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95. Jahrgang, 2015, Heft 6 · S. 372
Kalte Progression: Endlich nachhaltige Steuerpolitik?
Philipp Breidenbach, Tanja Kasten
Bundesfinanzminister Schäuble hat kürzlich angekündigt, das seit Jahren immer wieder diskutierte Problem der kalten Progression nun endlich zu lösen. Hintergrund sind die jüngsten Ergebnisse des Arbeitskreises Steuerschätzungen, die die positiven Erwartungen der November-Schätzungen noch einmal deutlich übertroffen haben: Bis zum Jahr 2019 kann der Staat mit Zusatzeinnahmen von etwa 38 Mrd. Euro rechnen. Geplant ist daher, die Steuerzahler zum 1. Januar 2016 durch einen Ausgleich des in den beiden vorangegangenen Jahren aufgelaufenen Effektes der kalten Progression zu entlasten. Aufgrund der niedrigen Inflationsrate von nur 0,9% im Jahr 2014 und einer vermutlich noch geringeren Preissteigerungsrate 2015 führt diese Maßnahme lediglich zu einer Entlastung der Bürger um 1,5 Mrd. Euro. Darüber hinaus sollen Bundestag und Bundesrat künftig alle zwei Jahre diskretionär auf Grundlage eines Berichts zur Wirkung der kalten Progression über weitere Tarifanpassungen entscheiden.
Grundsätzlich ist dieses Vorhaben begrüßenswert, denn es war bereits im vergangenen Jahr schwer verständlich, weshalb die große Koalition trotz des hohen Steueraufkommens und trotz der Zustimmung sowohl von Arbeitgeber- als auch von Arbeitnehmerseite den Ausgleich der kalten Progression in dieser Legislaturperiode zunächst kategorisch ausgeschlossen hatte. Unabhängig davon wie groß die Entlastung im konkreten Fall ausfällt, sollte die kalte Progression in jedem Fall beseitigt werden, da sie dem Prinzip der Leistungsfähigkeit widerspricht. Sie kommt nämlich allein dann zustande, wenn Lohnerhöhungen lediglich die Inflation ausgleichen, der Arbeitnehmer aber durch die progressive Ausgestaltung des Steuertarifs mehr Steuern zahlen muss, so dass er letztendlich an Kaufkraft verliert.
Dass die politische Entscheidung jetzt fällt, dürfte zwei Gründe haben: Zum einen die aktuelle Haushaltslage, die für die Umsetzung jeder aufkommensmindernden Steuerreform entscheidend ist. Zum anderen die Erwartungen hinsichtlich der Inflationsentwicklung, die die Höhe der zu erwartenden Mindereinnahmen determinieren. Beide Faktoren sind derzeit so günstig wie selten, so dass kaum ein künftiger Finanzminister je eine so große Chance haben wird, die kalte Progression dauerhaft zu beseitigen, ohne dabei den eigenen Handlungsspielraum substanziell einschränken zu müssen. Daher stellt sich Frage, warum keine automatische Anpassung des Tarifs an die Inflation eingeführt wird. Der aktuelle Vorschlag legt die Vermutung nahe, dass der Staat sich die kalte Progression als potenzielle Einnahmequelle in wirtschaftlich schlechten Zeiten offen halten möchte. In diesem Fall wäre die angekündigte Anpassung des Einkommensteuertarifs lediglich ein politisches Signal, dass der Staat seine Bürger an der aktuell guten wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben lässt. Ziel sollte es jedoch sein, die Wirkung der kalten Progression nicht nur durch diskretionäre Anpassungen des Steuertarifs temporär abzuschwächen, sondern sie dauerhaft zu beseitigen. Letztendlich bleibt abzuwarten, ob künftige Bundesregierungen auch zu Tarifanpassungen bereit sein werden, wenn sich die Staatseinnahmen nicht mehr so gut entwickeln oder andere politische Ziele in den Vordergrund rücken. Spätestens dann wird sich zeigen, ob es sich bei dem geplanten Vorhaben lediglich um ein politisches Signal handelt oder tatsächlich um eine nachhaltige Steuerpolitik.
Philipp Breidenbach, Tanja Kasten
Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI)
philipp.breidenbach@rwi-essen.de, tanja.kasten@rwi-essen.de