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Die wirtschaftliche Entwicklung in den Schwellenländern hat in den vergangenen Jahren deutlich an Schwung verloren.1 Wesentlich für den Verlust an Dynamik war eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen: Auf den Rohstoffboom der 2000er Jahre folgte ein ebenso dramatischer Preisverfall, in den Industrienationen entwickelt die Nachfrage auch acht Jahre nach der globalen Finanzkrise nur wenig Schwung, die Integration Chinas in die Weltwirtschaft, von der über viele Jahre enorme Impulse ausgingen, scheint vorerst abgeschlossen, und schließlich hat die – wenn auch sehr vorsichtige – geldpolitische Straffung in den USA eine Kehrtwende bei den Finanzierungsbedingungen eingeläutet und zu einer Umkehr der globalen Kapitalströme geführt.2 In diesem Umfeld hat sich der Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Aktivität in den Schwellenländern, der von 2000 bis 2007 bei jahresdurchschnittlich 7,2% lag, 2012 bis 2015 auf nur noch 5,4% verringert. Brasilien und Russland, die innerhalb der hier betrachteten Ländergruppe fast ein Fünftel der Wirtschaftsleistung ausmachen, rutschten 2015 sogar in eine tiefe Rezession.

Zwar mehrten sich zuletzt die Anzeichen für eine Belebung der Konjunktur in den Schwellenländern.3 So haben sich die Exporteinnahmen vieler Schwellenländer mit dem Anstieg der Rohstoffpreise in der jüngsten Zeit wieder etwas erhöht, und auch die öffentlichen Haushalte werden dadurch entlastet. Die Wechselkurse, die seit Mitte 2014 zum Teil drastische Abwertungen verzeichnet hatten, haben sich ebenfalls stabilisiert. Dadurch hat sich vor allem in Lateinamerika und Russland der geldpolitische Spielraum erhöht, und die Wirtschaft in Brasilien und Russland dürfte 2017 nach zwei Jahren mit empfindlichen Rückgängen wieder expandieren. In China räumt die Regierung dem Ziel der Nachfragestabilisierung offenbar Priorität gegenüber Schuldenabbau und Strukturreformen zur Umsteuerung auf ein finanziell und ökologisch nachhaltigeres Wachstumsmodell ein und hat Maßnahmen zur Anregung der Konjunktur ergriffen. Zumindest in der kurzen Frist trägt dies maßgeblich zu dem positiveren Ausblick für die Schwellenländer insgesamt bei.

Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung in den Schwellenländern über die vergangenen Jahrzehnte, zeigt sich hingegen ein ernüchterndes Bild. Während der letzten beiden Dekaden des vergangenen Jahrhunderts nahm das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Schwellenländer im Verhältnis zu den USA nicht zu, sondern es war leicht rückläufig und lag zu Beginn der 2000er Jahre bei 20%. Danach verringerte sich die Einkommenslücke zwar spürbar, das Konvergenztempo hat sich am aktuellen Rand aber wieder stark verlangsamt. Aktuell stehen die Schwellenländer bei einem Relativeinkommen von 25% und damit in etwa da, wo sie sich zu Beginn der 1980er Jahre befanden. Der Lebensstandard der Einwohner dort hat sich im Verhältnis zu den USA im Durchschnitt in den vergangenen knapp 40 Jahren nicht verbessert.

Hinter der Stagnation der relativen Pro-Kopf-Einkommen verbergen sich allerdings sehr verschiedene Entwicklungen in den einzelnen Ländern und Ländergruppen (vgl. Abbildung 1). Die Volkswirtschaften Asiens (China, Indien und die ASEAN-4) konnten in den vergangenen vier Jahrzehnten anhaltende Zuwächse ihrer Relativeinkommen verbuchen, die sich gemäß den Prognosen auch in den kommenden Jahren fortsetzen werden – freilich mit deutlichen Unterschieden in Dauer und Geschwindigkeit. Eindrucksvoll ist die Entwicklung vor allem in China, wo das Pro-Kopf-Einkommen im Verhältnis zu den USA von 2,5% auf 25% gestiegen ist. Bis zum Ende des Jahrzehnts dürfte China sogar Lateinamerika überholen. In Lateinamerika wurde der trendmäßige Rückgang des Einkommens im Verhältnis zu den USA im Zuge des rohstoffpreisbedingten Aufschwungs nach der Jahrtausendwende nicht vollständig wieder wettgemacht. Und seit 2012 gingen die relativen Einkommenszuwächse des vergangen Jahrzehnts teilweise wieder verloren, so dass das derzeitige Pro-Kopf-Einkommen (in Relation zu den USA) deutlich unter dem Niveau der 1980er Jahre liegt. Ähnliches gilt für Russland. Zwar stieg das relative Pro-Kopf-Einkommen seit dem Tiefpunkt während der Russlandkrise 1998 deutlich an. Der relative Lebensstandard ist gegenüber dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1992 aber nahezu unverändert geblieben.

Abbildung 1
Pro-Kopf-Einkommen in den Schwellenländern
in Relation zu den USA in %
Pro-Kopf-Einkommen in den Schwellenländern

Quelle: Internationaler Währungsfonds: World Economic Outlook database, Oktober 2016; gestrichelte Linien: Prognosen des IfW.

