vergleichen.

Laut IWF sollen Strukturanpassungsprogramme mit entsprechenden Hilfskrediten Ländern mit Anpassungsbedarf helfen, „Bedingungen für eine stabile Wirtschaft und nachhaltiges Wachstum wiederherzustellen“.4 Ein implizites Ziel ist dabei, eine Rückkehr an die Finanzmärkte zu ermöglichen, sodass sich das betroffene Land wieder ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft Mittel leihen kann.

Von einer Situation eines stabilen und nachhaltigen Wachstums ist Griechenland ebenso weit entfernt wie von einer Rückkehr an die Kapitalmärkte. Die griechische Wirtschaft ist zwar nach aktuellen Zahlen 2014 wieder leicht gewachsen, von einem stabilen Wachstum kann aber keine Rede sein. Schon der Ausblick 2015 ist wieder mit enormer Unsicherheit behaftet. Langfristige Kredite am internationalen Kapitalmarkt sind für Griechenland völlig außerhalb jeder Diskussion.

Ein Grund für die anhaltende Wachstumsschwäche Griechenlands dürfte dabei der weiter hohe Schuldenstand von derzeit rund 175% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sein. Hier argumentieren zwar sowohl die Autoren des Sachverständigenrates als auch die Forscher des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)5, der hohe Schuldenstand sei unproblematisch, weil die aktuelle Zinslast niedrig sei. Da Griechenland heute vor allem bei den internationalen Partnern und der EZB verschuldet sei, und auf diese Schulden nur geringe Zinsen fällig würden, liege der durchschnittliche Zinssatz sogar niedriger als jener Deutschlands; als Anteil am BIP zahle Griechenland weniger Zinsen als Italien.

Die niedrige Zinslast ist sicher ein Stabilisierungsfaktor für die griechische Wirtschaft. Sie bedeutet aber nicht, dass die Schuldenlast unproblematisch ist. Die Kredite bei der EZB und den Partnern laufen über die Zeit aus und müssen durch neue (teurere) Kredite ersetzt werden. Dies schafft eine Situation der Unsicherheit für Investitionen in Griechenland: Es ist derzeit höchst zweifelhaft, ob beim Beginn der Rückzahlung der Kredite aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) im Jahr 2023 tatsächlich der Schuldenstand auf ein tragfähiges Niveau gefallen ist. Die Schuldentragfähigkeitsanalyse des IWF kommt zwar für das Jahr 2022 auf einen Schuldenstand von rund 120%. Allerdings basiert diese Projektion auf reichlich heroischen Annahmen wie einer Rückkehr zu einem Wirtschaftswachstum von fast 4% schon 2016, einem Budgetüberschuss vor Zinszahlungen ab 2016 von 4,5% des BIP und (implizit) einer Inflationsrate in der Eurozone nahe dem Ziel der Europäischen Zentralbank von 2%. Jede ungünstige Abweichung von diesen Annahmen bedeutet einen höheren Schuldenstand 2022 und stellt damit die mittelfristige Schuldentragfähigkeit infrage. Da auch Investoren diese Zahlen kennen, ist es nicht verwunderlich, dass sich diese mit ihren Engagements in Griechenland zurückhalten. Schließlich will niemand mit seinen Investitionen in eine (weitere) Schuldenrestrukturierung geraten. Dieses Argument gilt nicht nur für Finanzanlagen, sondern auch für Anlageninvestitionen, da jeder Schuldenschnitt mit neuen wirtschaftlichen Turbulenzen verbunden sein dürfte.

Diese Unsicherheit aber hat Rückwirkungen auf die Schuldentragfähigkeit: Ohne eine Erholung der Investitionen wird es keinen nachhaltigen Aufschwung in Griechenland geben. Ohne einen nachhaltigen Aufschwung ist es unwahrscheinlich, dass Griechenland den Schuldenstand bis 2022 so deutlich drücken kann, wie vom IWF prognostiziert.

Nun mag man einwenden, dass ein Grund für die anhaltenden Wachstumsprobleme in Griechenland vielmehr die politische Lage ist. Die Schwäche etablierter Parteien und die Stärke populistischer und extremer Kräfte bis hin zur Regierungsbildung durch Syriza hat die Sorge der Investoren vor Enteignung und Turbulenzen verschärft, sodass diese sich mit Investitionen zurückhalten. Dieser Einwand mag richtig sein, er kann aber nicht unabhängig von den Austeritätsmaßnahmen gesehen werden. Wenn Austeritätsprogramme das politische System soweit destabilisieren, dass Investoren das Vertrauen verlieren, so sind diese in dem Ziel gescheitert, die Voraussetzungen für stabiles Wachstum wiederherzustellen. Die mit den Austeritätsprogrammen verbundenen sozialen Folgen sowie die immer wieder verfehlten Erholungsprognosen der Troika sind eine klare Ursache für die aktuelle politische Fragmentierung in Griechenland. Ökonomische Ratschläge, die solche politischen Realitäten ignorieren, sind für die wirtschaftspolitische Beratung nicht geeignet.

Abbildung 4
Entwicklung der Prognosen für das BIP Griechenlands
real, 2009 = 100
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Quelle: EU-Kommission; eigene Darstellung.

Auch ein Vergleich der tatsächlichen makroökonomischen Wirkung der Austeritätsprogramme in Griechenland mit der erwarteten Wirkung lässt keine positivere Bewertung der Programme zu. Die Prognosen der EU-Kommission, aber auch des IWF gingen beim Design des Programms 2010 davon aus, dass sich Griechenlands Wirtschaft nach einem heftigen, aber kurzen Einbruch des BIP relativ schnell wieder erholen würde. Gleichzeitig wurde ein Anstieg des Schuldenstands auf ein Maximum von nur etwa 155% des BIP 2013 vorhergesagt, von wo aus dieser danach zügig fallen sollte. Diese BIP-Prognosen erwiesen sich als falsch und mussten deshalb wiederholt angepasst werden (vgl. Abbildung 4). Recht schnell wurde sodann auch klar, dass der Schuldenstand auf nicht tragbare Höhen steigen würde, und 2012 eine Umschuldung durchgeführt.

Wie der IWF selbst einräumt, lag der Hauptgrund für die verfehlten Projektionen darin, dass die Wirtschaftsleistung in Griechenland als Reaktion auf die Sparpakete deutlich stärker einbrach als vorhergesagt.6 Zentral hierfür dürfte eine Fehleinschätzung der sogenannten Fiskalmultiplikatoren gewesen sein,7 die anzeigen, wie stark sich eine Kürzung der Staatsausgaben auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung auswirkt. Legt man also objektive Maßstäbe zugrunde, ist es schwer, überzeugend von einem „Erfolg“ der griechischen Sparpakete zu sprechen.

Alternativen für Griechenland

Hätte es denn eine Alternative für die in Griechenland umgesetzten Austeritätspakete gegeben oder war der Verlauf der Anpassung durch die schlechten Fundamentaldaten Griechenlands im Jahr 2009 bedingt?

Ein Vergleich mit einer alternativen Politikoption müsste anhand eines Landes geschehen, das sich zu Beginn einer Krise in einer ähnlichen Situation wie Griechenland befunden hat, dann aber eine alternative Politik umgesetzt hat, die möglichst nahe an dem ist, was Austeritätskritiker Griechenland raten würden. Da eigentlich kein ernsthafter Beobachter Griechenland rät, aus dem Euro auszutreten, gleichzeitig aber die Schulden in Euro weiter zu bedienen, kommen Indonesien und Südkorea als sinnvolle Vergleiche nicht infrage, denn diese Länder haben ihre Auslandsschulden nach der Abwertung weiter bedient. Die Programme in Lettland oder Estland waren vom Grundprinzip nicht anders als das griechische, wurden aber in Ländern umgesetzt, die wesentlich höhere Export- und Importquoten haben und in denen große Teile des Bankensektors in ausländischem Eigentum sind. Auch die Erfahrung dieser Länder eignet sich deshalb nicht, um alternative Politikoptionen zu prüfen.

Vielmehr drängt sich der Vergleich mit Argentinien auf: Das Land stellte 2001/2002 die Zahlungen auf die Auslandsschulden ein und stieg in einem chaotischen Verfahren aus der Festkursanbindung an den US-Dollar unter einem „Currency Board“ aus. Dabei wurden alle inländischen Verträge und Bankguthaben in Fremdwährung per Gesetz in Peso konvertiert.

Natürlich hat auch der Vergleich mit Argentinien Grenzen. Es ist schwierig zu bewerten, wie sich die Anpassungsnotwendigkeit Griechenlands 2009 mit jener Argentiniens 2002 vergleichen lässt. Nach IWF-Daten betrug die argentinische Staatsschuld 2002 rund 137% des BIP, das Defizit mehr als 13% des BIP. Diese Daten ähneln jenen Griechenlands 2009, allerdings sind in den argentinischen Zahlen bereits zum Teil die unmittelbaren Folgen der Abwertung 2002 enthalten, bevor die Schulden umstrukturiert wurden.

Bei der Leistungsbilanz war der Anpassungsbedarf Argentiniens auf den ersten Blick nicht so groß wie in Griechenland. Das Defizit in der argentinischen Leistungsbilanz hatte sich bis 2001 von einem vorherigen Höchststand von etwa 4% auf bereits rund 1% angepasst. In Griechenland lag das Leistungsbilanzdefizit 2009 bei über 10% des BIP. Allerdings war auch in Argentinien die Anpassung durch die Krise gewaltig: Auf ein Defizit von etwas mehr als 1% 2001 folgte ein Überschuss von 7,5% 2002. Die tatsächliche Anpassung Argentiniens mag deshalb durchaus mit der Anpassungsnotwendigkeit Griechenlands vergleichbar gewesen sein.

Andererseits wäre Griechenland 2010 in einer wesentlich besseren Lage zu einer schnellen, umfassenden Schuldenrestrukturierung gewesen als es Argentinien 2002 war: Die Umschuldung in Argentinien hat sich am Ende mehr als zehn Jahre hingezogen, weil die Anleihen zum großen Teil nach US-Recht begeben waren. Der Großteil der griechischen Anleihen war 2010 nach griechischem Recht ausgegeben. Eine Umstrukturierung hätte somit mit einem einfachen griechischen Gesetz erfolgen können.

Abbildung 5
Reales BIP in Griechenland und Argentinien
54968.png

Argentinien: t = 0 im 3. Quartal 2001; Griechenland: t = 0 im 1. Quartal 2010.

Quelle: Macrobond; eigene Darstellung.

Vergleicht man allerdings die Anpassung Argentiniens und Griechenlands nach der Krise, so fällt auf, dass die griechische Krise wesentlich länger dauerte und die Rezession wesentlich tiefer ausfiel, als es in Argentinien nach 2001 der Fall war. Fünf Jahre nach der Abwertung und der Einstellung des Schuldendienstes lag das argentinische BIP fast 15% höher als vor der Abwertung, fünf Jahre nach dem Beginn der Anpassungsprogramme lag das griechische BIP mehr als 20% unter dem Ausgangsniveau (vgl. Abbildung 5). Der Schuldenstand Argentiniens war fünf Jahre nach der Krise durch Umschuldung und Abwertung auf rund 50% des BIP gefallen, in Griechenland ist er auf 175% gestiegen.

Dies alles soll kein Plädoyer für einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone sein. Bei einer vollständigen Bewertung dieser Option müsste man auch die möglichen Folgen für den Rest der Eurozone, eine potenzielle Ansteckung für Italien und Spanien und die daraus folgenden Kosten für den Rest der Eurozone mit einbeziehen. Der Vergleich soll nur vor Augen führen, dass es möglicherweise durchaus andere Politikoptionen gegeben hätte, die geringere Anpassungslasten in Griechenland erfordert hätten.

Eine Frage in diesem Zusammenhang wäre z.B., ob man nicht sehr viel früher einen ersten Schuldenschnitt für Griechenland hätte durchführen sollen. Schon 2010 war äußerst fragwürdig, ob man eine Rückkehr zur Schuldentragfähigkeit über Austerität erreichen könnte.8 Damals wurden Anzeichen für eine Überschuldung beiseite gewischt und trotzdem Hilfskredite vergeben. Zugespitzt könnte man sagen, die notwendige Insolvenz Griechenlands wurde damals verschleppt. Als 2012 dann die Umschuldung kam, wurden die offiziellen Kredite ausgenommen, sodass der tatsächliche Schuldenschnitt nur gering ausfiel: Zwar wurde der Schuldenstand gesenkt, an der Überschuldungssituation des Landes änderte sich aber kaum etwas. Es ist durchaus plausibel, dass Griechenland bei einem beherzteren, früheren Schuldenschnitt heute längst wieder kräftigeres Wachstum verbuchen könnte. Selbst für die Gläubiger wäre dies in der Summe möglicherweise vorteilhaft gewesen: Derzeit ist ein erneuter Default Griechenlands durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen. Bei einem größeren ursprünglichen Schuldenschnitt wären solche Debatten dagegen wohl vom Tisch.

Diese Frage ist nicht rein akademisch, sondern betrifft ganz konkret die Handlungsempfehlungen für künftige Schuldenkrisen. Deshalb wäre es erfreulich, wenn die Debatte anhand wissenschaftlicher Kriterien geführt würde. Eine solche offene Debatte könnte dazu beitragen, Strukturanpassungsprogramme künftig so zu gestalten, dass die sozialen und wirtschaftlichen Kosten von Schulden- und Währungskrisen minimiert werden. Es wäre zu hoffen, dass sich mehr Ökonomen an einem solchen sachlichen Diskurs beteiligen, statt zu versuchen, die Politik der einen oder anderen Regierung im Nachhinein zu rechtfertigen.

  • 1 L. P. Feld, C. M. Schmidt, I. Schnabel, B. Weigert, V. Wieland: Greece: No escape from the inevitable, Voxeu.org, 20.2.2015, http://www.voxeu.org/article/greece-no-escape-inevitable (11.3.2015).
  • 2 Ebenda, Übersetzung des Autors.
  • 3 Tatsächlich wurde die Konstruktion der Hilfspakete in den asiatischen Ländern bereits unmittelbar nach der dortigen Krise massiv kritisiert, weil diese aus Sicht von Skeptikern zu stark auf Austerität gesetzt hatten.
  • 4 Internationaler Währungsfonds: Fact Sheet: IMF Crisis Lending, Washington DC 2014, http://www.imf.org/external/np/exr/facts/pdf/crislend.pdf (11.3.2015).
  • 5 A. Watt: Is Greek Debt Really Unsustainable? Social Europe Occassional Paper, Januar 2015, http://www.socialeurope.eu/wp-content/uploads/2015/01/OP6.pdf (11.3.2015)
  • 6 Internationaler Währungsfonds: Greece: Ex Post Evaluation of Exceptional Access under the 2010 Stand-By Arrangement, Country Report 13/156, Washington DC, 2013, http://www.imf.org/external/pubs/ft/scr/2013/cr13156.pdf (11.3.2015).
  • 7 Vgl. etwa O. Blanchard, D. Leigh: Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, IMF Working Paper, WP/13/1, Washington DC 2013.
  • 8 Vgl. etwa die Analyse in S. Dullien, D. Schwarzer: Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone, SWP-Studie S19, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2010.
 

Europa neu begründen: weder Austerität noch Abwertung?

Das Ergebnis der griechischen Parlamentswahlen vom 25. Januar 2015 hat die Debatte über die den Südländern auferlegte Austeritätspolitik neu belebt. Exemplarisch für eine in dieser Debatte weit verbreitete, kritische Position steht ein Aufruf mit dem Titel „Europa neu begründen“1, der jüngst von namhaften Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, in- und ausländischen Gewerkschaftsvertretern und Politikern unterzeichnet wurde.

Der Aufruf „Europa neu begründen“

Die Austeritätspolitik, so der Aufruf, sei gescheitert. Sie habe weder das Wirtschaftswachstum der betroffenen Länder stimuliert noch deren Schuldenquoten gesenkt, sondern vielmehr eine soziale und humanitäre Krise hervorgebracht. Anstelle der Vorgabe von Sparauflagen und Lohnsenkungen werben die Unterzeichner für einen transferfinanzierten europäischen Investitionsplan, um jenes Wachstum zu generieren, das die Südländer überhaupt erst wieder in die Lage versetzen könnte, Schulden zurückzuzahlen. Auf mittlere bis lange Sicht seien zudem Eurobonds einzuführen, Finanztransaktionen wirksam zu besteuern, die Europäische Zentralbank neben dem Stabilitätsziel auf ein Wachstumsziel zu verpflichten, die Demokratie auf europäischer Ebene weiterzuentwickeln und ein auf Dauer angelegter europäischer Finanzausgleich zu errichten.

Gewiss, die Ergebnisse der Austeritätspolitik verstören. In allen Krisenländern außer in Irland befindet sich die Industrieproduktion weiterhin deutlich unter Vorkrisenniveau, die Verschuldungsquoten steigen weiter. Vor allem aber verstören die sozialen und humanitären Folgen der Austeritätspolitik, die in Griechenland ihren deutlichsten Ausdruck finden – exorbitante Arbeitslosigkeit, Kürzungen bei den Renten, versperrte Zugänge zur Gesundheitsversorgung, Probleme bei der Versorgung mit Strom und Heizung, Obdachlosigkeit. Ein Ende dieser Zustände scheint nicht in Sicht. Angesichts der Perspektivlosigkeit vieler Griechen erscheint die Wahl eines linksradikalen Parteienbündnisses noch die europaverträglichste Form des politischen Protests – was werden die Griechen wählen, sollte Syriza keines ihrer Wahlversprechen halten können?