Gemessen an aktuellen Einkommensniveaus besteht also weiterhin großes Potenzial für Aufholwachstum. Fraglich ist, ob mit der konjunkturellen Besserung der wirtschaftliche Aufholprozess der 2000er Jahre wieder aufgenommen wird. Außenwirtschaftliche Schwachstellen sind deutlich geringer geworden. Die Devisenreserven befinden sich in vielen Ländern auf historischen Höchstständen, während die Auslandsverschuldung zurückgegangen ist. Eine Wiederholung der „klassischen“ Schwellenländerkrisen ist daher wenig wahrscheinlich. Episoden wie das „Taper-Tantrum“ im Jahr 2013, als die US-Notenbank die Verringerung ihrer Anleihekäufe ankündigte, veranschaulichen jedoch, dass einzelne Länder nach wie vor anfällig sind, wenn die Risikowahrnehmung an den internationalen Finanzmärkten sprunghaft zunimmt.

Wichtiger sind die mittel- und langfristigen Wachstums­perspektiven, und diese sind keineswegs gut. Zum einen wird die Demografie zunehmend zu einer Belastung für das Potenzialwachstum. So wird die Erwerbstätigenbevölkerung in Russland, China und Thailand Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge in den kommenden 15 Jahren schrumpfen (vgl. Tabelle 1). Aber auch in den übrigen Ländern dürfte die „demografische Dividende“ deutlich geringer ausfallen, sofern sie nicht schon gänzlich ausbezahlt wurde.4

Tabelle 1
Wichtige Indikatoren für die Schwellenländer
Bra- silien Chi- na Russ- land In- dien Indo- nesien Ma- lay- sia Thai- land Ar- gen- tinien Chi- le Me- xi- ko Tür- kei
„Economic Freedom Index“ (Rangordnung von 178 Ländern, 2014)
122 144 153 123 99 29 67 169 7 62 79
„Doing Business 2017“ (Rangordnung von 189 Ländern, 2016)
123 78 40 130 91 23 46 116 57 47 69
Pro-Kopf-Kapitalstock (im Vergleich zu den USA, 2014)
40,3 30,8 32,4 10,5 32,3 39,5 33,4 30,2 40,0 32,3 29,8
Anteil der Rohstoffexporte (an Gesamtgüterexporten, 2014)
27,6 3,2 76,4 24,2 38,8 26,6 9,9 9,3 63,5 13,9 8,3
Privatverschuldung (in Relation zum nominalen BIP, 2015-Q4)
75,4 205 73,3 60,8 39,6 138,7 123,5 19,1 151,3 40,5 70,9
Auslandsverschuldung (in Relation zum Bruttonationaleinkommen, 2014) 24,1 9,3 27,9 22,7 34,1 66,8 38,2 30,5 58,0 34,7 51,6
Zunahme der Erwerbstätigenbevölkerung (jährliche Wachstumsrate, 2015-2030) 0,5 -0,3 -0,8 1,2 1,0 1,0 -0,5 0,9 0,5 1,2 0,8

Quellen: Heritage Foundation; Weltbank World Development Indicators; Penn World Tables; Bank für Internationalen Zahlungsausgleich; Vereinte Nationen World Population Prospects.

Hinzu kommt, dass in einer Reihe von Ländern – nicht nur in Lateinamerika – der Anteil der Rohstoffe an den Güterexporten nach wie vor hoch ist. Die Volkswirtschaften bleiben also anfällig für „Boom-Bust“-Zyklen auf den Rohstoffmärkten. Während der nach wie vor niedrige Kapitalstock pro Kopf einerseits großes Potenzial für Aufholwachstum aufzeigt, veranschaulicht er auch den Entwicklungsrückstand gegenüber fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Gleichzeitig sind die Rahmenbedingungen in der Regel wenig investitionsfreundlich, schneiden doch fast alle der betrachteten Schwellenländer bei Maßen der wirtschaftlichen Freiheit schlecht ab. In jüngster Zeit behindern zudem isolationistische und protektionistische Tendenzen ausländische Direktinvestitionen, was umso bedrohlicher ist, als diese Investitionen erfahrungsgemäß mit Produktivitäts- und Wissenstransfers verbunden und daher besonders geeignet sind, das Potenzialwachstum nachhaltig zu erhöhen.

Binnenwirtschaftlich ist die Verschuldung im privaten Sektor in einigen Ländern stark gestiegen – mit der Gefahr, dass durch diesen Schuldenüberhang die Investitionstätigkeit in kommenden Jahren gedämpft wird. China ist auch in diesem Bereich einzigartig: Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zufolge hat die Verschuldung des Privatsektors seit 2007 um über 90% in Relation zum BIP zugenommen. China stellt auch weiterhin das wohl größte Risiko für den weltwirtschaftlichen Ausblick dar.5

  • 1 Schwellenländer: China, Indien, Russland, Türkei sowie Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko (Lateinamerika) und Indonesien, Malaysia, Philippinen, Thailand (ASEAN-4). Gewichtet nach Kaufkraftparitäten macht diese Ländergruppe damit knapp 40% der Weltwirtschaft aus.
  • 2 Berechnungen der EZB zufolge setzte diese Kehrtwende bereits 2011 mit der erwarteten Reduzierung der Anleihekäufe in den USA („Tapering“) ein, Nettokapitalabflüsse aus den Schwellenländern gibt es jedoch erst seit Ende 2014; vgl. EZB: Economic Bulletin, Nr. 5, 2016.
  • 3 Vgl. K.-J. Gern et al.: Weltkonjunktur gewinnt vorerst nur wenig Schwung, Kieler Konjunkturberichte, Nr. 21, 2016|Q3.
  • 4 Vgl. Asian Development Bank: Asian Development Outlook, Manila 2016.
  • 5 Für eine Abschätzung der Auswirkungen einer „harten Landung“ der Konjunktur in China auf die Weltwirtschaft vgl. K.-J. Gern, P. Hauber, G. Potjagailo: Auswirkungen einer harten Landung in China, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 10, S. 719-720, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2015/10/auswirkungen-einer-harten-landung-in-china/.

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DOI: 10.1007/s10273-016-2062-5