Am Problem vorbei

Gleichwohl verkennt der Aufruf die Natur des Problems und gelangt daher zu falschen Lösungsvorschlägen. Bestünde der Kern der Krise in Arbeitslosigkeit aufgrund eines Mangels an Nachfrage, ließe sie sich im Prinzip durch ein keynesianisches Investitionsprogramm der vorgeschlagenen Art beheben. Und in der Tat schnürte ja die Austeritätspolitik die Binnennachfragen der Krisenländer ab, statt sie zu stützen. Aber der Nachfragemangel ist ein Phänomen an der Oberfläche der Eurokrise. Ihr Kern besteht in der Verzerrung der realen effektiven Wechselkurse. Stellt man sowohl dies als auch die inakzeptablen sozialen Ergebnisse eines halben Jahrzehnts interner Abwertungspolitik in Rechnung, dann lautet die Frage nicht, wie sich ein keynesianisches Nachfrageprogramm am besten ausgestalten ließe. Und auch Nebelkerzen wie die Besteuerung von Finanztransaktionen tragen kaum erkennbares zur Problemlösung bei. Die Frage ist vielmehr, ob sich das Nebeneinander und die wechselseitige Durchdringung der unterschiedlichen Krisensymptome tatsächlich unter der Randbedingung des von den Unterzeichnern favorisierten Verbleibs der Krisenländer im Euro auflösen lässt.

Eine Währungsunion ist der Extremfall eines Regimes fester Wechselkurse.2 Die Vorteile fester Wechselkurse für transnationale wirtschaftliche Aktivitäten sind unbestritten. Feste Wechselkursregime sind aber gleichzeitig voraussetzungsvoll. Weil sich Inflationsunterschiede nicht mehr durch Auf- und Abwertungen korrigieren lassen, müssen sich die teilnehmenden Länder in die Lage versetzen, ihre Lohn- und Preisauftriebe zu synchronisieren. Gelingt das nicht und türmen sich die Inflationsunterschiede über mehrere Jahre hinweg in dieselbe Richtung auf, verschiebt sich im betroffenen Währungsraum die preisliche Wettbewerbskraft, was für die Länder mit überbewerteter Währung in eine Leistungsbilanzkrise münden muss. Hans-Werner Sinn zufolge weisen Griechenland, Spanien und Portugal Abwertungsbedarfe in der Größenordnung von etwa 30% auf (relativ zum Rest der Eurozone), Frankreich einen Abwertungsbedarf von etwa 20% und Deutschland gleichzeitig einen Aufwertungsbedarf von ungefähr 20%.3 Die Eurozone bräuchte heute eine Neuordnung der Währungsparitäten, so wie wir sie 1992/93 im Anschluss an den fünfjährigen Verzicht4 auf Wechselkursanpassungen im Europäischen Währungssystem erlebt hatten. Dass der Weg in diesen „Reinigungsprozess“ versperrt ist – das ist der Kern der Eurokrise.

Die Ursachen der Inflationsdivergenz

Warum gelang die Angleichung der innereuropäischen Lohn- und Preisauftriebe nicht? Drei Gesichtspunkte seien angesprochen. Ohne Synchronisation der Konjunkturverläufe keine Synchronisation von Preisauftrieben. Anders als von seinen Architekten erhofft, hat der Euro nichts zur Angleichung der Konjunkturen im Euroraum beigetragen. Denn in ihn ist ein Konjunkturverlängerungs-Mechanismus eingebaut: Die Zinspolitik der EZB kann sich nur an Durchschnittswerten orientieren und muss die Konjunkturen der Hochinflationsländer daher zusätzlich anheizen, während sie die Konjunkturen der Niedriginflationsländer gleichzeitig bremst.5 Zur Neutralisierung dieser dysfunktionalen Impulse stehen den Teilnehmerländern die Geldpolitik und die Wechselkurspolitik nicht mehr zur Verfügung. Auch eine stärker auf Wachstums- und Beschäftigungsziele verpflichtete EZB, wie sie die Unterzeichner von „Europa neu begründen“ fordern, könnte an diesem Problem nichts ändern.

Aber selbst unter der Bedingung gleicher Konjunkturverläufe produzieren die Euro-Teilnehmer unterschiedliche Lohn- und Preisauftriebe. Die Mitglieder der Währungsunion verfügen über höchst unterschiedliche Regime der Lohnfindung. Je „koordinierter“, „organisierter“ die Lohnfindung, umso eher lassen sich in ihnen Lohnzurückhaltungsstrategien durchsetzen. Schon aufgrund dieser Heterogenität der nationalen Systeme der Arbeitsbeziehungen war der Euro ein schwerer Fehler.6 Und schließlich, die Entwicklung von Lohn- und Preisniveaus wird auch von einer Vielzahl mitgliedstaatlicher politischer Entscheidungen jenseits der Tarifpolitik beeinflusst. Die Teilnehmerländer des Euro aber sind Demokratien mit jeweils eigenen Problemperzeptionen, politischen Dynamiken und typischen Reaktionsmustern auf Irritationen. Die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitiken von Demokratien sind notwendig erratisch, schon allein weil in ihnen manchmal eher linke, manchmal eher konservative Parteien regieren. Es ist daher unwahrscheinlich, dass aus den sehr unterschiedlichen Tarifsystemen und den politischen Systemen der Teilnehmerländer stets genau die Entscheidungen hervorgehen, die das feste Wechselkursregime benötigt. Unter den Bedingungen erheblicher politökonomischer Heterogenität erscheinen feste Wechselkurse einerseits, Tarifautonomie und Demokratie auf den Gebieten der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik andererseits unvereinbar.7 So kann dann auch nicht verwundern, dass die Economic Governance im Euroraum zunehmend autoritäre, technokratische Züge aufweist.

Drei Szenarien

Aus heutiger Perspektive erscheint die (fehlgeschlagene) Synchronisation der Lohn- und Preisauftriebe als vergleichsweise einfache Übung, muss doch nunmehr etwas ungleich Schwierigeres geleistet werden: Die Entzerrung der durch Inflationsdivergenzen verzerrten realen effektiven Wechselkurse, also der Abbau der oben skizzierten Auf- und Abwertungsbedarfe durch Prozesse der internen De- und Reflationierung. Setzen wir den Verbleib der betroffenen Länder im Euroraum voraus, erscheinen drei Szenarien denkbar.

Erstes Szenario: Der Spar- und Deflationierungsdruck auf den Süden wird unverändert beibehalten. Den Unterzeichnern von „Europa neu begründen“ kann man nur beipflichten, wenn sie verdeutlichen, dass diese Option angesichts der sozialen Situation insbesondere in Griechenland nicht verantwortbar ist. Der Preisindex der im Inland erzeugten Güter (BIP-Deflator) ist für Griechenland in den Jahren 2010 und 2011 um knapp 1% gestiegen, blieb im Jahr 2012 ungefähr konstant und sank dann in den Jahren 2013 und 2014 um jeweils gut 2%.8 Der Spar- und Deflationierungsdruck müsste also noch lange beibehalten werden, bevor Griechenland dem Abwertungsbedarf von etwa 30% auch nur annähernd nahekäme. Aber eine unveränderte Fortsetzung der Austeritätspolitik um weitere 15 Jahre müsste erhebliche Schäden an den Sozialstrukturen und politischen Kulturen der betroffenen Länder anrichten. Ein „weiter so“ kann und sollte es nicht geben.

Zweites Szenario: Verschiedentlich wurde Deutschland dazu aufgefordert, mit hohen Lohnabschlüssen seinerseits zu inflationieren und den Süden auf diesem Wege von einem Teil des auf ihm lastenden Deflationierungsdrucks zu befreien.9 Die ökonomische Stimmigkeit dieses zweiten Szenarios ist unbestreitbar. Auch in moralischer Hinsicht erschiene eine entsprechend symmetrische Aufteilung der Anpassungslast fair, haben doch – worauf in der deutschen Debatte insbesondere Heiner Flassbeck immer wieder zu Recht hingewiesen hat – nicht nur die Südländer, sondern auch die Nordländer das 2%-Inflationsziel der EZB während der ersten zehn Eurojahre verfehlt.10 Allein, die politisch-institutionelle Machbarkeit der ökonomisch und moralisch vernünftigen Aufgabenteilung steht auf einem anderen Blatt. Von den deutschen Sozialpartnern würde eine Lohnpolitik zur gezielten Reduktion eigener preislicher Wettbewerbskraft erwartet, und zwar nicht nur gegenüber dem Rest der Eurozone, sondern auch gegenüber Osteuropa, den USA, China und Japan. Eine auf dieses Ziel ausgerichtete Tarifpolitik ist zu viel verlangt. Und selbst wenn sich die Industriegewerkschaften des Exportsektors auf eine solche Strategie verpflichten ließen, würde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Sozialen Pakten auf Unternehmensebene scheitern, in deren Rahmen Betriebsräte und Unternehmensleitungen Lohnzuwächse gegen Beschäftigungsgarantien tauschen.11 Spätestens wenn die Inflationierungsstrategie auf den Güterabsatz und damit auf die Arbeitsmarktsicherheit im Exportsektor durchschlagen würde, würden neue Schübe an Nominallohnzurückhaltung einsetzen.

Transfers statt Wechselkursanpassung?

Drittes Szenario: Die Unterzeichner von „Europa neu begründen“ scheinen eine dritte Option zu präferieren, nämlich: die innereuropäischen Wechselkursverzerrungen (die sie mit keinem Wort erwähnen) zu ignorieren und stattdessen kurzfristig mit Hilfe eines europäischen Investitionsplans, langfristig auf Grundlage eines transnationalen Finanzausgleichs nach Vorbild des deutschen Föderalismus zu helfen. Dieser Standpunkt ist im deutschen Mitte-Links-Spektrum weit verbreitet. Wohin aber würde er Europa führen? Der innereuropäische Riss zwischen Ländern mit niedriger und hoher preislicher Wettbewerbskraft bliebe bestehen, der Süden würde dauerhaft zum Bittsteller des Nordens. Fehlt den Befürwortern dieses Szenarios wirklich das Gefühl dafür, welche Sollbruchstelle sie in das europäische Projekt einbauen würden? Sehen sie nicht, wie sich das eigentlich gewünschte solidarische Miteinander der Europäer in eine dauerhafte vertikale Abhängigkeit wandeln würde, welche Erniedrigung der Wettbewerbsverlierer und Transferempfänger damit einherginge, welches Einfallstor für Populisten aller Art auf beiden Seiten geöffnet würde? Freilich, ähnliche Konstellationen kennen wir aus Deutschland (Ost versus West) und Italien (Süd versus Nord). Aber das sind Nationen mit einem ausgeprägten, historisch gewachsenen Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsempfinden.12

Europa würde durch die Verwirklichung des Szenarios zerrissen. Würden zudem die Finanztransfers einen Umfang erreichen, der nicht nur den Schuldendienst ermöglicht und darüber hinaus die gröbste Not lindert, sondern einen makroökonomisch wirksamen Nachfrageschub entfacht – wie realistisch diese Vorstellung ist, sei dahingestellt –, dann würden die realen effektiven Wechselkursverzerrungen im Euroraum sogar wieder wachsen statt kleiner werden, weil die nominalen Lohnstückkosten und das Preisniveau in den Südländern dann wieder anziehen dürften. Von einer Auflösung der innereuropäischen Ungleichgewichte wären wir weiter entfernt als zuvor.

Die Aufmerksamkeit sollte darauf gerichtet sein, die preisliche Übervorteilung des Südens durch den Norden zu überwinden, statt sie weiter zu perpetuieren. Eine Position, die die interne Anpassung über Deflationierung ebenso ablehnt wie die Anpassung über den nominalen Wechselkurs (= Euro-Austritt), trägt zur Problemlösung nichts bei. Was aber, würde man die im Aufruf und in ähnlichen Interventionen zum Ausdruck kommende Bereitschaft zur Finanzierung von Transfers und die Option eines einvernehmlichen, in geteilter Verantwortung gehandhabten Euro-Austritts mit nachfolgender Wechselkursanpassung nicht als Gegensätze, sondern als kombinierbare Teilstrategien auffassen?

Unter der Randbedingung einer gleichzeigen Wechselkursanpassung würden die Finanztransfers ihren Charakter grundsätzlich verändern. Sie wären dann keine Almosen mehr, die den im Preiswettbewerb strukturell Unterlegenen dauerhaft gewährt werden müssten, sondern dringend benötigte Anschubhilfen zur Überwindung der bei einem Euro-Austritt zu erwartenden Turbulenzen. Nach Überwindung der Turbulenzen wären die Unternehmen der Südländer in der Lage, ihre eigenen komparativen Vorteile (wieder) zu entwickeln und neue zu entdecken, und etwaige weitere Transfers zur Nachfragestützung wären keine verdeckten deutschen Exporthilfen, sondern tatsächlich Stützungen der Binnenwirtschaften der Empfängerländer. Der Norden würde doppelt Solidarität leisten, nämlich fiskalisch und durch Verzicht auf einen Teil der im Euroraum hinzugewonnenen preislichen Wettbewerbsvorteile, könnte im Gegenzug aber mit mehr Berechtigung hoffen, dass die notwendigen Hilfen vorübergehender Natur und etwaige zukünftige Transfers Ausdruck intrinsischer Solidarität statt, wie derzeit, gegen den Unmut der eigenen Bevölkerungen durchzusetzende Zwangstransfers wären.

Fazit

Die Eurokrise ist im Kern eine durch verzerrte effektive Wechselkurse verursachte Wettbewerbs- und Leistungsbilanzkrise. Lösungsvorschläge, die diesen Kern ignorieren und die Eurokrise lediglich als Nachfragemangelkrise interpretieren, argumentieren daher am Problem vorbei. Ihre Umsetzung würde die ökonomische Spaltung Europas auf Dauer stellen und dem europäischen Projekt damit das Fundament entziehen, auf dem die Vertiefung der Völkerfreundschaft, innereuropäische Solidarität und ein europäisches „Wir-Gefühl“ überhaupt erst (wieder) wachsen könnten. Wer die Eurokrise analytisch korrekt erfasst, gleichzeitig aber eine Fortsetzung der internen Abwertungsstrategie aus guten Gründen ablehnt, sollte die Option einer einvernehmlichen und mit transnationalen Hilfen flankierten Verkleinerung der Eurozone nicht vorschnell vom Tisch nehmen.

  • 1 Ich beziehe mich nachfolgend auf den genannten Aufruf sowie einen Vorläufer aus dem Jahr 2012. Beide Aufrufe finden sich unter www.europa-neu-begruenden.de.
  • 2 Eine Währungsunion ist „extremer“ als ein festes Wechselkursregime mit nationalen Währungen, weil in letzterem die nationale Geldpolitik als Instrument zur Beeinflussung der realen effektiven Wechselkurse verfügbar bleibt.
  • 3 H. W. Sinn: The Euro Trap. On Bursting Bubbles, Budgets, and Beliefs, Oxford 2014, S. 120.
  • 4 Hiervon ausgenommen ist eine geringfügige Abwertung der Lira im Januar 1990.
  • 5 Vgl. F. W. Scharpf: Legitimacy Intermediation in the Multilevel European Polity and Its Collapse under the Euro, in: K. Armingeon (Hrsg.): Staatstätigkeiten, Parteien und Demokratie. Festschrift für Manfred G. Schmidt, Wiesbaden 2013, S. 567-596, insbesondere S. 584-585; J. Starbatty: Tatort Euro. Bürger, schützt das Recht, die Demokratie und euer Vermögen, Berlin 2013, S. 101-109.
  • 6 M. Höpner, M. Lutter: One Currency and Many Modes of Wage Formation: Why the Eurozone Is Too Heterogeneous for the Euro, MPIfG Discussion Paper 14/14, Köln 2014.
  • 7 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Unterzeichner der 2015er Fassung des Aufrufs die Befürworter einer Verkleinerung der Eurozone dafür kritisieren, dass sie „die europäischen Institutionen für unvereinbar mit demokratischen Entscheidungen in den Mitgliedsländern erklär[en]“ – besteht doch in der Tat ein erhebliches Spannungsverhältnis zwischen den Imperativen des Euro und den Eigenlogiken der mitgliedstaatlichen Demokratien und Tarifpolitiken.
  • 8 Datenquelle OECD: Economic Outlook, November 2014.
  • 9 Stellvertretend für viele andere seien Lazlo Andor, Paul Krugman und Christine Lagarde genannt.
  • 10 Vgl. jüngst in H. Flassbeck, C. Lapavitsas: Nur Deutschland kann den Euro retten. Der letzte Akt beginnt, Kapitel III, Frankfurt a.M. 2015.
  • 11 Vgl. hierzu B. Rehder: Betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland. Mitbestimmung und Flächentarif im Wandel, Frankfurt a.M. 2003; A. Hassel, C. Schiller: Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt a.M. 2010, S. 117-120.
  • 12 Vgl. W. Streeck, L. Elsässer: Monetary Disunion. The Domestic Politics of Euroland, MPIfG Discussion Paper 14/17, Abschnitt 6, Köln 2014.
 

Bilanz der Austeritätspolitik und Blick in die Zukunft: Sparen alleine reicht nicht

Für eine Bilanz der Austeritätspolitik ist es sinnvoll, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um Krisenursachen und die Grenzen des Sparens erkennen zu können. Im Zuge der Euro-Einführung kam es in vielen Euroländern zu einer stürmischen Wachstumsphase, die bis zum Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 andauerte. Gerade in den späteren Krisenländern Griechenland, Irland, Spanien und Zypern lagen die jährlichen Wachstumsraten zu dieser Zeit im Durchschnitt zwischen 4% und 5,5%. Auch das seit den 1990er Jahren von einer Strukturkrise gebeutelte Portugal erreicht immerhin wieder eine durchschnittliche Wachstumsrate von 1,5%. Übersehen wurde aber gerne, dass trotz aller Unterschiede zwischen diesen Ländern deren Wachstumsdynamik auf tönernen Füßen stand.

In Griechenland führte ein mit billigen Eurokrediten entfachter Nachfrageboom zu nie gekannten Wachstumsraten bis über 6%. Die neu gewonnene Bonität wurde von Staat und privaten Haushalten für einen exzessiven Konsum statt für Investitionen genutzt. Dabei entwickelte sich der griechische Staat ohne Rücksicht auf die Maastrichtkriterien zum größten Schuldenmacher. Zwar wurde auch in Spanien das Wachstum durch eine starke, kreditfinanzierte Nachfrage getrieben — hier waren es aber privater Wohnungsbau und privater Konsum, die durch günstige Kredite beflügelt die private Verschuldung in die Höhe trieben. Übertreibungen im Immobiliensektor prägten auch das Wachstum der irischen Wirtschaft, die zudem von einer expandierenden Finanzindustrie geprägt wurde. Darin zeigen sich Parallelen zu Zypern, wo ebenfalls ein überdimensionierter Bankensektor entstand, der als sicherer Hafen für Vermögen aller Art diente. Unter diesen Bedingungen boomte die private Nachfrage, nur der zyprische Staat hielt sich mit Blick auf die angestrebte Euro-Einführung zurück. Eine Zurückhaltung des Staates war schließlich auch im strukturschwachen Portugal zu beobachten. Stattdessen kamen die Nachfrageimpulse von den privaten Haushalten, die sich zum Zwecke des Immobilienerwerbs stark verschuldeten.

Gemeinsam ist allen diesen Ländern, dass sie in der Boomzeit nicht in ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit investierten, so dass Exporte als Wachstumsmotor weitgehend ausfielen. Im Fokus standen die Finanz- und Immobilienwirtschaft und im Falle Griechenlands ein immer stärker aufgeblähter Staatssektor. So brachte die Wirtschaft- und Finanzkrise 2008/2009 nicht nur die Staatsfinanzen der Euro-Krisenländer in eine schwere Schieflage, sondern ihnen kam auch ihr „Wachstumsmodell“ abhanden. Dies zeigte sich in einer starken Schrumpfung der Wirtschaftsleistung und einer sprunghaft steigenden Arbeitslosigkeit.1

Der Politikmix zur Krisenbewältigung

Damit sind auch die Krisenbaustellen genannt: Zum einen die Stabilisierung der Staatshaushalte, denen auf der Einnahmenseite das Steueraufkommen wegbrach und die auf der Ausgabenseite die Lasten der Bankenrettung, des wachsenden Schuldendienstes und der steigenden Sozialausgaben schultern mussten. Damit einher ging der schrittweise Verlust des Kapitalmarktzugangs, da die sinkende Bonität des Staates zu nicht länger tragfähigen Kreditkonditionen führte. Zum anderen musste ein Zusammenbruch des Bankensystems durch die Rekapitalisierung überlebensfähiger Banken verhindert werden. Und schließlich gab es einen über Jahre und Jahrzehnte angestauten Reformbedarf, um den oft überfälligen Strukturwandel in der Realwirtschaft einzuleiten und über eine Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wieder die Basis für ein nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Hier hatte die nationale Politik die Herkulesaufgabe, gegen den Widerstand der gesellschaftlichen Interessengruppen liebgewonnene Privilegien abzuschaffen. Ein selbstverschuldeter Klientelismus, den viele Politikergenerationen im Wettbewerb um die politische Macht allzu willfährig gefördert hatten, musste beendet werden.

Diese Krisenbaustellen erfordern einen Politikmix, wie er sich auch in den Rettungsprogrammen von EU, EZB und IWF wiederfindet: Sanierung der Staatsfinanzen, Bankenrestrukturierung und Strukturreformen. Insofern reicht der Blick auf die Austeritätspolitik nicht aus, will man eine (Zwischen-)Bilanz der bisherigen Rettungspolitik ziehen. Sparen ist zwar für die Sanierung der maroden Staatshaushalte notwendig, aber für die Krisenbewältigung nicht hinreichend. Der Staat braucht für die Erfüllung seiner originären Aufgaben auch stabile Einnahmen, die nur durch ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gesichert werden können. Die dafür benötigten privaten Investitionen setzen allerdings eine Verbesserung der Standortqualität in den Krisenländern voraus.

Mehr als nur Sparen

Der Staat kann durch geeignete Rahmensetzungen den oftmals über Jahrzehnte verschleppten Strukturwandel in den heutigen Krisenländern maßgeblich fördern. Wettbewerbsfähige Wirtschaftsstrukturen lassen sich durch Strukturreformen erreichen, wie sie etwa seit langem von der OECD gefordert werden.2 Dabei geht es zum einen um die Reform des Arbeitsmarkts durch ein Bündel von Maßnahmen: Verzicht auf staatliche Lohnführerschaft; Förderung dezentraler Lohnfindung; Absenkung der Mindestlöhne; Lockerung des Kündigungsschutzes; Erhöhung der Erwerbsquote von Frauen; individuelle Betreuung und marktnahe Qualifizierung von Arbeitslosen. Und zum anderen geht es um die Stärkung des Wettbewerbs auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten durch: niedrigere Bürokratiekosten für Unternehmen; Abbau von Zulassungs- und Preissetzungsvorschriften auf den Märkten für Unternehmensdienstleistungen und für den Einzelhandel; mehr Kompetenzen und härtere Sanktionsmöglichkeiten für die Wettbewerbsbehörde; besondere Förderung des Wettbewerbs in Netzwerkindustrien.

Ein Teil der Reformen muss zudem die Rückführung des unmittelbaren Staatseinflusses auf das Wirtschaftsgeschehen sein: Der Staat sollte nicht mehr als Unternehmer auftreten, eine Privatisierung staatlicher Unternehmen könnte einen Beitrag zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität leisten. Die Vorstellung, dass der Staat die Privatisierung bis zum Ende der Krise aufschieben sollte, um höhere Erlöse zu erzielen, ist geradezu kontraproduktiv, da der Weg aus der Krise über private Investoren und Unternehmenslenker führt.

Und fraglos gehört auch eine Bereinigung des Bankensektors zum notwendigen Strukturwandel in den Krisenländern. Frisches Kapital alleine ist nicht ausreichend, damit Banken wieder aus eigener Kraft überlebensfähig werden. Auch hier ist die Entwicklung neuer, nachhaltiger Geschäftsmodelle gefragt, die am Markt bestehen können. Institute, die dazu trotz erfolgter Rettungsversuche nicht in der Lage sind, sollten nicht als „Zombiebanken“ zur Dauerbelastung der Steuerzahler werden, sondern in einem geordneten Verfahren auf Kosten der Anteilseigner und Gläubiger abgewickelt werden.

Wer schon gerettet wurde

Der Erfolg der Rettungspolitik zeigt sich vordergründig darin, ob ein Krisenland das Rettungsprogramm bereits verlassen konnte. Zu den in dieser Hinsicht erfolgreichen Ländern gehört Irland, dessen Rettung durch EU und IWF 2011 begann und Ende 2013 mit einem „clear cut“ erfolgreich abschließen konnte.3 Das Reformprogramm wurde weitgehend abgearbeitet, das Vertrauen in irischen Staat und Banken wurde wiederhergestellt. Ebenfalls 2011 hatte das portugiesische Rettungsprogramm begonnen, das Mitte 2014 erfolgreich beendet werden konnte. In die Liste der erfolgreichen Rettungen reiht sich auch Spanien ein, das zwar nie ein allgemeines Rettungsprogramm in Anspruch genommen hatte, jedoch von Mitte 2012 bis Anfang 2014 Hilfen zur Bankenrekapitalisierung nutzen musste. Im Falle Zypern ist es hingegen noch offen, ob die Rettung erfolgreich sein wird. Das Programm begann erst im Mai 2013 und wird planmäßig bis 2016 weiterlaufen. Als unzureichend erwies sich hingegen das schon im Mai 2010 begonnene erste Rettungsprogramm für Griechenland, das schon 2012 durch ein zweites Rettungsprogramm ergänzt werden musste. Auch wenn dieses Programm jetzt bis Mitte 2015 verlängert wurde, ist kein Ende der Rettung in Sicht. Aus dieser Sicht ist Griechenland bisher der einzige Misserfolg.

Überprüfbar wird der Rettungserfolg aber erst mit Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung. Denn die Rettung sollte sich in Wachstum und Beschäftigung niederschlagen. Irland ist auch in dieser Hinsicht erfolgreich: Bis 2014 stieg das jährliche Wachstum bis auf knapp 5% und für die Folgejahre wird ein stabiles Wachstum im Bereich von 3,5% erwartet. Es zahlt sich aus, dass Irland an sein früheres Wachstumsmodell eines exportgeleiteten Wachstums anknüpft und damit einhergehend auch die Binnennachfrage wieder anspringt. Eine von 15% auf unter 10% sinkende Arbeitslosenquote komplettiert die irische Erholung. Auch in Portugal ist die jahrelange Rezession mit einem Wachstum von 1% im Jahr 2014 beendet worden, doch fehlt es der portugiesischen Wirtschaft, die wohl mit Raten von unter 2% weiterwachsen wird, an Dynamik. Allerdings war Portugal neben Spanien im Vergleich der Krisenländer auch am wenigsten geschrumpft. Portugal ist es noch nicht gelungen, seine Strukturschwächen zu überwinden und an frühere Zeiten eines exportbasierten Wachstums anzuknüpfen. Doch sorgte der Rückgang der Arbeitslosigkeit auf eine Quote um 13% für eine Belebung der Binnennachfrage. Ebenso hat in Spanien die seit 2009 andauernde Rezession mit einem Wachstum von mehr als 1% im Jahr 2014 ein Ende gefunden — dank anspringender Binnennachfrage wird zudem mit einem Wachstum von mehr als 2% in den Folgejahren gerechnet, der Export gilt als ein weiterer Hoffnungsträger. Der allmähliche Rückgang der spanischen Arbeitslosigkeit in Richtung der 20%-Marke ist Ausdruck der Erholung und verstärkt seinerseits die Wachstumsaussichten.

Die realwirtschaftliche Entwicklung in Zypern signalisiert hingegen kaum eine Erholung, die Wirtschaft schrumpfte auch 2014 und die Arbeitslosigkeit verharrte im 16%-Bereich. Nur der Export konnte positive Beiträge leisten, die zyprische Binnennachfrage hat sich noch nicht wieder erholt und es bleibt die Hoffnung auf einen Wendepunkt im Jahr 2015. Das zyprische Rettungsprogramm läuft aber noch nicht einmal zwei Jahre. Den lang ersehnten Wendepunkt schien es 2014 hingegen in Griechenland zu geben: Erstmals seit 2007 wuchs das griechische Sozialprodukt, wenn auch lediglich um knapp 1%. Auf dem Arbeitsmarkt fand dies jedoch kaum einen Niederschlag, die Arbeitslosenquote verblieb bei über 26%. Von Rettung kann daher auch nach fünf Programmjahren keine Rede sein. Die optimistischen Prognosen für eine weitere Besserung in den Jahren 2015 und 2016 stehen mittlerweile aufgrund des Regierungswechsels und der damit einhergehenden Unsicherheiten zur Disposition.4

Des Weiteren sollten sich Erfolge der Austeritätspolitik in einer fiskalischen Stabilisierung der Krisenländer zeigen. Hier sind Griechenland und Zypern mit maastricht-konformen Haushaltsdefiziten von 2,5% bzw. 3% im Jahr 2014 am erfolgreichsten. Dies wurde in den anderen Krisenländern noch nicht erreicht, jedoch weist die Defizitentwicklung auch dort auf eine Konsolidierung der Staatsfinanzen hin. Positiv ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass sich die wirtschaftliche Erholung in diesen Ländern auch in steigenden Staatseinnahmen niederschlägt, während bei den Ausgaben zuletzt keine starken Einschnitte mehr erfolgt sind. In Griechenland waren hingegen die Staatseinnahmen weiter rückläufig, so dass weitere Ausgabensenkungen für den Konsolidierungserfolg notwendig waren. Nur so konnte Griechenland einen Primärüberschuss von 1,5% im Jahr 2014 erzielen.

Diese Konsolidierungserfolge sollten jedoch nicht den Blick von der langfristigen Schuldentragfähigkeit der Krisenländer lenken — bei diesem Kriterium, das den Schuldenstand in den Fokus stellt, endet die griechische Erfolgsgeschichte. Ein Schuldenstand von mehr als 176% des Bruttoinlandsprodukts ist unter den gegebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht eigenständig tragbar. Kein Krisenland steht vor einem vergleichbaren Schuldenberg. Griechenland müsste gegenwärtig bei einem unterstellten realen Wachstum von 3,4% und den gegebenen Refinanzierungszinsen, einen Primärüberschuss von 14,7% p.a. erwirtschaften, um seine Schuldenquote zumindest konstant zu halten. Primarüberschüsse von über 5% sind auf Dauer jedoch nicht realisierbar.5 Eine andauernde Vertrauenskrise und eine wirtschaftliche Stagnation würden zudem die Refinanzierung weiter verteuern und den benötigten Primärüberschuss steigen lassen.

Wie auch Griechenland zu retten ist

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die griechische Krise singulär ist und als Beleg für ein Scheitern der Rettungsprogramme nicht taugt. In einer vorläufigen Bilanz der Austeritäts- und Reformpolitik von EU und IWF sind vielmehr die Erfolge in Irland, Portugal und Spanien auf der Habenseite zu verbuchen. Doch wie ist Griechenland zu retten?

In Griechenland ist das Rettungsprogramm in eine Schieflage geraten. Da der griechische Staat aufgrund des verlorenen Zugangs zu den privaten Kapitalmärkten auf die Rettungsgelder der Eurogruppe, des IWF und nicht zuletzt der EZB angewiesen ist, konnte das griechische Ausgabenverhalten kontrolliert werden. Da aber die Strukturreformen nur in Teilen beschlossen und implementiert wurden, fehlt es an Wachstumsimpulsen. Mehr Wachstum würde zu einem höheren Steueraufkommen und letztendlich auch zu einem größeren fiskalischen Spielraum führen. Strukturreformen entfalten ihre volle Wirkung zwar eher mittel- und langfristig. Daher werden Länder mit ausgeprägten Strukturschwächen auch nicht wie ein „Phönix aus der Asche“ aufsteigen können. Doch eine Reform des Arbeitsmarkts, eine zügige Privatisierung und eine investorenfreundliche Standortpolitik schaffen auch kurzfristig Vertrauen und eine Aufbruchstimmung, die in Griechenland bis heute fehlt.

Für einen erfolgreichen Reformprozess bedarf es zudem einer funktionierenden Staats- und Steuerverwaltung. Diese fehlt trotz aller Mahnungen und Hilfen immer noch, so dass Griechenland auf externe Experten der „Institutionen“, der EU-Task-Force „Griechenland“ oder aus den Verwaltungen der Euroländer nicht verzichten sollte. Darüber hinaus braucht Griechenland Hilfe bei der Wiederherstellung seiner Schuldentragfähigkeit, die gegenwärtig außer Sichtweite ist. Ein Schuldenschnitt dürfte unvermeidlich sein, sei es durch einen begrenzten „cut“ oder auch nur durch eine Umstrukturierung der griechischen Staatsschulden. Dieser könnte aber nicht „umsonst“ sein: Im Gegenzug müsste sich die griechische Regierung auch weiterhin von Eurogruppe und IWF in die Pflicht nehmen lassen, und frisches Rettungsgeld dürfte es nicht mehr geben.6 Aber auch das sollte zur Bilanz der Rettungspolitik gehören: Gegen den Willen einer demokratisch legitimierten Regierung kann kein Krisenland gerettet werden. Die politischen und wirtschaftlichen Kosten einer anderen Politik muss diese Regierung dann allerdings selbst tragen.

  • 1 Vgl. K. Schrader, C.-F. Laaser: Die Krise in Südeuropa oder die Angst vor dem Dominoeffekt, Kieler Diskussionsbeitrag 500/501, 2012; D. Benček, B. Dettmer, K. Schrader: Zypern: Insel ohne Geschäftsmodell?, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 8, S. 563-571.
  • 2 Vgl. OECD: Economic Surveys: Greece, 15. Jg., Paris 2009, S. 45-56.
  • 3 EU Commission: Financial Assistance to EU Member States, 25.3.2015, http://ec.europa.eu/economy_finance/assistance_eu_ms/index_en.htm.
  • 4 Vgl. zu den aktuellen Prognosen EU Commission: European Economic Forecast, Winter 2015, European Economy 1/2015, Brüssel; zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in den Krisenländern: Eurostat: Database: Annual National Accounts, Luxemburg, 24.3.2015, http://ec.europa.eu/eurostat/web/national-accounts/data/database.
  • 5 Vgl. D. Benček, H. Klodt: Das IfW-Schuldenbarometer, Februar 2015, https://www.ifw-kiel.de/wirtschaftspolitik/politikberatung/ifw-schuldenbarometer/das-ifw-schuldenbarometer.
  • 6 Vgl. K. Schrader, D. Benček, C.-F. Laaser: Greece: How to Take a Turn for the Better, Kiel Policy Brief, Nr. 83, Kiel 2015.
 

Kaputtsparen?

„Die Wirtschaftskrise in Europa ist noch nicht überwunden“ gestand Bundeskanzlerin Merkel im März 2015 nach sechs Jahren andauernder Rezession in der Eurozone im Bundestag. Sie setzt dennoch weiter auf „wachstumsfreundliche Konsolidierung“. Kann Austeritätspolitik – noch dazu in einer Rezession – wachstumsfreundlich sein? Konkurriert der öffentliche mit dem privaten Sektor oder ergänzen sich beide? Ist die den Volkswirtschaften des Euroraumes verordnete Austeritätspolitik per Verfassung, Abhilfe oder Ursache für geringes Wachstum, für Euroskepsis und Turbulenzen in den politischen Systemen der Euroländer?

Der Euroraum insgesamt kann nur ein bescheidenes Wachstum verbuchen, die Arbeitslosenquote ist nach wie vor hoch, in einigen Euroländern beträgt sie 25% und unter Jugendlichen teilweise über 50%. Die Verläufe der kumulierten Wachstumsraten des BIP (durchgezogene Linien in der Abbildung 6) seit 2009, dem letzten Jahr mit negativem Wachstum, illustrieren den Unterschied zwischen dem Euroraum und den USA: Seit 2010 haben die USA ihre Produktion um rund 15% gesteigert, während im Euroraum seither gerade mal 5% mehr produziert wurde. Dabei wird die Wachstumsrate für den Euroraum durch das relativ hohe Wachstum in Deutschland (12%) beeinflusst. Deutschland hat sich zwar deutlich besser erholt als der Euroraum insgesamt, aber beim „Netto-Exportweltmeister“ ist die Erholung wesentlich auf weltwirtschaftliche Faktoren zurückzuführen. Dennoch, auch der europäische „Champion“ expandiert weniger als die US-Wirtschaft. Diese Unterschiede im Wirtschaftswachstum sind typisch und lassen sich auch in früheren Erholungsphasen beobachten.1 Die USA haben nach einer Rezession stets höhere Wachstumsraten als Deutschland, was sich natürlich auch in der Beschäftigungsentwicklung niederschlägt.

Abbildung 6
Konjunkturelle Erholungsphasen
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Quelle: Berechnungen basieren auf der OECD Employment Outlook Database.

Die expansivere Geld- und Fiskalpolitik der USA wird in Deutschland gern als künstliches Wachstum, als Wachstum auf Pump, unsolide und kurzsichtig, kritisiert. Finanzminister Schäuble drückt es diplomatisch so aus: Während sich US-Politiker auf kurzfristige, korrektive Maßnahmen konzentrieren, wählt die Bundesregierung einen längerfristigen Ansatz und achtet deshalb vor allem auf die Auswirkungen exzessiver Defizite und hoher Inflation. Wärmen sich die Amerikaner an einem „Strohfeuer“, das in Inflation mündet, aber das Wirtschaftswachstum langfristig nicht erhöht? Ist die deutsche Wirtschaftspolitik langfristig solider oder irrt der Finanzminister, weil Rezessionen negative Auswirkungen auf den Wachstumspfad haben und deshalb dauerhafte Einkommensverluste verursachen?

Verdrehte Ursachen – verfehlte Rezepte

Die Staatsverschuldung nahm mit der Finanzmarktkrise 2008/2009 in allen Ländern der Eurozone (aber auch in den USA) deutlich zu. Ursächlich für diese Entwicklung der Staatsfinanzen waren aber keinesfalls großzügige, aufgeblähte öffentliche Leistungen (Wahlgeschenke), sondern die Bankenrettung. Vor der Krise (2007) betrug das Defizit der öffentlichen Haushalte der Eurozone insgesamt laut Euro­stat 0,7% des Eurozonen-BIP, aber 2009 waren es 6,2%. Von diesem Durchschnittswert gibt es erhebliche Abweichungen, aber unter den Ländern, deren Defizit 2009 besonders hoch ausfiel – wie Portugal, Spanien, Irland, Griechenland –, erzielten Spanien und Irland 2007 noch Überschüsse.

Staaten sprangen ein, um marode, unterfinanzierte Finanzinstitute zu retten. War die Bankenrettung alternativlos? Ja, das war sie wohl, denn ein vollkommener Zusammenbruch des Finanzsystems hätte unabsehbare Folgen und Kosten verursacht. Richtig ist aber auch, dass die Kosten der Bankenrettung von allen Bürgern getragen werden, obwohl die Rettung in erster Linie den Gläubigern (den Bankeneigentümern) zugute kam. Die Probleme privater Banken, die nicht zuletzt durch die auf neoliberaler Wirtschaftstheorie – These „effizienter Märkte“ – basierende Deregulierung des Finanzsektors hervorgerufen wurden, verursachten die Krise und trieben in der Folge die Staatsverschuldung in die Höhe. Aber Ursache und Wirkung wurden schnell verdreht und die Bankenkrise wurde zur Staatsschuldenkrise.

Welche Ironie, der Zusammenbruch des theoretischen Fundaments des Neoliberalismus2 wird durch die Verdrehung von Ursache und Wirkung wiederum zur Basis für neoliberale Politikempfehlungen. Die Staatsausgaben wurden für zu hoch befunden und insbesondere den europäischen Krisenländern wurden Sparprogramme, sogenannte Strukturreformen, – vor allem die Deregulierung der Arbeitsmärkte – verordnet. Austeritätspolitik, die „schwarze Null“ im öffentlichen Gesamthaushalt, erhielt in der EU Verfassungsrang (Fiskalpakt) und verschärfte die ursprüngliche 3%-Defizitgrenze. Deutschland war wie schon bei den Konvergenzkriterien und dem Stabilitäts- und Wachstumsvertrag von Amsterdam die treibende Kraft, um eine möglichst restriktive Finanzpolitik durchzusetzen. Finanzpolitisch ist Deutschland das Äquivalent zur „Tea-Party-Bewegung“ der amerikanischen Republikaner, so ein Financial-Times-Korrespondent in einer Diskussion mit Finanzminister Schäuble in Washington.

Seit den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts – seit den Erfahrungen mit der „Großen Rezession“ und dem Erscheinen der „General Theory“ – wussten Wirtschaftswissenschaftler, dass auf Nachfrageeinbrüche nicht mit einem Rückgang der Staatsausgaben reagiert werden darf, weil so eine Deflationsspirale in Gang gesetzt wird. In dieser Situation sollten die Staatsausgaben zur Kompensation der Nachfrageeinbrüche bei Konsum und Investitionen zunehmen. Öffentliche Nachfrage ist Teil der Gesamtnachfrage und beeinflusst die Entwicklung des Nenners der Staatsschuldenquote, das BIP. Aber ein zunehmendes Defizit der öffentlichen Haushalte allein ist noch kein Wachstumsimpuls, denn in der Rezession gehen die Steuereinnahmen zurück und nehmen die Staatsausgaben in der Regel zu, aber diese automatischen Stabilisatoren bremsen den Nachfragerückgang, können ihn aber nicht vollständig kompensieren. Die öffentliche Hand muss in der Rezession ins Risiko gehen, denn sie ist der einzige Akteur, der die gesamtwirtschaftliche Nachfrage substanziell beeinflussen und Unsicherheit überwinden kann. Die Konsumenten halten sich bei der unsicheren Wirtschaftslage zurück und sparen eher (Unsicherheits-Sparen), Unternehmen werden bei deflationären Tendenzen das überschüssige Sparkapital kaum für zusätzliche Investitionen nutzen. Dennoch wird die durch „Deficit Spending“ mögliche Wirtschaftsexpansion selten ausgereizt, weil aus Furcht vor steigender Staatsverschuldung zu früh Konsolidierungsphasen eingeleitet werden.3

Bail-outs sind keine Wachstumsprogramme

In der Eurozone sind hoch verschuldete Länder mit Milliardenbeträgen vor dem Bankrott gerettet worden, aber die Rettung vor der Zahlungsunfähigkeit ist kein Wachstums­programm, sondern bedient vor allem die Ansprüche der Gläubiger, die bei Zahlungsunfähigkeit ihre Forderungen hätten abschreiben müssen. Die europäischen Rettungsprogramme können deshalb auch als Bankenrettung eingestuft werden. Die den Defizitländern auferlegten Spar­auflagen haben zu deutlichen BIP-Einbußen teilweise um ein Viertel gegenüber dem Vorkrisenniveau geführt.

Das Wachstum des Produktionspotenzials ist eine entscheidende wirtschaftspolitische Orientierungsgröße für die Einschätzungen möglicher Inflationsrisiken. Wächst die tatsächliche Produktionsmenge stärker als das Produktionspotenzial können Engpässe und in deren Folge Preissteigerungen auftreten. Wächst dagegen das Potenzial schneller als die tatsächliche Produktionsmenge so sind eher Deflationstendenzen zu erwarten und die Fiskal-/Geldpolitik könnte entsprechend expansiver sein. In einigen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern (z.B. Mishkin)4 führt expansive Geld- und/oder Fiskalpolitik lediglich zu Preissteigerungen, lässt aber das Wachstum unberührt. Konjunkturzyklen werden als Schwingungen um einen durch Geld- und/oder Fiskalpolitik unbeeinflussten, gleichgewichtigen Wachstumspfad interpretiert. Wenn dem so wäre, sollte das Potenzialwachstum vor und nach einer Rezession gleich hoch sein. Wenn das Potenzial dagegen endogen ist – von den Nachfrageschwankungen beeinflusst wird –, dann sollte es Abweichungen zwischen dem Potenzialwachstums vor und nach einer Rezession geben (vgl. dazu Säulen in Abbildung 6). In allen drei Regionen ist das Potenzialwachstum nach der Rezession deutlich niedriger als das Trendwachstum des Produktionspotenzials vor der Rezession. Hysteresis-Effekte entstehen nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern auch bei Investitionen. Mit anderen Worten: die Entwicklung des Produktionspotenzials (wie auch der „NAIRU“)5 ist zum Wirtschaftswachstum endogen und nicht unabhängig von der ökonomischen Entwicklung.6

Weiser Rat? Kann Austeritätspolitik Wachstum fördern?

Budgetkonsolidierung (durch Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen) entzieht dem gesamtwirtschaftlichen Kreislauf zunächst Nachfrage und vermindert deshalb das BIP (keynesianische Effekte). Aber, so die Argumentation der Austeritätsbefürworter um die Bocconi-School,7 ein Rückgang der Staatsausgaben – soweit glaubwürdig und dauerhaft – lässt höhere Einkommen der privaten Haushalte in der Zukunft erwarten (das erwartete Lebenszeiteinkommen steigt), weshalb der private Konsum zunimmt (nicht-keynesianischer Effekt). Zudem soll ein Rückgang der Staatsverschuldung zu sinkenden Zinsen führen, was nach der „Crowding-Out-These“ private Investitionen begünstigt. Der Nachfrageausfall durch den Rückgang öffentlicher Ausgaben kann also – theoretisch – kompensiert oder gar überkompensiert werden. Die durch Erwartungen stimulierte zusätzliche private Nachfrage muss aber höher als die ausgefallene öffentliche Nachfrage sein, um insgesamt eine Nachfrageerhöhung zu erreichen. Ist das plausibel? Ob dieses auch tatsächlich eintritt, hängt von der angenommenen Beziehung zwischen öffentlichen und privaten Ausgaben ab.

Ob Konkurrenz oder Kongruenz in der Inanspruchnahme von Ressourcen durch den Staat oder durch die Privaten vorliegt, hängt unter anderem von der Auslastung der Ressourcen ab. Sind diese voll ausgelastet, so kann eine Konkurrenzbeziehung vorliegen. Sind die Ressourcen dagegen unterausgelastet, ist Kongruenz zwischen der Nachfrage des Staates und der Privaten plausibler. Öffentliche Nachfrage kann dann private Produktion und Investitionen stimulieren und so Einkommen generieren. Welche Situation vorliegt, ist eine empirische Frage, wird aber in Gleichgewichtsmodellen ausgeklammert, weil Vollauslastung der Ressourcen angenommen wird (Saysches Gesetz). Alesina et al.8 haben eine ganze Reihe von Regressionsanalysen vorgelegt, die die Dominanz der nicht-keynesianischen Effekte der Budgetkonsolidierung zeigen sollen, die aber keine eindeutige Evidenz liefern.

Dennoch zieht das wirtschaftspolitische Beratungsgremium der Bundesregierung, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), in seinem Gutachten „Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik“ diese Arbeiten als Stütze für seine Vorschläge heran: „Empirische Studien, in denen frühere Konsolidierungsepisoden untersucht wurden, zeigen, dass eine Senkung staatlicher Ausgaben schon in der kürzeren Frist mit einem Anstieg der Wirtschaftsleistung korreliert ist.“9 Ohne auf die methodischen Unterschiede einzugehen, erwähnt der SVR zwar IWF-Studien, die die Ergebnisse der Bocconi-School nicht bestätigen, aber er fügt hinzu, dass diese ebenfalls tiefere Rezessionen bei einnahme­orientierten als bei ausgabeorientierten Konsolidierungen feststellen.10 Der Leser (die Bundesregierung) gewinnt den Eindruck, dass Konsolidierung durch Ausgabenkürzungen Einnahmeerhöhungen vorzuziehen ist, und erstere allenfalls kurzfristige – wenn überhaupt – Nachfrageeinbrüche verursachen.

Tatsächlich steht die These „nicht-keynesianischer“ Effekte der Budgetkonsolidierung auf wackeligen Füssen und wird wohl eher von einer Skepsis gegenüber dem öffentlichen Sektor getragen. Ein Hauptvertreter der „Austeritätsforschung“, Roberto Perotti, schreibt nach detaillierter Analyse von vier Ländern (Dänemark, Irland, Finnland, Schweden), dass seine Ergebnisse Zweifel zumindest an einigen Versionen der Hypothese „wachstumsfördernder fiskalischer Konsolidierung“ aufkommen lasen.11 Andere Analysen zeigen,12 dass in erfolgreichen Konsolidierungsfällen der Ausgleich ausgefallener Binnennachfrage vor allem durch höhere Exporte, also nicht durch erwartungsbedingte private Nachfrageausweitungen, erreicht wurde. So sind es denn auch kleinere Länder – in letzter Zeit vor allem Litauen – , die als erfolgreiche Konsolidierungsfälle angeführt werden. In der Regel sind dies Länder, bei denen die außenwirtschaftliche die binnenwirtschaftlichen Nachfragekomponente dominiert.

Die einseitige Position, nach der die öffentliche Hand der Effizienz der Privatwirtschaft im Wege steht und deshalb ein Wachstumshemmnis darstellt, nach der der Staat den Privaten lediglich die Ressourcen entzieht, weshalb ein möglichst kleiner öffentlicher Sektor anzustreben sei, ist undifferenziert. Nicht die „schwarze Null“, sondern eine funktionsfähige Infrastruktur, Investitionen in Forschung, Entwicklung und Bildung sind die Voraussetzungen für erfolgreiche Unternehmen. Ja, selbst die zu Superunternehmern hochstilisierten und zweifellos erfolgreichen Unternehmensgründer des Apple-Konzerns sind ohne die zahlreichen Förderungen und Inventionen öffentlicher Institutionen nicht denkbar, wie es Mariana Mazzucato eindrucksvoll schildert.13 Auch Silicon Valley ist – entgegen dem Mythos – auf öffentliche Vorleistungen angewiesen. Der Staat ist nicht einfach nur „Sand im Getriebe“ einer ansonsten hervorragend funktionierenden Marktwirtschaft, sondern Voraussetzung für erfolgreiche, innovative private wirtschaftliche Aktivität.

Der deutsche Finanzminister ist stolz auf die „schwarze Null“, aber gleichzeitig leidet Deutschland an Investitionsschwäche, ja es verzehrt seine Substanz. Die öffentliche Infrastruktur wird nicht einmal erhalten, sondern sie wird kaputtgespart, wovon gesperrte Rheinbrücken und tiefe Schlaglöcher, erneuerungsbedürftige Schulgebäude, geschlossene Schwimmbäder etc. künden. Bei Zinsen von 0% und Rezession in Europa ist die Zeit zum Investieren nicht zum Sparen.14 Expansive Politik in Deutschland würde zudem aussenwirtschaftliche Ungleichgeweichte abbauen.

  • 1 R. Schettkat, R. Sun: Monetary policy and European Unemployment, in: Oxford Review of Economic Policy, 25. Jg. (2009), H. 1, S. 94-108.
  • 2 R. Schettkat: Will only an earthquake shake up economics?, in: International Labour Review, 149. Jg. (2010), H. 2, S. 185-207.
  • 3 C. Romer: Great Depression, Encyclopedia Britannica, 2003.
  • 4 F. S. Mishkin: The economics of money, banking, and financial markets, Pearson education, 2007. Kritisch: R. Schettkat, R. Sun: Zur (Nicht-)Neutralität der Geldpolitik, in: H. Hagemann, H. Kramer (Hrsg.): Keynes 2.0 – Perspektiven einer modernen keynesianischen Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, in: Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft, Bd. 23, 2011, S. 337-352.
  • 5 NAIRU = Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment (inflationsstabile Arbeitslosenquote).
  • 6 L. M. Ball: Long-Term Damage from the Great Recession in OECD Countries, NBER Working Paper, Nr. 20185, Cambridge, Mai 2014; ders.: Hysteresis in unemployment: old and new evidence, NBER Working Paper, Nr. w14818.
  • 7 Z.B.: F. Giavazzi, M. Pagano: Non-Keynesian Effects of Fiscal Policy Changes: International Evidence and the Swedish Experience, NBER Working Paper, Nr. 5332, Cambridge, November 1995; A. Alesina, S. Ardanga: Large Changes in Fiscal Policy: Taxes Versus Spending, NBER Working Paper, Nr. 15438, 2009, Kap. 12; A. Alesina, R. Perotti: Fiscal Expansions and Adjustments in OECD Economies, in: Economic Policy, 10. Jg. (1995), H. 21, S. 207-247.
  • 8 A. Alesina, S. Ardanga, a.a.O.
  • 9 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/14, S. 126.
  • 10 Ebenda, S. 216.
  • 11 R. Perotti: The „Austerity Myth“: Gain Without Pain?, NBER Working Paper, Nr. 17571, Cambridge, November 2011.
  • 12 Z.B. S. Kinsella: Is Ireland Really the Role Model for Austerity, in: Cambridge Journal of Economics, 36. Jg. (2012), H. 1, S. 223-235.
  • 13 M. Mazzucato: The Entrepreneurial State, London, New York 2013.
  • 14 P. Krugman, R. Layard: A manifesto for economic sense, in: Financial Times vom 27.6.2012.

Title:Austerity Policies in the European Monetary Union: Review and Perspectives

Abstract:The authors express different opinions about the outcomes of austerity policies. They do not even agree on the number of states that adopted austerity policies, as measured by deficit and debt ratios. However, most of the authors consider that austerity in Greece has failed due to the lack of political will and the lack of a functioning administration, which obstructs the reform process complementary to austerity policies. Another reason for the failure of austerity policies is probably a delayed and insufficient debt restructuring in Greece – a lesson which should be taken on board for future adjustment programmes. Apart from economic effects, a continuation of austerity policies in Southern Europe would further damage the social structures and political cultures of the respective countries. Therefore, one author suggests a jointly conducted exit from the eurozone of countries with high effective overvaluations, combined with solidaristic transfers during the period of transition.


DOI: 10.1007/s10273-015-1813-z

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